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Der kleine Fürst
– Staffel 6 –

E-Book 51-60

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-722-6

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Das Geheimnis der Ärztin

Bettina von Rabenfels entdeckt die Liebe

Roman von Viola Maybach

Roman von »Ausgerechnet jetzt muss Henning in London sein!«, seufzte Alexa von Rabenfels. »Wir wollten Tina natürlich gemeinsam am Flughafen abholen, aber nun werde ich wohl allein nach Frankfurt fahren müssen. Tina wird schrecklich enttäuscht sein.«

»Zwei Jahre in Afrika«, sagte Baronin Sofia von Kant versonnen, ohne auf die Worte ihrer Freundin einzugehen. »Es ist toll, dass sie das gemacht hat, Alexa.«

»Ja, das ist es. Obwohl ich gestehen muss, dass wir am Anfang gar nicht einverstanden waren. Eine junge blonde Ärztin allein in Afrika – du kannst dir vorstellen, was einem da für Gedanken durch den Kopf schießen. Aber was sie will, das setzt sie ja auch durch.«

»Und es hat ihr doch auch gefallen, oder?«

»Mehr als das. Wir haben durchaus die Befürchtung, dass sie es auf Dauer hier gar nicht mehr aushält. Sie hat mehrmals gesagt, dass sie sich nie zuvor so nützlich vorgekommen ist. Aber im Kongo ist es ja jetzt alles andere als sicher, deshalb sind wir froh, dass sie erst einmal zurückkommt.«

»Aber sie war doch nicht direkt im Kongo im Einsatz, oder?«

»Im Grenzgebiet zwischen Gabun und Kongo. Sie und ihre Kollegen haben gearbeitet bis zur Erschöpfung. Zwar hat sie sich nie beklagt, aber ich weiß, dass sie sich dringend erholen muss.«

Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Sie saßen in einem der kleineren Salons von Schloss Sternberg, denn draußen war es ungemütlich und regnerisch. In den Tagen zuvor hatte man noch auf der Terrasse sitzen können.

Endlich sagte die Baronin: »Wenn du willst, fahre ich mit dir nach Frankfurt, Alexa. Ich bin zwar kein Ersatz für Bettinas Vater, aber vielleicht freut sie sich doch, mich zu sehen.«

»Ist das dein Ernst, Sofia?« Alexas Augen strahlten. »Du würdest nicht nur Tina eine große Freude machen, sondern auch mir.«

»Dann ist es also abgemacht«, erklärte Sofia. »Am Samstag kommt sie?«

»Ja, aber sehr früh morgens leider. Wir müssten also schon am Freitag anreisen.«

»Kein Problem«, sagte Sofia vergnügt. »Dann machen wir uns vorher in Frankfurt einen schönen Tag. Ich werde die Abwechslung genießen!«

»Du hast eine wunderbare Gabe, immer das Positive zu sehen«, meinte Alexa. »Jetzt erzähl mir, wie es euch geht. Bisher haben wir nur von mir gesprochen.«

»Den Kindern geht es gut, Fritz ist schrecklich beschäftigt, wie immer in letzter Zeit. Seit er mit der Pferdezucht solchen Erfolg hat, denkt er ständig darüber nach, was er noch verbessern könnte. Wir sind zufrieden, Alexa.«

»Ich habe Christian ja vorhin kurz gesehen – er wirkt erstaunlich gelassen, finde ich. Und er ist reifer geworden. Wenn man bedenkt, dass er vor nicht allzu langer Zeit seine Eltern verloren hat, dann ist er in erstaunlich guter Verfassung.«

»Wir bewundern ihn alle«, murmelte die Baronin.

Alexa beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Und ich bewundere dich, Sofia. Du hast deine Lieblingsschwester verloren, mit der du immer über alles reden konntest, was dich bewegte. Das muss hart sein.«

Die Augen der Baronin schwammen nun plötzlich in Tränen. »Sie fehlt mir sehr«, sagte sie leise. »Jeden Tag fehlt sie mir, Alexa.«

»Ja, ich weiß.«

Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold von Sternberg waren vor etlichen Monaten bei einem Hubschrauberunglück ums Leben gekommen. Ihr fünfzehnjähriger Sohn Christian war nun praktisch das dritte Kind seiner Tante Sofia und ihres Mannes. Die Familie von Kant lebte bereits seit langem auf Schloss Sternberg, so dass sich Christians äußere Lebensumstände kaum verändert hatten.

Aber er war jetzt Vollwaise – und mehr denn je ruhten auf ihm große Hoffnungen, denn er würde der nächste Fürst von Sternberg sein. Bis zu seiner Volljährigkeit in drei Jahren würde er freilich weiterhin den Namen tragen, den ihm die Bevölkerung gegeben hatte, seit er als winziger Junge neben seinem sehr großen Vater zum ersten Mal in der Öffentlichkeit aufgetreten war: ›der kleine Fürst‹.

»Sag mal, Sofia, würden vielleicht die Kinder auch gern mit nach Frankfurt fahren? Für Teenager ist eine Großstadt doch bestimmt interessant.«

Die Baronin überlegte. Ihr Sohn Konrad war sechzehn, er hatte für gewöhnlich eigene Pläne. Aber Anna, die Dreizehnjährige, und ihr Neffe Christian würden sie vielleicht tatsächlich gern begleiten. »Wir fragen sie«, schlug sie vor. »Fritz ist mit Sicherheit unabkömmlich, das kann ich dir jetzt schon sagen.«

Ihre Vermutungen erwiesen sich als richtig: Konrad war bereits verabredet und zeigte auch sonst wenig Neigung zu einem Kurzbesuch in Frankfurt, der Baron hatte tatsächlich keine Zeit, aber Anna und Christian waren Feuer und Flamme.

»Endlich mal eine Großstadt!«, rief Anna.

»Besonders groß ist Frankfurt nicht«, warnte Alexa. »Aber der Flughafen ist gigantisch, das immerhin kann ich euch versprechen.«

»Und wir wohnen da in einem Hotel?«, erkundigte sich Christian.

»Aber nein«, erklärte Alexa, »wir haben eine Villa in Frankfurt, weil Henning öfter in der Stadt zu tun hat. Sie liegt sehr hübsch, und von dort aus ist es auch gar nicht weit zum Flughafen. Also, wir holen euch dann ab am Freitag.«

»Wir?«, fragte Sofia verwundert.

»Unser Chauffeur und ich – auf keinen Fall fahre ich selbst. Der Verkehr rund um Frankfurt ist die Hölle, Sofia.«

»Mit anderen Worten: Wir müssen uns um nichts kümmern«, stellte die Baronin vergnügt fest. »Wenn Fritz das hört, bekommt er vielleicht Lust, sich uns doch noch anzuschließen.«

Doch Baron Friedrich hatte bereits zwei wichtige Termine für das Wochenende ausgemacht, die er nicht mehr verlegen konnte. »Ich schätze, ihr werdet mich nicht vermissen«, schmunzelte er.

Als Alexa sich verabschiedet hatte, begannen Anna und Christian Pläne für den Aufenthalt in Frankfurt zu schmieden. Die Baronin machte sich indessen keine Gedanken. Sie würde es genießen, mit ihrer Freundin Alexa zusammen zu sein und deren Tochter Bettina wiederzusehen, die nicht nur eine beeindruckend willensstarke junge Frau war, sondern auch eine sehr attraktive und sympathische dazu.

Es würde ein wundervoller Ausflug werden!

*

»Hier, hast du das gesehen?«, fragte Moritz Werner und wies auf ein Plakat. »Ein Vortrag von einer Ärztin, die gerade aus dem Kongo zurückgekehrt ist. Sie spricht über die politische Situation und deren Einfluss auf die Arbeit der Hilfsorganisationen dort. Du als Autor mehrerer Afrika-Bücher müsstest daran doch eigentlich interessiert sein.«

»Dr. Bettina von Rabenfels«, las Moritz’ Freund Konstantin von Klawen. »Nie gehört, den Namen.«

»Es kommt doch auch nicht auf den Namen der Frau an, sondern darauf, worüber sie redet. Ich gehe auf jeden Fall hin.«

»Klar«, meinte Konstantin. »Die Arbeit der Hilfsorganisationen in Afrika ist schließlich das Thema deiner Doktorarbeit.«

»Eben. Nicht, dass ich mir wesentliche neue Erkenntnisse erhoffe, aber interessant ist es bestimmt.«

»Wann ist der Vortrag?«

»Nächste Woche. Gehst du mit?«

»Ja, ich denke schon. Irgendwie muss ich auch mal wieder raus aus meiner Bude. Und am Mittwoch bin ich hoffentlich schon ein ganzes Stück weiter als jetzt mit diesem verflixten Manuskript.« Konstantin unterdrückte einen Seufzer.

»Du siehst ziemlich fertig aus«, stellte Moritz fest.

»Wundert dich das? Ich arbeite einfach zu viel – aber es lässt sich nun einmal nicht ändern.« Konstantin war kurz davor, sein drittes Buch über Afrika zu veröffentlichen – der schwarze Kontinent war seine Leidenschaft, seit er als Kind mehrere Jahre dort gelebt hatte. Sein Vater war Diplomat, so hatte die Familie oft umziehen müssen. Die Jahre in Afrika gehörten für Konstantin zu den prägendsten.

Er hatte Afrikanistik studiert, beherrschte mehrere afrikanische Sprachen und hielt sich jedes Jahr einige Monate in Afrika auf, wo er Studien für seine Bücher betrieb. Von denen konnte er zum Glück recht gut leben. Er brauchte nicht viel, um sich wohl zu fühlen, sein Lebensstil war bescheiden.

»Wann musst du das Manuskript denn abliefern?«, fragte Moritz. »Ich dachte, du hättest noch ein biss­chen Zeit?«

»Habe ich ja auch, aber in einem der Kapitel steckt ein Fehler – ich muss es komplett überarbeiten.«

»Du und ein Fehler? Das glaube ich dir nicht.«

»Ist aber so«, brummte Konstantin. »Du weißt doch: Kein Mensch ist perfekt. Ich habe etwas übersehen – eine wichtige Information. Traurig, aber wahr, und jetzt muss ich dafür büßen.«

»Schade, ich wollte dich eigentlich überreden, endlich mal wieder mit mir ein Bier trinken zu gehen heute Abend.«

»Vergiss es«, sagte Konrad. »Vergiss es mindestens bis zur Abgabe meines Manuskripts – dann können wir darüber reden. Aber den Mittwoch schaufele ich mir irgendwie frei, das verspreche ich dir.«

»Es ist schwer, dein Freund zu sein!«

»Ich weiß, und ich danke dir, dass du so hartnäckig bist und noch nicht aufgegeben hast.«

Sie verabschiedeten sich mit einer herzlichen Umarmung voneinander. »Bis Mittwoch dann«, sagte Moritz. »Solltest du vielleicht vorher doch das Bedürfnis verspüren, deine Arbeit mal eine Stunde lang allein zu lassen – sag mir bitte Bescheid.«

Konstantin nickte, aber sie wuss­ten beide, dass dieser Fall nicht eintreten würde.

*

»Alles in Ordnung, Marie?«, erkundigte sich Eberhard Hagedorn, der schon seit langen Jahren Butler auf Schloss Sternberg war. Er stand in der Tür zur weitläufigen Küche.

Die junge Köchin Marie-Luise Falkner hatte ihn offenbar nicht kommen hören, denn sie fuhr erschrocken herum. »Meine Güte, Herr Hagedorn – wo kommen Sie denn so plötzlich her?«

»Gar nicht plötzlich, ich stehe hier schon eine ganze Weile und sehe Ihnen zu, wie Sie den neuen Herd betrachten.«

»Ja, jetzt ist er da, und ich würde ihn gern ausprobieren, aber ausgerechnet an diesem Wochenende ist der Herr Baron ganz allein. Ich gebe mir natürlich auch für eine einzelne Person die größte Mühe, aber es frus­triert mich trotzdem, falls Sie das verstehen können.«

»Ich verstehe es, aber das wird ja nicht lange so bleiben, Marie. Morgen kommen doch die Herrschaften schon wieder!«

»Ich rede aber von heute! Und heute bin ich frustriert, Herr Hagedorn. Die Küche ist neu, der Herd ist neu – und die Köchin ist praktisch arbeitslos. Eine Tragödie.«

»Sie übertreiben. Eine Tragödie hätte dieser Brand werden können …«

Wenige Wochen zuvor war in der Schlossküche ein Brand ausgebrochen. Marie-Luise war in letzter Minute von einem beherzten Gast und dem kleinen Fürsten gerettet worden – sie hatte eine Kohlen­monoxydvergiftung davongetragen. Von dem Brand war nichts mehr zu sehen, und nicht nur die junge Köchin war der Ansicht, dass dieser Brand sich letzten Endes segensreich ausgewirkt hatte: Die Küche erstrahlte in neuem Glanz, nicht nur der Herd war ausgetauscht worden, sondern auch noch ein paar andere veraltete Geräte.

»Erinnern Sie mich nicht an den Brand«, bat Marie-Luise. »Bevor ich ohnmächtig geworden bin, glaubte ich sicher zu wissen, dass ich sterben würde – ausgerechnet hier, wo ich mich so gern aufhalte, Herr Hagedorn.«

»Das muss schrecklich gewesen sein«, erwiderte der alte Butler mitfühlend.

Sie nickte stumm, und er erkannte, dass es besser wäre, das Thema zu wechseln. »Sie könnten sich für morgen ein ausgefallenes Menü ausdenken«, schlug er vor. »Das würde bestimmt gut ankommen. Es müssen doch nicht immer Gäste anwesend sein, wenn Sie etwas Besonderes auf den Tisch bringen, Marie.«

»Da haben Sie aber wirklich Recht!« Ihre Miene hellte sich auf. »Und das Thema wird ›Frankfurt‹ sein, Herr Hagedorn.«

Er betrachtete sie zweifelnd. »Sie wollen aber wohl doch keine Frankfurter Würstchen servieren, Marie?«

Sie lachte schallend, plötzlich war ihre gute Laune zurückgekehrt. »Lassen Sie mich nur machen, Herr Hagedorn – und nun raus aus meiner Küche, wenn ich bitten darf, ich habe zu arbeiten.«

Schmunzelnd zog er sich zurück. Endlich war sie wieder die tatkräftige junge Frau, die er kannte!

*

»Ganz schön hoch!«, stellte der kleine Fürst fest, und Anna setzte hinzu: »So klein, wie Alexa behauptet hat, ist Frankfurt gar nicht.«

Sie waren auf der Aussichtsplattform eines der Frankfurter Hochhäuser – es hieß ›Maintower‹. Außer ihnen waren nur wenige Besucher hier oben, das diesige Wetter hatte die Leute wohl abgeschreckt.

Mit einem Stadtplan bewaffnet waren Anna und Christian allein losgezogen, obwohl die Baronin zahlreiche Bedenken geäußert hatte. »Aber es gibt doch so viele Kriminelle in Frankfurt!«

Alexa hatte sich jedoch auf die Seite der beiden Teenager geschlagen: »Es ist heller Tag, Sofia, außerdem sind die beiden ja keine kleinen Kinder mehr. Sie werden nicht auffällig mit großen Geldscheinen herumwedeln, sie tragen keinen Schmuck, ihre Handys zeigen sie nicht – und deshalb sieht nichts an ihnen so aus, als könnte es sich lohnen, sie zu überfallen.«

Sofia war skeptisch geblieben, aber sie hatte nachgegeben, als Anna sie noch einmal nachdrücklich daran erinnerte, dass Christian und sie sogar schon einmal ganz allein verreist waren. »Und da sind auch keine Katastrophen passiert, Mama!«

Sie hatte zwar noch gesagt: »Da wart ihr auch nicht in einer Großstadt«, doch das war nur das letzte Aufbäumen gewesen. Sie wusste selbst, dass Anna und Christian vernünftig und auch vorsichtig waren – sie würden sich mit Sicherheit nicht in gefährliche Situationen begeben. Außerdem wollten Alexa und sie einigen eleganten Geschäften in der Goethestraße einen Besuch abstatten, und dabei hätten die Teenager nur gestört.

»Fahren wir wieder runter?«, fragte Anna.

Christian nickte, und wenige Minuten später standen sie unten auf der Straße, die vor allem eine Autoschneise war. Zu sehen gab es hier praktisch nichts, aber die Alte Oper war nicht weit, und das war ihr nächstes Ziel. Auf dem Opernplatz gab es nämlich eine Open-Air-Veranstaltung mit Live-Musik, die sie sich anhören wollten.

»Das ist schon was anderes hier als bei uns zu Hause«, sagte Anna. »Bisschen wenig Natur, finde ich, aber sehr interessant.«

Diese Ansicht teilte der kleine Fürst. Er warf einen Blick auf den Stadtplan. »Hier links rum, dann müsste der Opernplatz rechts von uns liegen.«

Sie hörten die Musik bereits, bevor sie auf dem Platz angelangt waren – gleich darauf staunten sie über die Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte. Nur mit Mühe konnten sie sich so weit vordrängeln, dass sie wenigstens die Band auf der Bühne gut sehen konnten.

Und dann vergaßen sie, dass sie fremd in dieser Stadt waren. Sie fingen an zu wippen und zu tanzen wie all die anderen Zuhörer um sie herum auch, und sie vergaßen die Zeit.

*

»Ich bin froh, dass ich mich entschlossen habe, dich zu begleiten«, erklärte Sofia.

Alexa warf einen amüsierten Blick auf ihre Tüten und Pakete. »Wir haben ziemlich viel eingekauft«, bemerkte sie. »Aber ich glaube, es waren gute Käufe.«

»Das denke ich auch. Und jetzt?« Die Baronin warf einen Blick auf die Uhr. »Anna und Christian haben ja gesagt, sie finden allein zurück, also könnten wir doch in euer schönes Haus fahren, uns einen Tee servieren lassen und die Füße hochlegen, was meinst du?«

Alexa war einverstanden. Sie steuerten also den Ort an, wo sie den Chauffeur mit dem Wagen zurückgelassen hatten, und gleich darauf befanden sie sich auf dem Rückweg zur Mörfelder Landstraße, wo die Villa der Familie Rabenfels stand.

Sofia war nie zuvor hier gewesen und konnte über das herrschaftliche Anwesen, das am Rande des Stadtwaldes lag, nur staunen. »Seid ihr wirklich so oft hier, dass sich der Unterhalt eines solchen Hauses lohnt, Alexa?«, hatte sie ausgerufen.

»Ach, weißt du, es ist eher Bequemlichkeit. Hier ist alles, was man braucht, um sich wohlzufühlen. Das Personal ist engagiert – wir brauchen nur anzurufen, und dann wissen wir, dass alles in Ordnung ist, wenn wir kommen. Natürlich lohnt es sich nicht, um deine Frage zu beantworten. Aber lohnt es sich, ein Schloss zu bewohnen?«

»Nein, wahrhaftig nicht«, hatte Sofia zugeben müssen.

Sie genoss den Aufenthalt in dieser eleganten Villa mit dem großzügigen Park. Alles war natürlich kleiner als auf Sternberg, aber man konnte die beiden Wohnsitze durchaus miteinander vergleichen. Wer hätte gedacht, überlegte sie, dass eine Stadt, die den Ruf hat, ziemlich hässlich und außerdem eine Hochburg der Kriminalität zu sein, so schöne Ecken hat?

Schöne Ecken hatte sie bei ihrem Bummel durch die Innenstadt reichlich gesehen. Alexa kannte sich in Frankfurt erstaunlich gut aus und hatte ihr nicht nur den Dom gezeigt, sondern auch die beeindruckende Leonhardskirche, die Alte Oper, das Mainufer, den Römerberg. Sofia sah die Stadt bereits nach wenigen Stunden mit anderen Augen.

»Herrlich!«, seufzte sie, als sie in der Villa tatsächlich die Füße hochlegten und Tee tranken. »Ich danke dir, Alexa, dass du uns diesen wundervollen Aufenthalt hier ermöglicht hast.«

»Ich habe zu danken, denn sonst säße ich jetzt allein hier und hätte mich vermutlich gelangweilt. Weißt du, Sofia, so ein Haus ist nur schön, wenn es mit Leben erfüllt ist. Ganz allein fühlt man sich schnell einsam darin. Sag mal, wann wollen wir essen? Ich sollte in der Küche Bescheid sagen.«

»Anna und Chris haben versprochen, um sechs wieder hier zu sein. Um sieben? Ich meine, falls sie sich ein bisschen verspäten.«

Alexa nickte und verschwand, kehrte jedoch bald zurück und ließ sich wieder in ihren Sessel sinken. »Und gleich probieren wir unsere neuen Sachen an, ja?«

Sofia lachte. »Mit Vergnügen!«

*

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte die Stewardess freundlich.

Bettina von Rabenfels schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, alles in bester Ordnung«, sagte sie.

»Die zwei sind ja wirklich richtige Engel«, bemerkte die Stewardess. »Normalerweise sind Babys an Bord nicht so ruhig.«

»Ich warne Sie vor: Sie werden vermutlich nicht den ganzen Flug verschlafen«, meinte Bettina. »Wir haben ja noch etliche Stunden vor uns.«

»Sind das Zwillinge?«

»Ja, ein Jahr alt. Sie krabbeln noch, aber bestimmt fangen sie bald an zu laufen.«

»Zwei Mädchen?«, fragte die Stewardess.

»Ein Mädchen und ein Junge«, erklärte Bettina.

»Wirklich süß«, sagte die Stewardess. »Wenn was ist, rufen Sie mich bitte gleich.«

Bettina nickte, hatte jedoch nicht vor, die Hilfe der jungen Frau in Anspruch zu nehmen. Sie hoffte, allein zurechtzukommen.

Miriam und Paul waren bisher tatsächlich mustergültig brav gewesen. Nicht einmal gequengelt hatten sie, auch nicht beim Start, der gewöhnlich heikel war. Nein, ganz ruhig waren sie geblieben, hatten Bettina mit ihren großen dunklen Augen angesehen und scheinbar jedes Wort verstanden, das sie zu ihnen gesagt hatte. Nun schliefen sie. Die Stewardess hatte schon Recht: wie zwei Engelchen. Sanft strich sie erst Miriam, dann Paul über die runden weichen Wangen. »Ihr Süßen«, sagte sie leise.

Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Es war spät, sie sollte versuchen, ein wenig zu schlafen. Morgen stand ihr ein anstrengender Tag bevor – ach was, die nächsten Wochen würden anstrengend werden, aber sie würde die Sache durchziehen, so, wie sie es sich vorgenommen hatte. Schwierigkeiten hatten sie noch nie abgeschreckt. Die Reaktion ihrer Eltern beim Anblick der Zwillinge konnte sie sich nur allzu gut vorstellen. Das würde nicht einfach werden, aber sie war schon mit ganz anderen Problemen fertig geworden in den vergangenen zwei Jahren, sie würde auch das schaffen.

Sie schlummerte bald darauf ein, aber es war ein unruhiger Schlaf, der ihr nicht wirklich Erholung brachte, außerdem wachte sie ständig auf. Noch nie hatte sie im Flugzeug gut schlafen können, sie bedauerte das und beneidete die Leute glühend, denen es anders ging. Der dicke Mann jenseits des Ganges zum Beispiel schlief seit Stunden tief und fest.

Sie seufzte. Es war nun einmal nicht zu ändern.

*

»Wir sollten schlafen gehen«, schlug die Baronin vor, wobei sie ein Gähnen unterdrückte. »Tina kommt morgen ja schon sehr früh an.«

»Danke für alles, Alexa«, sagte der kleine Fürst. »Das war ein ganz toller Tag hier in Frankfurt – wir hätten die Stadt sonst vielleicht nie kennengelernt.«

»Ich bin froh, dass es euch gefallen hat«, versicherte Alexa. »Und ich selbst habe es auch genossen, euch hier zu haben.«

»Und ich bin froh, dass ihr heil zurückgekommen seid«, setzte die Baronin hinzu. »Als es halb sieben wurde, ohne dass wir etwas von euch hörten, hatte ich allmählich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, das muss ich schon sagen.«

»Das lag an der Straßenbahn, Mama! Die hatte Verspätung. Außerdem haben wir dann ja angerufen.«

»Ich weiß, ich weiß – und ich freue mich, dass ihr so ein tolles Konzert hören konntet.« Anna und Christian hatten begeistert davon berichtet und durchblicken lassen, dass sie gern auch noch länger geblieben wären.

»Ihr seid hier jederzeit herzlich willkommen«, meinte Alexa. »Ihr seht ja selbst: Platz ist genug da.«

Sie erhoben sich alle gleichzeitig. Das Essen war sehr gut gewesen, sie hatten sich währenddessen lebhaft über ihre Eindrücke von Frankfurt unterhalten. Das Fazit fiel einstimmig aus: Die Stadt war besser als ihr Ruf.

»Fast ist es ein bisschen schade, dass wir morgen schon zurückfahren, oder?«, fragte Anna, als Chris­tian und sie auf ihre Gästezimmer zusteuerten.

Er nickte, sagte aber nichts. Sein Gesicht war ernst.

Sie wusste, dass er an seine Eltern dachte, die auf dem Familienfriedhof am Rande des Sternberger Schlossparks ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Er stattete ihnen jeden Tag einen Besuch ab und unterhielt sich in Gedanken mit ihnen. Es gab Leute, die das sicher seltsam gefunden hätten, doch Anna fand es ganz normal. Sie glaubte ihrem Cousin auch, dass seine Eltern ihm Zeichen schickten, denen er entnehmen konnte, dass sie ihn hörten und seinen Lebensweg weiterhin begleiteten.

»Schlaf gut, Chris.«

Er lächelte schon wieder. »Gut vielleicht, aber mit Sicherheit nicht lange genug. In sechs Stunden landet die Maschine ja schon.«

Anna verschwand gähnend in ihrem Zimmer.

*

Konstantin fluchte leise vor sich hin. Er hatte das Kapitel, in dem er den Fehler entdeckt hatte, umgeschrieben, war aber noch immer weit davon entfernt, zufrieden zu sein. Er würde es noch mindestens zwei Mal gründlich überarbeiten müssen, dabei war er auch mit dem restlichen Manuskript noch längst nicht fertig. Die Zeit lief ihm davon, und er wusste nicht, wie er es schaffen sollte, den Abgabetermin einzuhalten, obwohl er immer bis tief in die Nacht arbeitete.

So auch heute. Es war drei Uhr morgens, er konnte einfach nicht mehr denken. Wenn er jetzt nicht aufhörte, würde er wahrscheinlich irgendwann anfangen, Unsinn zu schreiben. Er fuhr den Computer herunter und schaltete ihn aus. Dann stand er auf, dehnte und streckte sich und fluchte erneut. Ihm tat der Rücken weh, der Nacken war verspannt und als er sein Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete, erschrak er regelrecht. Dieses bleiche Gespenst mit den dunklen Rändern unter den Augen sollte er sein, Konstantin von Klawen, ein attraktiver groß gewachsener Mann mit braunen Haaren und braunen Augen, dem man nachsagte, dass er eine große Anziehungskraft auf Frauen ausübte?

»Wenn sie mich jetzt sehen könnten«, brummte er, »würden sie garantiert allesamt die Flucht ergreifen.«

Sein Telefon klingelte, er konnte es kaum glauben. Aber dann beeilte er sich, den Apparat zu suchen – um diese Zeit rief nur eine an: seine verrückte Verlegerin Helen Marienhagen. Sie war eine Nachteule wie er und wusste, dass er vermutlich noch nicht im Bett lag oder sich gerade erst hineingelegt hatte.

»Habe ich dich geweckt?«, lautete ihre erste Frage.

»Nein, Helen, das hast du nicht. Ich habe eben erst aufgehört zu arbeiten. Der Zeitdruck macht mich ziemlich fertig, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Deshalb rufe ich ja an«, erklärte sie. »Ich habe mit meinen Leuten hier gesprochen, ob wir dir irgendwie mehr Zeit verschaffen können. Also, wir bieten dir zwei Wochen an – mehr geht nicht.«

»Sag das noch mal«, bat er. »Hast du eben gesagt, dass ich zwei Wochen zusätzlich bekomme?«

»Das habe ich gesagt«, bestätigte sie. »Aber wenn du noch einen Fehler entdeckst …«

Er hatte ihr offen gesagt, dass eins der Kapitel auf einer falschen Voraussetzung beruhte – mit Helen hatte er schon immer offen reden können. Er wusste, dass sie ihr Wissen niemals gegen ihn verwenden würde.

»Garantiert nicht«, erklärte er energisch. »Ich könnte dir jetzt auch erklären, wie es passieren konnte, dass mir diese Information entgangen ist, aber das würde zu weit führen. Wenn ich zwei Wochen zusätzlich kriege, schlafe ich jetzt erst einmal vierundzwanzig Stunden, wenn es recht ist.«

Sie lachte. Er sah sie vor sich: eine hübsche junge Frau mit roten Locken, die er nur in Jeans und Lederjacken kannte. Beides stand ihr ausgezeichnet, was sie natürlich wusste. Ihr Mann war Rockmusiker. Die meisten Leute ahnten nicht einmal, dass Helen verheiratet war – glücklich zudem. Clemens vergötterte sie, und sie verpasste keins seiner Konzerte. Clemens und seine Band waren mittlerweile ziemlich erfolgreich, von Jahr zu Jahr waren sie bekannter geworden. Er gönnte Helen ihr Glück von Herzen. Sie gehörte zu den Menschen, denen er vorbehaltlos vertraute, und davon gab es nicht allzu viele.

»Von mir aus kannst du noch länger schlafen, du musst nur wissen, dass es keine weitere Verlängerung geben wird. Aber da du bisher mein pünktlichster Autor warst und mich außerdem noch nie mit einem Manuskript enttäuscht hast, fand ich, dass wir dir jetzt mal ein wenig entgegenkommen sollten.«

»Und was hast du den anderen erzählt? Welchen Grund hast du angegeben?«

»Eine hartnäckige Grippe, die dich aus dem Zeitplan geworfen hat«, antwortete sie unbekümmert. »Der wahre Grund geht außer uns beiden doch niemanden etwas an, oder?«

»Helen, du bist die Größte.«

»Ja, das sagt Clemens auch immer. Schlaf schön, Tino, und geh danach möglichst schnell wieder an die Arbeit, hörst du?«

»Versprochen.«

Bis eben hatte er noch bis zu den Haarspitzen unter Stress gestanden, nun hatte er plötzlich genügend Zeit, sein Manuskript so zu bearbeiten, wie er es sich wünschte. Er fühlte sich wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft wich. Die Vorstellung, sich ausschlafen zu können, keinen Wecker stellen zu müssen und irgendwann am morgigen Tag – oder auch erst übermorgen – mit frischen Kräften wieder ans Werk zu gehen, war überwältigend.

Er blieb, erschöpft, aber glücklich, noch eine ganze Weile sitzen und beobachtete sich selbst dabei, wie er immer schlaffer und entspannter wurde. Als er schließlich zu Bett ging, schlief er umgehend ein.

*

»Wir beginnen gleich mit dem Landeanflug – in einer halben Stunde sind wir da«, sagte die Stewardess. »Und Ihre Vorhersage hat sich nicht erfüllt: Die beiden sind brav geblieben.«

Bettina lachte. »Ich habe sie bestochen, mit Essen«, bekannte sie. »Um fünf sind sie aufgewacht und sahen so aus, als wollten sie anfangen zu weinen. Da habe ich sie schnell abgelenkt. Wenn wir gelandet sind, wird es dann allerdings Zeit für die Morgentoilette.«

Nun lachte auch die Stewardess. »Dafür ist es an Bord jetzt allerdings ein wenig spät«, erwiderte sie. »Die Waschräume sollten ab jetzt nicht mehr aufgesucht werden.«

»Es geht sowieso nicht, wenn ich nicht beide zugleich mitnehmen kann – dann würden sich hier bald alle die Ohren zuhalten, und das will ich lieber nicht riskieren.«

»Ich muss sie immer ansehen – in dem Alter sind Babys einfach hinreißend, finde ich.«

»Haben Sie selbst Kinder?«

»Noch nicht, aber ich hoffe bald.« Die Stewardess errötete. »Ich bin erst seit ein paar Monaten verheiratet, aber wir wünschen uns sehnlichst Kinder, mein Mann und ich.«

»Dann alles Gute für Sie.«

»Vielen Dank.«

Die Stewardess eilte weiter, sie musste sich ja auch um die anderen Passagiere kümmern.

Miriam und Paul waren wach. Beide spielten mit den Plastikenten, die Bettina ihnen gegeben hatte. Man konnte sie zusammendrücken, in den Mund stecken – und natürlich auch wegwerfen, weil es so lustig war, wenn Bettina sich dann jedes Mal bemühen musste, sie wiederzufinden. Besonders Paul liebte dieses Spiel.

»Pass bloß auf, Paulchen!« Scherzhaft drohte Bettina dem Kleinen mit dem Finger. »Beim nächsten Mal lasse ich die Ente liegen, dann guckst du aber dumm.«

Er quietschte vor Vergnügen – und schon flog die Ente wieder zu Boden.

»Tja, ich habe dich gewarnt. Nun ist sie weg!«

Der Junge guckte groß. Bis eben war das Spiel lustig gewesen, jetzt gefiel es ihm nicht mehr. Sein rundes Gesichtchen verzog sich, schon öffnete er den Mund – da erschien die Ente wieder vor seinem Gesicht.

»Aber ich behalte sie jetzt, mein Kleiner. Wir landen nämlich bald – und im Landeanflug werde ich nicht nach deinem Spielzeug tauchen. Ich hoffe, das verstehst du?«

»Dadada!«, sagte Miriam, und daraufhin war ihr Bruder ruhig.

»So ist es fein, ihr beiden. Ruht euch noch ein bisschen aus – es wird turbulent werden nach der Landung, das kann ich euch versichern.«

Besonders beeindruckt wirkten sie nicht. Zum Glück waren sie noch zu klein, um mitzubekommen, was sich nach ihrer Ankunft in Frankfurt abspielen würde. Bettina wusste es dafür umso besser, und sie versuchte, sich innerlich zu wappnen.

Allmählich, stellte sie fest, wurde sie nun doch nervös.

*

Endlich waren sie alle wach. Auf der Fahrt zum Flughafen hatte vor allem Anna noch hin und wieder verstohlen gegähnt, doch sobald sie den Terminal 1 betreten hatten, verflog auch ihre Müdigkeit. »So groß hatte ich mir das hier nicht vorgestellt!«, sagte sie staunend.

Alexa lachte. »Es gibt auch nicht viele Flughäfen auf der Welt, die größer sind«, erklärte sie. »Also seht euch um. Man kann hier ziemlich lange herumlaufen, ohne alles zu sehen.«

»Wir haben noch Zeit, oder?«, fragte der kleine Fürst. »Dann könnten wir doch …«

Bevor die Baronin ihre Bedenken äußern konnte, tat es Alexa. »Hier verirrt man sich leicht, Chris – und ich kann euch keinen Plan in die Hand geben, der euch bei der Orientierung hilft. Zwar ist alles gut ausgeschildert, aber man braucht trotzdem eine gewisse Zeit, bis man sich zurechtfindet. Lasst uns lieber zusammenbleiben, ja? Oder zumindest in Sichtweite.«

Christian und Anna fügten sich, da sie Alexas Argumente nachvollziehen konnten. Es war sicherlich nicht einfach, sich hier wiederzufinden, wenn man sich erst einmal verloren hatte.

»Das Flugzeug ist auch schon gelandet«, stellte Alexa in diesem Augenblick fest.

»Woher weißt du das denn?«, fragte Anna verwundert.

»Da, auf der großen Anzeigetafel, siehst du? Vorne steht die Flugnummer und die Fluggesellschaft, dann der Abflugort – und hinten stehen Informationen zur Landung. Tinas Flugzeug kommt aus Libreville in Gabun.« Alexa nannte die Flugnummer, und nun sahen es auch Anna und Christian, dass am Ende der Zeile ›gelandet‹ stand.

»Und wozu sind die Monitore da, die hier überall herumstehen?«

»Auf der Anzeigetafel haben ja nicht so viele Flüge Platz, aber auf den Monitoren kannst auch Flüge aufrufen, die erst für den Nachmittag erwartet werden – da steht dann vielleicht jetzt schon, ob mit Verspätungen zu rechnen ist.«

Sie entdeckten noch weitere interessante Dinge, und so verging die Zeit wie im Flug. Plötzlich rief die Baronin: »Da kommen die ersten – das muss Tinas Maschine sein.«

Sie reckten die Hälse. Afrikaner waren zu sehen, in weiten bunten Gewändern; etliche weiße Geschäftsleute in grauen Anzügen, ein paar Touristen. Nirgends jedoch konnten sie eine zarte blonde Frau entdecken.

Der jungen Mutter, die sich liebevoll über einen Zwillingskinderwagen beugte und mit ihren Babys redete, schenkten sie keine Beachtung, bis sie direkt vor ihnen stand und mit einem Lächeln sagte: »Na so was, das ist ja ein richtig großer Bahnhof für mich und meine Kinder!«

Alexa gab einen kleinen Krächzlaut von sich, während sie nach unten blickte. Auch die Baronin, Anna und Christian äugten neugierig in den Kinderwagen. Ihnen sahen zwei schokoladenbraune Gesichter entgegen, rund und niedlich anzusehen, mit reizenden, fast schwar­zen Kulleraugen und dichtem schwarzem Kraushaar.

Eins der Kinder sagte freundlich: »Dadada.«

»Das ist Miriam«, erklärte Bettina. »Ihr Bruder heißt Paul.«

Das andere Kind warf mit ver­gnügtem Quietschen eine Plastikente auf den Boden. Christian bückte sich hastig danach – er war froh, etwas tun zu können.

Anna war die Erste, die sich von ihrem Schrecken erholte. »Mensch, Tina!«, sagte sie. »Wir hatten ja keine Ahnung, dass du in Afrika zwei Kinder gekriegt hast.«

»Sollte eine Überraschung sein«, erklärte Bettina.

»Die ist dir gelungen«, brachte Alexa mit erstickter Stimme heraus.

Bettina ließ den Griff des Kinderwagens endlich los und umarmte sie. »Hallo, Mama«, sagte sie liebevoll und küsste sie. »Ich freue mich, wieder in Deutschland zu sein.«

Alexa brach in Tränen aus.

*

»Wie bitte?«, fragte Baron Friedrich verblüfft. »Sag das noch einmal, Sofia.«

»Tina ist mit schwarzen Zwillingen hier angekommen, Fritz. Die Kinder sind ein Jahr alt, und Tinas Eltern hatten keine Ahnung!«

»Sind es denn ihre Kinder?«, erkundigte sich Friedrich.

»Ja, das hat sie gesagt, gleich zur Begrüßung. Du kannst dir vorstellen, in welchem Zustand Alexa ist. Die Fahrt vom Flughafen hierher war ein wenig schwierig. Anna und Christian haben die Situation gerettet – sie haben mit Tina geredet und mit den Zwillingen geschäkert, als wäre alles ganz normal. Ich glaube, Alexa steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.«

»Wo seid ihr jetzt?«

»Na, bei Rabenfels’, in der Frankfurter Villa. Tina hat gesagt, sie braucht ein bisschen Zeit, bevor wir zurückfahren können. Sie hat sich gleich mit den Zwillingen zurückgezogen – die beiden rochen ein wenig streng. Ich nehme an, sie mussten neu gewickelt werden. Und gefüttert werden müssen sie sicher auch noch. Alexa hat schon zwei doppelte Gläser Kognak getrunken.«

»Wie gut, dass du bei ihr bist«, stellte der Baron fest.

»Ehrlich gesagt: Das habe ich auch gedacht. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, Fritz, dass sich unsere Rückkehr verzögern wird.«

»Warum bleibt ihr nicht bis morgen?«, fragte er. »Vielleicht würde das helfen, die Situation zu entspannen. Es gäbe Tina und Alexa die Zeit, sich auszusprechen, bevor sie nach Hause kommen.«

»Du hättest nichts dagegen?«, fragte Sofia zweifelnd.

»Es wäre mir lieber, euch heute schon wieder hier zu haben, aber zur Not halte ich es noch bis morgen aus«, versicherte der Baron. »Besprich das mit den anderen und sag mir dann, wie ihr entschieden habt.«

Diese Entscheidung fiel blitzschnell.

Alexa atmete förmlich auf bei dem Gedanken, noch einen Aufschub zu bekommen, bis sie lauter neugierigen Freunden und Bekannten erklären musste, dass sie und Henning seit einem Jahr Großeltern waren, ohne es geahnt zu haben – von dem Gespräch mit ihrem Mann ganz zu schweigen.

Bettina war ebenfalls nicht dagegen, da sie fand, dass die Zwillinge ein wenig Ruhe gut gebrauchen konnten nach dem langen Flug, und Anna und Christian schließlich freuten sich auf einen weiteren Tag in Frankfurt, den sie in der Gesellschaft von Bettina und den Zwillingen verbringen würden.

Als die Baronin ihren Mann erneut anrief, um ihm die Entscheidung mitzuteilen, fragte er: »Und wer ist nun eigentlich der Vater der Zwillinge?«

»Gute Frage«, erwiderte die Baronin. »Aber ich kann dir leider keine Antwort geben, denn darüber schweigt Bettina sich aus. Und sie hat offenbar auch nicht die Absicht, dieses Geheimnis aufzuklären.«

»Das gibt Gerede«, vermutete Friedrich.

»Mehr als das, Fritz. Das gibt einen Skandal!«

*

Sie erregten überall Aufsehen. Wohin sie auch kamen mit den Zwillingen: Die Leute blieben stehen. Der Ausruf, den sie am häufigs­ten hörten, war: »Wie süß, guck doch mal!«

»Irgendwann nervt einen das«, maulte Anna nach einer Weile. »Und dass sie Miriam und Paul dann auch noch alle anfassen wollen – also, ich finde das unmöglich.«

»Entspann dich, Anna«, riet Bettina gelassen. »Besser, sie finden die Kinder süß, als dass sie ihnen Schimpfwörter nachrufen.«

»Schimpfwörter? Wieso das denn?«, fragte Anna.

»Weil sie schwarz sind und angeblich nicht hierher passen.«

Sie waren noch einmal in die Innenstadt gefahren. »Ich zeige euch den Palmengarten«, hatte Bettina gesagt. »Oder wart ihr da schon?«

»Nee, aber ein Garten? Wir haben doch zu Hause unseren Park …«

»Der Palmengarten ist anders, ihr werdet schon sehen. Und hinterher gehen wir in den Zoo.«

Sie stellten bald fest, dass Bettinas Vorschläge genau richtig gewesen waren. Im Palmengarten gingen sie mit großen Augen durch die Gewächshäuser. »Wie im Dschungel!«, rief Anna. »Jedenfalls stelle ich mir den Dschungel so vor!«

»Ist auch gar nicht so falsch, Anna.«

Sie picknickten auf einer Wiese am Rand eines Teichs. Die Zwillinge waren bester Laune und genossen die frische Luft ganz offensichtlich ebenso wie die Erwachsenen. Später, im Zoo, legten Anna und Christian ein weiteres Vorurteil zu den Akten: dass Zoos nur etwas für kleine Kinder waren. Sie bestaunten die Orang-Utans und die Giraffen ebenso, wie es Miriam und Paul taten.

Bettina freute sich über ihre Begeisterung, half sie ihr doch zu verdrängen, was ihr am nächsten Tag bevorstand. Sie rechnete mit einem Spießrutenlauf, und nun, da er näherrückte, verspürte sie plötzlich doch so etwas wie Angst vor der eigenen Courage. Wenn sie ihre Kräfte nun überschätzt hatte? Von Afrika aus hatte das Ganze zunächst einmal wie eine nicht allzu aufregende Angelegenheit ausgesehen – erst im Laufe der Zeit war ihr aufgegangen, worauf sie sich wirklich eingelassen hatte.

Am meisten fürchtete sie sich vor der Reaktion ihres Vaters. Sie wuss­te nicht, ob ihre Mutter in der Zwischenzeit mit ihm gesprochen hatte. Vermutlich nicht, er war heute noch in London. Er würde in jedem Fall außer sich sein. Sie seufzte, ohne es zu merken.

»Mach dir nicht so viele Sorgen, Tina«, sagte Christian in ihre Gedanken hinein.

Sie lächelte ihm zu. Was für ein angenehmer Junge er doch war – zurückhaltend und intelligent, genau wie Anna. Beide waren ebenso überrascht gewesen wie ihre Mutter, dennoch waren sie viel lockerer mit der Situation umgegangen. Na ja, dachte Bettina, sie sind auch nicht unmittelbar von meinen schwarzen Zwillingen betroffen, so wie meine Eltern. »Ich mache mir aber Sorgen«, erwiderte sie nach einer Weile. »Meine Mutter ist eigentlich hart im Nehmen. Wenn sie schon beinahe in Ohnmacht fällt beim Anblick der Zwillinge – was wird dann erst mein Vater sagen? Und all unsere lieben Verwandten und Bekannten?«

»Klatschen und tratschen«, meinte Anna. »Lass sie doch. Hauptsache, dir und den Zwillingen geht es gut. Sie sind toll, Tina.«

»Danke, ich finde sie auch toll.«

»Warum willst du eigentlich nicht verraten, wer der Vater ist?«

»Wozu soll ich das tun? Es kennt ihn hier ja doch keiner.«

»Das stimmt. Aber wenn deine Eltern wüssten, was er macht, wie du ihn kennengelernt hast und so – dann wäre es für sie bestimmt leichter.«

Bettina schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Gründe, Anna. Gute Gründe. Kein Mensch wird den Namen von Miriams und Pauls Vater aus mir herauskriegen, bis er selbst nach Deutschland kommt.«

»Hat er das vor?«

»Oh ja, das hat er.«

Anna fing einen Blick des kleinen Fürsten auf, mit dem er ihr sagte, sie solle das Thema fallenlassen – und das tat sie dann auch. Ungern zwar, denn Geheimnisse hatten sie schon immer gereizt, aber sie wollte Bettina ja auch nicht auf die Nerven gehen mit ihren Fragen.

Als sie den Zoo am Spätnachmittag verließen, waren sie sich jedenfalls darin einig, dass sie einen weiteren schönen Tag in Frankfurt verbracht hatten.

*

Alexa konnte nicht aufhören zu weinen. Seit Bettina mit Anna, Christian und den Zwillingen die Villa verlassen hatte, weinte sie, und es war Sofia bisher nicht gelungen, ein Argument zu finden, das wirklich Trost geboten hätte. »Wir sind erledigt, Sofia. Gesellschaftlich erledigt. Zwei uneheliche Kinder hat sie sich aus Afrika mitgebracht – und will noch nicht einmal sagen, von wem.«