Cover

Über dieses Buch

Auf nach Stockholm! Und das Beste: Finn und Joanna sind ohne ihre Eltern unterwegs – sie besuchen ihren Cousin Oscar. Doch dann geschieht es: Finn will einem Obdachlosen etwas spenden, aber der bewegt sich nicht. Haben die Kinder etwa mitten in der Stadt einen Toten entdeckt? Doch warum ist er kurz darauf verschwunden? Und weshalb werden sie nun von einer dunklen Limousine verfolgt? Tatkräftig unterstützt von Oscar und der obdachlosen Ronja, machen sich die Geschwister quer durch das nächtliche Stockholm auf Verbrecherjagd …

Der Autor

Andreas Schlüter wurde 1958 in Hamburg geboren. Bevor er mit dem Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begann, leitete er mehrere Jahre Kinder- und Jugendgruppen und arbeitete als Journalist und Redakteur. Mit dem ersten Band der Erfolgsserie »Level 4« gelang ihm 1994 der Durchbruch als Schriftsteller. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt er auch Drehbücher, u. a. für den Tatort und krimi.de. Andreas Schlüter arbeitet in Hamburg und auf Mallorca. Mehr auf www.schlueter-buecher.de

Der Illustrator

Markus Spang, 1972 in Karlsruhe geboren, beschäftigte sich eine Zeit lang mit Philosophie und Kunstgeschichte und studierte dann Illustration in Krefeld und Münster. Heute lebt er wieder in Karlsruhe, malt Bilder, zeichnet Schriften und ersinnt eigene Geschichten.

Andreas Schlüter

City Crime

Strichcode in Stockholm

Mit Bildern von Markus Spang

Tulipan

Inhalt

Stadtplan

Ankunft

Eine gruselige Entdeckung

Eine erste Spur

Eine neue Bekanntschaft

Seltsame Wege

Kidnapping!

Spuren in der Nacht!

Kaltes Chaos!

Endlich eine heiße Spur!

Gefährliche Aktion

Das Geheimnis des Obdachlosen

Wohin mit der Formel?

Der Plan

Die Falle

Kleiner Schwedisch-Wortschatz

Impressum

Stadtplan von Prag

GEWONNEN!

Finn schaute aus dem Flugzeug auf eine gewaltige Seenlandschaft.

»Fantastisch!«, schwärmte er.

Ein großer Teil des Wassers war noch gefroren. Die Übergänge zwischen dem Eis und den aufgetauten Wasserflächen bildeten die bizarrsten Formen und Farben. An manchen Ufern standen einzelne kleine Holzhäuser, zum Teil noch mit Schnee bedeckt, andere, gänzlich schneefrei, verhießen den bevorstehenden Frühling. Es war März, der Himmel strahlend blau, aber in Schweden herrschten noch weitgehend Minus-Temperaturen. Aus dem Fenster des Flugzeugs heraus konnte Finn genau erkennen, welche Flächen dort unten mehr Sonne abbekamen und welche im Laufe eines Tages lange im Schatten standen. Noch nie hatte er den Übergang vom Winter zum Frühling so bildhaft vor Augen gehabt wie hier im Anflug auf Stockholm.

Seine ältere Schwester Joanna saß neben ihm auf dem Mittelsitz. Zwar schaute sie auch gern aus dem Fenster, trotzdem hatte sie ihrem Bruder den Platz überlassen, weil es ihr letztlich doch wichtiger war, sich im Reiseführer auf den bevorstehenden Aufenthalt vorzubereiten. Das machte sie zwar immer, wenn sie verreisten, aber dieses Mal noch intensiver und mit noch größerer Leidenschaft. Denn dies war ihre erste Reise ohne ihre Eltern. Bisher waren sie entweder zu viert oder zumindest mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zusammen geflogen oder hatten einen von beiden vor Ort getroffen. Dieses Mal aber waren die Eltern zu Hause geblieben und hatten ihre Kinder allein ins Flugzeug gesetzt. Natürlich blieben die beiden nicht ohne Aufsicht. Dafür waren Finn mit seinen zwölf und Joanna mit ihren dreizehn Jahren noch zu jung. Sie besuchten ihren Onkel Thomas, den Bruder ihres Vaters, der seit fünfzehn Jahren mit einer Schwedin verheiratet war und in Stockholm lebte. Die beiden hatten einen Sohn in Finns Alter. Finn und Joanna hatten ihren Cousin seit drei Jahren nicht mehr gesehen, aber sie wussten, dass sie sich gut mit ihm verstanden, und freuten sich auf die gemeinsame Zeit mit ihm. Durch seinen deutschen Vater konnte Oscar recht gut Deutsch, was ihnen vor Ort sicher nützen würde, denn selbst Joanna, die sehr sprachbegabt war, verstand kein einziges Wort Schwedisch. Finn sowieso nicht, der tat sich generell mit Fremdsprachen sehr schwer.

Joanna überlegte gerade, welche Sehenswürdigkeit sie sich als Erstes anschauen wollte. Das Königsschloss oder …

»Ich will ins Nobel-Museum«, wurde sie von Finn in ihren Gedanken unterbrochen.

»Okay«, stimmte Joanna ihm zu. Sie fand das Museum auch interessant, in dem man nicht nur etwas über den ­Stifter des berühmten Alfred-Nobel-Preises erfahren konnte, sondern auch noch über alle Nobelpreisträger, die es jemals gegeben hatte. »Aber erst das Königsschloss!«

»Ja, gut.« Finn war einverstanden.

Er schaute wieder aus dem Fenster und fragte sich, wie wohl ihre Unterkunft sein würde. Sie hatten ihren Onkel und Oscar zwar schon mehrmals getroffen, aber immer nur in Deutschland. Zum ersten Mal statteten sie ihnen einen Besuch in Stockholm ab.

»Was gibt es in Schweden eigentlich Besonderes zu essen? Außer die Köttbullar, die man von IKEA kennt, meine ich«, fragte Finn.

Bestimmt hatte seine Schwester auch darüber etwas gelesen. Finn aß zwar – egal, welches Land sie gerade besuchten – überall am liebsten Burger, aber es interessierte ihn doch, was es Landestypisches zu essen gab. Obwohl er das meiste schon von zu Hause her kannte. Bei ihnen gab es eine solche Auswahl an italienischen, türkischen, griechischen, spanischen, thailändischen und anderen Restaurants und Imbissbuden aus aller Welt, dass ihn auf Reisen nichts mehr wirklich überraschen konnte. In Prag allerdings waren die Braten und Knödel schon eine Entdeckung gewesen, während Finn in Paris, mit seinen Schnecken, Muscheln, Algen und manchmal sogar Innereien, dann doch lieber zum Burger mit Pommes zurückgekehrt war. Hier in Schweden schien er schon wieder alles zu kennen, von ihren Besuchen in dem großen Möbelhaus.

»Vergammelten, stinkenden Fisch!«, antwortete Joanna auf Finns Frage.

Finn lachte laut los. Denn er dachte, Joanna hätte einen guten Witz gemacht.

Hatte sie aber nicht.

»Das stimmt wirklich«, schwor sie. »Surströmming heißt das, eine alte schwedische Spezialität. Hier!« Sie zeigte auf die Stelle in ihrem Reiseführer und las ihm vor: »Er wird aus ausgewachsenen Ostseeheringen hergestellt. Dieser wird im Frühjahr gefangen und in Salzlake eingelegt, wo er zu gären beginnt. Etwa einen Monat vor dem Verkaufsstart wird der Fisch in Konserven verpackt, in denen sich der Gärprozess fortsetzt, so dass sich Boden und Deckel der Dosen wölben

»Gären? Was heißt das?«, fragte Finn.

Joanna grinste.

»Verfaulen! Man lässt den Fisch verfaulen. Wenn man die Dose öffnet, stinkt es erbärmlich. Es kann sogar passieren, dass die Dosen beim Öffnen fast explodieren. Viele müssen sich übergeben, wenn sie so eine Dose öffnen.«

Finn riss entsetzt die Augen auf.

»Das glaube ich nicht. Die essen wirklich stinkenden, verfaulten Fisch? Die spinnen, die Schweden. Onkel Thomas wird uns doch hoffentlich so etwas nicht anbieten?«

»Wer weiß?«, sagte Joanna und verkniff sich ein Lachen. Natürlich würde sie ebenso wenig wie Finn je so etwas essen und hoffte auch, dass Onkel Thomas sie damit verschonen würde. Aber es hatte eben seinen Reiz, den kleinen Bruder ein bisschen zu necken.

Finn nahm sich vor, bei passender Gelegenheit Oscar zu fragen, ob er so etwas Ekliges schon mal gegessen hatte. Er selbst würde sich lieber möglichst schnell nach einem guten Burger-Restaurant umschauen. McDonald’s oder so gab es bestimmt auch in Stockholm.

Der Flughafen von Stockholm war klein, düster und lag weit außerhalb der Stadt. Aber Finn und Joanna wurden von ihrem Onkel und Oscar abgeholt.

Die beiden erwarteten sie am Ausgang. Onkel Thomas hatte sich einen Vollbart wachsen lassen, sodass Finn und Joanna zweimal hinschauen mussten, bis sie ihn erkannten. Ansonsten sah er aber zum Glück aus wie immer: braune Cordhosen, feste Schuhe, als wollte er sie zu einer Wande­r­ung abholen, passend dazu eine wetterfeste Wander­jacke. Oscar hatte sich seit ihrem letzten Treffen viel stärker verändert. Er trug angesagte Sneakers, Hoody, Wollmütze und eine Allover-Jogginghose. Er hätte ohne Weiteres direkt vom Flughafen aus mit einer Hip-Hop-Gruppe auf die Bühne steigen können. Auch bewegte er sich in dem typisch schaukelnden Gang, als er auf sie zukam, um sie zu begrüßen.

»Hey!«, rief er Finn und Joanna zu. »Schön, dass ihr da seid!«

»Er freut sich schon seit Wochen darauf, euch Stockholm zu zeigen!«, verriet Onkel Thomas. »Und hat schon viele Pläne gemacht.«

»Echt?«, fragte Joanna lächelnd. »Das ist ja nett.«

Oscar wirkte geschmeichelt. Zumindest lief er ein klein wenig rot an, wie Finn bemerkte.

»Ich will das versunkene Schiff sehen!«, meldete Finn sogleich an.

»Klar!«, versprach Oscar. »Aber ich hab noch bessere Sachen: viele Comicläden zum Beispiel. Mögt ihr Comics?«

»Ja!«, rief Finn begeistert.

»Nö!«, bekannte Joanna, was bei Oscar sofort eine betrübte Miene hervorrief.

»Echt nicht?«, fragte er enttäuscht. »Okay … Äh … Was magst du denn? Ich dachte …?«

Finn seufzte.

Auf jeder Reise lernten sie irgendwelche Jungs kennen, die seine Schwester anhimmelten und ihr alles recht machen wollten – das kannte er schon. Aber Oscar würde doch nicht auch so sein? Er war schließlich ihr Cousin! Finn hoffte, dass Oscar sich nicht nur darauf freute, Joanna »seine« Stadt zu zeigen, sondern ihnen beiden.

Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt dauerte eine Dreiviertelstunde, und während der langen Fahrt überlegten die drei gemeinsam, was sie in den nächsten Tagen unternehmen wollten.

Finn hob seinen Fuß und drehte ihn so, dass die Sohle seines Schuhs nach oben zeigte. Sie hatte ein großes Loch.

»Mit den Schuhen gehst du auf Reisen?«, meckerte Joanna.

»Das hab ich auch eben erst im Flugzeug bemerkt«, verteidigte sich Finn. »Ich glaube, ich muss mir neue kaufen! Ich wollte ja sowieso schon lange neue Sneakers. Das ist eine gute Gelegenheit!«

»Spinnst du?«, widersprach Joanna. »Das ist eine ganz schlechte Gelegenheit! Wir haben doch gar nicht genug Geld dabei!« Natürlich hatten die Kinder Taschengeld für ihren Aufenthalt mitbekommen. Aber so viel, dass da locker ein Paar neue Schuhe drin wären, war es nun auch wieder nicht. Zumal sie wusste, dass Finn sich auch nicht irgendwelche Schuhe kaufen würde. »Wer soll die bezahlen?«

Finns Gesichtszüge verfinsterten sich.

»Aber mein Schuh!« Noch einmal zeigte er auf das Loch in seiner Sohle.

»Kein Problem!« Onkel Thomas lachte. »Ich lege das Geld aus.«

Finn freute sich.

Joanna verzog die Mundwinkel und schüttelte den Kopf, was heißen sollte: Da hätte Finn wirklich zu Hause mal auf seine Sachen achten können.

»Wir können zu Fuß in die Einkaufszone gehen«, sagte Oscar. »Auf dem Weg kommen wir sogar am Königspalast vorbei. Den wolltet ihr doch sowieso sehen!«

Nun hellten sich Joannas Gesichtszüge wieder auf.

Während Finn beim Stichwort König die schwedische Währung einfiel: Schwedische Kronen.

»Kann man da auch Geld tauschen? Wir haben nur Euro dabei«, fragte er.

»Eigentlich braucht man in Schweden gar kein Bargeld«, erklärte Onkel Thomas. »Man zahlt hier alles mit Kreditkarte.«

Joanna und Finn schauten sich verdutzt an.

»Wir haben keine Kreditkarten. Wir sind Kinder!«, stellte Joanna klar.

»Ich auch nicht«, erläuterte Oscar. »Genau genommen benutzen in Stockholm nur noch Kinder Bargeld. Alle Erwachsenen zahlen mit Karte.«

»Cool!«, fand Finn.

»Cool?«, hakte Joanna argwöhnisch nach.

»Dass nur Kinder echtes Geld haben«, erklärte Finn. »Ist ja fast wie in einer Kinderstadt!«

»Aber es wird kein Problem sein, das Geld umzutauschen«, versprach Onkel Thomas.

Finn schaute aus dem Auto auf eine normale, moderne Großstadt, so wie er sie auch von zu Hause kannte. Das änderte sich allerdings, kurz bevor sie ihr Ziel erreichten. Denn Onkel Thomas wohnte mit seiner Familie in Gamla Stan, der Altstadt-Insel von Stockholm. Sie kamen am Hauptbahnhof vorbei, bogen nach einer Linkskurve rechts auf eine Brücke und fuhren – ein Stückchen parallel zu den Fernzügen – hinüber auf die Insel. Finn kam es schon nach dem ersten Augenschein vor, als würde sie ausschließlich aus Häusern bestehen, die er bisher nur aus historischen Filmen kannte. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hingucken sollte. Ein Gebäude war hübscher als das andere, als hätte ein Riese sich eine schöne Modelleisenbahn-Landschaft gebaut. Die Straßen wurden schmaler, manche durften gar nicht mit dem Auto befahren werden, in anderen schloss sich das ohnehin von selbst aus, so eng waren sie.

Auf einem kleinen Platz hielt Onkel Thomas endlich an und verkündete: »Wir sind da!«

Finn und Joanna stiegen aus und schauten auf ein Haus aus dem 18. Jahrhundert.

»Hier wohnen wir!« Oscar zeigte auf die Fenster in der zweiten Etage.

»Cool!«, fand Finn.

»Und das Beste …«, ergänzte Oscar. »Von hier aus können wir fast alle Sehenswürdigkeiten leicht erreichen. Durch ganz Gamla Stan kann man wunderbar zu Fuß gehen.«

»Klasse!«, kommentierte Joanna.

Und auch Onkel Thomas freute sich, dass er die Kinder nicht zu jedem Ort, den sie besuchen wollten, hinfahren musste.

Oscar drehte sich einmal um sich selbst, während er nacheinander in die verschiedenen Richtungen zeigte: »Dort entlang Königsschloss und Nobel-Museum, dort hinten sind die Schiffsanleger. Von da können wir mit dem Schiff zum Vasa-Museum fahren und nach Junibacken.

»Super!«, freuten sich Finn und Joanna gleichzeitig. Finn meinte damit das Vasa-Museum, in dem man ein altes Schiff besichtigen konnte, Joanna hatte an Junibacken gedacht, das kleine »Kinderparadies«, in dem eine Ausstellung der Werke von Astrid Lindgren zu sehen war.

GEWONNEN!

Eine Stunde nach ihrer Ankunft machten sich Finn, Joanna und Oscar auf den Weg in die Einkaufsstraße. Sie gingen am Königsschloss vorbei und näherten sich über die Riksbron-Brücke dem dahinterliegenden, imposanten historischen Gebäudekomplex Rosenbad, in dem der Ministerpräsident von Schweden residierte und das Parlament tagte. Genau an der Ecke des Gebäudes entdeckte Finn eine kleine, ganz unscheinbare Besonderheit: eine kaum einen Meter hohe Statue, die – von den meisten Passanten übersehen – wohl einen Bären darstellte; vielleicht aus einem schwedischen Märchen, wie Finn zunächst vermutete.

Doch Oscar kannte diese kleine Statue.

»Das ist kein Bär, sondern ein Fuchs: der Hemlös Räv!«, erklärte er. »In Lumpen und alte Decken gehüllt, sitzt der Fuchs da wie ein Bettler.«

Auf dem Schoß des großen Fuchses lugte ein kleiner Babyfuchs aus den vielen Stoffschichten heraus.

»Der Fuchs soll daran erinnern, dass es auch in Schweden viele Obdachlose gibt, denen man helfen soll«, erklärte Oscar weiter.

»Das finde ich gut«, kommentierte Joanna. Und zeigte kurz darauf auf einen Mann, der an eine Hausmauer gelehnt auf der Straße hockte. Sie hatten die Altstadt verlassen, und es war, als wären sie nun in eine völlig andere Stadt eingetaucht. Außer den Aushängen in den Schaufenstern in schwedischer Sprache deutete nichts darauf hin, dass sie in Stockholm waren. Man hätte auch in einer x-beliebigen Einkaufsstraße einer x-beliebigen anderen Stadt Westeuropas sein können.

Hier saß der Mann zusammengekauert, fast als hätte er als Vorbild für die Statue gedient. Ebenfalls in Lumpen gehüllt.

»Seht mal den da! Wollen wir ihn fragen, was er braucht?«, schlug Joanna vor.

»Was soll der schon brauchen?«, entgegnete Finn. »Geld natürlich. Wir haben aber noch nichts umgetauscht!«

Joanna verzog das Gesicht und ärgerte sich, dass sie noch keine Schwedischen Kronen bei sich hatten. Gern hätte sie dem Obdachlosen etwas gegeben.

»Bei den Obdachlosen kann man auch mit Kreditkarte spenden«, erzählte Oscar, was Finn gar nicht glauben konnte.

»Wie? Dafür braucht man doch so einen Zahlautomat?«

Oscar nickte.

»Ja, diejenigen, die die Obdachlosenzeitung verkaufen, haben solche Automaten.«

»Irre!«, fand Finn. »Nützt uns aber nichts. Denn Kreditkarten haben wir auch nicht.«

»Ich frag ihn trotzdem, ob wir ihm helfen können«, sagte Joanna entschieden. »Wir können ja Geld tauschen und ihm auf dem Rückweg etwas geben.«

»Gute Idee!«, stimmte Finn ihr zu.

Und sie gingen zur anderen Seite der Fußgängerzone hi­nüber.

Oscar übernahm es, den Mann auf Schwedisch zu fragen.

Aber der antwortete nicht. Mehr noch, er würdigte die Kinder nicht einmal eines Blickes. Sein Kopf war nach vorn auf die Brust gesunken. Er schien in tiefen Schlaf gefallen zu sein.

»Bestimmt betrunken«, mutmaßte Finn.

Doch Oscar widersprach.

»Im Vergleich zu Deutschland ist Alkohol hier sehr, sehr teuer«, erklärte er. »Bestimmt das Dreifache oder so. Und man bekommt Alkohol auch nur in Läden, die eine Sondergenehmigung besitzen. Ich glaube, Obdachlose können sich kaum Alkohol leisten.«

Finn zuckte nur mit den Schultern. Dann war der Mann eben einfach nur total müde. Er wollte den Mann schlafen lassen und weiterziehen.

Doch Joanna hielt ihn zurück.

»Warte mal kurz!« Sie ging auf den Obdachlosen zu und tippte ihn sachte gegen den Arm. »Hallo?«

»Lass ihn doch!«, forderte ihr Bruder sie auf.

»Und wenn der gar nicht schläft, sondern etwas mit ihm ist?«, fragte Joanna.

Finn konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte.

»Na«, klärte Joanna ihn auf. »Ohnmächtig, bewusstlos, irgendwas mit dem Kreislauf oder so. Vielleicht braucht er einen Arzt?«

Sie tippte ihn nochmals an. Diesmal etwas fester.

Dann noch einmal.

Und ein viertes Mal. Da wollte sie ihn schon richtig rütteln. Doch mit einem Mal kippte der Mann einfach zur Seite weg und blieb leblos liegen.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Joanna.

Auch Finn und Oscar wurden bleich.

»Glaubst du, er ist …?« Finn wagte es gar nicht auszusprechen.

Joanna nickte nur stumm. Dann sagte sie: »Wir müssen die Polizei verständigen!«

»Vor dem Parlament stehen immer Wachen!«, sagte Oscar. Das waren keine zwei Minuten Fußweg.

»Gute Idee!«, lobte Joanna.

Die drei rannten, so schnell sie konnten, los.

Oscar hatte recht gehabt. Kurz darauf standen sie vor einem der Polizisten, die vor dem Parlamentsgebäude Wache schoben. Aufgeregt brabbelte Oscar auf ihn ein und berichtete, dass sie eine Leiche entdeckt hatten. Aber statt sofort zu handeln, schaute der Polizist Oscar argwöhnisch und streng an und antwortete etwas, was wie eine Ermahnung klang.

»Was ist?«, fragte Joanna. »Was sagt er? Was wollen sie tun?«

»Er glaubt uns nicht so recht«, übersetzte Oscar.

Finn seufzte. ›Oh nein!‹, dachte er. ›Nicht auch noch das!‹ Er wusste, was geschehen konnte, wenn man Joanna nicht glaubte. Und prompt kam es so, wie er befürchtet hatte.

»Waaas?«, entfuhr es Joanna. Ihre Stimme nahm gleich einen bedrohlich schrillen Tonfall an. »ER KANN DIE LEICHE DOCH SELBST SEHEN. Nur ein paar Hundert Meter von hier!«

Joanna zeigte aufgebracht in Richtung Einkaufsstraße.

»Er darf hier nicht fort«, übersetzte Oscar.

»Was soll das denn heißen? Ein Polizist darf sich nicht drum kümmern, wenn ein Toter auf der Straße liegt?«, ereiferte Joanna sich.

»Doch«, widersprach Oscar. Und weil Joanna so laut geworden war, traute er sich kaum, das zu übersetzen, was ihm der Polizist noch gesagt hatte. Stotternd versuchte er es trotzdem: »Er darf seinen Posten nicht verlassen wegen … eines … äh … Kinderstreiches!«

Joanna lief vor Wut rot an.

»Oder eines unbegründeten Verdachts!«, fügte Oscar schnell hinzu, weil er glaubte, das würde Joanna ein klein wenig beruhigen. Aber »unbegründeter Verdacht« fand Jo­anna fast noch schlimmer als »Kinderstreich«. Ein »Streich« bedeutete nur eine Fehleinschätzung des Polizisten. Aber »unbegründet« hieß doch: »Will er damit sagen, wir lügen, oder was?«

Oscar war es schon sichtlich peinlich, wie sehr sich Joanna gegenüber dem Beamten aufregte. Auch Finn sah verlegen beiseite.

»DA LIEGT EIN TOTER!«, brüllte sie den Polizisten jetzt auf Deutsch an. Dann auf Englisch: »A man was killed! On the street!«

Und weil es ausgerechnet in dieser Einkaufsstraße im Jahr 2017 einen furchtbaren Terroranschlag mit einem Lkw gegeben hatte, bei dem fünf Menschen ums Leben gekommen und vierzehn weitere verletzt worden waren, drehten sich die ersten Vorübergehenden mit besorgten Mienen zu der kleinen Szene um.

Endlich reagierte der Polizist. Er gab den Kindern zu verstehen, dass er jetzt mitkommen würde, aber dass die Kinder etwas erleben könnten, wenn ihre Aussage sich als falsch erweisen würde!

Es dauerte trotzdem weitere gut fünf Minuten, ehe sie endlich dort ankamen, wo die Kinder den toten Obdachlosen entdeckt hatten.

Und überrascht feststellten: Die Leiche war verschwunden!

Joanna konnte es nicht fassen.

Der Polizist hingegen fühlte sich bestätigt und hielt den Kindern eine gehörige Standpauke. Solche Scherze dürfe man sich nicht erlauben, schimpfte er. Und als er gerade damit zu drohen begann, alles den Eltern der Kinder zu erzählen, und sogar eine Strafanzeige wegen Irreführung der Polizei in Erwägung zog, meldete sich zum Glück ein Passant zu Wort, der die lautstarke Strafpredigt mitbekommen hatte. Er habe den Obdachlosen hier sitzen sehen und auch beobachtet, wie die Kinder ihn angesprochen und der nicht reagiert hatte. Nur weil die Kinder dann sofort losgelaufen seien, um Hilfe zu holen, habe er nichts weiter unternommen und sei ins Geschäft zum Einkaufen gegangen.

Der Polizist beruhigte sich ein wenig. Was Joanna wiederum sehr ärgerte. Das sei wieder typisch!, sagte sie später zu Finn. Wenn Kinder etwas meldeten, glaubte ihnen niemand. Erst wenn ein Erwachsener die Aussage bestätigte, wurde man ernst genommen.

»Und wo ist der tote Obdachlose jetzt?«, fragte der Polizist.

Das vermochte der Passant allerdings auch nicht zu sagen. Als er wieder aus dem Laden herausgekommen war, hatte der Obdachlose nicht mehr dort gelegen.

»Also war er nicht tot?«, hakte der Polizist mit einem strengen Seitenblick auf die Kinder nach.

Der Passant zuckte mit den Achseln. Das könne er nicht sagen. Aber wie sollte ein Toter wohl verschwinden?

Der Polizist räumte nun ein, dass er den Kindern »vielleicht ein bisschen« unrecht getan habe. Offenbar hätten die Kinder sich keinen Scherz erlaubt, sondern die Lage nur falsch eingeschätzt, indem sie einen schlafenden Obdachlosen für tot gehalten hatten.

»Dann will ich es mal bei einer mündlichen Verwarnung belassen«, verkündete er großmütig. Und ging.

Finn fiel ein Stein vom Herzen. Auch Oscar atmete tief durch. Nur Joanna war überhaupt nicht einverstanden. Sie öffnete den Mund zum Widerspruch, doch schnell legte Finn ihr seine Hand auf den Mund.

»Pst!«, zischte er ihr zu. »Willst du noch mehr Ärger mit dem Polizisten? Sei doch froh, dass wir so glimpflich davongekommen sind.«

Joanna schlug seine Hand fort.

»Glimpflich?«, schimpfte sie. »Das nennst du glimpflich?«

Oscar sprang Finn zur Seite.

»Ja!«, sagte er entschieden. »Was glaubt du denn? Wenn er meine Eltern angerufen hätte, dann hätte mein Vater sofort eure Eltern informiert. Und dann?«

»Dann wären unsere Eltern entweder sofort hergekommen oder hätten uns zurück nach Hause gerufen«, beendete Finn Oscars Gedanken.

Joanna kniff die Lippen zusammen. Die Jungs hatten recht. Das gab sie mit ihrer Miene zu. Trotzdem war ihre Wut noch lange nicht verflogen.

»Von wegen: Er hat uns ein bisschen unrecht getan«, wiederholte sie die ihrer Meinung nach viel zu lauwarme Entschuldigung des Polizisten. »Wir sind doch nicht blöd: Der Obdachlose hat eindeutig nicht mehr gelebt!«

Oscar zog die Stirn kraus: »Bist du dir da ganz sicher? Ich glaube, es ist echt schwer, zu erkennen, ob jemand wirklich tot ist, oder?«

»Natürlich bin ich mir sicher!«, meckerte Joanna. »Ihr habt den Mann doch selbst gesehen, wie der leblos zur Seite gekippt ist.«

»Aber Tote können nicht weggehen«, gab Finn zu bedenken. »Und er war nicht mehr da. Wir waren doch nach wenigen Minuten zurück. Wenn ihn jemand weggetragen hätte, das hätte doch länger gedauert!«

»Und das hätte jemand gesehen«, ergänzte Oscar.

Joanna musste zugeben, dass sie diesen Feststellungen nichts entgegenzusetzen hatte.