Die Klinik am See – 22 – Das Glück hat einen Riss bekommen

Die Klinik am See
– 22–

Das Glück hat einen Riss bekommen

Kann Dr. Lindau die junge Ehe noch retten?

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-749-3

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Dr. Hendrik Lindau saß zurückgelehnt im Stuhl. Er hatte die Füße übereinandergeschlagen, er war ganz bei der Sache. Hin und wieder klopfte er mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. Dies geschah, wenn er einem Satz besondere Bedeutung beimaß. Dann sah auch seine Sekretärin, die ihm gegenübersaß, kurz hoch. Marga Stäuber mochte es, wenn der Chef selbst diktierte. Zu ihrem Leidwesen benutzte er in letzter Zeit viel zu oft das Diktiergerät. Dies geschah wohl aus Zeitmangel. Der Tag des Chefarztes der Frauenklinik am See war ausgefüllt, die Schreibtischarbeiten erledigte er meistens in den Abendstunden.

Marga Stäuber musste das Blatt wenden, dadurch hatte sie die letzten Worte nicht verstanden. Sie sah hoch. »Würden Sie bitte den letzten Satz wiederholen?«

»Entschuldigen Sie, ich wollte möglichst viel erledigen.« Dr. Lindau sah auf seine Armbanduhr. »Sie haben bereits seit zehn Minuten Feierabend«, stellte er stirnrunzelnd fest. »Ich habe wieder einmal die Zeit übersehen. Warum rühren Sie sich denn nicht? Nun arbeiten wir schon so lange zusammen.«

»Das ist nicht weiter schlimm!« Marga Stäuber, die ihren Chef ein klein wenig verehrte, lächelte. »Ich werde die Briefe auch noch tippen, damit Sie sie unterschreiben können.«

Dr. Lindau streckte sich etwas. »Nein, nein, das ist nicht nötig«, wehrte er dann ab. »Dr. Westphal kann für mich unterzeichnen. Ich diktiere noch diesen einen Brief zu Ende, dann machen wir Schluss. Ich tue gerade so, als wäre ich wochenlang weg. Dabei dauert dieser Kongress nur drei Tage.«

»Ich habe wirklich Zeit«, bot die Sekretärin an.

»Das weiß ich zu schätzen. Sie sind mir wirklich unentbehrlich geworden.« Er bedachte seine Kraft mit einem warmen Lächeln. »Ich jedoch möchte mit Kollegin Westphal noch einen Rundgang durch die Krankenzimmer machen. Da darf es nicht zu spät werden.« Er zog seine Notizen wieder näher zu sich heran. Sekunden später füllte seine sonore Stimme erneut den Raum.

»Danke! Dabei lassen wir es bewenden.« Dr. Lindau legte den Bleistift endgültig zur Seite. »Sie sehen zu, dass Sie nach Hause kommen! Die Briefe können Sie morgen in aller Ruhe tippen.«

Marga Stäuber erhob sich. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, Herr Doktor, und natürlich einen schönen Aufenthalt in Lugano.«

»Danke!« Dr. Lindau stand ebenfalls auf. Er ging um den Schreibtisch herum, reichte seiner Sekretärin die Hand. »Lugano ist um diese Jahreszeit noch schön. Ich freue mich auf einen Spaziergang. Nur … Sie erinnern mich daran, dass ich dort auch etwas zu tun habe. Ich muss mein Referat noch einmal durchgehen.« Er reichte Frau Stäuber die Hand.

»Wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann«, bot die Sekretärin sofort an.

»Nicht nötig! Das Referat ist getippt. Ich muss es nur noch einmal durchlesen. Eigentlich habe ich nicht die Absicht, noch einmal irgendwelche Änderungen vorzunehmen.«

»Es ist hervorragend«, sagte Marga Stäuber. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass ihr Chef damit großen Erfolg haben würde. Bereits beim Abschreiben des Vortrages war sie fasziniert gewesen. Wenn ihr Chef nun vorn am Rednerpult stand und diesen Vortrag mit sparsamen Gesten unterstrich, würde er die Aufmerksamkeit von jedem im Saal erreichen. Sie wusste, dass Dr. Lindau zuerst die Absicht gehabt hatte, sie zu dieser Ärztetagung mitzunehmen, dann jedoch hatte er sich entschlossen, mit dem eigenen Auto zu fahren. Er wollte sich bei der Anreise Zeit lassen, wollte die Schweizer Landschaft genießen. Marga konnte dies verstehen.

»Abwarten!« Dr. Lindau lächelte. »Ich habe mich lange mit diesem Thema auseinandergesetzt, und ich kann nur hoffen, dass die Kollegen damit auch etwas anfangen können.«

Die letzten Worte hatte Dr. Anja Westphal gehört. Sie hatte das Büro betreten, um nach dem Chefarzt zu sehen. Von Anfang an war sie die rechte Hand des Chefarztes, mit dem zusammen sie auf der Universität gewesen war.

»Du wirst Erfolg haben«, sagte sie nun. »Dieser Aufsatz wird noch von vielen Fachzeitschriften übernommen werden. Ich hätte dich gern nach Lugano begleitet, um deinen Erfolg mit anzusehen.«

»Du wirst hier gebraucht«, erinnerte der Chefarzt.

»Ich weiß! Ich hoffe, dass du dann genau darüber berichtest. Jetzt bin ich jedoch hier, um mit dir über zwei Patientinnen zu sprechen.« Sie sah die Sekretärin an. »Seid ihr fertig?«

»Fertig«, bestätigte der Chefarzt. Er setzte hinzu: »Wie üblich habe ich Frau Stäuber länger als vorgesehen beansprucht. Ich vergesse immer wieder die Zeit. Ich wünsche Ihnen jedenfalls noch einen schönen Feierabend.« Freundlich nickte er seiner Sekretärin zu.

»Viel Erfolg«, wünschte diese und zog sich mit ihren Schreibutensilien zurück.

»Du hättest früher kommen sollen.« Dr. Lindau schüttelte über sich selbst den Kopf. »Ich hatte völlig übersehen, dass Frau Stäubers Arbeitszeit bereits zu Ende ist. Ohne Murren macht diese Frau Überstunden. Es wird höchste Zeit, dass mir einmal jemand sagt, dass ich als Chef unerträglich bin.«

Dr. Westphal, nur wenig jünger als der Chefarzt, aber noch sehr attraktiv, lehnte sich gegen den Schreibtisch. »Willst du es nun genau wissen?« Sie kreuzte die Arme vor der Brust. »Gut, mein Lieber! Die Klinik am See verfügt über ausgezeichnetes Personal, gleichgültig, ob es sich dabei um Ärzte oder Pflegepersonal handelt. Es sind jedenfalls Menschen, die dich und deine Arbeit schätzen. Sie wissen, dass du einer der Ersten bist, der am Morgen die Klinik betritt, und am Abend einer der Letzten, der geht. Du schonst dich selbst am allerwenigsten. Das spornt an.« Nun lächelte sie. Sie konnte so reden, sie waren aus dem gleichen Holz. Die Arbeit bedeutete ihnen alles. An Anjas Scheidung war sicher ihre übergroße Liebe zu diesem Beruf schuld gewesen. Und Hendrik Lindau hatte seine über alles geliebte Frau bei der Geburt des zweiten Kindes verloren. Er hatte ihr nicht helfen können. Es war ein schwerer Schlag für ihn gewesen, und so hatte er sein weiteres Leben in den Dienst der Schwangerschafts- und Geburtsprobleme gestellt.

»Danke für deine lieben Worte! Aber du hast recht, ohne die Hilfe meiner Mitarbeiter hätte ich diese Klinik nie aufbauen können, vor allem nicht ohne deine Hilfe.«

»Das ist mein Leben«, entgegnete Anja einfach. Sie strich sich das Haar zurück. »In dieser Klinik haben wir schon so vielen Menschen helfen können, das ist doch das Wichtigste.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Nun wollen wir uns aber an die Arbeit machen. Mir wäre es recht, wenn wir einige Krankengeschichten noch einmal durchgehen würden. Schließlich soll ich dich in den nächsten Tagen vertreten. Dich zu ersetzen, mein Lieber, ist nicht einfach!« Sie stieß sich vom Schreibtisch ab.

»Du schaffst das schon! Wie ich sehe, hast du dir auch bereits Gedanken gemacht. Ich nehme an, du denkst da in erster Linie an Frau Holl. Ihr Kind wird man holen müssen, ich würde sagen, spätestens übermorgen.« Er deutete auf einen Stuhl. »Willst du dich nicht setzen?«

Abweisend schüttelte die Frauenärztin den Kopf. In Gedanken war sie bei der jungen Frau, die ihr erstes Kind erwartete. »Spätestens übermorgen«, bestätigte die Ärztin. »Die Wehen haben wieder völlig aufgehört. Ich hatte sie vorhin im Untersuchungszimmer. Ich wollte dich schon rufen lassen, denn ich konnte zuerst keine Herztöne mehr hören.«

»Ich werde mir die Frau noch einmal ansehen.«

»Darum wollte ich dich bitten. Vielleicht sollten wir doch noch versuchen, die Geburt künstlich einzuleiten. Ich würde dann selbstverständlich in der Klinik bleiben, und da Kollege Hoff Nachtdienst hat, wäre jemand mit chirurgischer Erfahrung im Haus.«

»Auch ich kann hierbleiben.«

»Das kommt überhaupt nicht infrage.« Dr. Westphal versenkte ihre Hände in den Manteltaschen. »Du willst morgen früh in die Schweiz fahren. Du sollst diese Fahrt und die Tage dort genießen und dich nicht mehr mit den Klinikproblemen belasten. Es ist nur so, Frau Holl hat großes Vertrauen zu dir. Daher ist es sicher gut, wenn du noch einmal mit ihr sprichst.«

Dr. Lindau nickte. Er verstand, was seine engste Mitarbeiterin meinte.

»Dann ist da noch Frau Killian. Sie bekommt Zwillinge.« Kurz zögerte sie, und Dr. Lindau warf ein: »Es wird Probleme geben.«

»Ich weiß! Wir haben uns darüber auch schon offen unterhalten. Frau Killian liegt bereits seit drei Wochen bei uns in der Klinik. Vorher war sie deine Privatpatientin. Mit ihr solltest du auch noch sprechen.«

»Das ist selbstverständlich! Wir machen doch sowieso einen Rundgang durch die Station.«

Dr. Westphal lächelte. »Dazu wird es jetzt wohl schon zu spät sein.« Sie schob den Ärmel hinauf, um auf ihre Uhr zu sehen. »Man beginnt auf der Station bereits damit, das Abendessen auszuteilen. Du würdest ein Durcheinander auslösen, wenn du dich jetzt noch mit jeder Patientin eingehend unterhalten wolltest. In wenigen Minuten ist Schichtwechsel. Denk daran, auch die Schwestern wollen ihren Feierabend.«

»Womit wir wieder beim Thema sind. Daher hast du dir nicht einmal Zeit genommen, dich zu setzen. Gut, dann auf zum Gespräch mit Frau Holl und Frau Killian. Du begleitest mich doch?«

Dr. Westphal nickte. »Ich habe sowieso die Absicht, heute in der Klinik zu schlafen.«

»Gut! Dann können wir unseren Rundgang machen, wenn das Geschirr abgeräumt ist.« Mit zufriedener Miene ging Dr. Lindau zur Tür.

»Das kommt überhaupt nicht infrage! Du suchst Frau Holl auf und dann noch Frau Killian. Anschließend begleite ich dich höchstpersönlich zum Ausgang. Du hast sicher noch nicht deine Unterlagen zusammengesucht und den Koffer gepackt.«

Der Chefarzt zuckte die Achseln, er gab sich geschlagen. Er hatte wirklich nicht die Absicht, den Abend in der Klinik zu verbringen. So nahm er sich vor, Anja für ihre Fürsorge ein kleines Geschenk aus der Schweiz mitzubringen. Dass sie dies nicht falsch verstehen würde, wusste er.

*

Eigenhändig zog Dr. Anja Westphal die Bettdecke der Patientin höher. Sie schenkte ihr dabei ein Lächeln. Die Frau hatte Angst. Das war jedoch kein Wunder, sie war noch sehr jung, und sie erwartete Zwillinge.

Die Hand von Rita Killian kam unter der Bettdecke hervor. »Bitte, Frau Doktor, bleiben Sie hier! Die Wehen, sie haben schon begonnen. Ich spüre schon deutlich das Ziehen.«

»Das kann noch Stunden dauern. Die Wehen haben noch nicht richtig eingesetzt.« Die Frauenärztin drückte der werdenden Mutter kurz die Hände. »Ich komme gleich noch einmal zurück.« Daraufhin nickte sie dem Chefarzt zu.

»Alles Gute«, sagte Dr. Lindau. »Sie sind bei Kollegin Westphal in den besten Händen. Wenn ich zurück bin, werden mich Ihre Zwillinge bereits mit kräftigen Stimmen begrüßen.«

Rita Killian verzog ihren Mund zu einem kläglichen Lächeln. Ihr Blick huschte vom Chefarzt zu der Frauenärztin. »Sie kommen wirklich zurück? Bitte!« Sie wollte sich aufsetzen, da war jedoch wieder das Ziehen, das sie aufstöhnen ließ. »Ich spüre es, die Kinder …« Ihre Augen wurden groß.

»Sie müssen Geduld haben«, sagte Dr. Lindau. »Ihr Muttermund muss sich erst öffnen. Es wird kaum vor morgen zur Geburt kommen, aber Sie müssen keine Angst haben. Es wird ständig jemand in Ihrer Nähe sein.«

»Ich bin gleich wieder da«, versicherte Dr. Westphal noch einmal. »Wir sprechen dann über die Geburt. Ich werde versuchen, Ihnen jede Frage zu beantworten.« Sie ging zur Tür, hielt diese einladend auf. So folgte Dr. Lindau ihr.

Dr. Westphal schloss die Tür wieder. »Ich denke, ich komme ohne dich hier zurecht, du kannst nach Hause gehen und dich auf deine Reise vorbereiten.«

»Und du willst die ganze Nacht hierbleiben?« Dr. Lindau sah sie mit gerunzelter Stirn an.

»Ich werde hier schlafen. Wegen Frau Holl hatte ich dies sowieso vor. So kann man mich sofort rufen, wenn bei Frau Holl die Wehen wider Erwarten doch einsetzen sollten. Das gleiche gilt natürlich auch für Frau Killian. Ich bin jedoch auch deiner Ansicht, sie hat noch eine Menge Zeit. Selbst wenn die Fruchtblase platzt, wird es noch Stunden dauern.«

Dr. Lindau nickte.

Dr. Westphal kreuzte die Arme vor der Brust. »Wenn du weiterhin Bedenken hast, dann wird es wohl besser sein, ich suche mir in einer anderen Klinik Arbeit.«

»Was soll der Unsinn?« Im ersten Augenblick war der Chefarzt wirklich verwirrt, dann verstand er jedoch. Er lächelte, hob die Hände. »Schon gut! Ich bin schon weg!« Er wollte noch etwas sagen, schluckte es dann jedoch hinunter und drehte sich um … Feierabend! Er würde nach Hause gehen, sich in den Lehnstuhl setzen und sich noch einmal in seinen Vortrag vertiefen.

*

Dr. Lindau war es gelungen, sich vom Alltag zu lösen. Die Fahrt durch die herbstliche Landschaft hatte ihm gutgetan. Er hatte sich Zeit gelassen und war daher ausgeruht und in bester Stimmung im Tagungshotel, das an der Uferpromenade lag, eingetroffen. Er ließ sich eine Erfrischung aufs Zimmer bringen, zog sich um, dann war er bereit zu einem Bummel. Bevor er sich mit Kollegen traf, wollte er durch die Altstadt streifen. Er erinnerte sich noch gut an die Kathedrale San Lorenzo, die die Altstadt überragte.

Während er die Zitronade austrank, drangen aus dem Nebenzimmer erregte Stimmen zu ihm. Den Stimmen nach zu schließen, handelte es sich um ein männliches und ein weibliches Wesen. Dr. Lindau hatte kein Interesse daran zu lauschen, so ging er ins Bad. Kurze Zeit darauf trat er hinaus in den Flur. Zur gleichen Zeit wurde die Tür zum Nebenzimmer von innen aufgerissen, eine junge Frau stürmte heraus. Sie nahm ihre Umgebung überhaupt nicht wahr und prallte gegen Dr. Lindau. Dieser konnte nicht mehr ausweichen. Er griff jedoch zu und verhinderte so, dass die Fremde das Gleichgewicht verlor.

Die Hände noch immer auf die Oberarme der Frau gelegt, sah er ihr nun ins Gesicht. Sie war sehr jung und sehr hübsch. Die Tränenspuren auf den Wangen waren nicht zu übersehen.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Dr. Lindau automatisch.

»Verzeihen Sie!« Die junge Frau war sehr verwirrt. Sie musste aufschnupfen. »Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen.«

»Ich wohne nebenan, das heißt, ich bin vorhin erst eingezogen.«

»Oh!« Die junge Frau schluckte. »Dann haben Sie gehört …« Eine tiefe Röte überzog ihre Wangen. »Mein Mann und ich …« Sie geriet ins Stocken. »Haben wir Sie gestört? Waren wir sehr laut?«