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RIDING BACK

Death Raiders MC 3

Ronja Weisz

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© 2018 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Covergestaltung Andrea Gunschera

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Über den Autor

Kapitel 1

In der Nähe von Auberry, Kalifornien im Jahr 1997

Mit nur einem Auge späht sie neugierig um die Ecke des Wohnwagens und versucht dabei, so lautlos wie nur möglich zu atmen. Was tut er da nur? Nomi runzelt die Stirn und schiebt ihren Kopf weiter zur Seite, um noch besser zu erkennen, was Walker da treibt. Er steckt kopfüber in der Müllhalde, von der Daddy sagt, dass sie hier eigentlich gar nicht sein darf. Trotzdem bringt auch er immer seinen Müll hin und kommt manchmal sogar mit alten Stühlen oder elektrischem Kram von der Halde zurück. Er sagt, dass man die Sachen noch benutzen oder verkaufen könne. Aber Nomi hat nur selten erlebt, dass er dafür etwas bekommt. Auch der Stuhl, den er erst vor ein paar Wochen fand, war kaputt gewesen. Er hat das Bein mit Kleber wieder dran gemacht, aber als Nomi vor ein paar Tagen darauf herumklettern wollte, war er unter ihr zusammengebrochen. Ihr Hintern tut ihr immer noch ziemlich weh von dem Sturz. Daddy hat daraufhin gesagt, dass es ihre Schuld sei, dass man auf dem Stuhl nicht stehen und klettern solle. Aber er verstand einfach nicht, dass ihr keine andere Wahl geblieben war. Immerhin hatte der Boden in diesem Moment aus Lava bestanden und sie wäre ja sonst gestorben.

Ob sie Walker vor der Müllhalde warnen soll? Die Sachen hier sind gefährlich. Spitz und rostig, sagt Daddy. Und sie brechen leicht zusammen, wenn man auf sie klettert. Aber sie traut sich nicht aus ihrer Deckung heraus, weil sie ihn im Grunde nicht kennt, und vor Fremden soll man sich schließlich in Acht nehmen. Auch wenn das bei Walker und seiner Mutter was anderes sei, sagt Daddy.

Jetzt kommt Walker aus der gebückten Haltung hervor und betrachtet etwas vor sich, was er die ganze Zeit über mit lautem Klappern und Scheppern freigeräumt hat. Eine alte Kommode vor Nomi verdeckt ihre Sicht auf den Gegenstand, den er so lange anstarrt. Aber sie will es unbedingt sehen! Die Neugierde übersteigt ihre Skrupel schließlich, sodass sie noch einen Schritt nach vorn macht. Dann noch einen. Doch als sie ihren Fuß ein weiteres Mal heben will, bleibt sie an ihren offenen Schnürsenkeln hängen. Das passiert ihr so häufig, dass sie über den freien Fall nicht einmal überrascht ist. Mit einem gepressten „Ufff …“ kommt sie flach auf dem verdorrten, kratzigen Rasen auf und bleibt da bäuchlings liegen wie eine Flunder.

Als sie den Kopf hebt und zu Walker sehen will, steht er bereits mit einem Stirnrunzeln über ihr.

„Was tust du hier?“, fragt er mürrisch und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Was tust du hier?“ Nomi kämpft sich auf ihren Hintern zurück und bleibt da sitzen, stopft die losen Schnürsenkel seitlich in ihre Schuhe, damit sie ja kein zweites Mal hinfällt.

„Ich hab dich zuerst gefragt!“

„Aber das hier ist ganz allein mein Zuhause!“

„Ist es nicht.“

„Ist es doch.“ Sie würde am liebsten mit dem Fuß aufstampfen, wenn sie nicht immer noch auf dem Boden säße.

Sein Blick wandert jetzt zu ihren Turnschuhen. „Du solltest die richtig zumachen, so fällst du nur immer wieder auf die Nase.“

Wenn er so über ihr steht, wirkt er noch viel größer. Walker ist immerhin ganze vier Jahre älter als sie. Er geht schon seit einiger Zeit in die Schule, glaubt sie. Im Gegensatz zu Nomi, die erst nächstes Jahr eingeschult wird. Sein Körper wirft einen Schatten auf sie, aber immer wenn sie in sein Gesicht sehen will, blendet die Sonne.

„Kann ich nich“, murmelt sie leise und senkt beschämt den Blick.

„Was? Du kannst deine Schuhe nicht allein zumachen?“

Nomi schüttelt so heftig den Kopf, dass ihre blonden, langen Haare nach rechts und links schwingen. Er zögert und seufzt genervt, dann geht er vor ihr in die Hocke. Sie kann ihm endlich in sein Gesicht sehen. Walker hat diese schmalen Augen, die irgendwie ein bisschen so aussehen, als würde er sie zusammenkneifen. So doll, dass Nomi nicht einmal weiß, welche Augenfarbe er eigentlich hat. Ihre Augen sind blau. So blau wie ein Gletscher, sagt Daddy immer. Als Walker ihren Fuß in seinen Schoß nimmt und damit beginnt, die Schnürsenkel zu verknoten, will sie ihn fragen, ob seine Augen auch gletscherblau sind. Seine Haare sind zumindest straßenköterblond … oder so ähnlich. Nicht ein so helles Blond wie das von Nomi, aber auch nicht braun wie das von seiner Mutter Lucy.

Sie sieht, wie seine Zunge zwischen den Lippen hervorkommt, als er sich darauf konzentriert, den zweiten Schnürsenkel zu schließen. Kichernd schaut sie an ihm vorbei und entdeckt endlich den Gegenstand, den er dort aus dem Müllberg befreit hat.

„Was ist das?“

Walker blickt kurz über seine Schulter zurück, dann wieder zu ihr. „Das ist ein Motorrad.“

„Sieht aus wie ein Fahrrad.“

„Nur weil du keine Ahnung hast.“ Er lässt ihren Fuß los und erhebt sich ruckartig, klopft sich den Staub von der Hose.

„Du hast keine Ahnung!“ Energisch kämpft sich Nomi auf ihre Beine zurück und bleibt neben Walker stehen. Er ist bestimmt fast so groß wie Daddy. Zumindest aber ist er viel größer als sie. Er könnte sie vielleicht huckepack tragen und sie dann so tun, als wäre er ihr Reitpferd. Mit ihren Puppen spielen will er vermutlich nicht, aber Nomi ist sich sicher, dass es irgendwas geben wird, was sie gemeinsam machen können. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, dass er und seine Mutter jetzt bei ihnen leben werden. Er könnte ihr zeigen, wie man Schnürsenkel bindet, denn alle in ihrem Alter können das schon außer sie. Auch Reißverschlüsse machen ihr Probleme, und wenn sie Daddy darum bittet, sagt er immer, dass sie das allein lernen müsse, so wie jeder. Walker könnte ihr Freund werden oder mehr als das. Ihr Bruder.

„Ich will’s reparieren und dann damit fahren“, spricht er, während er weiterhin zu dem rostigen Motorrad sieht.

„Warum? Du hast doch ein Fahrrad.“ Ein tolles rotes Fahrrad mit Flammen drauf, das seit einer Woche vor ihrem Trailer steht und in der Sonne so schön glänzt, dass Nomi es stundenlang anstarren könnte.

Mit einem spöttischen Blick sieht er zu ihr herab. „Das ist was ganz anderes. Das verstehst du nicht, weil du ein Mädchen bist.“

Sie verzieht daraufhin beleidigt das Gesicht. Nomi mag es nicht, wenn sie jemand ausgrenzt, obwohl sie nicht versteht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Warum Daddy manchmal die Tür zumacht, wenn er telefoniert, oder warum sie etwas nicht verstehen soll, weil sie ein Mädchen sei.

„Kannst du denn Fahrrad fahren?“ Seine Stimme klingt jetzt etwas versöhnlicher, als wenn es ihm leidtun würde, sie so behandelt zu haben.

Nur kurz späht sie zu ihm hinauf, presst die Lippen fest zusammen und schüttelt eilig den Kopf. „Du?“

„Klar.“

Er wirkt empört, und das lässt Nomi nur noch trauriger darüber werden, dass sie es eben noch nicht beherrscht. Wie so vieles anderes, was die Kinder in ihrem Alter können sollten. „Ach so.“ Sie lispelt wieder so stark wie sonst, wenn sie zu nuscheln beginnt. Das ist ihr immer so peinlich, aber sie kann es trotzdem nicht ändern. Es passiert ganz automatisch.

„Ich kann’s dir beibringen, wenn du magst.“

Mit großen Augen starrt sie ihn an. „Wirklich?“

„Du darfst aber nicht heulen, wenn du hinfällst, okay? Hinfallen gehört dazu, hat mein Dad gesagt, man muss nur immer wieder aufstehen.“

„Ich heule so gut wie nie!“ Total euphorisch springt sie freudig vor Walker umher, der daraufhin breit grinst.

„Vielleicht nehm ich dich dann auch mal hinten auf meinem Bike mit, so wie mein Dad mich.“

„Wo ist denn dein Dad?“

Walker weicht ihrem Blick aus, sieht zu dem alten Motorrad zurück, dann zuckt er achtlos mit den Schultern. „In Kanada, mit seiner neuen Familie.“ Nomi sagt daraufhin nichts, bis Walker zu ihr blickt. „Und wo ist deine Mum?“

Nomi zieht die Schultern an, lässt sie dann nach unten sacken. „Ich weiß es nicht. Daddy sagt, dass sie gerade eine schwere Zeit durchmacht und sich nicht mehr um uns kümmern kann.“

„Tut mir leid“, sagt er leise.

„Mir auch wegen deinem Daddy.“ Dann sieht sie zu dem Motorrad hinüber, das in der untergehenden Sonne lange Schatten auf den staubigen Untergrund der Müllhalde wirft. Irgendwo bellt ein Hund, eine Frau schreit ihn an, endlich die Fresse zu halten. Ansonsten ist es ausnahmsweise mal sehr still im Trailerpark.

Mit einem breiten Lächeln im Gesicht schaut Nomi wieder zu Walker. „Weißt du was? Dein Daddy hat zwar eine neue Familie, aber du hast ja jetzt auch eine. Das ist doch cool, oder?“

Sein Lächeln wirkt daraufhin müde, und er ist definitiv nicht so euphorisch darüber wie Nomi. Also stellt sie sich vor ihn, wo die Sonne direkt in sein Gesicht strahlt. Sie erkennt seine Augenfarbe, da das Licht ihn frontal trifft. Kein Gletscherblau. Eher ein Dunkelblau wie der Himmel, kurz bevor morgens die Sonne aufgeht. Aber sie sind blau ebenso wie ihre.

„Ich bin jetzt deine Schwester. Und du bist mein Bruder, weißt du?“

Das folgende Lächeln ist nicht mehr traurig, nicht wirklich fröhlich, aber ganz bestimmt glücklicher als eben noch.

Kapitel 2

San Joaquin, Kalifornien Chapter des Death Raiders Motorradclubs im Jahr 2017

„He, Bruder! Sieh dir mal die Möpse der hier an.“

Peanut hält ihm eins dieser Pornoheftchen unter die Nase. Im Querformat steht dort eine wasserstoffblonde, vollbusige Frau mit einer Santa Claus Mütze auf dem Kopf. Selbst der spärliche Tanga besteht aus rotem Samtstoff und ist mit weißem Plüsch umsäumt. Dieser hebt sich besonders stark von ihrer unnatürlich gebräunten Haut ab.

„Na dann, frohe Weihnachten.“ Walker zieht mit einem Schmunzeln an seiner Kippe und bläst den Qualm mit vorgeschobener Unterlippe zur Decke des Clubhauses. Dieser wird dort von dem Ventilator in alle Himmelsrichtungen verteilt. Es ist ungewöhnlich warm für Dezember, auch wenn es in diesem Teil von Kalifornien nie wirklich kalt ist. Schon gar nicht in der Gegend rund um Fresno, die eher ein gemäßigtes Wüstenklima hat. Trotzdem sind es draußen weit über zwanzig Grad, wo sie in den Wintermonaten eigentlich immer um die zehn bis fünfzehn Grad haben. Angenehm eben. Doch jetzt schwitzen sie hier alle wie die Schweine auf der Schlachtbank, denn die versiffte Klimaanlage funktioniert schon seit Monaten nicht mehr. Peanut sitzt nur in Kutte und mit durchlöcherter Jeans neben ihm. Auf seiner muskulösen Brust schimmern zahlreiche Tätowierungen unter einem Rosenkranz. Er kann es tragen, denn Walker kennt kaum jemanden, der dermaßen durchtrainiert und definiert ist wie Peanut. Er kompensiert damit seine fehlende Körpergröße, das ist Walker natürlich klar, aber er macht das nicht schlecht. Immerhin hat ihm dieser muskulöse, wenn auch klein geratene Körper eine verflucht heiße Old Lady eingebracht, die gerade dabei ist, das Clubhaus in ein Winterwunderland zu verwandeln. Collette, genannt Coco, überragt ihn bestimmt um einige Zentimeter, vor allem, weil sie sich weigert, auf ihre monströsen High Heels zu verzichten. Etwas, was ihn tierisch nervt, wie Peanut ihm während einer ihrer gemeinsamen Trainingseinheiten erzählte.

Aber er steht eindeutig zu sehr auf Coco, um ihr lange böse zu sein oder ihr gar Vorschriften zu machen.

„Ich glaub, die könnten echt sein.“ Peanut tippt nachdenklich auf den eindimensionalen Brüsten einer weiteren Frau herum.

„Du solltest das Heftchen lieber beiseitelegen, bevor Coco mit den Palmen draußen fertig ist.“

„Ach, Coco weiß, dass keine dieser Schlampen nur annähernd so geile Titten hat wie sie. Die sind keine Konkurrenz.“ Er wedelt mit dem Pornoheft umher.

Walker quittiert das mit einem müden Lächeln und drückt sich tiefer in den beigen Cordsessel, der in ihrer Entspannungsecke steht. Mit den Händen spielt er an einem Zippo herum, lässt die Flamme zum Leben erwachen, nur um sie gleich wieder zu ersticken. Er genießt die anhaltende Ruhe vor dem Sturm, der bald über sie hineinbrechen wird. Für die Old Ladys ist der Christmas Eve im Clubhaus eine ernst zu nehmende Tradition, der kein Raider fernbleiben darf. Angefangen hat irgendwann einmal Diana damit, die Old Lady ihres Präsidenten Storm. Sie war der Meinung, dass die Death Raiders eine Familie sind. Und Familien feiern Weihnachten nun mal zusammen. Als sie vor vier Jahren nach einem üblen Krebsleiden starb, nahmen die übrigen Frauen das Fest in die Hände. Sie machten es zu ihrer Pflicht, Dianas Andenken zu ehren, indem sie dem ganzen Ereignis nur noch mehr Bedeutung zuschrieben. Jedes Jahr hat Walker das Gefühl, dass alles extremer und übertriebener wird.

Dieses Jahr sitzt sogar ein verfickter Weihnachtsmann auf einer Harley vor ihrem Clubhaus, direkt neben einem ziemlich großen pinken Weihnachtsbaum aus Plastik. Die Palmen in Kübeln sind vollgeklatscht mit Lametta, durch die getönten Fensterscheiben kann er die bunten Blinklichter an den Scheiben erkennen. Nur im Clubhaus haben die Ladys absolutes Anfassverbot. Das ist immer noch ihre Männerhöhle und kein pinker Kitschtraum, der nach Zimt und Braten stinkt. Nur deshalb hat sich Walker nach drinnen verkrochen, während sich der Innenhof langsam mit Raiders, samt deren Kindern und Frauen, füllt.

„Ho Ho Ho!“ Die Tür wird mit einem lauten Schlag aufgerissen und gleißendes kalifornisches Sonnenlicht strömt in die stickige Bude. Walker späht über seine Schulter zur Tür zurück und entdeckt dort Butch, ihren Vizepräsidenten, der breitbeinig im Türrahmen steht und im dunklen Raum ein Opfer für seine derben Sprüche sucht. „Was is hier los? ’ne verfickte Trauerstimmung am Heiligen Abend?“

„Wir verkriechen uns vor den wild gewordenen Weibern da draußen“, sagt Peanut und legt sich auf die Couch, verschränkt die Arme hinter dem Kopf.

„Oh ja, deine Coco fährt so richtig auf, das kann ich dir sagen.“ Butch schlendert auf sie zu, stützt sich dann mit den Händen an der Sessellehne ab, auf welchem Walker sitzt. „Sie hat sich gerade in ihr Weihnachtsoutfit geworfen und Halleluja, da steht unser lieber Jesus doch gleich ein zweites Mal auf, wenn er das sieht.“

Schmunzelnd blickt Walker zu Peanut. Obwohl Butch offensichtlich keinen Schimmer von christlichen Feiertagen hat, hat er doch umso mehr Ahnung von den wunden Punkten seiner Brüder. Peanut reißt die Arme unter dem Kopf weg und schießt innerhalb von Nanosekunden in eine aufrechte Position.

„Scheiße, was hat die dumme Kuh dieses Mal angezogen?“

„Ich sag’s mal so; ihre Glocken klingeln heute sicherlich für alle von uns.“

Das reicht Peanut endgültig. Mit einem wütenden Brummen stemmt er sich in die Höhe und stürmt auf den Ausgang zu. Sie hören ihn noch laut „Babe!“ brüllen, bevor sich die Tür hinter ihm schließt. In aller Seelenruhe schleicht Butch um den Sessel herum und lässt sich dann mit einem genießerischen Seufzen auf der gegenüberliegenden Couch nieder. Sein kahler Kopf sackt in den Nacken, und seine Augen schließen sich. Walker beobachtet ihn einen Augenblick verstohlen. Der ungewöhnlich breite Kiefer mit den leicht herabhängenden Mundwinkeln sowie die Segelohren machen Butch nicht wirklich zu dem Traum einer jeden Frau. Wenn er den Mund aufmacht, klingt seine Stimme, als hätte man sie die ganze Nacht über ein Reibeisen gezogen. Manchmal, wenn Walker ihn beobachtet, fragt er sich, wie viel von Butch eigentlich in ihm steckt. Irgendwas muss es schließlich sein. Er ist immerhin der leibliche Bruder seines Vaters. Sie haben die gleiche Haarfarbe. Ein dunkles Blond, das sich offenbar nicht entscheiden kann, ob es manchmal eher blond oder braun ist. Dann vielleicht noch entfernt die Augenfarbe, auch wenn Walkers Blau um einige Nuancen dunkler ist als das von Butch. Die Statur könnte auch hinhauen. Sie sind durchschnittlich groß, breites Kreuz und ein stämmiger Körper. Butch ist vielleicht sogar noch einen Hauch muskulöser, was daran liegt, dass er trotz des Alters noch immer oft in den Boxring steigt. Butchs Nase ist zweimal gebrochen worden in seiner aktiven Zeit als Boxer. Sie hat seitdem einen deutlichen Knick bekommen. Aber Walker kennt ihn nicht anders. So sah er schon aus, als er damals zum ersten Mal am Trailerpark aufgetaucht ist. Gefühlt hat er sich seitdem keinen Millimeter verändert. Im Gegensatz zu Walker. Immerhin ist das verdammte fünfzehn Jahre her.

Er verdrängt die Gedanken an damals und raucht genüsslich seine Zigarette zu Ende, während Butch weiterhin regungslos auf der Couch sitzt. Von draußen schallt nun nervige Weihnachtsmusik ins Gebäude. Driving Home for Christmas. Walker fühlt sich, als wäre er hier längst zu Hause angekommen. Etwas, was er nicht zuletzt dem Kerl vor sich zu verdanken hat. Mit nachdenklichem Blick auf seinen Onkel zieht er ein letztes Mal an der Kippe, die er wie einen Joint zwischen Daumen und Zeigefinger hält. Das Lied wird lauter, als jemand am Pegel spielt. Butch reißt plötzlich die Augen auf und stöhnt gequält.

„Verfickte Scheiße, ist das ihr Ernst?“

„Morgen haben wir’s geschafft.“

„Dann kommt das beschissene Silvester und schon haben wir einen Haufen Raiders, die uns tagein, tagaus auf der Nase herumtanzen.“

Walker drückt seine Kippe in einem Aschenbecher aus, der die Form eines Totenschädels hat, und kuschelt sich tiefer in den Sessel hinein. „Hat sich Storm denn endlich überlegt, wo die alle pennen sollen? Bringen die nicht noch ihre Frauen mit?“

„Nicht ihre Old Ladys, so viel steht fest.“ Butch grinst schmutzig. „Nur Frauen zu Unterhaltungszwecken. Aber auch die müssen irgendwo pennen.“

„Hm.“ Walker spielt erneut an dem Zippo herum. „Zehn Chapter, also Minimum zwanzig Raiders plus ein paar Damen und wer weiß, wen die sonst noch alles anschleppen. Klingt für mich, als könnten wir ’n ganzes Hotel mieten.“

„Hier können die nicht pennen, das is klar.“ Butch nickt nach vorn, wo sich die Einzelzimmer des Clubhauses befinden.

Es sind nicht einmal annähernd genug, damit das Kalifornien Chapter hier übernachten kann, geschweige denn der gesamte amerikanische Club. Aber alle drei Jahre steht das nationale Krähentreffen auf dem Plan, und Kalifornien war, soweit Walker das weiß, noch nie dran, dieses Treffen auszurichten. Es wird also Zeit.

„Is vielleicht keine schlechte Idee.“ Butch kratzt sich geräuschvoll seinen Dreitagebart am Kinn. „Hier gibt’s doch ’n paar nette Motels am Highway. Wir legen denen ’ne Stange Geld auf den Tisch und mieten das ganze Ding für ’n paar Tage.“

„Als Vize ist es dann wohl dein Job, das bei Storm anzusprechen.“

„Als Vize könnte ich dir auch die Aufgabe übertragen, das Ganze vollständig zu organisieren.“ Butch grinst sein dreckiges Grinsen. „Keine schlechte Idee, wenn ich genau drüber nachdenk. Is bestimmt ’ne gute Übung für dich, wenn’s darum geht, mal ein bisschen Verantwortung zu übernehmen. Könnte dir in Zukunft noch nützlich sein.“

„Scheiße, Mann. Du machst das nur, weil du weißt, dass dir Storm die Aufgabe sonst überträgt. Das kannst du auch an den Anwärter geben.“

Butch erhebt sich. „Und es ihm überlassen, was die anderen Chapter dann für ein Bild von uns haben? Nein, dafür bist du der perfekte Kandidat, mein Junge. Als dein Vize befehl ich es dir.“

„So funktioniert das hier nicht. Das ist keine Diktatur“, brummt Walker missmutig, doch er erhebt sich ebenfalls, als Butch in Richtung Tür läuft. Er kann sich nicht länger vor den Weibern verstecken, außerdem dringt langsam der Geruch des Festessens zu ihm durch und sein Magen knurrt verdammt laut.

„Stimmt, das is nur ’n Onkel, der seinem missratenen Neffen beibringt, was es heißt, ein Mann zu sein.“ Damit stößt Butch die Clubtür auf.

Walker vergisst in dem Moment seine Antwort, als er das ganze Bild vor sich sieht. In der Mitte des Hofes, welcher direkt an den Autohof angrenzt, in dem Walker arbeitet und der Butch gehört, haben die Old Ladys eine Bierzeltgarnitur in eine gigantische Festtafel verwandelt. Er erkennt einen fetten Schinkenbraten, Truthahn, Bratensoße, Süßkartoffelpüree, Brötchen und GrüneBohnen-Auflauf, was sich zu einem Geruch vermischt, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Aus Boxen werden sie von allen Seiten aus mit schmalziger Weihnachtsmusik beschallt. Am Eingangstor steht ihr fetter Anwärter Flips in einem Weihnachtsmannoutfit und raucht einen Joint. Den künstlichen schneeweißen Bart hat er dabei unter sein Kinn gezogen. Das in Kombination ist fast genauso schräg wie eine halb nackte Coco, die in einem Engelskostüm herumläuft, das mehr ein Bikini als alles andere ist. Um sie herum schleicht Peanut, der nervöse Blicke zu den Männern wirft, wann immer Coco an ihnen vorbeiläuft. Walker kann sich ein Grinsen kaum verkneifen.

Als Coco Butch und Walker bemerkt, winkt sie die beiden so energisch herbei, dass es Walker wirklich schwerfällt, ihr dabei nicht auf die freudig wippenden Brüste zu starren, die in einem silbernen Glitzer- und Plüsch-BH stecken. Er tut es nur nicht, weil er währenddessen unter strenger Beobachtung von Peanut steht. Fast alle haben bereits an der Tafel Platz genommen. Auch Tess. Sie wirft ihm einen kurzen Blick zu, sieht dann aber gleich wieder zu ihrer Sitznachbarin, nur um anschließend übertrieben laut aufzulachen. Neben ihr ist ein Platz frei, und Walker weiß genau, dass das seiner ist. Er spürt, wie Butch ihm eine Hand auf die Schulter legt, als ob er ihm Trost spenden möchte, dann schlendert er zu ihrem Präsidenten Storm hinüber.

Glückspilz.

Mit den Händen in den Hosentaschen setzt er sich in Bewegung, um sich schließlich neben Tess niederzulassen. Sie unterbricht ihr Gespräch keine Sekunde, ignoriert ihn nur noch demonstrativer, und Walker versucht, seine Wut darüber zu zügeln. Er verschränkt die Arme vor der Brust, streckt die Beine unter dem Tisch aus und stößt gegen die von Pugs, der ihm daraufhin einen mitfühlenden Blick schenkt.

Als sich die Frau neben Tess entschuldigt, um eins ihrer kreischenden Kinder einzufangen, bleibt ihr schließlich nichts anderes übrig, als zumindest nach vorn zu starren. Er kann aus den Augenwinkeln sehen, wie sich ihre Nasenlöcher daraufhin gereizt aufblähen. Sie legt einen Teil ihrer langen, braun gelockten Haare über die Schulter zurück und räuspert sich künstlich.

„Hierher schaffst du es offensichtlich auch pünktlich, obwohl du immer behauptest, dass dir an Weihnachten nichts liegt“, sagt sie wie beiläufig und sieht ihn dabei weiterhin nicht an.

Glück für Walker, denn ein Blick aus ihren eiskalten haselnussbraunen Augen mit den dünnen, elegant geschwungenen Augenbrauen darüber kann einem Mann die Eier gefrieren lassen. „Müssen wir das jetzt ausdiskutieren? Ernsthaft?“ Er spürt schon die Blicke der Leute um ihn herum auf sich brennen. Und das, obwohl das Stimmengewirr ohrenbetäubend ist.

„Sonst passt es dir ja auch nicht.“

„Fuck, Tess. Ich hab mich entschuldigt, oder nicht?“

„Nur, dass es nicht zu entschuldigen ist. Du hast gesagt, dass du es probieren wirst, aber das sieht für mich anders aus.“

„Das war doch nicht der einzige Termin.“

„Nein.“ Sie wendet sich ihm nun vollständig zu, ihre Augenbrauen sind in die Höhe gezogen, doch das sind sie eigentlich immer. Sie sind der Grund, warum man sie auf den ersten Blick für arrogant hält. Und, weil sie manchmal hinter all ihrer Schminke, den roten Lippen und den schwarz umrandeten Augen, auch einfach ziemlich arrogant ist. „Aber hast du eine Ahnung, wie peinlich es ist, da ohne einen Partner aufzutauchen? Wie die anderen einen dann ansehen? Als wäre man eine alte, bemitleidenswerte Jungfer, die den ganzen Scheiß allein durchmachen muss. Du hast es versprochen, Walker!“

„Ich weiß“, flüstert er und starrt sie eindringlich an. Er hat echt keinen Nerv für eine Szene in der großen Runde. „Ich hab dir aber auch gesagt, dass ich nicht gut in dem Kram bin. Das ist für mich eine heftige Nummer, und ich brauch manchmal einen Moment, um das zu realisieren. Aber ich werd nicht abhauen, das habe ich dir versprochen, und dabei bleibt es auch.“ Kein Wort davon ist gelogen, und das sieht sie auch in seinem Gesicht. Sie zögert, und etwas von der Wut verraucht augenblicklich. Obwohl er sie weiter intensiv anstarrt, senkt sie den Blick und scheint mit sich zu ringen. Dann wendet sie sich auf dem Stuhl herum und greift nach ihrer Umhängetasche, die über ihrer Lehne baumelt. Aus der Tasche fischt sie schließlich ein Foto, das sie ihm unbemerkt von den anderen unter dem Tisch zuschiebt. Walker dreht es herum und blickt auf ein schwarz-weißes Bild, von dem er schon so oft gehört hat, es schon so oft im Fernsehen gesehen hat. Aber es ist etwas vollkommen anderes, wenn das chaotische Bild, das erst bei näherer Betrachtung einen Sinn ergibt, plötzlich ein gravierender Teil seines Lebens wird.

Tess lehnt sich zu ihm herüber, späht nah an seiner Wange zu dem Bild hinab, das er wortlos anstarrt. Wie konnte das Gebilde auf den ersten Blick nur nicht eindeutig sein? Hier ist die Nase, die aussieht wie ein kleiner Knubbel. Die Stirn, die fast aufgebläht wirkt, und dann eine Hand mit winzigen Fingerchen, die erst auf den dritten Blick als solche zu erkennen sind. In diesem Augenblick wird das Dröhnen um ihn herum zu einem kaum wahrnehmbaren Hintergrundgeräusch. Alles in seinem Blickfeld verschwimmt und nur das Bild vor den Augen bleibt klar.

„Es wird ein Junge“, haucht Tess ihm ins Ohr.

Walker fühlt eine Gänsehaut, die sich auf dem gesamten Körper ausbreitet. Heilige Scheiße, flucht er innerlich, als ihm klar wird, dass sich noch nie irgendwas so intensiv angefühlt hat wie dieser Moment. Vermutlich, weil er es zuvor zwar wusste, aber hier und jetzt, umgeben von der riesigen Familie, die er hat, es zum ersten Mal wirklich realisiert. Er bemerkt, dass er lächelt. Ein dümmliches, albernes Lächeln, über das er absolut keine Kontrolle hat.

„Fuck …“, flüstert er und schüttelt fassungslos den Kopf. Er ist ehrlich froh, dass Coco mit dem lautstarken Läuten von Weihnachtsglocken die gesamte Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Denn er weiß nicht, ob er es geschafft hätte, sich selbstständig von dem Bild loszureißen. Noch immer in einem eigenartigen Nebel gefangen, sieht er zu Coco auf, die neben Peanut am Ende des Tisches steht. Er hält sie besitzergreifend in seinem Arm, während sie ihn fast um einen halben Kopf überragt und mit den zahlreichen Blinklichtern um die Wette strahlt.

„Ihr Lieben, wir haben eine Ankündigung zu machen“, sagt Coco und drückt sich noch etwas fester in Peanuts Arme hinein.

Neben Walker wird bereits gepfiffen, aber er ist noch viel zu weit entfernt, als dass er aus Cocos Worten irgendeine Schlussfolgerung ziehen könnte.

„Wir werden heiraten!“, brüllt Peanut, und Coco hält ihre Hand mit dem beachtlichen Ring demonstrativ in die Runde.

Dabei springt sie gleichzeitig wie ein nervöser Flummi auf und ab. Tosen kommt am Tisch auf. Pfeifen, Johlen und Klatschen rauschen über sie hinweg und lassen jeden, der auf der Straße entlangläuft, neugierig zum Clubhaus spähen. Walker klatscht ebenfalls, pfeift und johlt, auch wenn er es irgendwie automatisch macht. Seine Gedanken drehen sich noch immer um das Bild, das er schnell in die Brusttasche seiner Kutte geschoben hat. Nah am Herzen. Da, wo es hingehört. Es fällt ihm ehrlich schwer, einen Moment zu benennen, in dem er glücklicher war als in diesem.

Kapitel 3

Draußen rast eine Feuerwehrsirene ohrenbetäubend laut an Nomis Fenster vorbei. Sie verspürt kurzzeitig den Wunsch, dass es vielleicht jemanden gibt, dem es heute noch beschissener geht als ihr. Als wenn das ihre Situation auch nur annähernd erträglicher machen würde. Aber geteiltes Leid ist halbes Leid, so sagt man doch zumindest immer. Als das Feuerwehrauto an ihrem Fenster vorbeirast, hebt sie die Eierlikörflasche an, murmelt ein „Frohe Weihnachten“ und nimmt einen großen Schluck.

Sich am Heiligen Abend einsam in ihrer vergammelten Wohnung in Los Angeles mit Eierlikör zu betrinken, ist auch für Nomi ein vollkommen neuer Tiefpunkt. Sie erinnert sich nur ungern an das Weihnachten vor exakt einem Jahr. Aber ihr Hang zur Selbstkasteiung führt dazu, dass sie in ihrer Erinnerung den Abend erneut durchlebt. Mit was für einer Freude und Hoffnung sie das Fest der Liebe zelebrierte. Dean Blackburn, ihr Agent, oder seit Kurzem nicht mehr ihr Agent, hatte sie zu seiner Weihnachtsfeier mit all seinen Schützlingen eingeladen. Einige Tage zuvor hatte sie tatsächlich eine bedeutende Nebenrolle in einer brandneuen Fernsehserie erhalten, von der alle sagten, dass das einen neuen Maßstab für die Serienwelt setzen würde. Und Nomi würde dabei sein. Von Anfang an. Sie spielte zwar nicht die Hauptrolle, aber es kam doch immer mal wieder vor, dass Nebenrollen so beliebt wurden, dass sie irgendwann zum Hauptcast aufstiegen. Das war ihr Durchbruch. Der Beginn von etwas Gigantischem, Bedeutendem. Und Dean Blackburn hatte zudem nicht sonderlich dazu beigetragen, diese Erwartungen zu schmälern. Er habe ja immer geahnt, dass großes Talent in ihr schlummere. Ihn würde es nicht wundern, wenn die Produzenten sie bereits nach der ersten Staffel in den Hauptcast berufen würden, und dann stehen ihr alle Türen offen. Bei dem Gedanken an seine Worte schnaubt Nomi verächtlich auf und nimmt einen weiteren Schluck. Sie hatten zunächst nur die Pilotfolge am Anfang des Jahres gedreht, doch der Rest würde schnell folgen, denn am Erfolg der Serie über Mutanten, die planen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, zweifelte niemand. Ausgestrahlt wurde die Pilotfolge im Sommer zur besten Sendezeit auf einem der bekanntesten Fernsehsender. Sich selbst dort zu sehen, war der größte Moment ihres bisherigen Lebens gewesen. Mit einem bitteren Geschmack im Mund erinnert sich Nomi daran, wie sie sogar weinte, als der Abspann lief. Wie sie am ganzen Körper zitterte. Die komplette Nacht über war sie aufgeblieben und hatte das Internet nach den ersten Rückmeldungen durchforstet. Nach Kommentaren zu ihrer Person.

Das hätte sie rückblickend vielleicht nicht tun sollen. Das Internet war voll von hässlichen Bemerkungen und Bewertungen. Dass sie wie ein mitleiderregendes Lämmchen mit großen Augen aussehe, das scheinbar Angst vor allem und jedem habe, war noch einer der netteren Kommentare.

Man wollte sie einfach nur in den Arm nehmen. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, dem man seine Puppe gestohlen hat. Ihr zuzusehen, hat körperliche Schmerzen verursacht.

Natürlich lag es nicht nur an Nomi, dass die Pilotfolge die schlechtesten Einschaltquoten seit Langem erzielte. Wäre sie die Hauptdarstellerin gewesen, hätte sie die miese Presse vermutlich noch viel härter getroffen. Aber in ihrer eigenen Welt brach alles zusammen, als man beschloss, dass es keine weiteren Ausstrahlungen geben würde. Auch wenn Nomi den Drehplan dafür bereits besaß, sie angefangen hatte, Texte zu lernen. Ihre großartige Zukunft fiel innerhalb einer Nacht wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Seit zwei Monaten vegetiert Nomi nun schon so vor sich hin. Dean Blackburn hatte versucht, sie sofort aufzubauen, versprach, weiterhin die Augen und Ohren für sie offen zu halten, aber auch er meldet sich mittlerweile nicht mehr. Er hat andere Schützlinge zu betreuen, die vielversprechender, erfolgreicher sind. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren fühlt sich Nomi auf Lebzeiten verbrannt, und niemand vermag, sie aus diesem Loch rauszuholen.

Also sitzt sie am Weihnachtsabend mutterseelenallein in ihrem dunklen Apartment, aus dem sie in absehbarer Zeit wohl rausgeschmissen wird, weil sie der Miete seit Monaten hinterherhinkt. Es dämmert draußen, und die Schatten wandern auf dem Boden immer weiter und weiter. Nomi sieht ihnen mit leerem Blick dabei zu. Sie hasst sich dafür, dass sie sich so gehen lässt, und noch mehr hasst sie sich dafür, dass sie es nicht ändern kann. Das weiße T-Shirt mit der Nyan Katze darauf trägt sie bereits seit zwei Tagen, und die ungewöhnliche Wärme der letzten Zeit hat nur dazu beigetragen, dass sie allmählich beginnt, ihren eigenen Schweiß zu riechen. Sie ekelt sich vor sich selbst, aber empfindet in ihrem Zustand zu wenig Selbstliebe, um etwas daran zu ändern. Für wen sollte sie sich denn schon schick machen? Für Mike, der, seit ihre strahlende Zukunft den Bach runterging, nur noch ab und zu betrunken vor ihrer Tür steht und nuschelt, dass er sie vermisse? Der sie dann grunzend auf der Matratze vögelt, die auf dem Boden liegt, und sich anschließend tagelang nicht blicken lässt?

Oder für Daniela, die ihr in all der Zeit zwar eine echte Freundin war, aber die nach all den Wochen des Gejammers und Geheules schließlich auch das Weite suchte? Nein, in Nomis Leben gibt es aktuell nur sie, und das hat sie sich selbst so ausgesucht. Sie hat die Menschen entweder verlassen oder vertrieben. So oder so war es immer ihre Schuld gewesen.

Gerade als sie die Eierlikörflasche ein weiteres Mal an ihre Lippen setzt, klopft es lautstark an ihrer Tür. Auf dem Boden sitzend starrt sie erschrocken den Flur entlang, in dem sie blöderweise das Licht angelassen hat. Wer auch immer an der Tür steht, wird es sehen können. Trotzdem hält sie den Atem an und geht in Gedanken all die Menschen durch, die in diesem Augenblick vor der Tür stehen könnten. Sie bleibt bei niemandem hängen, den sie jetzt gern sehen würde. Sie muss nur abwarten, dann wird, wer auch immer, gleich wieder abhauen und sie in ihrem Selbstmitleid zurücklassen. Es vergehen zähe Sekunden, bis das Klopfen erneut ertönt. Nomi bewegt sich weiterhin nicht vom Fleck.

„Sind Sie zu Hause, Ms. McCarty? Oder soll ich Sie lieber Ms. Slater nennen?“

Letzteres lässt Nomi aufhorchen. Slater ist der Name ihres Vaters, den sie sofort ablegte, als sie vor knapp zehn Jahren ihrem Zuhause den Rücken kehrte und die ersten Schritte in Los Angeles machte. Niemand hier kennt sie unter diesem Namen. Nicht einmal Dean Blackburn. McCarty ist der Name ihrer Mutter gewesen. Nicht, dass sie mit ihrer Mutter unbedingt mehr verbindet, aber im Gegensatz zu ihrem Vater ist der Nachname immerhin nicht negativ belastet. Dass der offensichtlich männliche Besucher vor der Tür diesen kennt, kann nichts Gutes bedeuten.

„Ich habe das Licht bei Ihnen gesehen und wollte mich nur kurz mit Ihnen unterhalten. Keine Sorge, ich will Ihnen nichts Böses. Wir können die Tür auch geschlossen halten, wenn Ihnen das lieber ist.“

Ganz langsam drückt sich Nomi mit dem Rücken an die Wand und noch langsamer an eben dieser Wand hinauf in einen aufrechten Stand. Sie will immer noch nicht, dass der Fremde sie hören kann. Doch als sie sich aufrichtet, spürt sie, wie der Eierlikör in ihrem Bauch zu rumoren beginnt. Sie stößt sauer auf und glaubt, dass das nächste Aufstoßen nicht so glimpflich ablaufen wird. Gott, warum verschwindet dieser Kerl nicht einfach wieder? Er muss doch merken, dass ich kein Interesse daran habe, mit ihm zu sprechen? Und nur, weil das Licht brennt, heißt das noch lange nicht, dass sie zu Hause ist. Sie kann auch vergessen haben, es auszumachen. Immerhin ist Weihnachten, und jeder ist doch irgendwo unter Leuten. Also jeder außer Nomi.

Nomi schweigt weiter, starrt misstrauisch zu der Tür hinüber, doch ihr Schweigen scheint dem Fremden egal zu sein.

„Mein Name ist Peter Downey. Ich bin Privatdetektiv, und man hat mich angeheuert, Sie zu finden, Ms. McCarty.“

Nomis Blick wird augenblicklich leer, als sie diese Worte hört. „Verschwinden Sie“, sagt sie, ohne überhaupt die Kontrolle über das zu haben, was ihren Mund verlässt.

„Hallo? Haben Sie etwas gesagt?“

„Ich sagte, dass Sie verschwinden sollen!“, brüllt sie mit einer Inbrunst, die sie atemlos zurücklässt. Wie konnten diese Menschen, die sich einst Familie nannten, es wagen, ihr diesen Tiefpunkt noch grausamer, noch unerträglicher zu machen? Die Fassungslosigkeit über die dreiste Vorgehensweise macht sie sprachlos. Nicht einmal hier, nicht einmal jetzt, lassen die Geister der Vergangenheit sie in Ruhe.

Der Fremde an der Tür scheint zu zögern. Nomi glaubt, seine Schuhe zu hören, die unsicher auf und ab treten. Vielleicht geht er auch einfach. Sie hofft es. Doch da liegt sie falsch.

„Verstanden. Ich soll Ihnen aber eine Nachricht hinterlassen, und die würde ich Ihnen einfach unter der Tür hindurchschieben. Sie können sie wegschmeißen oder lesen. Das ist ganz Ihnen überlassen.“

Es raschelt. Nomi starrt gebannt auf den Schlitz unterhalb der Tür. Schließlich schiebt sich tatsächlich ein weißer Umschlag unter dem Türspalt hindurch.

„Auf der Rückseite befinden sich meine Kontaktdaten. Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn Sie den Brief gelesen haben.“

Als ob ich den Brief lesen werde!, entrüstet sich eine wütende Stimme in ihrem Inneren. Sie wird ihn verbrennen, ihn die Toilette hinunterspülen und ihn dabei nicht eine Sekunde lang mit ihren eigenen Fingern anfassen.

Es dauert noch einige qualvolle Momente, bis sich Nomi sicher ist, dass sich die Schritte tatsächlich entfernen. Als der Fremde weg ist, spürt sie endlich wieder die herbeigesehnte Einsamkeit, die sie zuvor schon umgab. Doch der Brief in ihrem Flur ist plötzlich wie ein spitzer Stein im Schuh, der jede weitere Sekunde durch seine Anwesenheit zur Qual macht. Sie starrt ihn an und hat gleichzeitig das Gefühl, als würde er zurückstarren. Verschwommen erkennt sie eine Schrift auf der Vorderseite, und allein der Gedanke daran, wer diese Worte geschrieben haben könnte, macht sie rasend vor Wut. Keiner von ihnen hat das Recht, sie wieder zu kontaktieren. Und irgendwie hätte sie auch niemals geglaubt, dass ihre sogenannte Familie jemals das Verlangen verspüren würde, es zu tun. Im Grunde waren sie doch froh, als Nomi ging. Da ist sie sich sicher.

Sie muss etwas gegen diesen Brief unternehmen. Von allein wird er da nicht weggehen, und solange er da liegt, hat sie das Gefühl, nicht frei atmen zu können. Er erstickt sie mit seiner puren Anwesenheit. Ganz langsam schiebt sie sich mit der Wand im Rücken und weit aufgerissenen Augen an den Briefumschlag heran. Je näher sie kommt, umso eigenartiger erscheint er ihr. Die Schrift auf der Vorderseite ist so … schön. So elegant. Sie passt zu keiner Person, an die sie in Bezug auf diese Nachricht denken musste. Als sie schließlich von oben auf den Brief hinabblickt, stockt sie. Obendrauf steht in geschwungenen Buchstaben: An Naomi. Naomi. So nannte sie niemand mehr, seit sie zu sprechen begann. Als kleines Kind hatte sie sich selbst immer Nomi genannt, weil sie Naomi nicht aussprechen konnte, und alle um sie herum hatten das übernommen. Bis heute. Die Schrift in Kombination mit dem Namen lässt sie neugierig werden. So neugierig, dass sie weiß, dass sie ihn nicht einfach so wegschmeißen kann. Sie würde sich immer fragen, von wem der Brief denn nun kam.

Vorsichtig geht sie davor in die Hocke und greift nach dem Papier. Sie hält den Atem an, als sie sich wieder mit dem Rücken an die Wand drückt, der Brief liegt jetzt in ihrem Schoß. Es dauert lange, bis Nomi tief Luft holt und ihn öffnet. Im Inneren befindet sich ein zusammengefalteter Zettel, durch den die gleiche, schön geschwungene Schrift schimmert, die auf dem Umschlag zu sehen ist. Plötzlich doch ungeduldig faltet sie den Brief schnell auseinander und beginnt angespannt zu lesen.

Liebe Naomi,

du kennst mich nicht und ich kenne auch dich nicht, doch trotzdem verbindet uns so viel. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, aber vielleicht tue ich es bei der einfachsten aller Tatsachen. Ich bin deine Großmutter. Eine Großmutter, die vor einigen Wochen nicht einmal wusste, dass sie eine Enkeltochter hat. Deine Mutter hat den Kontakt zu mir schon früh abgebrochen und so erfuhr ich erst von dir, als das Entzugsheim mir ihre Sachen vor einigen Tagen schickte, die sie bei einer Entrümpelung noch im Keller fanden. Da war nur ein Foto von dir als Baby. Mehr nicht. Ich hoffe, dass du mir nicht böse bist, dass ich auf diese Art Kontakt zu dir aufnehme. Ich würde dich so gern kennenlernen. Vielleicht geht es dir ja ähnlich. Darüber würde ich mich sehr freuen.

In aller Liebe

Anna Grace McCarty

Nomis Herz schlägt wie wild. Auf eine Art, die sie nicht erklären kann. Irgendwie positiv, aufgeregt. Als würde sich ihr Körper über etwas freuen, was ihr Kopf noch nicht begriffen hat. Sie liest den Brief wieder und immer wieder, bis sie die Sätze mit geschlossenen Augen vor sich sieht. Dann wendet sie ihn, und auf der Rückseite befinden sich eine Adresse sowie eine Telefonnummer. Mendota, Kalifornien. Das liegt westlich von Fresno, wenn sich Nomi richtig erinnert. Alles westlich von Fresno ist in Ordnung, östlich davon beginnt erst ihre persönliche Hölle. Von da müssten es nach Auberry bestimmt noch mindestens zwei Stunden Fahrt sein. Nomi hatte sich geschworen, nie zurückzukehren, aber Mendota ist streng genommen kein Zurückkehren, oder? Und warum macht sie sich überhaupt Gedanken darum? Überlegt sie wirklich, zu dieser Frau zu fahren, die behauptet, ihre Großmutter zu sein? Doch was sollte sie davon haben, extra einen Privatdetektiv anzuheuern, nur um Nomi zu finden? Ihre Geschichte klingt glaubwürdig, denn die Entzugsklinik war der letzte Ort, an dem ihre Mutter gesehen wurde, bevor sie spurlos verschwand.

Nein, ihr zu misstrauen, macht keinen Sinn. Das ist auch nicht die eigentliche Frage, die Nomi umtreibt. Etwas Verkümmertes, das sie tief in sich drin verborgen hält, schreit in diesem Augenblick so laut wie nie zuvor. Der Wunsch nach Zuneigung, nach einer Familie, die sie nie hatte. Nomi ist gern allein, aber sie ist nicht gern einsam. Und die Einsamkeit frisst sich langsam, aber stetig in ihr Herz und verdunkelt die Welt um sie herum in jeder Sekunde mehr. Die Liebe, mit der dieser Brief geschrieben wurde, lässt eine Sehnsucht in ihr wach werden, die sie lange für abgestorben hielt.

Mit der Nachricht im Schoß wandert ihr Blick zu dem Fenster hinaus in die strahlende Filmstadt, deren Nacht langsam erwacht. Dort, wo sich Freunde und Familie gerade alle um einen Tisch versammeln, Geschenke öffnen, gemeinsam essen, trinken und lachen. Wo ein Leben in dieser Menschenmasse Nomi nur umso einsamer werden lässt. Vielleicht ergeht es ihrer Großmutter ähnlich. Vielleicht sitzt auch sie gerade allein in Mendota und wünscht sich Familie an ihre Seite. Vielleicht hat sie diese aber auch. Ein Tisch voller Menschen, voller Enkelkinder und eigenen Kindern. Ein ganz normales Weihnachtsfest, nach dem sich Nomi schon immer gesehnt hatte, seit ihre Mutter nicht mehr an ihrer Seite war.

Es muss dieser besondere Abend im Jahr sein, der sie dazu bringt, darüber nachzudenken, Los Angeles zu verlassen. Anders kann es sich Nomi nicht erklären, warum sie plötzlich ihr Handy aufnimmt und die Nummer des Privatdetektivs wählt.

Er geht innerhalb von wenigen Sekunden ran. „Ms. McCarty, schätze ich?“

„Woher …?“

„Ich bin Detektiv, schon vergessen?“ Er lacht. „Außerdem habe ich Ihre Mobiltelefonnummer bereits auf anderem Weg erhalten und bei mir eingespeichert.“

Ist das legal? Das würde er ihr vermutlich nicht sagen, genauso wenig, wie er sie überhaupt gefunden hatte. Obwohl das so schwer nicht gewesen sein konnte, immerhin gab es doch die ein oder andere Zeile über sie im Internet zu finden. Inklusive ein paar Low Budget Filme, auf die Nomi nicht sonderlich stolz ist.

„Ähm … ich …“ Gott, Nomi weiß plötzlich nicht, was sie sagen soll. Ihr Kopf ist leer, höchstens noch leicht benebelt von dem Eierlikör, der immer häufiger ihre Kehle in umgekehrter Richtung hinaufwill, je länger sie in zusammengekauerter Haltung auf dem Boden sitzt.

„Ich schätze, dass Sie den Brief gelesen haben. In dem Fall wissen Sie vermutlich schon fast alles, was ich Ihnen sagen könnte. Ihre Großmutter ist eine sehr agile, liebenswerte Frau, die am Rande eines Highways ein Motel betreibt. Das Annie’s Inn.“ Annie. Das ist der Name ihrer Mutter. Oder es war der Name, wer weiß das schon so genau. „Sie lebt dort ganz allein. Ihren Partner verlor sie vor vielen Jahren, und Ihre Mutter war das einzige Kind. Von Ihrer Existenz wusste sie, bis vor ein paar Wochen, nichts. Aber das steht ja genau so in dem Brief. Haben Sie denn noch weitere Fragen an mich?“

„Sie will mich wirklich sehen?“

„Ja.“

„Aber … warum?“

Der Privatdetektiv zögert. Nomi hört im Hintergrund das Vorbeirauschen von Fahrzeugen. Sie weiß, dass er noch in der Nähe sein muss, aber sie ist froh, dass sie mit ihm stattdessen über das Telefon sprechen kann und er dabei nicht ihre erbärmliche Gestalt vor Augen hat.

„Nun, ich fürchte, dass Sie das Ihre Großmutter selbst fragen müssen.“

Kapitel 4

„Is ’n ziemlicher Rückschritt von ’ner Weltstadt wie L.A. nach Mendota.“

Der Truckerfahrer neben Nomi kaut schmatzend auf dem bemitleidenswerten Kaugummi herum. Sie spürt, dass er sie anstarrt, und ist kurz davor, ihn darum zu bitten, sich stattdessen lieber auf die Straße zu konzentrieren. Auch wenn sich da nichts von Bedeutung abspielt.

Seit sie von der Interstate auf den Highway in Richtung Mendota abgebogen sind, hat sich die Landschaft um sie herum kein bisschen verändert. Selbst die Straße führt scheinbar bis in die Unendlichkeit geradeaus in einen trübblauen Mittagshimmel hinein. Nomi meint, in der Entfernung sogar die Erdkrümmung zu erkennen, wenn der hellgraue und sandbenetzte Asphalt in der Ferne nicht mit der restlichen Landschaft verschwimmen würde. Um sie herum ist nichts außer staubige, ebenerdige Steppe. Keine Hügel, keine Berge weit und breit. Nicht einmal kleine Siedlungen oder Häuser. Hier zu stranden, muss sich anfühlen wie der sichere Tod. Vereinzelt fliegen Bäume an ihr vorbei, die aussehen, als hätten sie sich im Weg geirrt. Keine Palmen oder Steppenpflanzen, so wie sie es zumindest vermutet hat. Alles um sie herum ist hellgrau und sandsteinbraun. Selbst das Blau des Himmels erscheint, obwohl keine einzige Wolke zu sehen ist, ausgeblichen und farblos.

Mein Gott, was habe ich mir nur dabei gedacht?

Die Wahrheit ist, dass Nomi tatsächlich nur sehr wenig nachdachte, als sie das Gespräch mit dem Privatdetektiv beendete. Hätte er noch vor einem halben Jahr vor ihrer Tür gestanden, wäre ihre Entscheidung eine andere gewesen. Aber sie weiß wirklich nicht, ob ihr Leben noch unerträglicher werden kann, als es aktuell der Fall ist. Vielleicht wird es ihr guttun, aus Los Angeles und aus ihrer zerstörten Seifenblase herauszukommen. Sie könnte es als eine Art Urlaub betrachten, um neue Kräfte und Ideen zu sammeln. Und tatsächlich war es, als hätte sie jemand von einem Seil befreit, das fest um ihren Brustkorb geschnürt war, als Los Angeles in ihrem Nacken immer kleiner wurde.

Zwei Tage nach dem Besuch des Detektivs fand sich Nomi mit ihrem Wanderrucksack vor ihrer Wohnungstür wieder. In der Hand nicht mehr als ein Pappschild auf dem Mendota, Richtung Fresno stand. Sie kratzte die spärlichen Reste von ihrem Sparbuch zusammen, verstaute sie im Rucksack und sah keine Sekunde zurück, nachdem sie die Tür hinter sich schloss. Zum Glück hatte sie schnell Erfolg bei der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit. Ein netter Mann brachte sie etwa die Hälfte der Strecke nach Bakersfield, wo sie in einem Diner gleich einen Trucker fand, der auf dem Weg nach Sacramento war und so direkt an Mendota vorbeifahren konnte. Der Erfolg ihrer Reise ließ sie bislang nicht an ihrem Vorhaben zweifeln, doch je näher sie Mendota kommt, umso angespannter wird sie. Ein Blick auf ihr Handy verrät ihr, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis das Motel am Horizont erscheint.

Zu ihrer Seite erhebt sich ein kleines grünes Richtungsschild aus dem feinen Schuttboden. San Joaquin, 11 Meilen rechts. Nomi sieht dem Schild hinterher. Der Trucker bemerkt es, donnert über die Kreuzung weiter geradeaus.

„San Joaquin, sagt dir das was?“

„Nur das San Joaquin Valley, aber da war ich noch nicht.“

„Das Valley liegt noch ein ganzes Stück nördlich zwischen San Francisco und Sacramento. Das hier ist die Kleinstadt San Joaquin im Fresno County. Das Jagdrevier der Death Raiders.“

Nomi sieht zu dem Trucker mit dem roten Baseballcap und dem weißen Muskelshirt hinüber. „Death Raiders?“

„Noch nie gehört?“

Nomi schüttelt den Kopf.

„Das ist ein Motorradclub, über den ganzen Westen der USA verteilt. Mein Schwager war mal ’n Mitglied im Nevada Chapter, doch als die Stress mit einem verfeindeten Club angefangen haben, ist er ausgestiegen. Mit denen ist nicht zu spaßen.“

„Wie weit ist San Joaquin von Mendota entfernt?“