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Die Klinik am See
– Jubiläumsbox 1 –

E-Book 1-6

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-711-0

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Als sein Traum Wirklichkeit wurde

Ein Arzt legt den Grundstein zu seinem Lebenswerk

Roman von Britta Winckler

»Nein, nein, das darf doch nicht sein«, rief der schlanke Mann in dem dunklen Anzug laut und klagend, als der Sarg sich immer tiefer in das Grab senkte. »Helen, was soll ich ohne dich tun? Ich… ich… konnte doch gar nicht mehr helfen. Loslassen… loslassen!« fuhr er auf, als er spürte, daß ihn jemand fest am Handgelenk und an der Schulter packte und rüttelte.

»Paps, um Gottes willen, wach doch auf!« rief da eine helle Stimme.

»Was… was ist?«

»Du hast geträumt, Paps.«

Der so Angesprochene riß die Augen auf. Verwirrt blickte er umher. Es dauerte einige Sekunden, bis er wußte, wo er sich befand – nämlich im Bett seines Schlafzimmers in der ersten Etage des Doktorhauses. Im Schein der Nachttischlampe erkannte er seine Tochter Astrid, die auf der Bettkante saß und ihn besorgt ansah. »Wie kommst du denn in mein Zimmer?« fragte er. »Mitten in der Nacht und noch dazu im Nachthemd...« Um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch.

Für Astrid Lindau war das der Beweis dafür, daß ihr Vater wieder voll in der Gegenwart war. »Aber Herr Doktor Lindau, was sind das denn für Gedankengänge?« gab sie mit einem lustigen Blinken in ihren rehbraunen Augen zurück. »Es wird deiner Tochter doch keinen moralischen Schaden zufügen, wenn sie nachts und im Nachthemd ihren gutaussehenden Vater in seinem Zimmer besucht. Oder?« Liebevoll blickte sie ihren Vater an, der sich im Bett aufgerichtet hatte. »In deiner Praxis unten bekommst du doch von anderen Weiblichkeiten mehr zu sehen als bei mir«, fügte sie ihren vorherigen Worten hinzu.

»Ich muß sagen, daß du mit deinen achtzehn Jahren schon ganz schön frech bist, Astrid«, ging Dr. Hendrik Lindau auf den burschikosen Ton seiner Tochter ein. »Wie spät haben wir es denn?« fragte er ernst werdend.

»Gleich ein Uhr nachts«, antwortete Astrid und wurde auch ernst. »Dein lautes Rufen hat mich geweckt«, fuhr sie fort, »und da bin ich eben gekommen, weil ich dachte…«

»Ich habe wieder geträumt«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter. »Es war nicht das erste Mal.«

»Du hast von Mama geträumt, stimmt’s?«

Hendrik Lindau nickte. »Ich sah mich wieder am Grab stehen«, murmelte er.

»Das tut mir leid, Paps, daß dich solche Träume immer noch quälen, obwohl seit Mamas Tod doch schon fünfzehn, nein, sechzehn Jahre vergangen sind.« Mit einer zärtlichen Geste strich Astrid ihrem Vater über das ein wenig zerzauste dunkelbraune Haar. »Irgendwie bin ich aber auch ein wenig glücklich darüber«, setzte sie leiser hinzu.

Verdutzt sah Dr. Lindau seine Tochter an.

»Es freut dich, daß mich solche Träume quälen?« fragte er mit einem rauhen Ton in der Stimme. »Das verstehe, wer kann…«

Astrid lächelte schwach. »Nicht darüber freue ich mich«, gab sie erklärend zurück, »sondern weil deine Träume für mich ein Beweis sind, daß du Mama sehr geliebt haben mußt und sie immer noch in Erinnerung hast.«

Dr. Lindaus Züge nahmen einen weichen Ausdruck an. Mit der Linken zog er seine Tochter näher an sich heran. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er leise.

»An deiner Liebe zu Mama?« Astrid schüttelte heftig ihren braunen Wuschelkopf. »Nein, Paps, nie«, versicherte sie.

»Danke, mein Mädchen«, sagte Hendrik Lindau in fast flüsterndem Ton. »Deine Mutter wird stets einen Platz in meinem Herzen haben. Du selbst erinnerst mich immer wieder an sie, weil du äußerlich wie innerlich ihr Ebenbild bist.«

Astrid schluckte. Die Worte des Vaters gingen ihr nahe. Sie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Spontan neigte sie sich vor und gab dem Vater einen Kuß. »Jetzt mußt du aber schlafen, Paps«, flüsterte sie. »Morgen früh wird bestimmt wieder eine Menge Patienten im Wartezimmer sitzen. Da mußt du fit sein. Ich übrigens auch.«

»Du hast doch Ferien, Mädchen«, entgegnete Dr. Lindau, »und kannst länger schlafen.«

»Ich möchte aber mit dir zusammen frühstücken«, gab Astrid mit fester Stimme zurück und erhob sich. Nachdenklich sah sie ihren Vater an. Es schien, als habe sie noch etwas auf dem Herzen.

»Ja?« Fragend und gleichermaßen auffordernd blickte Hendrick Lindau seine Tochter an. »Ist noch etwas?«

»Ja… das heißt nein…« Mit einem geflüsterten Gutenachtgruß verließ Astrid das Zimmer ihres Vaters.

In dessen Augen war ein sinnender Ausdruck, als er sich wieder zurücklegte und das Licht löschte. Eine ganze Weile starrte er noch in die Dunkelheit des Raumes. Im Zeitraffertempo zogen die Geschehnisse von damals hinter seiner Stirn vorbei – jener unglückliche Nachmittag, als er von seinen Hausbesuchen zurückgekommen war und seine sterbende Frau vorgefunden hatte und das noch im Mutterleib bereits verstorbene ungeborene Baby. Dabei hatte er nach der ersten Verzweiflung erkannt, daß er Helen und dem Kind hätte gar nicht helfen können, selbst wenn er zu Hause gewesen wäre. Die Lösung der Plazenta hatte sich bei Helen so rasch eingestellt, daß selbst bei einem sofortigen Transport in die nächste, zwei Autostunden weit entfernte Klinik jede Hilfe zu spät gekommen wäre. Die innere Blutung war schneller und stärker gewesen. Sie hatte nicht nur Helens Tod verursacht, sondern auch den des erhofften und erwarteten kleinen Bruders von Astrid.

Ein verhaltener Seufzer kam über Hendrik Lindaus Lippen, als er sich zur Seite drehte, die Augen schloß und dann von einer Sekunde auf die andere wieder in Schlaf fiel.

*

In der richtig gemütlich eingerichteten Wohnküche saßen sie sich gegenüber – Dr. Hendrik Lindau und seine Tochter Astrid. Schweigend nahmen sie das von Astrid zubereitete Frühstück zu sich. Mit einem nachdenklichen Ausdruck in ihren braunen Augen betrachtete Astrid ihren Vater.

»Du siehst mich so eigenartig an, Mädchen«, ergriff Dr. Lindau das Wort und legte die Serviette beiseite. Ein feines Lächeln huschte um seine Mundwinkel. »Stimmt an mir etwas nicht?« fragte er.

»Du siehst wie immer blendend aus, Paps«, gab Astrid zurück. »Ich mache mir lediglich Gedanken.«

»Worüber?« Dr. Lindau begann etwas zu ahnen.

»Über dich«, antwortete Astrid. »Über... über... deine Träume zum Beispiel«, fügte sie leiser und zögernd hinzu. »Kommt das öfter bei dir vor?«

Hendrik Lindau wurde ernst. »Öfter?« wiederholte er fragend und schüttelte den Kopf. »Das wäre zuviel gesagt«, redete er weiter. »Ab und zu kommen natürlich die Erinnerungen und plagen mich ein wenig. Bei der Gelegenheit – entschuldige, daß ich dich heute nacht geweckt habe mit meinem lauten Traum.«

»Paps, du hast keinen Grund, dich bei mir zu entschuldigen«, erklärte Astrid. »Aber darf ich dich etwas fragen?«

»Immerzu, Mädchen.« Dr. Lindau blickte auf die Uhr. »Bis zum Beginn der Sprechstunde habe ich noch ein wenig Zeit.«

Astrid zögerte etwas, nahm sich dann aber ein Herz und fragte: »Wie war das eigentlich damals mit Mama? Ich weiß von dir nur, daß sie gestorben ist, als sie im Begriff war, mir ein Brüderchen zu schenken. Etwas Näheres hast du mir nie erzählt.«

»Stimmt, Astrid, das habe ich nicht getan«, bestätigte Dr. Lindau. »Doch das geschah nicht in böser Absicht oder weil ich aus Mutters Tod ein Geheimnis machen wollte, sondern…« Mitten im Satz brach er ab und sah seine Tochter fest an.

»Sondern?« hakte Astrid fragend nach.

»Nun, das ist eigentlich in wenigen Worten erklärt«, erwiderte Dr. Lindau. »Erstens warst du damals noch viel zu klein, um alles zu begreifen, und außerdem warst du ja all die Jahre bei Vera…. hm… Tante Vera, weil ich mich doch wegen meiner Arbeit nicht um deine Erziehung kümmern konnte.« Zärtlich sah er seine Tochter an und setzte hinzu: »Wie ich feststellen muß, ist das Vera aber vorzüglich gelungen.«

»Danke, Paps, es freut mich, daß du das sagst. Ich bin Tante Vera ja selbst sehr dankbar dafür, daß sie sich um mich gekümmert hat.« Auf Astrids Lippen zeigte sich die Andeutung eines Lächelns. »Sie hat viel von dir gesprochen, denn sie mag dich auch sehr«, fügte sie hinzu.

Für Hendrik Lindau war das keine Neuigkeit. Er hatte immer schon gewußt, daß Vera Stolte, mit der er auf der gleichen Schule gewesen war, für ihn etwas übrig gehabt hatte. Ihrer beider Wege hatten sich dann aber getrennt. Er hatte Helen geheiratet, und Vera war fast zur gleichen Zeit auch in den Hafen der Ehe eingelaufen.

In diesen Augenblicken mußte Dr. Lindau auch wieder an die geradezu sonderbar anmutende Duplizität der Ereignisse denken. Nämlich daß Vera kurz vor Helens Tod auch ihren Mann verloren hatte. Er war ihr immer noch dankbar dafür, daß sie damals spontan bereit gewesen war, seine zweijährige Tochter zu sich in ihr Haus im fünfzig Kilometer weit entfernten Eibling zu nehmen und sie dort aufzuziehen. Natürlich hatte er den Kontakt mit Astrid nie verkümmern lassen. Sporadisch hatte er sie in Eibling besucht, oder sie war zwischendurch über die Wochenenden bei ihm im Doktorhaus gewesen. Ausgenommen davon waren die zwei Jahre, in denen er sich in der Münchener Universitätsklinik zum Facharzt für Frauenkrankheiten, zum Gynäkologen, ausgebildet hatte.

Astrids Stimme unterbrach die nur Sekunden dauernden erinnernden Gedanken ihres Vaters. »Jetzt bin ich aber wieder hier bei dir – vorläufig jedenfalls«, sagte sie, »und es interessiert mich, wie das mit meiner Mutter gewesen ist. Bitte…«, bat sie, »… erzähle es mir.«

Erneut sah Dr. Lindau auf die Uhr und nickte. »Also gut«, ergriff er das Wort, »du bist jetzt mit deinen achtzehn Jahren kein kleines Kind mehr. Deine Mutter und das erwartete Brüderchen für dich sind gestorben, weil sich die Plazenta gelöst hatte, was innere Blutungen hervorrief, die unrettbar zum Tod führten.«

»Plazentalösung also, das heißt, daß der Mutterkuchen…«

»Sieh an«, staunte Dr. Lindau, »du scheinst ein wenig Bescheid zu wissen.«

»Aber wirklich nur ein wenig, Paps«, gab Astrid zurück. Fragend blickte sie den Vater an. »Eine Rettung war dir nicht mehr möglich?« kam es leise über ihre Lippen.

Hendrik Lindau schüttelte den Kopf. »Zu dem Zeitpunkt nicht mehr«, stieß er hervor. »Eine Rettung wäre vielleicht möglich gewesen, wenn man rechtzeitig, also noch vor der Loslösung der Plazenta, hätte entsprechende Symptome dafür erkennen und deine Mutter schnellstens in die nächste Klinik hätte bringen können. Aber auch dann wären wegen des langen Anfahrtweges bis nach München oder vielleicht nach Rosenheim die Chancen sehr gering gewesen. Eine durch eine Plazentalösung hervorgerufene starke innere Blutung wirkt sich ungeheuer schnell und verheerend aus, wie es sich ja gezeigt hat.«

In Astrids Züge trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Paps, ich möchte dich zum Schluß noch etwas fragen und bitte dich um eine ehrliche Antwort«, kam es dann leise über ihre Lippen.

»Astrid, du wirst von mir immer ehrliche Antworten bekommen«, gab Dr. Lindau zurück »Also bitte, frag’…«

Astrid gab sich einen innerlichen Stoß. »Deine Träume, Paps, und wie ich inzwischen weiß, dein damaliger spontaner Entschluß, Facharzt für Frauenleiden zu werden, hängt das alles irgendwie mit Mamas Tod zusammen?« forschte sie. »Ich meine, hast du... hast du... vielleicht damals das... das Gefühl gehabt, irgendwie…«

»Ich weiß, was du sagen willst«, unterbrach Dr. Lindau die stockend hervorgebrachten Worte seiner Tochter.

»Nein«, sagte er mit fester Stimme, »Schuldgefühle hatte ich nicht, denn vom medizinischen wie ärztlichen Standpunkt aus gesehen, konnte niemand deiner Mutter mehr helfen. Wenn das Wort Schuld überhaupt in diesem Zusammenhang gesagt werden darf, dann nur im Hinblick auf die Wissenschaft und Forschung, der es noch nicht vollständig gelungen ist, das rechtzeitige Erkennen der Symptome bei einem solchen akuten Krankheitsfall für den Arzt zu ermöglichen.«

»Deshalb bist du Frauenarzt geworden, hab’ ich recht?« fragte Astrid leise.

»Ja«, antwortete ihr Vater. »Ich wollte ganz einfach mein Wissen vermehren, um anderen Frauen besser helfen zu können. Frauen haben nun einmal einen etwas komplizierteren Aufbau und Organismus, als wir Männer«, fügte er hinzu. »Du wirst auch noch dahinterkommen. So, jetzt wird es aber Zeit für mich«, sagte er und erhob sich vom Frühstückstisch. »Ich muß hinunter in die Praxis. Was hast du heute vor?« wollte er wissen. »Na, nach deinem sehr gut bestandenen Abitur hast du dir Erholung verdient. Genieße den Tag! Wir sehen uns ja zum Mittag.« Er trat auf Astrid zu und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Jedenfalls bin ich sehr froh, daß ich dich habe und daß du jetzt bei mir zu Hause bist«, flüsterte er, drehte sich abrupt um und verschwand aus der Küche.

Astrid, die vor knapp zwei Wochen ihr Abitur mit sehr gut bestanden hatte und jetzt schon an die weitere Zukunft dachte, hörte den Vater die Treppe hinunter in die Praxisräume gehen. Ein warmes Gefühl ergriff sie, und sie gestand sich ein, daß sie stolz auf ihren Vater war, den sie über alles liebte.

*

Die dunkelhaarige, ein wenig mollig aussehende Marga Stäuber war schon fleißig am Aussortieren der Karteikarten und Krankenunterlagen, als Dr. Lindau mit einem freundlichen Morgengruß die Praxis betrat. Er hatte damals bei der Übernahme der Praxis auf die bewährte Hilfe der siebenunddreißigjährigen Witwe, die bei seinem Vorgänger Sekretärin und Sprechstundenhilfe gewesen war, nicht verzichten wollen. Bis zum heutigen Tag hatte er das noch nicht zu bereuen gehabt. Marga Stäuber hatte sich als verläßliche und damit auch unentbehrliche Kraft bewiesen. Er konnte sich auf sie verlassen. Sie wußte in allen Dingen Bescheid, kannte fast alle Patienten des kleinen Ortes und auch die der nächsten Umgebung und wußte mit ihnen umzusehen. Das war nicht immer leicht, denn der in dieser Gegend lebende Menschenschlag hatte oft sehr merkwürdige Ansichten über Krankheiten und deren Behandlung.

Oft genug hatte das Dr. Lindau erleben können. In früheren Jahren jedenfalls, als er noch ein ganz allgemeiner praktischer Arzt gewesen war. Seit aber das metallene Schild an der Eingangstür besagte, daß hier ein Facharzt für Frauenleiden praktizierte, hatte sich einiges in dieser Richtung geändert. Es schien fast so, als ob die Leute durch die Bezeichnung Facharzt zu mehr Respekt oder Hochachtung angeregt würden und eben diesem Facharzt mehr Vertrauen schenkten als dem bisherigen praktischen Arzt. Wahrscheinlich lag das nicht zuletzt auch ein wenig daran, daß die Patienten, die täglich in die Sprechstunde kamen, im Gegensatz zu früheren Zeiten vorwiegend weiblichen Geschlechts waren. Die Männerwelt war in der Minderzahl, denn sie begaben sich fast ausnahmslos mit ihren Gebrechen, Leiden und anderen Wehwehchen zu Dr. Scholl, einem alteingesessenen praktischen Arzt am anderen Ende des Ortes. Es war eine Art stilles Übereinkommen zwischen Dr. Lindau und Dr. Scholl, Patienten oder Patientinnen entsprechend der Art ihrer Leiden jeweils an den anderen Kollegen zu überweisen.

Aber auch etwas war im Gegensatz zu früheren Zeiten in der Praxis von Dr. Lindau anders geworden. Vor Jahren saßen im Wartezimmer eigentlich nur Patienten, die aus dem Ort und der nächsten Umgebung stammten und da wohnten. Nun aber, und das schon seit längerer Zeit, kamen rat- und hilfesuchende Frauen und Mädchen in die Sprechstunde, die nicht im Ort wohnten, sondern von viel weiter her – aus Rosenheim, Memmingen, Landshut und aus dem Großraum München. Sogar aus der Schwarzwaldgegend und aus dem Stuttgarter Raum waren welche hierhergekommen. Sie alle hatten sich an Dr. Lindau gewandt, dessen Ruf als guter Frauenarzt sich inzwischen herumgesprochen hatte und von dem sie nun nach erfolglosen Konsultationen ihrer jeweiligen Hausärzte Hilfe erhofften und auch bekamen.

Die Frauen kamen aus den unterschiedlichsten Schichten. Dr. Lindau hatte es schon längst aufgegeben, sich zu wundern, weshalb diese Frauen mit ihren verschiedenen Leiden, Krankheiten und damit verbundenen Problemen ausgerechnet zu ihm kamen, obwohl den meisten durch ihren eigenen Hausarzt hätte geholfen werden können. Sehr bald war er allerdings dahinterkommen, daß manche dieser Frauen auf eine Weise anonym bleiben wollten, andere wieder aus einer gewissen – man konnte fast sagen, seelischen Not – den Weg zu ihm gefunden hatten.

Geholfen hatte er jedenfalls allen – ob es nun die Studentin war, die sich vor den Folgen einer heimlichen Liebe fürchtete, oder die vermögende Geschäftsfrau, die sich wegen eines vielleicht von ihr als peinlich angesehenen Leidens von ihrem eigenen Hausarzt, mit dem sie und ihr Mann auch noch gesellschaftlichen Kontakt hatte, schämte. In einem aber war sich Dr. Lindau immer treu geblieben, nämlich seinem ärztlichen Gewissen und seiner Berufung, Leben zu erhalten, so lange es nur möglich war, und alles zu unternehmen, was ihm als Arzt möglich war, um Körper und Seele seiner Patienten und Patientinnen zu heilen. Manch eine hatte von ihm medizinisch-ärztliche Dinge erwartet, ja, sogar verlangt, die er als verantwortungsbewußter Arzt hatte ablehnen müssen. Und das Erstaunliche war geschehen – man hatte es ihm nicht verübelt, sondern war ihm zu guter Letzt – bis auf ganz wenige Ausnahmen –, dann sogar dankbar gewesen.

»Hier sind die Karteikarten der bereits wartenden Patienten«, unterbrach Marga Stäuber die blitzartigen Gedankengänge ihres Chefs und übergab diesem die schon von ihr vorbereiteten Karten.

»Ach so... ja«, fand Dr. Lindau wieder in die Gegenwart zurück. »Wieviel haben wir denn?«

»Bis jetzt sieben«, antwortete die Sekretärin. »Aber es kommen bestimmt noch welche hinzu.«

Dr. Lindau überflog die Karten. »Neupatienten dabei?« fragte er.

»Nur eine«, erwiderte Marga Stäuber. »Kommt aus…«

»Schon gut«, unterbrach Dr. Lindau die Sekretärin und zog sich den weißen Mantel über. »Ist Frau Sieber schon hier?« Er meinte damit Bettina Sieber, die junge medizinischtechnische Assistentin, die er vor knapp zwei Jahren eingestellt hatte, weil er es ohne Hilfe einfach nicht mehr geschafft hatte.

»Sie ist im Sprechzimmer«, erwiderte Marga Stäuber. Besonders freundlich klang ihre Stimme dabei nicht. Zwischen ihr und Bettina Sieber bestand ein etwas gespanntes Verhältnis. Das war aber nicht wegen des guten Aussehens der schlanken blondhaarigen Bettina, bei der Marga manchmal das Gefühl hatte, daß sie es auf ihren Doktor abgesehen hatte. Daß Bettina aber einen festen Freund hatte, der zur Zeit bei der Handelsmarine war, wußte Marga Stäuber nicht. Ihre Aversion gegen die um zwölf Jahre jüngere Bettina basierte mehr auf der Einbildung, daß die Assistentin des Doktors ihr, Marga Stäuber, den Einfluß auf den reibungslosen Ablauf und Betrieb der Praxis streitig machen könnte. Das aber wäre das letzte gewesen, was sich Marga gewünscht hätte. Bisher jedenfalls hatte sie sich immer als »die Seele des Geschäfts« gefühlt, wie es so schön hieß. Das war schon bei Dr. Lindaus Vorgänger so gewesen.

Marga Stäuber wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr dazu, denn Dr. Lindau verschwand gerade durch die Tür, die zu seinem Sprechzimmer führte.

»Sind wir soweit, Frau Bettina?« wandte er sich an seine Sprechstundenhilfe.

Bettina Sieber brachte zuerst einen Morgengruß an. »Es kann losgehen, Herr Doktor«, sagte sie dann lächelnd. »Übrigens – die Laborberichte über die Blutuntersuchungen von Frau…«

»... liegen hier auf meinem Schreibtisch«, fiel Dr. Lindau seiner Assistentin ins Wort. »Ich habe sie gesehen und werde sie mir gleich mal vornehmen. In zwei oder drei Minuten können Sie die erste Patientin dann reinbitten.« Er vertiefte sich in die genannten Laborberichte und nickte zufrieden.

Minuten darauf ließ Bettina die erste Patientin, ein etwas pummelig wirkendes Mädchen mit flachsblondem Haar ins Sprechzimmer. »Lisbeth Kramer«, sagte sie mit verhaltener Stimme zu Dr. Lindau und legte ihm die Karteikarte des Mädchens vor.

Dr. Lindau blickte hoch. Lächelnd sah er das vor ihm stehende Mädchen an. »Wir kennen uns doch«, sagte er freundlich und warf einen raschen Blick auf die vor ihm liegende Karteikarte.

»Ja, Herr Doktor, vor einem halben Jahr war ich bei Ihnen«, antwortete das Mädchen leise. »Es war wegen der Blasenentzündung.«

»Stimmt, eine Zystitis«, murmelte Dr. Lindau. In normaler Lautstärke aber fragte er dann: »Was führt dich...«, lächelnd sah er das Mädchen an, »… oder muß ich Sie sagen – heute zu mir?«

»Sie können mich ruhig duzen, Herr Doktor, denn ich bin ja erst…«

»Sechzehn, ich weiß«, unterbrach Dr. Lindau das Mädchen.

»Aber ich gehe schon auf die siebzehn zu«, stieß Lisbeth Kramer hervor.

»In Ordnung, Lisbeth«, entgegnete Dr. Lindau. »Also, was hast du für Beschwerden?«

Verlegene Röte legte sich über das Gesicht des Mädchens. Ein Blick flog zu der im Hintergrund mit dem Sortieren einiger Instrumente beschäftigten Bettina hin.

Dr. Lindau verstand diesen Blick sofort. »Du kannst ruhig sprechen«, sagte er. »Frau Sieber ist meine Assistentin, also auch eine Art Doktor. Nun?« Auffordernd sah er das Mädchen an, das auf einen Wink von ihm vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte.

Lisbeth Kramer zögerte etwas, gab sich dann aber einen Ruck und begann mit leiser Stimme zu sprechen. »Eigentlich sind es zwei Dinge, derentwegen ich hergekommen bin«, sagte sie. »Ich… ich… habe Angst, Herr Doktor, daß ich… daß ich vielleicht ein... ein... Kind bekommen könnte.« Stockend kamen diese Worte über ihre Lippen.

Dr. Lindau horchte auf. Gerade erst sechzehn Jahre jung und schon soweit, anzunehmen, schwanger zu werden, dachte er. Unwillkürlich mußte er dabei an seine eigene Tochter denken. Die war zwar schon achtzehn, aber auch bei ihr war nicht auszuschließen, daß sie über kurz oder lang Mutter werden konnte. Er hoffte nur, daß Astrid ihn nicht so schnell zum Großvater machte. Seine blitzartigen Gedanken beiseite schiebend, wandte er sich an seine junge Assistentin. »Wie kommst du darauf, daß du schwanger sein oder werden könntest?« fragte er.

»Weil… weil… na ja, weil meine Tage schon lange nicht mehr…«

Ängstlich und hilfesuchend sah Lisbeth Kramer den Arzt an.

»Hast du denn einen festen Freund?« fragte der.

»Ja, und ich bin jedes Wochenende mit ihm zusammen, wenn er Ausgang hat, er ist nämlich Soldat in Rosenheim.«

»Nimmst du keine Pille?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Meine Mutter würde mich halb umbringen, wenn ich ihr damit käme...«

»Hast du denn mit ihr nie darüber gesprochen?« forschte Dr. Lindau. Die Problematik solcher jungen Mädchen war ihm nur zu gut bekannt. Einerseits waren sie schon fast ausgereift trotz ihrer erst 15 oder 16 Jahre, waren voll entwickelt und praktizierten Liebe. Sehr oft folgten dann auf die sogenannten glückseligen Stunden die Schwierigkeiten.

»Nein, denn sie hätte nicht verstanden, daß ich Robert – das ist der Soldat – so sehr gern habe«, beantwortete Lisbeth Kramer die letzte Frage des Arztes. »Sie meint sicher, daß ich für solche Dinge noch zu jung bin.«

Dr. Lindau mußte lächeln, als er hörte, wie das Mädchen die Liebe und alles, was mit ihr zusammenhing, bezeichnete. Sofort wurde er aber wieder ernst. Ihm war klar, daß man den jungen Leuten, die im Grunde genommen teilweise noch zur Schule gingen, mit Verboten kaum den rechten Weg zeigen konnte. Sie brauchten Aufklärung über die Liebe, aber auch über deren Gefahren. Vor allem jedoch waren dabei die Eltern gefordert, die ihren halbwüchsigen Kindern Verständnis und Hilfe zukommen lassen sollten. »Möchtest du, daß ich mal mit deiner Mutter rede?« fragte Dr. Lindau das Mädchen. »Ich meine wegen der Pille.«

Lisbeth Kramer sagte weder ja noch nein. Ihr war aber anzumerken, daß ihr dieser Vorschlag des Arztes nicht mißfiel.

Dr. Lindau ahnte, was in seiner jungen Patientin jetzt vorging. Zum einen befürchtete sie sicher eine negative Einstellung ihrer Mutter und hatte Angst davor. Zum anderen jedoch hätte es ihr Gewissen beruhigt, wenn sie offen und ehrlich zu ihrem Robert und zu dem, was zwischen ihr und ihm vorging, hätte stehen können. »Na, dann werden wir dich erst einmal untersuchen, kleines Fräulein«, ergriff Dr. Lindau das Wort und stand auf. »Komm, wir gehen ins Untersuchungszimmer.« Er rief seiner Assistentin einige kurze Weisungen zu und ging mit Lisbeth Kramer in den Nebenraum.

Die Untersuchung, die er dort an der jungen Patientin vornahm, dauerte nicht lange. »Du kannst dich wieder anziehen«, sagte er und streifte die hauchdünnen Gummihandschuhe ab.

»Was ist, Herr Doktor?« fragte Lisbeth Kramer und setzte sich wieder auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ihre Stimme klang ängstlich.

»Nichts ist, kleines Fräulein«, beruhigte Dr. Lindau das Mädchen. »Jedenfalls bist du keineswegs schwanger. Dein Hormonhaushalt ist lediglich ein wenig durcheinander geraten. Nicht zuletzt auch durch deine Ängste.«

Erleichtert atmete das Mädchen auf.

Dr. Lindau schrieb einen Rezeptzettel aus. »Hier«, sagte er, »das wird deinen Hormonhaushalt wieder ins Lot bringen.«

»Danke, Herr Doktor, vielen Dank.« Lisbeth Kramer erhob sich.

Dr. Lindau sah das Mädchen fest an. »Nun? Wie ist es? Soll ich mal mit deiner Mutter reden?« fragte er.

Lisbeth Kramer zögerte mit der Antwort. »Glauben Sie, daß Sie meine Mutter umstimmen können, Herr Doktor?« stieß sie dann fragend hervor. In ihren Augen zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. Dr. Lindau lächelte. »Ich kann es ja mal versuchen«, meinte er.

»O ja, versuchen Sie es bitte!« kam es flüsternd zurück.

Dr. Lindau nickte, machte sich eine kurze Notiz und bestellte das Mädchen zu einem neuen Termin wieder.

»Danke, Herr Doktor.« Lisbeth Kramer grüßte und verließ das Sprechzimmer.

»Soll ich den nächsten Patienten schon…?«

»Warten Sie noch etwas!« fiel Dr. Lindau der Assistentin ins Wort. Er wollte zuerst mit der Mutter des Mädchens Lisbeth ein paar kurze Worte reden. Solche Dinge schob er ungern lange hinaus.

Da schrillte auch schon das Telefon auf seinem Schreibtisch. Dr. Lindau meldete sich. Am anderen Ende der Leitung war Frau Kramer. Marga Stäuber hatte bereits eine Verbindung hergestellt. Etwas ängstlich klang ihre Stimme, als sie hörte, wer der Anrufer war. Sie wußte ja, daß ihre Tochter zum Arzt gegangen war.

»Etwas Schlimmes, Herr Doktor?« fragte sie.

»Nichts, Frau Kramer«, beruhigte Dr. Lindau die besorgte Mutter. »Ihrer Tochter ist lediglich der Hormonhaushalt etwas durcheinandergeraten. Doch ich möchte Sie dennoch bitten, bei nächster Gelegenheit einmal bei mir vorbeizukommen.«

»Ich? Weshalb? Ich bin nicht krank…«

Dr. Lindau schmunzelte. »Frau Kramer, ich möchte mich nur einmal mit Ihnen über Ihre Tochter unterhalten«, sagte er.

»Um Gottes willen, Herr Doktor«, kam die erschrockene Entgegnung, »Lisbeth wird doch nicht etwa ein Kind bekommen?«

Dr. Lindau blieb die Ruhe selbst. »Das wird sie gewiß einmal«, antwortete er, »aber erst in ein paar Jahren wahrscheinlich, wenn sie etwas älter und vielleicht verheiratet ist.«

Dr. Lindau bemerkte aus den Augenwinkeln heraus, wie seine Assistentin bezeichnend zur Uhr deutete. »Frau Kramer, ich kann jetzt nicht weitersprechen, denn meine Patienten warten«, kam er entschlossen zum Ende des Telefonats. »Können Sie also bei mir vorbeikommen, damit ich mit Ihnen reden kann? Ich wiederhole – es besteht kein Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen.«

Nach kurzem Zögern kam die Antwort. »Ich komme, denn nun bin ich wirklich neugierig, was Sie mit mir bereden wollen.«

Kann ich mir denken, dachte Dr. Lindau.

»Wenn es Ihnen paßt, dann bin ich in einer guten Stunde bei Ihnen, Herr Doktor«, meldete sich Frau Kramer wieder.

So ganz paßte es Dr. Lindau zwar nicht, aber er lehnte nicht ab. »Einverstanden«, sagte er. »Gegen elf Uhr erwarte ich Sie.« Mit einem freundlichen Gruß legte er auf und wies Bettina Sieber an, den nächsten Patienten hereinzulassen.

*

Dr. Lindau sah auf die Uhr. Es ging auf Mittag zu. Da fiel ihm die Mutter von Lisbeth Kramer ein.

Er ging zur Tür und bat die Frau ins Sprechzimmer.

»Herr Doktor, jetzt möchte ich aber doch wissen…«

»Nehmen Sie bitte Platz, Frau Kramer!« unterbrach Dr. Lindau die kräftige und nach der Art ihres Auftretens sehr resolute Frau. »Ich will keine langen Vorreden gebrauchen«, sprach er weiter, nachdem Frau Kramer sich gesetzt hatte, »sondern gleich zur Sache kommen.« In gleichbleibend freundlichem Ton beruhigte er zuerst die Mutter der jungen Lisbeth. »Ihrer Tochter fehlt außer einer Hormonstörung nichts, wie die Untersuchung gezeigt hat…«

»Da bin ich aber froh«, stieß Frau Kramer hervor. »Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, weil Sie mit mir sprechen wollten.«

»Hm, apropos Gedanken – die sollten Sie sich wirklich machen«, meinte Dr. Lindau und wurde deutlicher. »Es geht um die Pille, die Ihre Tochter gern haben möchte.«

»Die Pille?« fuhr Frau Kramer auf. »Das fehlte gerade noch.« Empört blitzte sie den Arzt an. »Lisbeth ist doch noch ein Kind, gerade erst sechzehn Jahre alt geworden.«

»Zugegeben, den Jahren nach vielleicht noch ein Kind«, begann Dr. Lindau der Frau zuzureden. »In ihrer körperlichen und organischen Entwicklung aber ist Ihre Tochter schon weiter. Ich als ihr Arzt weiß das, und Sie als Mutter sollten das eigentlich auch wissen und vor allem begreifen.«

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinaus wollen, Herr Doktor…«

»Ganz einfach, Frau Kramer«, erwiderte Dr. Lindau, »Ihre Tochter möchte gern die Pille verschrieben haben, denn wie Sie vielleicht wissen, hat sie einen Freund. Sie hat Angst, schwanger zu werden.«

Frau Kramer schnappte nach Luft. »So... so... weit ist... ist es schon?« regte sie sich auf.

Dr. Lindau winkte lächelnd ab. »Ist es eben noch nicht«, sagte er, »aber es kann möglicherweise bald soweit kommen, wenn nicht etwas dagegen getan wird.«

»Sie meinen, daß meine Tochter mit dem jungen Mann schon schläft?« Frau Kramer wurde blaß. »Um Gottes­ willen, wenn sie nun ein Kind bekommt! Mit sechzehn Jahren. Nicht auszudenken.« Kerzengerade richtete sie sich plötzlich auf und stieß hervor: »Das werde ich sofort unterbinden.«

»Wie denn?« wollte Dr. Lindau wissen.

»Na, wie schon?« gab die Frau aufgebracht zurück. »Ich werde dafür sorgen, daß Lisbeth keinen Kontakt mehr mit diesem Robert hat. Ja, das werde ich«, betonte sie resolut.

»Falsch, Frau Kramer«, hielt Dr. Lindau der Frau entgegen. »Wenn die beiden sich gern haben, werden sie trotz irgendwelcher Verbote bestimmte Wege finden, zusammenzukommen. Die Jugend von heute ist nun einmal forscher, als die jungen Leute vor zwanzig Jahren. Daran können weder Sie noch ich etwas ändern. Außerdem...«, fügte er mit ernster Stimme hinzu, »würden Sie mit einer solchen Verbotsmaßnahme nur Lisbeths Trotz herausfordern, was wiederum zu einer Verminderung des Vertrauens und der Liebe eines Kindes gegenüber der Mutter führen kann. Bedenken Sie das bitte!«

Solche Worte ließen Frau Kramer nicht unbeeindruckt. In ihren Zügen zuckte es, und in ihre Augen trat ein Ausdruck von Unruhe.

»Aber was soll ich denn um Gottes willen tun?« Leise und klagend fragte sie es. »Natürlich möchte ich die Liebe meiner Tochter nicht verlieren.«

»Das einfachste wäre, wenn Sie erlauben, daß ich Lisbeth die Pille verschreibe«, erklärte Dr. Lindau. »Ich habe Ihre Tochter untersucht, und es bestehen keine Bedenken. Da sie aber erst sechzehn ist, kann ich ihr die Pille nicht ohne Einverständnis der Mutter verschreiben. Es liegt also jetzt an Ihnen.«

Hinter der Stirn der Frau überschlugen sich die Gedanken. »Warum ist Lisbeth damit nicht zu mir gekommen?« stieß sie fragend hervor. »Warum muß ich als Mutter das erst durch Sie erfahren?«

»Weil Ihre Tochter Angst davor hat, mit Ihnen darüber zu sprechen, und weil sie glaubt, daß Sie auf jeden Fall dagegen gewesen wären.« Zwingend sah Dr. Lindau die vor ihm sitzende, nun gar nicht mehr so resolut wirkende Frau an. »Na, geben Sie Ihrem Herzen schon einen Stoß«, meinte er lächelnd.

»Wenn ich aber dennoch dagegen bin, Herr Doktor?«

Das Lächeln des Arztes verschwand. »Das ist dann natürlich Ihre Entscheidung«, entgegnete er. »Sie müssen dann aber das Risiko in Kauf nehmen, vielleicht in einem Jahr schon Großmutter zu werden. Ich finde, daß das etwas zu früh wäre – für Sie und vor allem aber auch für Ihre Tochter.« Dr. Lindau merkte, daß es in der Frau jetzt rumorte. In ihrem Innern schien ein Kampf stattzufinden. Sekundenlang war es still im Sprechzimmer. Nur das Öffnen und Schlie­ßen der Tür war zu hören, als Bettina Sieber wieder zurückkam. Bevor diese aber etwas sagen konnte, gab Dr. Lindau ihr einen unmißverständlichen Wink, der bedeutete, daß eine Störung in diesen Sekunden unerwünscht sei.

Leise zog sich Bettina in den Untersuchungsraum zurück.

Frau Kramer war allerdings so stark mit sich selbst und mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie das Erscheinen und sofortiges Verschwinden der Assistentin gar nicht wahrgenommen hatte. Unvermittelt aber hob sie dann den Kopf und starrte Dr. Lindau an. »Wahrscheinlich haben Sie recht, Herr Doktor, auch wenn es mir nicht sonderlich gefällt«, preßte sie hervor. »Also gut«, fuhr sie fort, »verschreiben Sie Lisbeth die Pille.«

»Ein vernünftiger Entschluß«, anerkannte Dr. Lindau. Er füllte ein Rezeptformular aus und überreichte es Frau Kramer. »Bitte…«

Ein wenig zögernd nahm Lisbeth Kramers Mutter das Papier entgegen und verstaute es in ihrer Handtasche. »Muß ich das nun in unserer Orts­apotheke holen?« fragte sie leise. »Es wäre mir nicht recht, wenn die dort dann etwas denken…« Sie brach ab und sah den Arzt etwas hilflos an.

Dr. Lindau lächelte. »Ich verstehe«, sagte er. »Sie können aber in jede beliebige Apotheke gehen, Frau Kramer.«

Die bedankte sich und stand auf. »Es war sicher ganz gut, daß Sie mit mir gesprochen haben«, meinte sie und verabschiedete sich mit Handschlag. »Auf Wiedersehen.«

»Das hoffe ich nicht, Frau Kramer«, gab Dr. Lindau lächelnd zurück, »denn das würde voraussetzen, daß Sie krank sind. Das jedoch wünsche ich Ihnen nicht.«

Sekunden später war er wieder allein im Sprechzimmer – abgesehen von Bettina, die wieder aus dem Untersuchungsraum kam.

»Haben wir noch jemanden?« fragte Dr. Lindau.

»Nein, Herr Doktor, für heute ist Schluß«, erwiderte Bettina. »Lediglich Frau Hohmann von der Gärtnerei war noch im Wartezimmer.«

»War?« Fragend blickte Dr. Lindau seine Assistentin an.

Die lächelte. »Ja, denn sie wollte nur wegen eines Termins für eine Nachuntersuchung mit Ihnen sprechen«, erklärte sie. »Ihr wurden zwei Leberflecke an der rechten Gesichtshälfte entfernt und…«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder«, fiel Dr. Lindau der Assistentin ins Wort. »Ich überwies sie damals in die Klinik.«

»Richtig«, bestätigte Bettina Sieber. »Jedenfalls habe ich ihr einen Termin für Montag gegeben, denn heute...«

Sie warf einen bezeichnenden Blick zur Wanduhr.

Dr. Lindau verstand. »Ich weiß – es ist Mittag geworden, und der Magen soll auch zu seinem Recht kommen«, meinte er feixend.

»Ich gestehe, daß ich auch ein wenig hungrig bin«, fügte er hinzu. »Also machen wir Schluß.«

»Wie ist es nachmittags? Brauchen Sie mich?« fragte Bettina.

»Nein«, antwortete Dr. Lindau. »Ich selbst habe zwar noch einiges zu tun – ein paar Laborarbeiten und...« Er winkte ab. »Wir sehen uns also erst wieder am Montag.«

»Vergessen Sie nicht, daß Sie für morgen vormittag die Dame aus Rosenheim herbestellt haben«, erinnerte die Assistentin ihren Chef.

»Ich vergesse es nicht«, entgegnete Dr. Lindau, dem es nichts ausmachte, auch am Sonnabend für Patienten da zu sein, obwohl er an diesen Tagen keine offiziellen Sprechzeiten hatte. Doch es kam schon vor, daß er Patienten für den Sonnabendvormittag herbestellte, um Zeitpläne in der Behandlung einzuhalten. So wie diesmal bei Frau Lenzer aus Rosenheim.

»Dann wünsche ich ein vergnügtes Wochenende, Herr Doktor«, verabschiedete sich Bettina Sieber und ging.

»Ich Ihnen auch«, rief Dr. Lindau seiner Assistentin nach und ordnete noch rasch einige Papiere auf seinem Schreibtisch. Er mußte dabei plötzlich an seine Tochter denken und fragte sich, womit sie ihm wohl zum Mittagessen überraschen würde. Bei Frau Wenke, die schon bei seinem Vorgänger die Wirtschaft geführt hatte und die nun auch bei ihm alles in Ordnung hielt, wußte er meistens schon einen Tag vorher, was es am nächsten Tag zum Essen gab, weil sie es immer mit ihm absprach. Frau Wenke kam jeden Morgen und ging dann wieder am späten Nachmittag. Für die nächsten paar Wochen aber war sie beurlaubt. Astrid hatte darauf bestanden, weil sie es sich nicht hatte nehmen lassen wollen, ihren Vater wenigstens in der Zeit, in der sie hier war, zu betreuen.

»Der Mann, der dich, mein Mädchen, einmal bekommt, kann sich gratulieren«, murmelte Dr. Lindau und verließ das Sprechzimmer. Im Vorzimmer traf er Marga Stäuber, die sich gerade zum Gehen anschickte. »Wenn Sie möchten, dann können Sie den Nachmittag freinehmen, Frau Stäuber«, gab er seiner Sekretärin zu verstehen.

Marga Stäuber kam dieses Angebot ganz gelegen. »Ach, das wäre schön, denn dann könnte ich nach München reinfahren, um dort einiges zu erledigen«, sagte sie.

»Na, dann erledigen Sie mal.« Dr. Lindau lachte leise und wünschte der Sekretärin ein geruhsames Wochenende. Er zog seinen weißen Mantel aus und verließ die Praxis durch eine andere Tür, um nach oben zu gehen.

*

Astrid hörte ihren Vater die Treppe heraufkommen. »Wir können gleich essen«, rief sie ihm entgegen und gab ihm einen Kuß auf die Wange, als er Sekunden später vor ihr stand.

»Was gibt es denn?«

»Du wirst schon sehen, Paps«, erwiderte Astrid lachend.

Dr. Lindau wusch sich die Hände und nahm dann am Eßtisch Platz. Er staunte nicht schlecht, als Astrid gleich danach das Essen auftrug. »Sieh an – Speckknödel«, sagte er schmunzelnd. »Woher weißt du denn, daß ich die für mein Leben gern esse?« wollte er wissen.

»Frau Wenke hat es mir geflüstert«, gestand Astrid lächelnd. »Ich hoffe nur, daß du mit meinen Kochkünsten zufrieden bist.«

Das war Dr. Lindau sogar sehr, wie er seine Tochter wenig später wissen ließ. »Es hat mir vortrefflich geschmeckt, Mädchen«, sagte er anerkennend.

»Freut mich, Paps.« Astrid stand auf und räumte das Geschirr ab. »Es gibt anschließend noch eine gute Tasse Kaffee«, sprach sie. »Oder hast du es eilig?«

»Nein«, erwiderte Dr. Lindau. »Für einen Plausch bei einer Tasse Kaffee bin ich immer gern zu haben – besonders mit dir.«

Freudig leuchtete es in den braunen Augen Astrids auf. Schweigend setzte sie die Tassen auf den Tisch, brachte den Kaffee und schenkte ein.

»Ich wünschte mir, du könntest immer bei mir sein, Astrid«, ergriff dann Dr. Lindau zuerst das Wort. »Aber leider…« Er sprach nicht weiter. In seine Augen trat ein nachdenklicher Ausdruck.

»Weshalb sagst du leider?« fragte Astrid.

»Nun, das ist doch ganz einfach, Mädchen«, antwortete ihr Vater. »Du bist jetzt achtzehn, hast dein Abitur hinter dir und wirst dir sicher langsam Gedanken über deine Zukunft machen. Hinzu kommt noch, daß es irgendwann einmal einen Mann geben wird, der dich mir wegnimmt. Tja, so ist das Leben eben.«

Astrid schluckte. Die Worte ihres Vaters gingen ihr nahe.

»Niemand wird mich dir wegnehmen, Paps«, sagte sie mit leise vibrierender Stimme. »Natürlich habe ich schon an meine Zukunft gedacht«, fuhr sie fort, »und auch schon Pläne.«

»Ja?« fragte Dr. Lindau interessiert. »Und darf man wissen, was du für Pläne hast?«

»Natürlich – ich werde studieren…«

»Das habe ich erwartet«, meinte Dr. Lindau lächelnd. »Nach einem so glänzend bestandenem Abitur gibt es wohl keine andere Entscheidung. Ich habe das Gefühl, daß du Musik studieren willst.«

»Wie kommst du gerade darauf?« fragte Astrid erstaunt.

»Na ja, ich kenne doch deine Neigung zur Musik«, erklärte Dr. Lindau. »Deine vielen Schallplatten, deine Vorliebe für klassische Musik, Opern und ähnliches mehr…«

»Das ist zwar richtig«, unterbrach Astrid den Vater, »aber das hat alles nichts mit meinen Zukunftsplänen zu tun. Ich habe mich entschlossen, Medizin zu studieren.«

»Ist das wahr?« stieß Dr. Lindau fragend hervor. In seinen Augen blitzte es freudig auf. Er hatte sich immer schon gewünscht, daß Astrid einmal in seine Fußstapfen treten würde.

»Ja, Paps, es ist mir ernst damit«, versicherte Astrid. »Ich möchte Kinderärztin werden.«