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Irrlicht
– Jubiläumsbox 3 –

E-Book 11-16

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Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-735-6

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Die Frau ohne Gesicht

Sie war das Rätsel des alten Herrenhauses

Roman von Anne Alexander

Daphne Baker erwachte vom schrillen Läuten des Telefons. Schlaftrunken griff sie zum Hörer und meldete sich, doch dann war sie mit einem Schlag hellwach.

»Was ist passiert, Laura?« fragte sie erschrocken, als sie die tränenerstickte Stimme ihrer älteren Schwester hörte. Mit der linken Hand schaltete sie die Nachttischlampe ein.

»Du mußt mir helfen, Daphne.« Laura Hammond schluchzte. »Richard ist tot. Er wurde erstochen. Er…«

»Erstochen?« Daphne hielt kurz den Atem an.

»Ja.« Ihre Schwester holte tief Luft. »Es ist so schrecklich. Was soll ich nur tun? Ich…« Ihre Stimme brach. Erst nach einigen Sekunden gelang es ihr weiterzusprechen. »Es war die Maud Willis. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«

Daphne zwang sich, ruhig zu bleiben.

»Du willst doch nicht allen Ernstes behaupten, Maud Willis, oder vielmehr ihr Geist, hätte deinen Mann ermordet? Das ist… Laura, bist du dir sicher, daß Richard tot ist?« Nervös griff sie sich in ihre halblangen schwarzen Haare.

»Ganz sicher«, flüsterte Laura. »Er liegt vor dem Kamin. In seinem Rücken steckt mein Brieföffner. Es ist der Brieföffner, den du mir letztes Jahr aus New York mitgebracht hast.«

Daphne konnte sich sehr gut an den Brieföffner erinnern. Er wirkte wie ein kleines, reich verziertes Schwert. Trotz der lauen Sommernacht begann sie zu frieren.

»Erzähl mir, was passiert ist, Laura«, bat sie. »Jede Einzelheit ist wichtig.« Ihre Schwester war schon immer ziemlich überspannt gewesen und hatte bereits als Kind oft in einer Phantasiewelt gelebt. Dinge, die sie sich nicht sofort erklären konnte, schrieb sie gerne übernatürlichen Einflüssen zu.

Laura stieß heftig den Atem aus.

»Mir ist so kalt«, klagte sie. »Ich hätte meinen Morgenrock anziehen sollen, statt im Nachthemd in die Bibliothek hinunterzulaufen.«

»Bitte, Laura«, mahnte Daphne.

»Also ich wachte von einem unbestimmten Geräusch auf«, begann ihre ältere Schwester. »Du weißt ja, daß Richard und ich seit Joyces Geburt getrennte Schlafzimmer haben. Ich blickte zur Verbindungstür, doch in Richards Zimmer schien alles dunkel zu sein. Plötzlich schwebte eine weiße Gestalt durch den Raum. Vor meinem Schreibtisch blieb sie stehen und griff nach dem Brieföffner. Ich wollte das Licht einschalten, aber die Lampe funktionierte nicht, außerdem war ich wie gelähmt vor Angst. Mein Herz klopfte so laut, daß es mir in den Ohren dröhnte. Langsam drehte sich die Gestalt um. Sie besaß weder Mund noch Nase, trotzdem lachte sie.« Laura holte tief Luft. »Ich bin noch nie sehr mutig gewesen. Ich zog mir einfach die Decke über den Kopf.«

»Bist du sicher, daß du diese Geschichte nicht nur geträumt hast, Laura?« fragte Daphne sanft.

»Nein, es war kein Traum«, erklärte ihre Schwester energischer, als es sonst ihre Art war. »Ein Traum wäre nicht so realistisch gewesen.«

»Schon gut, Laura. Was ist dann geschehen?« Daphnes Blick glitt zur Uhr. Es war kurz nach zwei.

»Ich hatte schreckliche Angst«, stammelte Laura. »Maud Willis hat schließlich schon Richards erster Frau den Tod gebracht. Auch ihr soll sie erschienen sein. Ich machte mir plötzlich Sorgen um Richard, obwohl er es nicht verdient hat. Ich stand auf und ging in sein Zimmer hinüber. Sein Bett war unberührt. Also lief ich in die Bibliothek hinunter, um nach ihm zu sehen. Du weißt ja, daß er oft ganze Nächte in der Bibliothek verbringt und in den alten Büchern liest. Mein Mann… Das Licht brannte. Gleich als ich die Tür öffnete, sah ich Richard vor dem Kamin liegen. Ich rannte zu ihm, kniete mich neben ihn. Ich wollte den Brieföffner aus seinem Rücken ziehen, aber als ich ihn berührte, brachte ich es nicht fertig. Es… Daphne, du mußt mir helfen. Du…«

»Weiß schon jemand, daß dein Mann tot ist, Laura?« Daphne bemühte sich, ihre Stimme so geschäftsmäßig und kühl wie möglich klingen zu lassen. Sie konnte ihrer Schwester nur helfen, wenn sie nicht auch noch die Nerven verlor.

»Nein.« Laura schluckte. »Es ist so schrecklich. Nicht, daß mir Richard auch nur noch das Geringste bedeutet hätte, nach allem was er mir in den letzten Jahren angetan hat, aber… Daphne, er ist tot. Er…« Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Laura, bitte, nimm dich zusammen. Als erstes mußt du jetzt die Polizei anrufen. Das ist ungeheuer wichtig.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Daphne.« Laura schluchzte. »Ich bin hier so schrecklich alleine. Ich brauche dich. Nur du kannst mir helfen. Nur du…«

»Du kannst es, Laura«, fiel ihr Daphne ins Wort. »Ich bin in Paris. Natürlich kehre ich mit der ersten Maschine nach England zurück, aber trotzdem kann ich nicht vor dem späten Nachmittag bei dir sein. Bis dahin mußt du ohne mich auskommen.« Die junge Frau dachte nach. »Nachdem du die Polizei angerufen hast, versuche euren Anwalt zu erreichen.«

»Sie werden alle behaupten, ich hätte Richard umgebracht«, flüsterte ihre Schwester. »Du kennst die Familie doch. Mich haben sie noch nie leiden mögen. Besonders Claudine hat mir das Leben stets zur Hölle gemacht. Sie kam dazu, als ich mich gestern abend mit Richard stritt. Mortimer haßt mich auch, von Isabel ganz zu schweigen.«

»Du wirst es schaffen, Laura.«

»Ich könnte die Bibliothek abschließen und mit dem Anruf bei der Polizei warten, bis du bei mir bist«, überlegte die junge Frau laut.

»Laura, das geht nicht.«

»Schon gut. Es war nur eine Idee.« Lauras Stimme klang so mutlos, daß es ihrer Schwester förmlich ins Herz schnitt. »Bitte, komm so schnell wie möglich. Bitte.« Bevor Daphne ihr noch antworten konnte, hatte sie bereits aufgelegt.

»Laura! Laura!« Resignierend ließ die junge Frau den Hörer auf die Gabel fallen. Sie machte sich große Sorgen um ihre Schwester. Mit ihren dreißig Jahren war Laura zwar sechs Jahre älter als sie, aber von jeher war sie die Stärkere und Vernünftigere gewesen. Wann immer Schwierigkeiten auftauchten, flüchtete sich Laura in eine Traumwelt. Es gelang ihr einfach nicht, dem Leben mit offenen Augen entgegenzutreten.

Daphne wählte die Nummer der Rezeption und bat den Nachtportier, für sie einen Flug nach London zu buchen, dann stand sie auf und packte ihre beiden Koffer. Sie wußte, daß ihr Chef alles andere als begeistert sein würde, wenn sie Hals über Kopf Paris verließ, aber in diesem Fall ging ihre Schwester vor. Sie konnte Laura schließlich nicht im Stich lassen.

Nachdem sie alles erledigt hatte, setzte sich die junge Frau in den weichen Sessel am Fenster ihres Hotelzimmers und blickte auf das nächtliche Paris hinunter. Ihre Gedanken glitten in die Vergangeheit zurück.

Laura und Richard Hammond hatten vor zehn Jahren geheiratet. Schon damals hatte sie nicht allzuviel für den Mann ihrer Schwester übriggehabt und ihm mißtraut. Aber Sir Richard hatte Laura das Blaue vom Himmel herunter versprochen und sie derart umworben, daß es ihr vorgekommen sein mußte, als würde sie an seiner Seite im ewigen Glück leben.

Die Wirklichkeit hatte dann aber anders ausgesehen. Schon kurz nach der Hochzeit hatte Laura feststellen müssen, daß sich fünfundzwanzig Jahre Altersunterschied nicht so einfach überbrücken ließen und sie zudem auf Hammond Hall, dem Stammsitz der Familie ihres Mannes, keineswegs willkommen war. Man behandelte sie selbst jetzt noch wie einen Eindringling und warf ihr insgeheim vor, Richard nur seines Geldes wegen geheiratet zu haben.

Daphne blickte zur Uhr. Selten war ihr eine Nacht so lang erschienen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt an der Seite ihrer Schwester zu sein. Laura brauchte sie, hatte sie stets gebraucht.

Die junge Frau stand auf und ging zum Telefon. Sie wählte die Nummer von Hammond Hall, aber am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Resignierend kehrte sie zu ihrem Sessel zurück, um auf den Morgen zu warten.

*

Nach einem hastigen Frühstück saß Daphne kurz nach sechs in dem Taxi, das sie zum Flughafen Orly bringen sollte. Trotz der frühen Morgenstunde hatte sie bereits ihren Chef in London erreichen können. Mr. Lancaster war sofort mit ihrer Rückkehr nach England einverstanden gewesen. Er wollte sich selbst mit den Pariser Geschäftspartnern in Verbindung setzen, um die Verhandlungen, die sie während der letzten Tage in seinem Namen geführt hatte, zu verschieben.

Daphne hatte während der letzten Stunden noch zweimal versucht, ihre Schwester zu erreichen, aber jedesmal war sie nicht nach Hammond Hall durchgekommen. Sie verstand nicht, daß Laura nicht noch einmal angerufen hatte und befürchtete das Schlimmste. Hoffentlich hatte ihre Schwester der Polizei nichts von Maud Willis erzählt. Niemand würde ihr abnehmen, daß der Geist einer Toten ihren Mann ermordet hatte.

Mit geschlossenen Augen lehnte sich die junge Frau zurück, um darüber nachzudenken, was sie über Maud Willis wußte. Sie befanden sich noch immer in der Pariser Innenstadt. Die Straßen waren bereits um diese Tageszeit total verstopft. Das Taxi kam fast nur im Schritttempo vorwärts.

Maud Willis war vor vierzehn Jahren wegen Mordes an ihrem Ehemann zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden und zwei Jahre später einem Herzleiden erlegen. Bis zuletzt hatte die Frau ihre Unschuld beteuert und sogar Richter Hammond als Zeugen dafür angeführt. Sie hatte behauptet, ihm in der Mordnacht begegnet zu sein, doch Sir Richard hatte es unter Eid abgestritten. Man hatte ihm geglaubt. Als Richter war er über jeden Zweifel erhaben gewesen.

Noch während Mauds Untersuchungshaft war ihre Tochter Jenny an Leukämie gestorben. Am Tag ihrer Verurteilung hatte Maud Sir Richard bittere Rache geschworen, und so war es kein Wunder gewesen, daß man sie in der Nacht nach ihrem Tod in Hammond Hall gesehen haben wollte. Als gesichtlose Frau irrte sie seitdem angeblich durch das alte Gemäuer, laut ihre Unschuld beteuernd und voller Anklagen gegen Sir Richard.

Daphne gestand sich ein, daß sie ihrem verstorbenen Schwager ohne weiteres zutraute, damals ein falsches Zeugnis abgelegt zu haben. Nachzuweisen war es ihm jedoch niemals gewesen, wenngleich vor einigen Jahren eine Frau behauptet hatte, die Geliebte Sir Richards gewesen zu sein. Sie lebte in derselben Gegend, in der Maud Willis in jener Nacht den Richter gesehen haben wollte.

Einige Tage später hatte sie jedoch behauptet, sie hätte sich nur wichtig machen wollen. Kurz darauf war sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Die junge Frau blickte auf ihre Armbanduhr. Sie steckten immer noch mitten in der Stadt.

»Können Sie nicht versuchen, den Verkehr zu umgehen?« fragte sie ungeduldig den Fahrer.

»Wie denn, Madame?« Um die Lippen des Mannes zuckte ein ironisches Lächeln. »Soll ich meinem Taxi vielleicht Flügel anschrauben?«

»Keine schlechte Idee, Monsieur«, bemerkte Daphne und lehnte sich wieder zurück.

Endlich hatten sie Paris hinter sich gelassen und befanden sich auf der Straße nach Orly. Daphne schaute aus dem Wagenfenster. Es regnete. Der Himmel wirkte grau in grau. Das Wetter paßte zu ihrer Stimmung. Eine entsetzliche Angst preßte ihr Herz zusammen.

Mit jeder Minute, die verging, nahm diese Angst zu. Sie spürte, daß sich Laura in großer Gefahr befand. Sie glaubte, ihre Schwester vor sich zu sehen. Was hätte sie darum gegeben, schon jetzt bei ihr zu sein!

Plötzlich konnte sie das triste Grau des Himmels nicht mehr ertragen. Sie schloß erneut die Augen und dachte an Lauras Kinder. Robert, Richards Sohn aus erster Ehe, war jetzt elf Jahre alt. Wie seine siebenjährige Schwester Joyce besaß er große dunkle Augen und schwarze Haare. Laura hatte niemals einen Unterschied zwischen den Kindern gemacht. Sie liebte Robert, als sei er ihr eigener Sohn.

»Mon Dieu!« schrie der Fahrer plötzlich auf. Im selben Moment wurde das Taxi auf der regennassen Straße von einem Lastwagen zur Seite gedrängt.

Daphne prallte so heftig mit dem Kopf gegen die Scheibe, daß sie sofort das Bewußtsein verlor. Sie spürte nicht einmal mehr, wie der Wagen die Böschung hinunterrutschte und sich überschlug.

*

»Sie kommt zu sich.«

Daphne schlug die Augen auf. Sie blickte in fremde Gesichter, die sich besorgt über sie beugten.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte ein älterer Mann. Gleich den anderen trug er einen weißen Kittel.

Die junge Frau versuchte sich aufzurichten. Erst dabei wurde ihr bewußt, daß sie in einem hohen, schmalen Bett lag. Aufstöhnend ließ sie sich wieder auf das Kissen zurücksinken. Sekundenlang schien sich das Bett zu bewegen. Die Gesichter um sie herum verwandelten sich in bizarre Fratzen.

»Sie müssen ganz ruhig liegen bleiben«, sagte der Mann, der sie gefragt hatte, wie sie sich fühlte. »Sie haben eine mittelschwere Gehirnerschütterung.« Er stellte sich als Dr. Manet vor und nannte den Namen des Krankenhauses, in das man sie gebracht hatte.

»Eine Gehirnerschütterung?« wiederholte Daphne zweifelnd. »Ich… Laura!« Wieder wollte sie sich aufrichten, aber wieder schaffte sie es nicht. »Ich muß zu Laura.« Sie stöhnte. »Ich muß das Flugzeug nach England erreichen. Meine Schwester braucht mich. Sie…«

»Tut mir leid, Mademoiselle Baker, aber vorläufig sind Sie nicht reisefähig«, sagte Dr. Manet. »Auch mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Sie werden mindestens eine Woche in der Klinik bleiben müssen, dann können wir weitersehen.«

»Das geht nicht.« Die junge Frau versuchte, gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen. Sie mußte zu Laura, durfte sie jetzt nicht im Stich lassen. »Es ist wichtig, daß ich nach England fliege«, beharrte sie. »Meine Schwester befindet sich in einer schwierigen Situation.«

»Ihre Schwester wird verstehen, daß sie noch für einige Tage auf Sie verzichten muß«, erklärte der Arzt. »Sie werden jetzt auf Station gebracht. Ich bin gerne bereit, einige Telefonate für Sie zu führen.« Langsam und bedächtig, als hätte er es mit einem unmündigen Kind zu tun, erklärte er ihr, mit welchen Folgen sie rechnen mußte, wenn sie während der nächsten Tage nicht strikte Bettruhe einhielt.

Daphne sah ein, daß Dr. Manet recht hatte. Was nützte es ihrer Schwester, wenn sie krank nach England zurückkehrte? Um Laura zu helfen, mußte sie ihre fünf Sinne beisammen haben, durfte nicht von Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen geplagt werden.

»Gut, ich bin einverstanden«, erwiderte sie. Plötzlich fiel ihr der Fahrer des Taxis ein. Sie fragte nach ihm.

»Monsieur Cave hat auch großes Glück gehabt«, antwortete Dr. Manet. »Bis auf eine Schulterquetschung und einigen Platzwunden ist ihm bei dem Unfall kein Haar gekrümmt worden.«

Was ist überhaupt passiert? wollte Daphne noch fragen, doch sie kam nicht mehr dazu. Eine große schwarze Wand tauchte vor ihr auf. Sie streckte abwehrend die Hände aus. Es nützte nichts. Ihre Finger glitten durch die Wand hindurch, ließen es zu, daß die Schwärze sie völlig in sich aufnahm.

*

Es dauerte eine Woche, bis Daphne aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Vergeblich hatte sie darum gebeten, selbst mit ihrer Schwester sprechen zu können.

»Sie brauchen sehr viel Ruhe, Mademoiselle Baker«, hatte ihr Dr. Manet immer wieder versichert. »Sie möchten doch nicht Ihr Leben lang unter den Folgen der Gehirnerschütterung leiden.«

Was war der jungen Frau anderes übriggeblieben, als sich zu fügen, zumal ja Dr. Manet mit ihrer Schwester telefoniert hatte und es scheinbar keinen Grund mehr gab, sich Sorgen zu machen. Doch so ganz traute sie der Aussage des Arztes nicht. Immerhin war ihr Schwager ermordet worden. Laura hätte über sich selbst hinauswachsen müssen, wenn sie alleine damit fertig geworden wäre.

Vor dem Abflug nach London hatte Daphne noch reichlich Zeit, um mit ihrer Schwester zu telefonieren. Aber auf Hammond Hall meldete sich nur der Butler. Er sagte ihr, daß Mistreß Hammond im Moment nicht anwesend sei und er nicht wüßte, wann sie zurückkehren würde.

Daphne wußte, daß es keinen Sinn hatte, weitere Fragen zu stellen. Bei ihren Besuchen auf Hammond Hall hatte sie Thomson gründlich kennengelernt. Der Mann war durch und durch ein Snob. Stets hatte er ihr das Gefühl vermittelt, am falschen Ort zu sein. Er hielt ihre Schwester für einen Emporkömmling, nicht wert, einer Familie wie den Hammonds anzugehören.

Die junge Frau ging zum Zeitungsstand. Sie wollte sich mit Lesen die Wartezeit verkürzen. Außer der

»Times« kaufte sie noch ein Taschenbuch über Schottland. Vor zwei, drei Jahren hatten Laura und sie einmal geplant, einige Wochen in der Gegend von Ayr zu verbringen, aber Richard war dagegen gewesen.

»Eine Frau gehört an die Seite ihres Mannes«, hatte er gesagt, damit war das Thema für ihn erledigt gewesen. Daphne nahm sich vor, so bald wie möglich mit Laura und den Kindern nach Schottland zu fahren. Es würde ihnen guttun, einmal so richtig abzuschalten.

Sie ließ sich in einen der bequemen Sessel fallen und schlug die »Times« auf. Flüchtig überflog sie die ersten beiden Seiten. Sie konnte sich einfach nicht auf die Artikel konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu Laura.

Daphne wollte die Zeitung schon zuschlagen, als ihr Blick auf die Schlagzeile der dritten Seite fiel. »Lady Hammond wegen Mordes verhaftet«. Fassungslos starrte sie auf die großen schwarzen Buchstaben, bis sie vor ihren Augen verschwammen. Es konnte, es durfte nicht sein. Niemand, der Laura kannte, würde sie ernsthaft des Mordes verdächtigen.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich Daphne soweit gefaßt hatte, daß sie in der Lage war, den Artikel zu lesen. Mit wenigen Worten wurde geschildert, was die Polizei in der Mordnacht auf Hammond Hall vorgefunden hatte.

Die Beamten sind von Lady Hammond auf den Besitz gerufen worden. Sie erzählte ihnen eine verworrene Geschichte, die darauf hinauslief, daß der Geist einer verurteilten und längst verstorbenen Mörderin ihren Mann umgebracht hätte.

Sir Richard Hammond ist in der Bibliothek seines Hauses mit einem Brieföffner erstochen worden, der seiner Frau gehört. Wie die Familie des Ermordeten und das Personal übereinstimmend aussagten, war es am Abend vor dem Mord zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Lady Hammond und ihrem Gatten gekommen. Laura Hammond soll ihrem Gatten wieder einmal der Untreue bezichtigt haben. Ein Vorwurf, der nach Aussage der Familie völlig haltlos ist.

Nach eingehender Untersuchung wurde festgestellt, daß sich auf der Tatwaffe nur die Fingerabdrücke von Lady Hammond befinden. Obwohl Lady Hammond nach wie vor ihre Unschuld beteuert und vom Geist der Maud Willis spricht, wurde sie vor zwei Tagen verhaftet.

Daphne schossen Tränen in die Augen. Sie konnte sich durchaus vorstellen, wie ungeschickt sich Laura verhalten hatte. Sie traute es ihrer Schwester auch zu, sich in alle möglichen Widersprüche verwickelt zu haben. Es kam ihr vor, als hätte sie Laura im Stich gelassen. Wäre sie nur fünf Minuten früher zum Flughafen gefahren, sicher wäre es nicht zu diesem Unfall gekommen.

Die junge Frau blinzelte die Tränen fort. Es half nichts, wenn sie jetzt die Nerven verlor. Sie konnte ihrer Schwester nur helfen, indem sie versuchte, ihr den Halt zu geben, der ihr fehlte. Laura hatte ihren Mann nicht umgebracht, da war sie sich ganz sicher. Daphne nahm sich vor, alles zu tun, um den wahren Täter zu finden.

*

Es überraschte Daphne, daß ihr Chef sie vom Flughafen abholte. Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung sagte er ihr, daß er ihr unbefristet Urlaub geben würde. Auch Mr. Lancaster glaubte nicht an Lauras Schuld, aber er war überzeugt, daß die Gerechtigkeit siegen und man schon bald den wahren Täter verhaften würde.

»Denken Sie daran, daß Sie noch krank sind«, bat er, als er sich von ihr verabschiedete. »Eine Gehirnerschütterung ist nichts, mit dem man spaßen sollte.« Er sah sie besorgt an. »Ich verliere nicht gerne meine beste Kraft.«

»Ich fühle mich ausgezeichnet, Mister Lancaster«, behauptete die junge Frau, obwohl sie hin und wieder noch Kopfschmerzen und Schwindel plagten. »Sie wissen doch, Unkraut vergeht nicht.«

Er ergriff ihre Hand.

»Ich kann Sie sehr gut verstehen, Miß Baker«, sagte er. »Ich würde meine Schwester auch nicht im Stich lassen. Und vergessen Sie nicht, falls ich irgend etwas für Sie oder Ihre Schwester tun kann, rufen Sie mich an. Ich bin jederzeit für Sie zu sprechen.«

Auf der Fahrt nach Cornwall dachte Daphne darüber nach, wieviel Glück sie gehabt hatte, einen Chef wie Bert Lancaster zu finden. Sie arbeitete seit dem Abitur in seinem Konzern und hatte es nach und nach zur Direktionsassistentin gebracht. Zudem mußte sie nicht befürchten, daß er ihr jemals zu nahe treten würde. Bert Lancaster ging seine Familie über alles. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnte er seine glückliche Ehe und sprach von seinen Kindern.

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als sie Hammond Hall erreichte. Eine schmale, gewundene Straße führte durch einen gepflegten Park zu dem burgähnlichen Herrenhaus, das gleich einem Adlernest hoch oben auf einer steilen Klippe thronte.

Die junge Frau hielt vor dem Parktor, stieg aus und klingelte. Es dauerte fast zwei Minuten, bis sich die Stimme des Butlers meldete. »Bitte, Sie wünschen?« fragte er näselnd.

Daphne nannte ihren Namen.

»Bitte, öffnen Sie das Tor, Thomson«, fügte sie hinzu, weil sie nicht annahm, daß er es so ohne weiteres tun würde.

»Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich angemeldet, Miß Baker«, sagte er in einem Ton, der deutlich verriet, was er von ihrem späten Besuch hielt.

Daphne verzichtete darauf, ihm zu antworten. Stillschweigend wartete sie auf das Öffnen des Tores. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Erst nach fünf Minuten glitt es zur Seite.

»Na also«, murmelte sie halblaut vor sich hin und setzte sich wieder hinter das Steuer ihres Wagens.

In der Dunkelheit wirkte der Park gespenstisch. Auch wenn Daphne nicht an Geister glaubte, sie war überzeugt, daß das Anwesen der Hammonds eine gute Kulisse zu einem Horrorfilm abgegeben hätte. Sie hatte sich hier noch niemals sonderlich wohl gefühlt und sie wußte, daß auch Laura auf Hammond Hall stets eine Fremde geblieben war.

Die junge Frau parkte ihren Wagen unweit des überdachten Portals. Sie war kaum ausgestiegen, als sich das Portal öffnete und eine große, sehr schlanke Frau heraustrat. Sie trug ein knöchellanges schwarzes Kleid und eine ebenfalls schwarze Strickjacke. Mit ausgebreiteten Armen ging sie Daphne entgegen.

»Wie gut, daß Sie gekommen sind«, sagte sie und zog die junge Frau impulsiv an sich. »Es ist alles so furchtbar. Erst mein Bruder, jetzt Laura. Ich bin völlig außer mir.«

»Es tut mir leid wegen Ihres Bruders, Claudine«, fühlte sich Daphne gezwungen zu sagen. Die herzliche Begrüßung überraschte sie. Richards Schwester, Claudine Forest, hatte niemals einen Hehl daraus gemacht, daß sie sie nicht leiden konnte. »Wie geht es den Kindern? Wissen Robert und Joyce, daß Laura verhaftet wurde?«

»Mein Sohn hat es ihnen dummerweise gesagt«, erwiderte Mrs. Forest.

»Earl meinte, es hätte keinen Sinn, den Kindern die Wahrheit zu verschweigen. Zudem hat zumindest Robert mitbekommen, daß seine Stiefmutter verdächtigt wird, Richard ermordet zu haben.«

»Und was glauben Sie, Claudine?« Daphne blickte der Frau ins Gesicht.

»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, bekannte die Schwester des Ermordeten und ergriff den Arm der jungen Frau. »Aber jetzt kommen Sie erst einmal herein.«

Sie drehte sich halb um. »Thomson, sorgen Sie bitte dafür, daß das Gepäck von Miß Baker ins Grüne Zimmer gebracht wird.« Lächelnd wandte sie sich wieder Daphne zu. »Sie werden doch sicher ein paar Tage bleiben?«

»So lange es nötig ist«, antwortete Daphne.

»Guten Abend, Miß Baker«, grüßte der Butler hoheitsvoll.

Die junge Frau begnügte sich mit einem knappen Nicken, dann betrat sie hinter Claudine Forest die verwinkelte Halle des Herrenhauses. Der Raum war so groß, daß die Wandlampen ihn nur notdürftig erhellen konnten. Ihr Licht warf lange Schatten auf den mit alten Steinplatten bedeckten Boden. Laura hatte ihr erzählt, daß die Steine aus den Ruinen einer Abtei stammten, die im Mittelalter in Flammen aufgegangen war.

»Das nenn’ ich eine Überraschung!« Aus dem Hintergrund der Halle kam ihnen ein großer blonder Mann entgegen, dem man schon auf den ersten Blick ansah, daß es sich um Claudines Sohn handeln mußte. »Sie hätten sich wenigstens vorher anmelden können«, bemerkte er zornig.

»Earl, bitte.« Claudine berührte Daphnes Schulter. »Sie dürfen es Earl nicht übelnehmen, daß er Sie so unfreundlich begrüßt. Er hat sehr an meinem Bruder gehangen.«

»Was ich nur zu gut verstehen kann. Immerhin hat sich mein verstorbener Schwager ihm gegenüber sehr großzügig verhalten«, bemerkte die junge Frau. Sie dachte nicht daran, sich einschüchtern zu lassen. Richard hatte seinem Neffen vor einigen Jahren die Verwaltung des Besitzes übertragen. Laura war überzeugt gewesen, daß Earl seinen Onkel betrog.

Earls Lippen umhuschten ein spöttisches Lächeln.

»Habe ich jemals abgestritten, daß mein Onkel ein großzügiger Mann gewesen ist?«

»Tante Daphne!« Robert Hammond stürzte die Treppe herunter. Jubelnd warf er sich in die Arme der jungen Frau. »Ich habe so gehofft, daß du kommst«, bekannte er und schlang die Arme um ihren Nacken. »Wo warst du so lange?« Vorwurfsvoll sah er sie an.

»Ich war krank, Bobby«, erwiderte Daphne und küßte ihren Stiefneffen auf beide Wangen. »Wo ist Joyce?«

Robert ließ sie los und wandte sich der Treppe zu.

»Komm, Joyce!« rief er dem kleinen Mädchen zu, das sehr langsam die Stufen herunterstieg. »Du freust dich doch auch, daß Tante Daphne jetzt bei uns ist. Nun wird Mommy auch bald wieder nach Hause kommen.«

Stirnrunzelnd beobachtete Daphne ihre Nichte. Es war keine drei Monate her, daß sie Joyce zuletzt gesehen hatte. Damals war die Kleine ein wahres Energiebündel gewesen, das keine zwei Minuten ruhig bleiben konnte. Das Kind, das jetzt die Stufen herunterstieg, schien um Jahre gealtert. Sein hübsches Gesichtchen wirkte grau und eingefallen, seine Augen schienen starr auf etwas zu blicken, das außer ihm niemand sehen konnte.

»Was ist mit ihr?« flüsterte sie erschrocken Claudine zu.

»Joyce steht noch unter Schock«, erwiderte die Schwester des Ermordeten. »Du weißt, wie sehr sie an ihrem Vater gehangen hat. Seit Richards Tod hat sie kein Wort mehr gesprochen.«

Daphne breitete die Arme aus. »Komm, Lovely«, lockte sie. »Ich habe mich so auf dich und Bobby gefreut.«

Für den Bruchteil einer Sekunde verlor Joyces Blick seine Leblosigkeit. So etwas wie Freude strahlte in ihren Augen auf, doch dann war es wieder vorbei. Teilnahmslos ließ sie sich von ihrer Tante in die Arme nehmen.

»Um diese Zeit habt ihr hier unten eigentlich nichts mehr verloren«, bemerkte Earl Forest. »Wo ist Nancy? Ist es nicht ihre Aufgabe dafür zu sorgen, daß die Kinder pünktlich im Bett liegen?«

»Ich habe vom Gangfenster aus Tante Daphnes Wagen gesehen«, nahm Robert das Kindermädchen in Schutz. »Wir wollten nur hinuntergehen, um meine Tante zu begrüßen.«

»Was sehr lieb von euch ist.« Daphne strich ihm durch die Haare.

»Aber jetzt geht besser wieder hinauf. Ich werde nachher noch einmal nach euch sehen.« Sie küßte Joyce auf die Stirn. »Versprochen.«

Das kleine Madchen zögerte einen kurzen Augenblick, dann erwiderte es hastig den Kuß, bevor es sich aus Daphnes Armen löste und mit seinem Bruder in den ersten Stock zurückkehrte.

»Seid ihr mit Joyce schon beim Arzt gewesen?« fragte Daphne, als die Kinder außer Hörweite waren.

»Joyce braucht keinen Arzt, nur etwas Ruhe«, erklärte Earl Forest. »Immerhin hat sie einiges zu verkraften. Der Tod ihres Vaters war ein großer Schock für sie. Dazu muß sie jetzt noch damit fertig werden, daß er von ihrer eigenen Mutter erstochen wurde.«

»Meine Schwester hat Ihren Onkel nicht ermordet, Earl.«

»Wer außer ihr käme sonst in Frage?« Der Verwalter verzog die Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. »Oder glauben Sie etwa diese Geistergeschichte, die Ihre Schwester uns weismachen wollte? Ich bin ein Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben steht, und ich weiß, daß Geistererscheinungen in das Reich der Phantasie gehören. Mag sein, daß mein Onkel damals Unrecht getan hat, doch Maud Willis liegt seit vielen Jahren unter der Erde. Dadurch ist eines gewiß: Sie hat ganz bestimmt nichts mit seiner Ermordung zu tun.«

»Genausowenig wie meine Schwester, Earl«, antwortete Daphne unbeeindruckt. »Vielleicht sollten Sie einmal darüber nachdenken, daß ganz bestimmt nicht jeder, der innerhalb dieser ehrwürdigen Mauern lebt, Ihren Onkel geliebt hat.«

»Ich meine, es reicht für heute«, warf Claudine Forest ein und schenkte Daphne ein Lächeln. »Sie werden sicher sehr müde sein. Ich werde dafür sorgen, daß man Ihnen noch einen Imbiß auf Ihrem Zimmer serviert. Morgen früh wird Sie dann der Rest der Familie begrüßen.«

»An Ihrer Stelle würde ich sofort wieder abreisen, Daphne, wir brauchen Sie hier nicht«, erklärte Earl Forest, warf ihr einen angewiderten Blick zu und kehrte in den Salon zurück.

»Bitte, verzeihen Sie meinem Sohn«, bat Claudine, als sie mit der jungen Frau die Treppe hinaufstieg. »Richards Tod war ein schwerer Schlag für ihn. Es wird einige Zeit dauern, bis er darüber hinweggekommen ist.«

Daphne zog es vor, ihr darauf nicht zu antworten. Sie kannte Earl Forest gut genug, um zu wissen, daß es nur einen einzigen Menschen gab, den er liebte, nämlich sich selbst. Zudem hielt sie ihn für einen sehr berechnenden Mann, der niemals auch nur einen Finger rührte, wenn er sich nicht davon eine Belohnung versprach.

»So, da wären wir, Daphne.« Claudine blieb vor einer hohen Tür stehen. »Sie kennen sich ja auf Hammond Hall aus. Ihnen muß ich nicht erst sagen, daß nächtliche Geräusche völlig normal für ein so altes Gemäuer sind. Nur dumme, unwissende Leute glauben, daß diese Geräusche von den Geistern Verstorbener hervorgerufen werden.«

»Sie müssen sich um mich nicht sorgen, Claudine«, versicherte Daphne.

»Dann bis morgen früh.« Claudine sah sie an. »Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen wiedergesehen.« Sie straffte die Schultern. »Im Grunde sind wir beide Opfer. Ich habe meinen Bruder sehr geliebt, Sie lieben Ihre Schwester. Wir können nur beten, daß nicht ein weiteres Unglück unsere Familien trifft.«

Daphne öffnete die Tür. Ihr Gepäck war bereits heraufgebracht worden. Es stand neben dem breiten, sehr bequemen Bett. Der ganze Raum strahlte eine Behaglichkeit aus, die der jungen Frau in dieser Situation völlig unpassend erschien. Sie ging zum Fenster und öffnete es weit. Kühle Nachtluft streifte ihr Gesicht.

Daphne ließ sich nicht viel Zeit. Sie duschte rasch und zog sich einen Morgenrock über ihr Nachthemd, dann machte sie sich auf den Weg zu den Kinderzimmern, die am anderen Ende des Ganges lagen.

Robert hatte bereits auf sie gewartet. Er sprang aus dem Bett und schloß die Arme um sie.

»Wir sind so froh, daß du da bist, Tante Daphne«, gestand er erneut. »Joyce auch, obwohl sie es nicht sagen kann.« Er blickte zu ihr auf. »Wann wird Joyce wieder sprechen können? Ich habe solche Angst.«

»Das weiß ich nicht, Bobby, aber ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, um ihr zu helfen.« Die junge Frau legte die Hände auf seine Schultern. »Wenn wir alle drei ganz fest zusammenhalten, wird sicher wieder alles gut.«

Robert schüttelte den Kopf.

»Nicht alles«, flüsterte er und bemühte sich, nicht zu weinen. »Daddy ist tot. Jemand hat ihn ermordet.« Er klammerte sich an seine Tante. »Meine Mom war es nicht, das weiß ich, auch wenn sie sich oft gestritten haben.«

Es erschien Daphne gemein, den Jungen auszuhorchen, dennoch fragte sie: »Weshalb haben sie sich gestritten?«

»Einmal ging es um Isabel«, verriet der Elfjährige. »Mom hat gesehen, wie Daddy und Isabel sich geküßt haben.« Sein Gesicht verzog sich vor Zorn. »Ich kann Isabel nicht leiden. Sie ist ein richtiges Biest.«

Daphne teilte seine Abneigung. Auch sie hatte noch nie etwas für Isabel Hammond übriggehabt. Bei Lauras Hochzeit war Isabel erst zehn gewesen, aber schon damals hatte sie versucht, Richard zu umgarnen. Blond und blauäugig, mit einem Gesicht, das jeden Maler begeistert, schaffte es Isabel stets, ihren Willen durchzusetzen. Die junge Frau zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß ihre Schwester Grund zur Eifersucht gehabt hatte.

»Ich werde jetzt noch nach Joyce sehen, Bobby«, sagte sie. »Es ist spät, und du solltest wirklich schon schlafen. Morgen früh werden wir uns über alles unterhalten.«

Daphne blieb noch einen Augenblick bei ihm, dann betrat sie durch die offene Verbindungstür das Zimmer.

An Joyces Bett saß eine ältere Frau. Sie stand auf, als sie Daphne bemerkte. Lautlos ging sie ihr entgegen.

»Die Kleine schläft, Miß Baker«, flüsterte sie ihr zu. »Bitte, wecken Sie sie nicht auf. Ich bin nur noch bei ihr geblieben, um ein wenig auf sie aufzupassen.«

»Ich habe nicht vor, Joyce zu wecken«, versicherte Daphne. Sie trat an das Bett und hauchte der Kleinen einen Kuß auf die Stirn, bevor sie mit Nancy den Raum verließ. Leise fiel die Tür hinter ihnen ins Schloß.

*

Wider Erwarten schlief Daphne ein, kaum daß sie das Licht gelöscht hatte. Durch das offene Fenster klang das Rauschen der Brandung, hin und wieder auch ein Nachtvogel, aber die junge Frau nahm diese Geräusche nur im Unterbewußtsein wahr.

Im Traum sah sie sich mit ihrer Schwester durch blühende Felder gehen, durch Wälder rennen und Hand in Hand ins Wasser waten. Eine tiefe Sehnsucht nach den Kinderjahren ergriff sie. Damals war ihre Welt noch in Ordnung gewesen, da hatten sich weder Laura noch sie Menschen stellen müssen, die nur darauf warteten, sich auf sie zu stürzcn.

»Aber wir werden keine Opfer sein«, sagte sie halblaut vor sich hin und erwachte von ihrer eigenen Stimme. Verwirrt blinzelte sie ins Licht. Ihr Blick glitt zur Uhr. Es war kurz nach sieben, allerhöchste Zeit, um aufzustehen. Immerhin wollte sie mit der Familie frühstücken.

Mit Bedacht wählte Daphne ein dunkles Kleid, obwohl sie nach wie vor keine Trauer um Richard empfinden konnte, aber sie wollte die Gefühle der anderen nicht verletzen. Immerhin war Claudine seine Schwester gewesen und hatte ihn geliebt. Zudem schien Mrs. Forest außer den Kindern auch die einzige zu sein, der sie auf Hammond Hall willkommen war. Earl hatte ihr ja sehr deutlich gezeigt, daß auch der Rest der Familie über ihr Kommen nicht begeistert sein würde.

Auf dem Weg zur Halle begegnete der jungen Frau nur eines der Hausmädchen. Schüchtern grüßte es, als es an ihr vorbei die Treppe hinaufstieg. Daphne war überzeugt, daß es wenige Stufen weiter stehenblieb, um ihr nachzuschauen, aber sie dachte nicht daran, sich umzudrehen. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben.

»Guten Morgen, Miß Baker.« Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich Thomson vor ihr auf. Sie nahm an, daß er in einer der Nischen gestanden hatte.

»Guten Morgen, Thomson.« Sie nickte ihm knapp zu. »Sind die anderen schon beim Frühstück?«

»Mistreß Forest und ihre Familie frühstücken bereits. Mister Hammond und Miß Isabel sind noch nicht rübergekommen«, antwortete der Butler hoheitsvoll. Er ging ihr voraus und öffnete die Tür zu einem sonnendurchfluteten Zimmer. »Miß Baker«, meldete er völlig überflüssigerweise.

Claudine Forest, die an der Stirnseite des langen Refektoriumstisches saß, stand auf und ging ihr entgegen.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Daphne«, meinte sie und ergriff ihre Hand.

»Danke, ganz ausgezeichnet«, antwortete Daphne, während sie sich gleichzeitig darüber ärgerte, daß Claudine an der Stirnseite des Tisches saß. So freundlich sie auch von ihr empfangen worden war, Claudine hatte keine Sekunde gezögert, Laura von ihrem Platz zu drängen.

»Das freut mich.« Mrs. Forest führte die junge Frau zum Tisch.

Earl Forest deutete ein Nicken an. Er dachte nicht daran, aufzustehen, doch sein Vater erhob sich.

»Schade, daß wir uns unter so unglücklichen Umständen wiedersehen, Miß Baker«, meinte er betrübt. »Ich wünschte, Ihre Schwester hätte sich nicht zu so einer schrecklichen Tat hinreißen lassen.«

»Meine Schwester hat Richard nicht ermordet, Bruno«, antwortete Daphne mit Nachdruck und setzte sich an den Tisch. Sie hatte Claudines Mann noch nie leiden können. Sie hatte etwas gegen Parasiten. Bruno Forest war erst dreiundfünfzig, hatte sich aber bereits vor Jahren ins Privatleben zurückgezogen und vom Geld seines Schwagers gelebt. Er behauptete, an einem großen Roman über England zu schreiben, hatte aber noch kaum ein Wort zu Papier gebracht

»Sie sollten die Augen nicht vor den Tatsachen verschließen, Daphne« sagte Bruno Forest. »Bitte, glauben Sie mir, niemand tut es mehr leid als mir, was passiert ist. Ich habe immer etwas für Laura übriggehabt, aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen.«

»Am besten, Sie reisen noch heute ab«, schlug sein Sohn vor. »Weder mein Vater noch ich möchten Ihnen zu nahe treten, doch keinem von uns fällt es leicht, mit Lauras Schwester unter einem Dach zu leben.«

»Ich werde nicht abreisen«, erklärte Daphne und blickte ihm ins Gesicht.

»Warum sollten Sie auch?« fragte Claudine und lächelte ihr zu.

»Die Männer mögen zwar darüber etwas anders denken, aber ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Daphne. Wir sollten gemeinsam beratschlagen, wie wir Laura helfen können.«

»Mutter!« stieß Earl hervor. »Hast du etwa vergessen, was diese Frau getan hat?«

»Mag sein, daß die Beweise gegen Laura sprechen, aber ich bin noch lange nicht davon überzeugt, daß sie Richard ermordet hat«, antwortete Claudine.

Earl sah sie kopfschüttelnd an.

»Verzeih, Mutter, aber manchmal bist du hoffnungslos naiv.«

»Earl, wie sprichst du mit deiner Mutter?« brauste Bruno Forest auf. »Sofort entschuldigst du dich.«

»Laß nur, ich weiß es ja, wie es Earl meint«, nahm seine Frau den Sohn in Schutz. Sie blickte zur Tür. »Ah, da kommen Mortimer und Isabel. Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, grüßte Mortimer Hammond. Auf seinen Stock gestützt trat er ins Zimmer. Mit seinen weißen Haaren und von Furchen durchzogenem Gesicht wirkte er wie ein gütiger Großvater, doch Daphne wußte, daß sie sich keineswegs von seinem Äußeren täuschen lassen durfte. Hinter der faltigen Stirn des alten Mannes verbarg sich ein harter, glasklarer Verstand. Dennoch hatte Mortimer mit seinen Erfindungen niemals Erfolg gehabt, doch er war überzeugt, daß eines Tages die ganze Welt von ihm sprechen würde.

»Ich habe bereits gehört, daß Sie uns mit Ihrem Besuch beehren, Daphne«, sagte er.

»Alle Achtung vor Ihrem Mut. Immerhin hat Ihre Schwester…«

»Meine Schwester hat nicht«, fiel ihm die junge Frau ins Wort. »Hallo, Isabel«, grüßte sie Mortimers Enkelin, die sich ohne sie auch nur anzusehen, an den Tisch gesetzt hatte.

»An Ihrer Stelle würde ich meine Sachen packen und verschwinden«, zischte die junge Frau. »Was Ihre Schwester uns angetan hat, wird niemals mehr gutzumachen sein.«

»Damit wären also die Fronten geklärt«, bemerkte Daphne sarkastisch. Sie war es durch ihre Arbeit gewohnt, gegen Widerstände anzukämpfen, und dachte nicht daran, auch nur einen Millimeter nachzugeben. »Vergessen Sie nicht, dies ist auch das Haus meiner Schwester, und ich bin überzeugt, daß Laura ganz sicher nichts dagegen hat, wenn ich hierbleibe und mich, unter anderem, um die Kinder kümmere.«

»Die Kinder haben Nancy. Sie brauchen Ihre Hilfe nicht.« Isabel Hammond warf ihr einen wütenden Blick zu. »Meinen Sie wirklich, Sie brauchen hier nur auftauchen und könnten irgendwelche Rechte einfordern? Wenn…«

»Isabel, bitte«, unterbrach sie Claudine. »Ich kann Daphne sehr gut verstehen. Wie gesagt, ich kann ja auch nicht so recht daran glauben, daß Laura Richard erstochen hat.«

»Vergiß nicht den heftigen Streit, den Richard und Laura noch am Abend zuvor hatten«, warf ihr Mann ein. »Wie gewöhnlich machte sie ihm wieder einmal völlig grundlos eine Szene.«

»Immerhin ist bekannt, daß Ihre Schwester meinen Cousin nur wegen seines Titels und vor allen Dingen wegen seines Vermögens geheiratet hat«, meldete sich Mortimer Hammond zu Wort. »Ihre Schwester hatte Richard regelrecht verhext.«

»Selbst der alte Gregson glaubt an Lauras Schuld«, bemerkte Earl Forest. »Er hat sich geweigert, ihre Verteidigung zu übernehmen.«

»Doktor Gregson?« Daphne kannte den alten Anwalt. Sie hatte bisher sehr viel von ihm gehalten. Wie sie von Laura wußte, vertrat seine Kanzlei die Familie seit Jahrzehnten.