Die Klinik am See – 23 – Kinderärztin in Gewissensnot

Die Klinik am See
– 23–

Kinderärztin in Gewissensnot

Aus Rache verrante sie sich in eine ungeheuerliche Idee

Britta Winckler

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-795-0

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»Guten Morgen, Stäuberlein«, begrüßte Dr. Hendrik Lindau, Chefarzt der Klinik am See, seine Sekretärin freundlich, als er pünktlich wie immer seinen Dienst antrat. So nannte er Marga Stäuber immer dann, wenn er besonders guter Stimmung war.

»Guten Morgen, Herr Doktor«, gab die Sekretärin lächelnd zurück.

»Haben wir heute ambulante Patienten?«, fragte der Klinikchef und wandte sich der Tür zu, die zu seinem Büro und gleichzeitigem Sprechzimmer führte.

»Ja, Herr Doktor, ein junges Mädchen«, kam die Antwort.

Dr. Lindau nickte. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er und lächelte. »Ist Sabine …, hm …, Frau Wendler schon da?«, wollte er noch wissen.

»Ihre Assistentin ist schon drin«, erwiderte Marga Stäuber. »Das Rapportbuch habe ich Ihnen auch schon auf den Schreibtisch gelegt. Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Doktor?«

Dr. Lindau sah die Sekretärin erwartungsvoll an. »Immerzu – fragen Sie«, antwortete er.

»Tja …« Marga Stäuber suchte nach Worten. »Sie …, Sie sind heute so guter Laune«, brachte sie dann hervor. »Ist etwas Erfreuliches eingetreten?«

Dr. Lindau lachte verhalten. »Frau Stäuber, Sie sind eine tüchtige und verlässliche Mitarbeiterin, aber Sie sind auch neugierig«, meinte er schmunzelnd. »Aber gut, es ist etwas Erfreuliches geschehen«, fuhr er fort. »Zum einen hat mein Enkel wieder ein paar Zähne mehr bekommen und zum anderen hat er mich heute zum ersten Mal Opa genannt. Na, was sagen Sie dazu?«

»Ist ja herrlich, Herr Doktor.«

»Das finde ich auch«, bestätigte der Chefarzt. »Ist damit Ihre Neugierde befriedigt?«, setzte er fragend hinzu.

Marga Stäuber errötete und wurde verlegen. »Man macht sich eben so seine Gedanken, wenn …«

»Schon gut, Frau Stäuber«, fiel Dr. Lindau der Sekretärin ins Wort. »Irgendwie gehören Sie auch zur Familie.«

Marga Stäuber strahlte über das ganze Gesicht. »Danke«, murmelte sie.

»So, damit hätten wir das Private erledigt«, erklärte Dr. Lindau mit sachlichem Tonfall, »und nun beginnen wir aber mit dem Dienst.« Augenblicke später verschwand er in seinem Zimmer, in dem er von seiner Assistentin Sabine Wendler freundlich begrüßt wurde.

»Wir haben eine Patientin im Wartezimmer«, teilte ihm die junge Frau auch sofort mit. »Soll ich sie …?«

»Warten Sie noch ein paar Minuten«, unterbrach Dr. Lindau seine Assistentin und nahm am Schreibtisch Platz. »Ich will nur rasch das Rapportbuch durchblättern.«

Der Eintritt seiner Tochter unterbrach ihn. »Hallo, Paps, hast du ein paar Sekunden Zeit für mich?«, fragte die Kinderärztin.

»Ich wollte eigentlich jetzt mit der Sprechstunde beginnen«, antwortete Dr. Lindau, »aber natürlich habe ich Zeit für dich. Was hast du auf dem Herzen? Probleme auf deiner Station?«

»Probleme? Das wäre vielleicht etwas übertrieben«, erwiderte Astrid kurz. »Ich habe doch seit zwei Tagen das kleine Mädchen mit den Symptomen einer Hirnhautentzündung auf Station. Du erinnerst dich sicher an die kleine rotblonde Helene in Zimmer neun.«

»Ja, ich entsinne mich. Und was ist mit ihr?«, wollte Dr. Lindau wissen.

»Ich neige jetzt zu der Ansicht, dass wir es mit einem Fall von spinaler Kinderlähmung zu tun haben«, erklärte Astrid.

»Eine Poliomyelitis meinst du?«

»Genau«, bestätigte die Leiterin der Kinderstation.

»Wie steht dein Mann dazu?«, fragte Dr. Lindau.

»Alexander ist sich nicht hundertprozentig sicher, und deshalb wollte ich dich bitten …«

»Schon verstanden, Astrid«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter. »Also gut, ich komme nach der Arztbesprechung zu dir rüber, und dann nehmen wir uns die kleine Dame einmal vor.«

»Danke, Paps.« Astrid Mertens wandte sich wieder zum Gehen, drehte sich bei der Tür aber noch einmal um. »Ach, ehe ich’s vergesse – heute kommt ja Renate«, sagte sie.

»Renate?« Fragend sah Dr. Lindau seine Tochter an. »Entschuldige bitte, aber jetzt musst du mir ein wenig auf die Sprünge helfen. Wer ist Renate und wohin kommt sie?«

»Aber, Paps, hast du das vergessen?«, fragte Astrid lächelnd. »Renate Bertram, die Kinderärztin Doktor Bertram, meine Studienfreundin, die bei uns arbeiten wird.«

»Richtig«, stieß Dr. Lindau hervor. »Das hätte ich tatsächlich beinahe vergessen.«

»Nun weißt du es wieder, ja?« Astrid lachte leise. »Sie kommt also heute hier an und wird entsprechend unserer Absprache schon morgen ihren Dienst beginnen. Ich habe gestern noch mit ihr telefoniert, und ich nehme an …«, sie unterbrach sich und sah auf ihre Armbanduhr, »dass sie jetzt schon auf dem Weg hierher ist. Sie wird sich zuerst bei mir melden, und ich stelle sie dir dann gleich vor.«

Dr. Lindau nickte zustimmend und stand auf. »Gut, dann wäre das auch geklärt, Mädchen«, sagte er lächelnd. »Sonst noch etwas?«, fragte er.

»Nein, Paps.«

»Tja, dann wollen wir mal – ich beginne gleich mit der Sprechstunde«, meinte Dr. Lindau.

*

Wie ein böser Traum kam Renate Bertram alles vor, als sie an diesem frühen Vormittag ein letztes Mal durch die Räume der Wohnung schritt, in der sie über zwei Jahre lang glücklich gewesen war – zumindest bis vor sechs oder sieben Monaten. Doch es war kein Traum, sondern harte Wirklichkeit. Die vor drei Jahren so gut und schön begonnene Ehe mit Christian hatte seit einer Woche aufgehört zu existieren. Die Scheidung war ausgesprochen worden. Die Bemühungen des Richters, diese Ehe noch zu retten, waren erfolglos geblieben. Sie selbst hatte es ja schon versucht, damals vor einem guten halben Jahr, als sie festgestellt hatte, dass ihr Mann sie mit einer anderen Frau betrog. Es war nicht nur ein einmaliger Seitensprung gewesen, den ihr Mann sich erlaubt hatte. Ein Seitensprung, der von vielen Männern oft als Bagatelle bezeichnet wird, hätte sie unter Umständen noch verzeihen können. Aber es war mehr gewesen. Für sie war es ein schmählicher Verrat, weil es nicht nur bei diesem einen Mal geblieben war. Die vergangenen drei Monate hatte sie ihren Mann immer seltener zu Gesicht bekommen. Oft genug war sie nächtelang allein gewesen und hatte sich mit Gedanken gequält. Manchmal war es ihr schwergefallen, den Anforderungen in ihrer kleinen Praxis in einer ruhigen Straße von Fürth nachzukommen. Für eine Kinderärztin, die sie war, hatten Konzentration und Einfühlungsvermögen einen ganz besonderen Stellenwert. Kinder konnten nicht so präzis artikulieren wie Erwachsene.

Renate Bertram war ihrer Studienfreundin Astrid Lindau, der nunmehrigen Frau Dr. Mertens, dankbar, dass diese ihr angeboten hatte, in der Klinik ihres Vaters als Kinderärztin tätig zu sein.

Nun war es so weit – die Praxis war verkauft, die Möbel der Wohnung hatte sie unterstellen lassen, und ihre persönlichen Sachen befanden sich in drei Koffern in ihrem Wagen. In wenigen Minuten würde sie schon auf dem Weg nach Auefelden sein, weit weg von Fürth und Nürnberg, weg von der Stadt, in der ein dummer Zufall sie vielleicht mit ihrem geschiedenen Mann zusammentreffen lassen konnte und dadurch langsam verheilende Wunden wieder aufreißen würde. Da unten im südlichen Bayern bestand keine Gefahr, Christian zu treffen, und da würden sie auch nichts umgeben, das Erinnerungen an glückliche Tage weckte. Dort konnte und wollte sie vergessen.

Glücklicherweise war bei der Scheidung keine schmutzige Wäsche gewaschen worden. Alles war glatt über die Bühne gegangen. Das Gericht hatte die Zerrüttung der Ehe akzeptiert – mit der etwas lapidaren Begründung, dass der berechtigte Wunsch Christians nach Familienzuwachs nicht erfüllt wurde, nicht erfüllt werden konnte und damit die Entfremdung der Ehepartner eingeleitet worden war.

Ein Schatten legte sich über Renates hübsches Gesicht. Um ihre Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Aus und vorbei«, flüsterte sie, drehte sich mit einer eckigen Bewegung um und verließ die nun leer stehende Wohnung, für die es bereits einen neuen Mieter gab. Renate kam es vor, als hätte sie Blei an den Füßen, als sie das Haus verließ und ohne sich noch einmal umzudrehen in ihren Wagen stieg.

Sekunden später fuhr sie ab – in Richtung Süden, nach München und weiter nach Auefelden. Sie rechnete sich aus, dass sie gegen Mittag ihr Ziel, die Klinik am See, erreichen würde. Nur einen Wunsch hatte sie jetzt – dass die neue Umgebung, aber auch das Zusammensein mit ihrer Studienfreundin Astrid ihr helfen würden, über das Fiasko ihrer Ehe hinwegzukommen und sich aus ihrem seelischen Tief zu befreien.

Hätte Renate Bertram auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt, dass Christian jetzt mit seiner neuen Freundin, die er ja wahrscheinlich auch bald heiraten würde, in ziemlicher Nähe der Klinik am See lebte, so wäre sie sicher umgekehrt.

Aber gerade das wusste sie nicht. Alle Gedanken an Christian, an die Trennung und auch an die andere Frau mit aller Gewalt verdrängend, fuhr sie weiter ihrem Ziel entgegen, bei dem ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen sollte.

*

Christian Bertram, ein großer schlanker Mann mit krausem schwarzem Haar, das ihn wie einen Südländer erscheinen ließ, strich sanft über den Bauch von Elfi Kramer, die lang ausgestreckt auf der Couch lag. »Was glaubst du?«, fragte er leise. »Wird es ein Mädchen oder ein Junge?«

Elfi Kramer lächelte. »Ein Junge bestimmt«, erwiderte sie. »So hat es mir wenigstens mein Hausarzt versichert.«

»Fantastisch«, gab Christian zurück. »Einen Jungen habe ich mir immer gewünscht.« Er musste plötzlich an seine geschiedene Frau denken. Ein nachdenklicher Zug legte sich über sein braun gebranntes Gesicht. Zum wiederholten Male fragte er sich, weshalb das Schicksal es nicht gewollt hatte, dass Renate ihm ein Kind schenkte. Dabei wäre es ihm völlig unwichtig gewesen, ob es ein Junge oder Mädchen gewesen wäre.

»Du denkst an deine Frau, Liebling?« Elfi schien Gedanken lesen zu können. »Berührt es dich noch, dass du dich von ihr getrennt hast und ich nun deine Frau werde?«

»Nein, nein, das ist vorbei«, wehrte Christian ab. »Ich liebe dich, und daran wird sich auch nichts ändern.« In der gleichen Sekunde aber wusste er, dass seine Worte nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Sicher, er hatte Elfi wirklich sehr gern. So gern, dass er sich von Renate hatte scheiden lassen. Er gestand sich aber auch ein, dass ihm diese Trennung gar nicht so leichtgefallen war, wie es ausgesehen hatte. In seinem tiefsten Innern war immer noch etwas, was für Renate sprach. Er hatte mit ihr wirklich eine glückliche Zeit verbracht – bis zu jenem Tag, als sie ihm gestanden hatte, dass sie niemals Mutter werden konnte. Für ihn war dieses Geständnis ein Schock gewesen, denn er hatte sich von Anfang an nach einem Kind, vielleicht auch nach zweien, gesehnt. Von diesem Tag an hatte er sich irgendwie von Renate hintergangen gefühlt. Hätte sie ihm das vor der Heirat gesagt, dann wäre sie möglicherweise gar nicht seine Frau geworden. Oder doch?

»Na, sei ehrlich, Liebling«, ergriff Elfi nach sekundenlangem Schweigen wieder das Wort, »ab und zu denkst du ja doch an deine geschiedene Frau. Stimmt’s?«

Christian schluckte. »Also schön – ja, manchmal denke ich an sie«, räumte er ein. »Aber nicht so, wie du das vielleicht annimmst. Zwischen ihr und mir gibt es keine Gemeinsamkeiten mehr«, fügte er betont hinzu.

»Das hoffe ich.« Elfi richtete sich auf und sah den Mann, den sie wirklich liebte und dessen Kind sie in wenigen Wochen zur Welt bringen würde, ernst an. »Ich liebe dich nämlich und möchte dich nicht verlieren.«

»Du verlierst mich nicht, Elfi«, entgegnete Christian. »Das ist ein Versprechen.« Sanft strich er der jungen Frau über das lange kastanienbraune Haar. »Ich denke dabei ja auch an unser Kind, über das ich mich jetzt schon wahnsinnig freue.«

»Danke, mein Lieber, für diese Worte.« Elfi schmiegte sich zärtlich an Christian.

*

Astrid und ihr Mann Alexander Mertens saßen sich im Ärztezimmer der Kinderstation gegenüber. »Die Werte der Laboruntersuchung sind gar nicht einmal so bedenklich, wie ich zuerst befürchtet hatte«, sage Dr. Mertens und schob seiner Frau einen Bericht des Labors zu.

»Du meinst damit die kleine Agnes von zehn«, gab die Kinderärztin und Tochter des Chefarztes zurück und überflog den Laborbefund. »Nun, das Labor hat die Bordetella Pertussis als Bakterien festgestellt. Das bedeutet …«

»Keuchhusten«, fiel Dr. Mertens seiner Frau ins Wort. »Keine Grippe also, wie ich zuerst vermutet hatte.«

»Bei den Schleimabsonderungen nach den Hustenanfällen dachte ich das zuerst auch«, entgegnete Astrid. »Hast du die Kleine noch einmal untersucht?«, wollte sie wissen.

Dr. Mertens nickte. »Ja, vor einer halben Stunde, als ich den Laborbericht erhielt«, erwiderte er.

»Und?« Fragend sah die Leiterin der Kinderstation ihren Mann an. »Gibt es Hinweise auf Komplikationen? Lungenentzündung oder Mittelohrentzündung – von Hirnschäden will ich gar nicht sprechen.«

»Weder noch«, erklärte Alexander Mertens. »Der Flüssigkeits- und Gewichtsverlust ist allerdings nicht zu übersehen. Den müssen wir schleunigst einzudämmen versuchen.«

»Ich werde Anweisung für zusätzliche kalorien- und vitaminreiche Getränke für das Kind geben«, meinte Astrid und notierte sich diese Entscheidung auch sofort. »Antibiotika natürlich in jedem Fall«, fügte sie hinzu.

»Ich möchte außerdem, dass eine der Hilfsschwestern sich täglich mit dem Mädchen an die frische Luft begibt – trotz der augenblicklichen Erkältungserscheinungen der Kleinen«, sagte Dr. Mertens. »Ich werde das nachher gleich veranlassen.«

Astrid nickte und klappte die vor ihr liegende Krankenakte des fünfjährigen Mädchens zu.

Dr. Mertens stand auf, als Astrid sich erhob. »Dann gehe ich jetzt in die Kantine und werde mir eine Kleinigkeit zu Gemüte führen, damit ich nicht verhungere«, scherzte er.

»Danach siehst du nicht aus«, stellte Astrid lachend fest und setzte sachlich hinzu: »Ich gehe inzwischen zu Paps ins Büro und werde dort auf das Eintreffen von Renate warten.« Sie trat dicht an ihren Mann heran und gab ihm einen Kuss. »Bis später also«, raunte sie ihm ins Ohr und verließ das Dienstzimmer.

Gerade als sie in die große Eingangshalle einbog, kam ihr Dr. Göttler entgegen. Er war im Labor gewesen und wollte nun in die Kantine, um sein ein wenig verspätetes Mittagessen einzunehmen. Freundlich grüßte er die Tochter des Chefarztes. »Schon gespeist, Frau Kollegin?«, fragte er und blieb stehen.

»Nein, das erledige ich zu Hause«, erwiderte Astrid.

»Ach ja, Ihr Dienst endet ja schon mittags«, murmelte Dr. Göttler.