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Franz Fühmann

Die Briefe

Band 2

Briefwechsel mit Ingrid Prignitz
1970–1984

„… hab ich Dich
wie den Fänger
am Trapez“

Herausgegeben von Kirsten Thietz

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Der Briefwechsel

Anhang

Dokumente und Briefe

Abkürzungen

Editorische Notiz

Biografische Notiz zu Ingrid Prignitz

Personenregister

Vorwort

Dem guten Engel, der das Flügelpferd behütet1

Franz Fühmann und seine Lektorin Ingrid Prignitz

Franz Fühmann kam 1960 zum Hinstorff Verlag in Rostock, kurz nachdem dort ein junges ambitioniertes Team den nunmehr volkseigenen mecklenburgischen Traditionsverlag übernommen hatte und sich auf die Suche nach interessanten Autoren begab: als Verlagsleiter der Buchhändler Konrad Reich und als Lektor, bald Cheflektor, der Germanist Kurt Batt. Zu den ersten Mitarbeitern im Belletristik-Lektorat zählten der ehemalige Lehrer Heinrich Ehlers und ab 1961 auch dessen einstige Schülerin Ingrid Prignitz. Reich und Batt hatten Fühmanns Reportage „Herrliches graues Hamburg“2 gelesen und ihn im Oktober 1959 um eine Rostock-Reportage gebeten. Der Autor, dem es nach seinen Jahren als Parteibürokrat der NDPD3 sehr ernst war mit der Entdeckung der Arbeitswelt und dem Bitterfelder Weg, ging auf die Warnow-Werft arbeiten, erwarb einen Schweißerpass und schrieb Kabelkran und Blauer Peter (1961). Im Verlag wurde diese Reportage, die schon bald zur Pflichtlektüre der Schulkinder in der DDR gehören sollte, „Krabbelkahn“ genannt; im Rostocker Stadtarchiv wird die Akte unter dem Titel „Kabelkram“ geführt. Fühmann hätte daran vermutlich seine Freude gehabt.

Franz Fühmann, nach Jesuitenkolleg, SA-Mitgliedschaft, Dienst in der deutschen Wehrmacht, Kriegsgefangenschaft, Antifa-Schule, Parteiamt in der NDPD, war auf dem schweren Weg zu sich selbst. In den folgenden Jahren warf er seine Ämter, Funktionen und Mitgliedschaften in Gremien und Verbänden der DDR nacheinander hin (oder man entledigte sich seiner), bekämpfte seine Alkoholsucht in der Psychiatrie der Rostocker Uni-Klinik, hungerte grimmig, verwandelte sich von einem feisten, aufgedunsenen Mann in eine hagere, asketische Erscheinung, wurde mehr und mehr zum Subjekt des eigenen Lebens. Der Pindar zugeschriebene Satz „Werde, der du bist“ steht leitmotivisch über diesem Lebensabschnitt, für Fühmann in der Formulierung Nietzsches „Ecce homo – Wie man wird, was man ist“4 und E.T.A. Hoffmanns „[…] ich bin das worden, was ich bin, weil ich es werden mußte, ich konnte nicht anders“5. Hinstorff war auf diesem Weg mehr für ihn als nur das Verlagshaus, wo man seine Bücher druckte: Hier fand er eine geistige Heimat. Und wie so oft in seinem Leben führte ihn der Weg zu sich selbst über die Beschäftigung mit einem anderen Künstler, in diesem Fall mit dem Bildhauer, Grafiker und Dichter Ernst Barlach.

Zu den Verdiensten des jungen VEB Hinstorff in den 1960er Jahren gehörte auch die Zusammenarbeit mit dem Barlach-Kustos Friedrich Schult in Güstrow und die Pflege des Erbes dieses von den Nazis verfemten und von den sozialistischen Sachwaltern mit ähnlichen Argumenten beargwöhnten Künstlers. Barlach, der 1934 zu den Mitunterzeichnern des „Aufrufs der Kulturschaffenden“ gehört hatte, einer Ergebenheitserklärung von Künstlern unter Hitlers Gefolgschaft,6 musste mit ansehen, wie seine unheroischen, religiös grundierten Kriegsmahnmale von Nazianhängern verhindert und beseitigt wurden. Über die Auseinandersetzung mit Barlachs politischen Irrungen und seinem Formbewusstsein, seiner Suche nach dem elementaren künstlerischen Ausdruck, gewann Fühmann mehr und mehr Selbstvertrauen, sich vom Diktat des Ideologischen zu lösen und zum Wesen des Künstlerischen vorzudringen.

Bereits 1963 erschien der Band Das schlimme Jahr, mit Werken von Ernst Barlach und Fühmanns Novelle gleichen Titels. Der DEFA-Film Der verlorene Engel nach Fühmanns Barlach-Novelle fiel 1965 dem berüchtigten XI. Plenum des ZK der SED zum Opfer und kam erst 1971 in wenigen Kopien in ausgewählte Kinos; das Buch erlebte indes 1967 bei Hinstorff bereits seine vierte Auflage. Anlässlich des Barlach-Bandes Das Wirkliche und das Wahrhaftige arbeiteten Ingrid Prignitz und Franz Fühmann erstmals zusammen. Zehn Jahre später, am 10. Oktober 1979, schrieb der Autor an seine Lektorin: „[…] mein Tagebuch von vor 10 Jahren sagt mir, daß heute ein Jubiläum für uns ist – am 10.10.69 hab ich die Ingrid Prignitz zum ersten Mal bei der Arbeit kennengelernt, damals hab ich Dich noch hartnäckig mit ‚ie‘ geschrieben, wie übrigens der damalige Verlagsleiter auch, und nun ist das zehn Jahre her – mein Gott, und es ist mir, als habe ich nie mit jemand Andrem gearbeitet denn mit Dir, ich kann mirs überhaupt nicht vorstellen. […] Eigentlich müßte ich jetzt 1 Flasche Sekt aufmachen, aber – […], so sag ich nur eines: daß ich diesen 10.10.69 preise & segne.“

1970 druckte Hinstorff Fühmanns Erzählungen über seine Kindheit im präfaschistischen Böhmen Der Jongleur im Kino. Eine von Fühmann besorgte Auswahl der Briefe Ernst Barlachs erschien 1972, Ingrid Prignitz schrieb als Lektorin das Verlagsgutachten zum Druckantrag.7 Das Nachwort, das eigentlich auch Fühmanns Part hätte sein sollen, übernahm Kurt Batt, denn hier zeigte sich, wie später auch an dem zum Essay ausufernden Nachwort zu Trakls Gedichten und am nie vollendeten Nachwort zu Tiecks späten Novellen, dass der stets in die Tiefe strebende Fühmann dergleichen nicht pragmatisch und in gebotener Kürze erledigen konnte.8 Zudem hatte er sich an Barlach abgearbeitet, dieser Briefband war keine drängende Herzenssache mehr, er war bereits zu Neuem aufgebrochen: Im Herbst 1971 hielt sich der fast Fünfzigjährige für drei Wochen in Budapest auf, 1973 erschien das ins Offene strebende Budapester Tagebuch mit dem programmatischen, an Hölderlin angelehnten Titel 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens, in dem er die Klaviatur seiner bisherigen und künftigen Themen und Motive assoziativ und aphoristisch durchspielte. Er wollte nichts mitteilen oder erklären, überließ sich den auf ihn einströmenden Wahrnehmungen und Gedanken und merkte „zum erstenmal, daß das, was ich da mache, einen eigenen Willen hat und gegen mich das erzwingt, was es will, und ich würde aus dem Buch anders herauskommen, als ich hineingegangen bin“.9 Er datierte mit diesem Text seinen vielzitierten „Eintritt in die Literatur“. 1975 folgte der Essayband Erfahrungen und Widersprüche mit den Überlegungen zu Märchen und Mythen und zum mythischen Element in der Literatur, das er als zeichenhaft gestaltete Substanz von Menschheitserfahrung beschrieb. Es ist die Essenz seiner Auseinandersetzung mit Mythenadaptionen und Märchen für junge Leser, den mythischen Schichten der eigenen Kindheit und den innigen, auf ihren Wesenskern verdichteten Barlachschen Figuren. Da – „als nun der Stoff ganz in die Form eingeht“10 – zeigte er sich, der neue Fühmann, der nun nicht mehr nur als geläuterter Nazi und „diensthabender Antifaschist“ herhalten musste. Begleitet hatte diese Metamorphose der Cheflektor Kurt Batt.

Fühmann schätzte und bewunderte den Herrn Doktor Batt, einen Mecklenburger „obersten Ranges“,11 der in Teterow aufgewachsen war, in Leipzig bei Hans Mayer und Hermann August Korff Germanistikvorlesungen gehört und seinen Doktortitel mit einer Arbeit über Fritz Reuter und Klaus Groth erworben hatte. Batt war nicht nur der plattdeutschen Literatur zugetan und Herausgeber einer Reuter-Werkausgabe sowie Verfasser eine Reuter-Biografie, sondern dar-über hinaus ein ausgewiesener Kenner der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Fühmann empfand es als unschätzbaren Gewinn, dass Batt, der zu den besten Literaturkritikern Deutschlands (Ost und West) zählte, ihm in glasklaren Analysen sein eigenes Werk erhellte, ohne dabei ein ideologisches Raster aufzulegen. „Von ihm hatte ich eine Hilfe. Er ist der Einzige gewesen“, äußerte Fühmann gegenüber Annemarie Auer hinsichtlich der Frage, was Literaturkritik leisten solle.12 Batt, allem Ideologischen abhold, identifizierte dessen Spuren in Fühmanns Texten sehr präzise, benannte unumwunden, was ihm missfiel, doch lektorierte es nicht hinaus. Fühmann fühlte sich von Batt zutiefst erkannt und erlebte dieses Sich-Erkennen als „Einheit eines beglückten ‚Heureka!!!, wenn auch der Blitz dieser Erkenntnis aus einem andern Gehirn schlug“.13 Er fand es etwa in dem, was Batt über das so tragische wie poetische Substrat seiner Kindheitsschilderungen sagte und über den subtilen künstlerischen Ausdruck seines Katastrophenbewusstseins.14

Kurt Batt war nicht nur ein brillanter Analytiker des Fühmannschen Werkes, ihm kommt auch das Verdienst zu, das Potenzial Fühmanns, das zu großen Teilen immer noch wie in einem Kokon schlummerte, erkannt zu haben. Mehr als einmal hat er Fühmann ermuntert, Essays zu schreiben.15 Er wies ihn auch auf die Biblische Geschichte von Stefan Andres hin („die ich als Herausforderung an Sie verstehe“).16 Im November 1974 erarbeiteten Fühmann, Reich, Batt und Prignitz das erste Konzept der Fühmann-Werkausgabe. Allein Letzteres ist exzeptionell und belegt, welches Vertrauen und welche Erwartungen man in Fühmanns schöpferische Kraft setzte: die Konzeptionierung einer Werkausgabe eines lebenden Autors, der sein 50. Lebensjahr knapp überschritten hatte! Die Ausgabe Ausgewählter Werke war zunächst auf sieben Einzelbände bis zum Jahr 1982 angelegt, sollte das bisher verstreut erschienene Werk Fühmanns zusammenfassen und neu Entstehendes integrieren. Das offene Konzept ermöglichte es, Modifizierungen vorzunehmen, was Fühmanns Arbeitsweise entsprach und der Gefahr entgegenwirkte, ihn als Klassiker festzustampfen. Dennoch überkamen ihn gelegentlich Zweifel angesichts des Unternehmens. So schrieb er am 8. Mai 1977 an Ingrid Prignitz: „Allmählich finde ich die gesamte Werkausgabe eine schiere Schnapsidee. Können wir die nicht noch abblasen, ganz im Ernst?“

Kurt Batt starb am 20. Februar 1975 im Alter von 43 Jahren an einem Herzinfarkt, über der Arbeit an einer Festschrift zum 75. Geburtstag von Anna Seghers. Vorausgegangen waren diesem frühen Tod Wochen unermüdlicher Arbeit, an besagter Festschrift und an Konrad Reichs Ehm-Welk-Biografie, eine nicht auskurierte Krankheit und ein zunehmender politischer und existenzieller Druck. Einen Monat zuvor war er im Verlag von der Leitung des Bereichs Deutsche Gegenwartsliteratur zurückgetreten. Die Bezirksparteileitung der SED Rostock und die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur (HV) betrieben Batts Absetzung als Cheflektor, denn seine Ausrichtung des Verlagsprogramms, sein weitgespannter Literaturbegriff, der im engen Konzept des sozialistischen Realismus nicht aufging, seine Weigerung, in die SED einzutreten und sich von der Stasi anwerben zu lassen, sowie die Tatsache, dass viele der un-angepassten DDR-Autoren nach Rostock strebten, machten ihn nach Ansicht der Parteiideologen unhaltbar. Es gehört zu den bitteren Paradoxien der Intellektuellengeschichte der DDR, dass gerade seine ausgewiesene Kompetenz und persönliche Integrität Batt verdächtig machten und ungeeignet für eine leitende, verantwortungsvolle Position in der Literaturwissenschaft der DDR. Seine Bemühungen um eine adäquate Stelle, etwa als Dozent an der Berliner Humboldt-Universität oder als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, blieben erfolglos. So stand er vor der Perspektive, ohne institutionelle Anbindung künftig als freiberuflicher Literaturkritiker zu arbeiten und als Außenlektor eine Gruppe von Hinstorff-Autoren zu betreuen. Das Profil, das Batt dem Programm des volkseigenen Verlags gegeben hatte, trug diesen bis zum Schluss. Für Ingrid Prignitz, wie auch für andere langjährige Hinstorff-Mitarbeiter, blieb Kurt Batt zeitlebens ein Referenzpunkt: sein Arbeitsethos, seine vornehme, distanzierte Intellektualität, seine mecklenburgische Bedachtsamkeit, seine nicht korrumpierbare Persönlichkeit.

Fühmann und Batt haben sich kaum über Privates ausgetauscht, sich nie geduzt, „und dennoch ist er mein bester und vertrautester Freund gewesen“, so Fühmann.17 Und Ingrid Prignitz, der Batt „so nahegestanden [hatte] wie kein andrer Mensch“,18 die als Redakteurin bei vielen Büchern mit ihm zusammengearbeitet hatte, so auch an der großen neunbändigen Reuterausgabe, teilte ihre Arbeitsjahre beim Rostocker Hinstorff Verlag nicht etwa in die in der Baracke am Schröderplatz, die in der Kröpeliner Straße und die in der Lagerstraße – ihre Hinstorffzeitrechnung lautete: die Jahre mit Batt und die Jahre nach Batt.

Die Rolle der Fühmann-Lektorin fiel Ingrid Prignitz nach Batts Tod mehr oder weniger zu; Autor und Lektorin setzten die einmal begonnene Arbeit einfach fort, obgleich der Verlagsleiter Konrad Reich sie gern selbst übernommen hätte.19 „Ich bin nach Batts Tod in die Lücke gesprungen, wie ein guter Soldat, aber ich bin nicht so anmaßend zu glauben, ich könnte diesen Platz einnehmen“, so schrieb Ingrid Prignitz am 22. Oktober 1979, etwas beschämt ob Fühmanns Lob anlässlich ihres zehnjährigen „Jubiläums“. Als der neue Cheflektor Horst Simon, bis dahin Kulturredakteur beim SED-Zentralorgan Neues Deutschland, seinen Dienst im Verlag angetreten hatte und Konrad Reichs Ausscheiden feststand, erwog Fühmann, von Hinstorff wegzugehen.20 Dass er es nicht tat, ist allein das Verdienst von Ingrid Prignitz. Auch Ingrid Prignitz suchte nach beruflichen Alternativen; dass sie schließlich bei Hinstorff blieb, mag vor allem an Franz Fühmann gelegen haben.

Die ersten Briefe dieses Bandes betreffen noch die Arbeit am Barlach-Buch Das Wirkliche und Wahrhaftige (1970) und sodann die Zeit des Übergangs nach Batts Tod mit der Arbeit an den beiden ersten Bänden der Werkausgabe: der Erzählungen 1955–1975 und der Nachdichtungen. Im Zuge des Druckgenehmigungsantrags für den Erzählungsband musste Ingrid Prignitz zur „Spiegelgeschichte“ (über das Auftreten dreier kleiner Repräsentanten der DDR-Staatsmacht auf einer Betriebsfeier und die Anmaßungen eines Parteisekretärs) eigens ein Gutachten nachreichen.21 Mit diesem Gutachten traf sie Fühmanns Intention derart genau, dass er sich wie bei Batt im Spiegel dieses Textes erkannte und unvermittelt vom „Sie“ zum „Du“ überging. „Ingrid, ich habe das Gutachten gelesen, das ihr zu meiner Spiegelgeschichte ausgearbeitet habt. Der Verlagsleiter hat mir gesagt, daß es von Dir ist. Ich muß sagen, das ist eine der gescheitesten und klügsten Arbeiten, die ich je zu meinen Geschichten gelesen habe, gescheit, und klug, auch taktisch klug.“22 Die „Spiegelgeschichte“ erschien also im Band Erzählungen 1955–1975; die Zeitschrift Sinn und Form, in deren Redaktionsbeirat Fühmann immerhin saß, hatte den Abdruck abgelehnt.

Ingrid Prignitz benannte einmal, was ihr in der Zusammenschau dieser Erzählungen aus 20 Jahren als das Wesentliche an Fühmanns poetischem Weltverhältnis erschien, folgendermaßen: „Seltsamerweise ist mir zu dem Deinen schon so um 1975 der Begriff der ‚Epiphanie – als Augenblick der Wahrheit, des Sehendwerdens – eingefallen, allerdings bezogen auf Deine Erzählweise – irgendwie kam ich von Joyce her darauf –, als ich beim Band ‚Erzählungen über das Gemeinsame dieser so unterschiedlichen Texte nachdachte: genaue, oft minutiöse Beschreibung dessen, was ist, in der sich blitzartig Erkennen – oder Erfahrung – bündelt, meist als Ideologiekritik.“23 Jahre zuvor hatte Kurt Batt dasselbe „strukturbildende Element“ ausgemacht: „[…] die Partikel ‚jäh‘; sie ist – ich sagte es Ihnen schon – für mich das Schlüsselwort ihrer Prosa. Es ist so weit verinnerlicht, daß es ganz unabhängig vom Stoff, den Sie behandeln, als Formelement, als kunstvolle Volte, als unerhörtes Quidproquo immer wiederkehrt. Mir fällt im Augenblick der Name keines Autors ein, bei dem im Grunde ja inhaltliches Element seiner Erfahrung so weitgreifende formbildende Konsequenzen hätte. (Oder ist es gar nicht Erfahrung, sondern eine bestimmte Disposition der Seele?) Denn jenes Jähe, das plötzliche Innewerden, das – im buchstäblichen Sinne – Grundstürzende macht Sie wiederum zum exemplarischen Novellisten.“24

Die Novellistik trat bei Fühmann in den kommenden Jahren allerdings in den Hintergrund. In das Jahr 1977 fiel die Vorbereitung des Bandes mythologischer Erzählungen Der Geliebte der Morgenröte mit der Heinrich Böll gewidmeten Künstlergeschichte „Marsyas“ und des Bandes mit Essays und Vorträgen zu E.T.A. Hoffmann Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (1979). Der gleichnamige Aufsatz mit dem Anhang zum „Ignaz Denner“ zählt bis heute zu den lesenswertesten Arbeiten über den Romantiker Hoffmann, der „ein Banner und ein Dienst“25 für Fühmann war. Ebenfalls 1977 lagen erste Arbeiten zu Georg Trakl und eine Recherchereise nach Salzburg. Im Zeichen der Zusammenstellung der Nachdichtungen für die Werkausgabe und erster Überlegungen zum Essayband sowie der Strukturierung des Bandes mit den mythologischen Adaptionen und Erzählungen standen die Jahre 1978 und 1979.

Ende August 1979 bekam Ingrid Prignitz die erste Fassung des Trakl-Essays; Fühmann wollte ihre Meinung erfahren, bevor er nach Leipzig fuhr zu einem Gespräch im Reclam Verlag, für den dieser Text als Nachwort zu einer geplanten Trakl-Ausgabe entstanden war. Ihre Reaktion kam postwendend per Telegramm am 7. September 1979: „es ist das beste essayistische was du je geschrieben“. Reclams Verlagsleiter Hans Marquardt hingegen befand und meldete als IM „Hans“ an die Staatssicherheit, dass sich der Text in der vorliegenden Form gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR richte, und nahm auftragsgemäß zusammen mit dem Lektor Hubert Witt Einfluss auf dessen Kürzung um die politisch brisanten biografischen Passagen.26 In bibliophiler Aufmachung in einem Schuber erschienen 1981 bei Reclam Leipzig Georg Trakls Gedichte, Franz Fühmanns Gedanken zu Georg Trakls Gedicht und ein Heftchen mit Zeichnungen von Egon Schiele. In einem Brief an Ingrid Prignitz am 1. Oktober 1979 dokumentierte Fühmann die Gespräche im Reclam Verlag sehr detailliert in einer Art Gedächtnisprotokoll, um sich ihrer Zeugenschaft zu versichern, und tat dies noch einmal über ein Gespräch mit Hans Marquardt am 14. Mai 1982, nachdem sein Essay Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht bei Hinstorff in Rostock und unter dem Titel Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen war. Marquardt hatte es bis zum Schluss für ausgeschlossen gehalten, dass der vollständige Essay bei Hinstorff gedruckt würde, und in der Tat wirkt es bei diesem Veröffentlichungsvorgang noch heute verblüffend, in welcher Weise alle Beteiligten die vorgegebenen Strukturen bedienten und gleichzeitig unterliefen.

Es beginnt damit, dass der Cheflektor Horst Simon als IME „Schönberg“ in seinen Gesprächen mit der Stasi von intensiver Arbeit mit dem Autor berichtet und nebenher anmerkt, dass Fühmann seinen umfangreichen Trakl-Essay, der bei Reclam nur zu einem Drittel erscheinen könne, bei Hinstorff „in Gänze“ herausbringe, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.27 Der Trakl-Essay wurde vom Hinstorff Verlag in der von Fühmann intendierten Form bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur (HV) eingereicht. Dort war man nunmehr interessiert, ihn Fühmann zum 60. Geburtstag „auf den Gabentisch zu legen“.28 Das befürwortende Außengutachten lieferte die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Sigrid Damm, eine Fühmann-Vertraute und bis 1978 selbst Mitarbeiterin der HV. Das Unerhörte dieses Textes gerann hier in zwei lapidaren Sätzen: „Die Rigorosität seiner Fragestellung ist dabei unüberhörbar. Wie auch die Verweigerung von kurzschlüssigen und harmonisierenden Antworten!“29 Die Satzgenehmigung wurde Ende August kurz vor dem 150. Hinstorff-Jubiläum (mit Fühmanns besorgt erwarteter Festrede) erteilt. Am 9. November 1981 erhielt Horst Simon auf dem Verlegerseminar von HV-Mitarbeitern die Bestätigung: Man gehe davon aus, dass auch die Druckgenehmigung erteilt werde.30 Am 16. Oktober 1981 hatte man in der HV noch einige problematische „Stellen“ notiert,31 davon blieb, offenbar nach einer internen Diskussion, ein zu streichender Satz übrig. Das Zitat von Alexander Fadejews Rede auf dem Weltfriedenskongress 1947 in Wrocław wurde um diesen Satz gekürzt: „Könnten Schakale lernen, auf der Schreibmaschine zu schreiben, oder Hyänen sich des Füllfederhalters bedienen, so würden sie wahrscheinlich ähnliche ‚Werke schaffen wie die Henry Miller, Eliot, Malraux und die übrigen Sartre-Typen.“ Man rechnete diese Ausfälle nunmehr „bestimmten (inzwischen weitgehend überwundenen) kulturpolitischen Überspitzungen der Vergangenheit“ zu.32 Am 30. November 1981 meldete eine „Quelle“, dass der Essay in dieser Form „kulturpolitisch vertretbar“ und „für die Veröffentlichung“ geeignet sei.33 Die Nachricht über die Druckgenehmigung traf am 30. Dezember 1981 im Verlag ein und wurde von Ingrid Prignitz umgehend an Fühmann telegrafiert.

Uwe Kolbe hat am Beispiel des Trakl-Essays die Vielzahl der an der Zensur beteiligten Institutionen und die paradoxe Kollaboration zwischen Zensur und Widerstand leistenden Autoren noch einmal erklärt. Dies geschah beispielsweise, indem Dinge genannt wurden, ohne sie beim Namen zu nennen, etwa „jene Ereignisse 1968“ statt „Prager Frühling“. „Tabus zu benennen oder einzureißen, davor lag jeweils der Kompromiss der Formulierung. Wäre es anders gewesen, hätte es diese DDR-Publikation nie gegeben.“34 Es wäre naiv zu glauben, dass Fühmann und Ingrid Prignitz sich dem entziehen konnten. Natürlich suchten sie Formulierungen, die der Zensur keine Angriffsfläche boten und womöglich das Ganze gefährdet hätten. Ingrid Prignitz las Texte jedoch nicht mit dem Blick, der das Werk im Vorhinein auf das politisch „Machbare“ zurechtstutzte; ihr Kriterium war, getreu dem Battschen Credo, literarische Qualität, und dass sie diese verfocht, darauf konnte Fühmann absolut vertrauen. Für den Trakl-Essay hatte sie nahegelegt (wie übrigens auch Hans-Jürgen Schmitt von Hoffmann und Campe, der gewiss keine Zensur-Gründe hatte), den dogmatischen marxistischen Kulturpäpsten Alexander Abusch und Alfred Kurella nicht so viel Raum einzuräumen, um sie nicht aufzuwerten. „Es war schon richtig, so einen Namen wie Abusch aus dem Trakl zu streichen, und dann habe sich’s. – Ingrid, nicht nur ich weiß, was Du uns bedeutest. Es ist ja immer so mit der ernsthaften Kunst und Literatur und Philosophie – wenn ich so denke wie sich die Schätzung zur Lebzeit zu jener durch die Nachwelt verhält“, schrieb Fühmann am 1. September 1982.

Uwe Kolbes Ansicht, dass Fühmann sich darin verschlissen habe, dem Zensor Trakls Gedicht zu erklären,35 könnte man entgegenhalten, dass dieses Bemühen immerhin dazu geführt hat, dass der Essay (fast) vollständig im Hinstorff Verlag erschienen ist und wirken konnte. Was Fühmann anhand der prophetisch düsteren Sprachbilder Trakls über die Erfahrungen seiner Generation in den politischen und ideologischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts sagte, war von bislang nicht dagewesener Deutlichkeit und Wucht und verfehlte seine Wirkung nicht. Wie im Reisetagebuch der Zweiundzwanzig Tage waren die Grenzen dessen, was man in der DDR öffentlich äußern beziehungsweise drucken konnte, damit nicht nur ausgelotet, sondern deutlich verschoben. Und dahinter gab es kein Zurück mehr. Dieser Text über die Endzeiterfahrung in Trakls Gedicht und die biografische Verschränkung zweier Dichterleben, deren erschütterndes Grunderlebnis jeweils ein Weltkrieg war (für Trakl am Ende, für Fühmann am Beginn seines Lebens), machte nicht nur Fühmanns geistige Entwicklung kenntlich, sondern war auch eine unmissverständliche Absage an die geschichtsoptimistische sozialistische Teleologie. Es war eine klare Zurückweisung der Herrschaft der Ideologie aus dem Reich der Poesie im Gewand einer öffentlich vorgetragenen Selbstverständigung, eine „Interpretation, die immer auch Eigendarstellung sein muß; das Interpretationsobjekt als Katalysator […]“, wie Ingrid Prignitz am 27. November 1979 formulierte. Und Fühmann bekannte: „Es war natürlich auch so, daß ich erst beim Schreiben und im Prozeß des Schreibens zu bestimmten Erkenntnissen gekommen bin […].“36 So entstand eine Confessio von beeindruckender psychologischer Präzision, die dem Ich keine Ausflüchte gestattet und daraus ihre Überzeugungskraft gewinnt. Und nicht nur der Autor veränderte sich mit diesem Buch – auch der Leser: Dies ist eines der Bücher, aus denen man als Leser anders herauskommt, als man hineingegangen ist. Auch wenn die historischen Voraussetzungen der Entstehung des Essays wie das ideologische Verdikt der Dekadenz sich mit dem Ende der DDR erledigt haben, so erfährt man hier wie übrigens auch aus Fühmanns sehr genauen, sich jeden Moralisierens enthaltenden Kindheitsschilderungen im Judenauto und im Jongleur im Kino Grundsätzliches über die Entstehung und das nachhaltige Wirken falschen Bewusstseins.

Der schwierige, anspruchsvolle Trakl-Essay war kein Buch, von dem man fürchten musste, dass es in die Massen wirkte. Ganz anders dagegen der Erzählungsband Saiäns-fiktschen, der 1980 konzipiert wurde und den die Hinstorff-Verlagsleitung ebenfalls befürwortete, obgleich es sich dabei um eher düstere Gesellschaftssatiren handelte, wenn auch verlagert in eine ferne Zukunft nach dem Zweiten Atomkrieg. 1981 wurden die Saiäns-fiktschen-Erzählungen sowie der Essayband der Werkausgabe zur Druckgenehmigung eingereicht. An höchster Stelle, im Büro von Kurt Hager, dem für Kulturpolitik verantwortlichen Politbüromitglied des ZK der SED, war im November 1981 entschieden worden, dass Saiäns-fiktschen eine Druckgenehmigung erhalten solle, wie übrigens auch das erste in der DDR erscheinende Bändchen Freud-Schriften beim Verlag Volk und Welt mit einem Gespräch zwischen Fühmann und dem Volk-und-Welt-Lektor Dietrich Simon als Nachwort, nicht aber der Essayband der Fühmann-Werkausgabe bei Hinstorff.37 Stein des Anstoßes war vor allem Fühmanns Offener Brief an Klaus Höpcke. Höpcke, der Stellvertretende Minister für Kultur und Chef der HV Verlage und Buchhandel, hatte sich selbst zu weit vorgewagt, als er zunächst Einverständnis signalisierte, dass Fühmann auf seinen Weltbühne-Artikel „Die Lust an der Wahrheit“38 mit einem Offenen Brief antworten könne. Die Deutlichkeit, in der Fühmann der Partei- und Staatsführung die Definitionsmacht über die Wahrheit absprach und die Möglichkeiten öffentlicher, demokratischer Meinungsbildung und -äußerung einforderte, wurde ihm nunmehr als „antisozialistische“ Position ausgelegt und durfte unter keinen Umständen mit der Person des Stellvertretenden Ministers in Verbindung gebracht werden. Höpcke wurde kurz vor Weihnachten 1977 von Erich Honecker und Kurt Hager zurückgepfiffen, Fühmann zu Hager bestellt, um ihm dies zu erklären, und die Veröffentlichung des Offenen Briefes grundsätzlich untersagt.39 Erst als Fühmann sich nach mehrjährigem zähen Ringen mit dem zurückrudernden Höpcke zu dem Kompromiss bereitfand, den Offenen Brief zurückzuziehen, und ihn für das Bergwerk vorsah, konnte der Essayband erneut zur Druckgenehmigung eingereicht werden und 1983 erscheinen.40

Ein unauffälliger Zettel vom 2. September 1981 mit einer Liste von benötigten Medikamenten und der von Ingrid Prignitz notierten Adresse eines Bereitschaftsarztes liefert einen Kommentar ganz eigener Art zur alltäglichen Gratwanderung zwischen Klartext und Sklavensprache: Fühmanns Festrede zum 150. Hinstorff-Verlagsjubiläum im September 1981, um die die Verlagsleitung ihn gebeten hatte. Am 25. März 1981 schrieb Fühmann an den Verlagsleiter Harry Fauth: „Ich weiß nicht, ob es der Verlag noch für zweckmäßig hält, auf meine Person zu rekurrieren – ich bin nach wie vor dazu bereit, muß allerdings auch offen sagen, daß eine Triplizität der Fälle von Ablehnungen (die neuen Bücher von Klaus Schlesinger, Jurek Becker – trotz erfolgtem Eingehen auf Änderungswünsche! – und dazu noch W.[olfgang] H.[egewald]) mich doch vor die Notwendigkeit stellen müßte, dazu nicht zu schweigen.“41 Natürlich wünschte man den „würdigsten Vertreter der Autorschaft“ als Festredner, doch gleichzeitig war man in höchster Alarmbereitschaft. Fühmann ließ sich in Vorbereitung der Rede im Verlag zu sachlichen Details informieren, war aber fest entschlossen, sich auf keinerlei Zensur einzulassen. Am 30. Juli 1981 schickte er die Rede an Ingrid Prignitz und schrieb: „[…] was ich von Dir wissen möchte: Ist es so, wie ich es sage (ebenfalls mit dem Ende) das Schärfste, was noch sagbar ist, oder kann man es noch um 1 Grad andrehn? – Eigentlich müßte man ja eine Rede gegen die Zensur halten und den Minister auffordern, nach Hause zu gehen, das wärs. – Aber: Im Bereich des Möglichen. –“ Fühmann verzichtete wegen des Hinstorff-Jubiläums darauf, zum 200. Jubiläum seines westdeutschen Verlages Hoffmann und Campe nach Hamburg zu fahren. Das Redemanuskript hatte er eine Woche zuvor nach Rostock geschickt, es wurde vom Verlagsleiter der Bezirksleitung der SED sowie dem Kulturministerium und von diesem dem ZK der SED vorgelegt. Beanstandet wurde erwartungsgemäß die Erwähnung der nicht gedruckten Hinstorff-Autoren, aber auch, dass Fühmann den Hinstorff Verlag und nicht explizit die DDR als seine Heimat bezeichnete. Am Abend des 31. August 1981 kam Fühmann nach Rostock und „hat sich nach starkem Drängen bereiterklärt, 1½ Seiten aus der Rede herauszunehmen, vor allen Dingen dort, wo es um diese beiden Autoren und um den jungen Autoren geht“.42 In der Nacht wurden die Seiten überarbeitet und am Morgen der Bezirksparteileitung zur Verfügung gestellt. Auch Ingrid Prignitz fand die Austauschseite einen Tag später auf ihrem Schreibtisch.43

Die Hinstorff-Mitarbeiter waren von der Rede tief bewegt; für sie war es der unbestrittene Höhepunkt der Feierlichkeiten, sie fühlten sich und ihren Verlag wahrhaft geehrt. Die Verlagsleiter waren erleichtert, die Rostocker Genossen zufrieden,44 die Feier war gerettet, doch der Cheflektor beobachtete: „Nach dieser Rede war nicht mehr viel mit Fühmann zu reden. Es war ihm Dank zu sagen, aber er wollte dann seine Ruhe haben und sich zurückziehen. Denn daß er in den ursprünglichen Text der Rede eingegriffen hat, daß er dort noch verändert hat, wird ihn sicherlich nicht nur erfreut haben, sondern ihn auch in gewisser Weise belastet haben.“45 Entgangen war ihm: Fühmann musste mit heftigen Leibschmerzen einen Arzt aufsuchen: womöglich erste Anzeichen des Krebses, ganz sicher psychosomatische Folgen eines quälenden Kompromisses, wie er aus den Briefen des Sommers 1981 ablesbar wird.

Fühmann schätzte die kritischen Einwände von Ingrid Prignitz: Auch wenn er ihnen nicht immer folgte, so brachten sie ihn dazu, sich seiner selbst zu vergewissern, so etwa in Bezug auf die Saiäns-fiktschen-Erzählungen: „[…] da hast Du ganz recht, wenn Du’s auch schonend, sehr schonend gesagt hast: natürlich ist das Zeug furchtbar überanstrengt, gesucht, manieriert, so mit Gewalt gemacht, überzüchtet, und allegorisch liegt mir nun gar nicht, und doch muß ich derlei Zeug von Zeit zu Zeit machen, es ist wohl immer, so weit ich mich überschaue, vor irgendwelchen großen Brüchen gewesen. Der letzte war die verkrampften Geschichten um den ‚Jongleur, wo auch was zu Ende gegangen war und das Neue noch nicht da, das wurden dann die ‚22 Tage.“46 So ähnlich – als Durchgangsstadien seiner Selbstvergewisserung – hatte er „Spuk“ und die Geschichten aus dem Jongleur im Kino gegen Batts Kritik verteidigt, der „Die Austreibung der Großmutter“ nicht mochte, aber akzeptierte.

Wie produktiv und respektvoll Fühmann und seine Lektorin Meinungsverschiedenheiten austrugen, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Plan des Fühmann-Lesebuchs bei Hoffmann und Campe (Den Katzenartigen wollten wir verbrennen, 1983). Sehr entschieden und mit schlüssiger Argumentation hatte Ingrid Prignitz ihre Vorbehalte gegen eine solche Querschnittspublikation vorgebracht.47 Fühmann setzte sich über ihre Bedenken hinweg, und sie bewies nach Erscheinen des Buches die Größe einzugestehen, dass das Ergebnis gelungen sei.48

Im Falle der Auseinandersetzung zwischen Fühmann und dem Fotografen Dietmar Riemann, zu dessen Fotos von Behinderten in der Samariteranstalt Fürstenwalde Fühmann den Essay „Was für eine Insel in was für einem Meer“ schrieb, schlichtete Ingrid Prignitz sachlich und unaufgeregt den Streit, der das Projekt ernsthaft gefährdete, und plädierte entschieden für dessen Fortsetzung. Die Sache ging im Sinne Fühmanns aus, da sich Riemann schließlich einverstanden erklärte, dass zwei weitere Texte, die mit seinen Fotos nichts zu tun hatten, in den Band aufgenommen wurden; doch Ingrid Prignitz zeigte in diesem Fall wenig Verständnis für Fühmanns Empfindlichkeiten.49

Der Erfolg des Trakl-Essays und der zuvor erschienenen Saiäns-fiktschen-Geschichten beflügelten Fühmann. Viele Stoffe und Themen bedrängten ihn, allen voran das Bergwerk, das für ihn „[…] das entgültige [sic] Ausbrechen in die Literatur“ markieren sollte. Auf dem Weg dahin lagen die biblischen Geschichten („drängen wie eine Lava“), „die jetzt in die Richtung gehn, wo ich hinwill, eigentlich, nämlich zur Literatur, ohne Rücksicht auf diese Scheiße von Oben/Unten, ohne diesen Kaninchenblick, wie Th.[omas] Brasch zu sagen liebt“. Zugleich war da der Text zu Riemann. Und in die Gesellschaft wirken als Mahner, das wollte Fühmann auch weiterhin: „ein angefangener Brief à la Lehrerin“,50 auch einen Brief an den Vorstand des Schriftstellerverbandes wollte er schreiben – und: „Nun mach ich für den armen MORGEN-Verlag das Nachwort zu Ludwig Tieck, das ich seit 5 Jahren versprochen habe […].“ Dies alles stellte er am 16. April 1982 seiner Lektorin vor.

So war es auch eine ihrer Aufgaben, seine oft ausufernde, sich verzettelnde Produktivität pragmatisch zu ordnen, dasjenige herauszuschälen und voranzutreiben, was zur Veröffentlichung bereit war. Seine „manische Arbeitsweise“ hatte ihren Grund zu einem guten Teil in seinem leidenschaftlichen Wesen (gespannt zwischen Askese und Rausch, wie Gunnar Decker es in seiner Fühmann-Biografie nennt),51 in den auf ihn einstürzenden Themen und Bildern, aber auch im steten Niederkämpfen der Alkoholsucht. Am 20. September 1982 schrieb Fühmann an Ingrid Prignitz. „Und dann so irrsinnige Versuchungen, Verlangen nach Alkohol – aber ich muß es durchstehen. Jetzt erst mal bis zur Reise durchhalten, dann ist schon viel gewonnen. Auf der Reise trink ich bestimmt nicht. Aber bis dahin sind noch 3 Tage, und jeder wird jetzt endlos. Am besten wirds sein, sofort, wenn ich von der Post zurückkomm, was Neues anzufangen.“ Und sie – ahnend, was auf dem Spiel stand – telegrafierte sofort am 22. September zurück: „franz stehs durch brauchen dich […]“.

Zu einer Chiffre für Fühmanns Streben nach dem Eigentlichen, aber auch für das Scheitern wurde das Bergwerk. Wie ein Schweifstern zog sich dieses Projekt durch die letzten zehn Jahre seines Schaffens und gab gleichsam Substanz und Energie an die anderen in diesem Zeitraum entstehenden Werke ab. „[…] und dann endlich endlich endlich das BERGWERK – neugierig bin ich ja, was sich der liebe Gott dann ausdenkt, um es wieder zu verhindern. Ich weiß es schon, und Du weißt es auch“, schrieb er am 3. Februar 1981. Nach dem beglückenden Beginn in den siebziger Jahren belasteten schon bald die Kontroll- und Vereinnahmungsversuche vonseiten der staatlichen Verwaltungen der Kupfer- und Kaligruben, Missverständnisse zwischen ihm und seiner Brigade und die lange vage bleibende Konfiguration des Ganzen den Fortgang der Arbeit. Es scheint, als habe ihn die Ahnung, dass dieses Vorhaben nicht zu bewältigen war, zumindest unterbewusst all die Jahre begleitet. Der Anspruch, im Sinne einer ins Unendliche sich spiegelnden romantischen Universalpoesie tief ins Sediment der Literatur hinabzusteigen, zu den mythischen, erdgeschichtlichen Schichten, und zugleich im Sinne seines Serapiontischen Prinzips die gesellschaftliche Realität mit ihren aberwitzigen Banalitäten dagegenzuspiegeln, das war schier unerfüllbar.

Über Jahre diente das Bergwerk-Projekt mit all den gründlichen Vorarbeiten prospektiv als Auffangbecken für Ideen und Vorhaben. Schärfere Konturen gewann es erstmals in einem ausführlichen Brief an Ingrid Prignitz am 24. Januar 1983. Nachdem sie Kenntnis von der Konzeption dieses Werks bekommen hatte, das Krönung und Mündung aller seiner literarischen Bemühungen werden sollte, schrieb sie am 22. Februar 1983 zurück: „Natürlich hast Du mich erschreckt – das ist kein Berg, das ist ein Gebirgsmassiv, und Du weißt es – und natürlich bete ich für Dich und natürlich halte ich Dir die Daumen.“ Der erste Vertrag zu diesem Projekt, verbunden mit einem „Entwicklungshonorar“, datiert vom 20. Juli 1974. Am 10. März 1975 schrieb Fühmann: „Sonst: dauernd Bergwerk.“ Am 8. Oktober 1977: „[…] und dann fange ich mit dem BERGWERK an, das muß jetzt raus, jetzt ist die Zeit da.“ Am 11. April 1978: „[…] das ‚Bergwerk‘ ist angefangen. Nun ist nichts mehr aufzuhalten. Halt mir die Daumen.“ Am 29. August 1980: „[…] es läuft ja alles auf das Bergwerk zu“, am 15.9.1980: „Und dann kommt endlich, und unvermeidlich, DAS BERGWERK.“ Am 6. September 1981: „So, jetzt fang ich den FREUD an, und dann ins Bergwerk, endlich!“ Am 11. August 1982 „[…] und dann muß es endlich ins Bergwerk gehen“. Am 3. Januar 1983: „– das Bergwerk gräbt sich!“ Ende Juni 1983 bekam Ingrid Prignitz die ersten zwölf Kapitel. Knapp einen Monat später musste Fühmann für viele Wochen ins Krankenhaus. Von der Krankheit zum Tode schon schwer gezeichnet, übergab er Ingrid Prignitz bei ihrem Besuch Anfang Dezember 1983 in Berlin Austauschseiten; als Quintessenz ihrer Unterredung strich er auf dem Fragment „Im Berg“ die Widmung „In memoriam Dr. Kurt Batt“ und ersetzte sie durch den Zusatz „Bericht eines Scheiterns“.52 Dies war wohl Ingrid Prignitz’ schwerste Mission.

Sie brachte posthum gegen viele Widerstände alles zur Publikation, was vom Autor dafür vorgesehen war: innerhalb der Werkausgabe die Filmszenarien, Trakls Gedichte und Fühmanns Trakl-Essay, die Traumerzählungen Unter den Paranyas, ferner das Ballettlibretto Kirke und Odysseus, das Libretto Alkestis, das Hörspiel Die Schatten, die Puppenspiele, die Märchen auf Bestellung, die biblischen Geschichten im Band Das Ohr des Dionysios und schließlich das Fragment Im Berg. An dem von Horst Simon und Barbara Fühmann-Richter herausgegebenen Gedenkband zu Fühmanns 65. Geburtstag Zwischen Erzählen und Schweigen wollte sie nicht mitwirken („Der Spiegel ist zu klein.“). Der von Fühmanns Familie angeregten und von Hans-Jürgen Schmitt herausgegebenen Briefausgabe von 1994 stand sie ablehnend gegenüber, denn diese widersprach Fühmanns Letztem Willen.

Ingrid Prignitz war nicht nur Fühmanns Hinstorff-Lektorin, auch bei Projekten andernorts setzte er auf ihr Urteil. So war sie seine erste Leserin und Kritikerin des als Nachwort gedachten Gesprächs mit Dietrich Simon zum Freud-Bändchen Trauer und Melancholie bei Volk und Welt, sie schrieb für die Dreizehn Träume bei Edition Leipzig das Außengutachten sowie einen Text für das Schallplattencover zu Pavlos Papierbuch, das Fühmann bei LITERA eingelesen hatte.

Die absolute Loyalität und die zuverlässige Arbeit seiner Lektorin waren für Fühmann unabdingbare Voraussetzungen seiner Arbeit. Zahlreich sind Bemerkungen wie diese: „Und ich brauche wie das tägliche Brot ein Gespräch mit Dir“ (1. November 1979). „Weißt Du, daß Du eine von den Wenigen ganz ganz Wichtigen hier bist?“ (17. März 1980). „[…] ach ich möchte, Du könntest immer mal so vorbeihuschen, mal zur Früh, mal zum Abend, daß wir ein bißchen quatschen könnten“ (24. Januar 1983). Am 5. Februar 1983 schrieb er: „[…] wenn Du nur wüßtest, was mir Deine Briefe bedeuten. Ich weiß mich zwar vor Post nicht zu retten, aber die Schreiben, die zählen[,] sind rasch abgezählt, und beim Bergwerk hab ich Dich wie den Fänger am Trapez – immer kann man nicht nur fliegen, man braucht diese zwei Hände, und die streckst Du mir immer her.“ Damit griff er ein Bild auf, das Ingrid Prignitz fünf Jahre zuvor in einem Brief benutzt hatte: dass sie „am Trapez gut und zuverlässig arbeiten“ wolle – „und sei’s bloß als Auffangmann für jemand, der den großen Salto dreht“ (Brief vom 31. Mai 1977).

Stets pries Fühmann ihre Arbeit auch anderen gegenüber, so etwa in einem eindringlichen Brief an Wolfgang Hilbig, Ostern 1981, in dem er ihm den Unterschied zwischen zensurierenden Eingriffen (wie er sie nach seinem Empfinden bei Suhrkamp durch Elisabeth Borchers erfahren hatte) und gutem Lektorat klarzumachen versuchte: „Andererseits bin ich auch nach dem Tode von Dr. Kurt Batt und dem Weggang von Konrad Reich zum Unterschied von andren Kollegen bei Hinstorff geblieben, weil ich die Zusammenarbeit mit meiner dortigen Lektorin Ingrid Prignitz einfach nicht mehr missen möchte, unter anderem nicht ihren Mut missen möchte, mir auch schmerzhafte Änderungsvorschläge zu unterbreiten, mitunter, so in meinem letzten Erzählband, Streichungen von der Länge mehrerer Seiten. Sie kommen, diese Vorschläge, das hat mich eine jahrzehntelange Zusammenarbeit gelehrt, dem Werk in meinem Sinne zugute, sie präzisieren es, arbeiten sein Profil heraus, eliminieren Mißlungenes, verschärfen – ich würde ja keine Silbe streichen und würde auf jedem Komma beharren (und tue das auch), wenn durch eine vorgeschlagene Veränderung meine Arbeit entschärft, mein Wollen verdunkelt, meine Diktion verunklärt würde.“53

Im September 1979 wurde Ingrid Prignitz im Verlag die Leitung des Fachgebiets Erbe übertragen; aus dem Fachbereich Gegenwartsliteratur sollte sie ausscheiden, ausgenommen davon war ihre Arbeit mit Franz Fühmann. Doch der fürchtete offenbar, dass sie ihm mit dieser Veränderung verloren gehen, zumindest nicht ausreichend zur Verfügung stehen könnte, und so versuchte er, Klaus Schlesinger dafür zu gewinnen, Ingrid Prignitz privat als Lektorin anzustellen. Schlesinger schrieb am 7. Januar 1980 an Fühmann „[…] eben hab ich ingrids kommentar zu meinem text gelesen. ich bin auf eine nicht beschreibbare weise beeindruckt. so ein blick! du hast nicht übertrieben! ich überleg mir die sache (also deinen vorschlag zwecks anstellung) noch einmal. Vielleicht finden wir noch ein, zwei leute – dann ginge es finanziell besser. ich bin ja nicht so produktiv, hab auch nicht so viel moneten. […] wegen ingrid überlegen wir nochmal und rechnen, ja–?“54 Es kam nicht dazu, Schlesinger war ja notorisch knapp bei Kasse und borgte sich eher bei Fühmann Geld. Bereits Anfang 1982 wurde Ingrid Prignitz von ihrer neuen Aufgabe im Verlag wieder entbunden. In einer Einschätzung seitens der Verlagsleitung hieß es, sie sei „die verläßlichste und kenntnisreichste Mitarbeiterin des Verlages […]. Franz Fühmann ist, was die Zuverlässigkeit seiner Texte – insbesondere auf dem Gebiet der Essayistik – betrifft, aber auch in der ästhetischen Wertung seines erzählerisch-fiktiven Werks wesentlich auf seine Lektorin angewiesen. Insbesondere wegen des hohen Arbeitsanteils, den die Kollegin Prignitz für die Produktivität Franz Fühmanns aufbringen muß, aber auch wegen ihrer stark angegriffenen Gesundheit“55 werde sie wieder dem Fachgebiet Gegenwartsliteratur zugeordnet. Man wusste, Ingrid Prignitz war das Unterpfand dafür, dass sich dieser bedeutende Autor an Hinstorff gebunden fühlte.

Fühmann war nicht nur ein manischer Arbeiter, sondern auch ein manischer Leser und Bücherjäger. Er besorgte Ingrid Prignitz auf seinen Westreisen unzählige Bücher, die in der DDR nicht zu haben waren, auch davon ist in ihren Briefen häufig die Rede.56 Das war ein Freundschaftsdienst, aber auch einer, der ihm nützte. Denn Ingrid Prignitz verstand einen großen Teil ihrer Arbeit als steten Bildungsauftrag an sich selbst, um Fühmann als Gesprächspartnerin auf Augenhöhe begegnen zu können. Der intellektuelle und moralische Anspruch, den die Arbeit mit Fühmann bedeutete, der charismatische Sog seiner Persönlichkeit, sein rigoroser Anspruch an sich selbst – das veränderte auch Ingrid Prignitz. „Daß ich mich in der Zusammenarbeit mit Dir verändert habe, ist mir klar – ich bin eben durch den Trakl durchgegangen und nicht drüber hin.“57 Für Freunde und Familie war es nicht immer leicht, Verständnis aufzubringen für ihre bedingungslose Hingabe an das Werk Fühmanns. Das spricht sie im Brief vom 26. August 1982 an. Und es erklärt auch, dass wiederum er für sie zum wichtigsten Adressaten, auch sehr alltäglicher und persönlicher Sorgen und Mitteilungen, wurde.

Fühmanns Briefwechsel mit seiner Lektorin macht vor allem aber für den literaturwissenschaftlich interessierten Leser die Genese des Fühmannschen Werkes der letzten zehn Jahre nachvollziehbar, von Projekt zu Projekt – auch das Verworfene, Fragment gebliebene, Gescheiterte –, bis in die Details der Umarbeitungen, Korrekturen oder Ausstattungsfragen mitsamt den Widrigkeiten des mitunter mühseligen Verlagsalltags in der DDR. So wird en passant deutlich, welch wichtige Rolle für Fühmann die Hinstorff-Sekretärin Wilma Anacker spielte, die halbtags im Verlag arbeitete und in ihrer Freizeit seine Manuskripte abtippte – Kopierer, das selbstverständlichste Arbeitsinstrument jeder Redaktionsarbeit, gab es in der DDR der kontrollierten Geisteserzeugnisse nicht.

Fühmann erweist sich auch in seinen Briefen als begnadeter Beobachter und Stilist. Ingrid Prignitz wurde zur Adressatin seiner schwärmerischen Reiseschilderungen oder sarkastischen Berichte von Begegnungen mit westdeutschem Publikum und Gönnern (vgl. den Brief vom 21. Februar 1979), seiner menschlichen Enttäuschung über manchen der jungen Dichter, wo er zu helfen versucht hatte und doch nur ausgenutzt wurde, seiner Wut über Funktionsträger und Verwalter im Schriftstellerverband und an der Akademie der Künste, seiner Verachtung gegenüber der institutionalisierten Literaturwissenschaft, seiner Erbitterung über seine zunehmende Kaltstellung und seiner diffusen Ahnungen einer heraufziehenden Katastrophe. So enthalten diese Briefe auch viel Anekdotisches, ein geschliffenes Sprachporträt etwa der Opernregisseurin Ruth Zechlin, Erlebnisse mit Schriftstellerkollegen wie Stephan Hermlin (eine Momentaufnahme seiner aristokratischen Pose enthält der Brief vom 4. Juli 1983), Christa Wolf, deren feministische Perspektive in einigen Texten ihm nicht behagte, Klaus Schlesinger, für den Ingrid Prignitz Manuskripte lektorierte, als er schon in Westberlin lebte, oder Jurek Becker, von dem Fühmann meinte, er habe Ingrid Prignitz als Lektorin nicht verdient. Zehn Jahre DDR-Literaturgeschichte, mit ihren Brüchen rund um die Biermann-Ausbürgerung, zehn Jahre DDR-Alltag und deutsch-deutscher Beziehungen werden hier lebendig.

Nicht zuletzt ist über die materiellen Träger dieses Briefwechsels ein Wort zu verlieren. Da Fühmann in Märkisch Buchholz kein Telefon besaß und Ingrid Prignitz als Privatperson ohnehin über keines verfügte, kommunizierte man in dringenden Fällen per Telegramm. Per Telegramm wurden nicht nur sachliche Mitteilungen verschickt, sondern auch kleine Zeichen der Verbundenheit („bleib mir treu und gewogen gruss franz“, April 1981). Und Ingrid Prignitz, wie schon erwähnt, telegrafierte am 7. September 1979, nachdem sie das Manuskript des Trakl-Essays erstmals gelesen hatte: „lieber franz mein eindruck nach schnellstem lesen es ist das beste essayistische was du je geschrieben hab dank fuers durchstehn“. Das Grundstürzende dieses Textes hatte sie sofort erkannt, und diese Mitteilung duldete keinen Aufschub. Auch deshalb sind die Telegramme mit in diesen Band aufgenommen worden. Häufig schrieb Fühmann Postkarten, einen Gruß von seinen Reisen, eine witzige oder sarkastische Bemerkung, eine Beilage zu einer anderen Sendung – und immer ist das Motiv der Postkarte ein Teil der Botschaft. Seine Briefe schrieb er fast ausschließlich auf seinem Kopfbogen, mit Maschine und mit Durchschlägen, die er archivierte. Er war sich ihres dokumentarischen Werts bewusst. Unterschrieben sind die Briefe stets von Hand mit seinem Namenszug. Seit Oktober 1979, als seine Überwachung durch die Staatssicherheit immer offensichtlicher wurde und die Schikanen gegen ihn zunahmen, benutzte er hin und wieder einen Kopfbogen mit dem Aufdruck eines Zitats aus Goethes West-östlichem Divan: „ÜBERS NIEDERTRÄCHTIGE / NIEMAND SICH BEKLAGE; / DENN ES IST DAS MÄCHTIGE, / WAS MAN DIR AUCH SAGE“.