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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-837-7
Der Unfall war vorprogrammiert. Das Schreckliche würde noch in dieser Nacht eintreten. Und niemand würde es begreifen können, würde es sinnlos finden.
Es zeigte sich wieder einmal wie gut es ist, daß man nicht in die Zukunft schauen kann. Hätte der Mensch diese Fähigkeit, würde sie ihm nur Unglück und Trauer bescheren.
Marion und Gerhard Günther waren von Regensburg nach Bad Tölz gefahren, um Marions Eltern zu besuchen. Sie hingen ganz besonders aneinander, denn Marion war ihr einziges Kind, das sie immer mit aller Liebe umgeben hatten, derer sie fähig waren. Und Maria und Peter Sebastians Herzen waren angefüllt mit Liebe, Liebe und noch einmal Liebe, die sie wie selbstverständlich auch auf Gerhard übertrugen.
Natürlich waren die beiden alten Leute gehörig eifersüchtig auf Gerhard gewesen, als Marion ihn zu einem Wochenende mit nach Bad Tölz brachte und ihnen erklärte, das sei für sie der Mann fürs Leben, und sie wolle sich nie, nie wieder von ihm trennen.
Es war auch selbstverständlich gewesen, daß sie Gerd auf Herz und Nieren überprüft hatten. Sie hatten sich sogar diskret über eine Auskunftei nach ihm erkundigt. Und als wirklich, wie Maria sich später lachend ausdrückte, kein Haar in der Suppe zu finden war, obwohl man sich doch bei der Suche sehr angestrengt hatte, da hatten sie Gerd nicht nur akzeptiert, sondern ihm auch gezeigt, daß sie sie im Grunde genommen sehr mochten.
Gerd hatte schon in jungen Jahren nach dem Tod seines Vaters das Immobilien-Geschäft übernommen und es in kurzer Zeit immer weiter ausgebaut, klug und umsichtig gewirtschaftet und vorsichtig investiert. Heute hatte er in einem respektablen Hochhaus eine ganze Etage für seine kleine Gesellschaft, die mittlerweile auch Treuhandaufgaben übernahm. Es war eine sehr eindrucksvolle Etage, mit mausgrauem Teppichboden, einer Empfangsdame, die einem Modekatalog entstiegen zu sein schien und trotzdem sehr tüchtig und freundlich war. Wenn man den alten Knispel mitzählte, der das Faktotum war und eigentlich gar nicht zu arbeiten brauchte, weil er eine gute Rente hatte, hatte Gerhard siebzehn Angestellte. Und jeder von ihnen wäre für den Chef durchs Feuer gegangen. Ganz besonders aber Vater Knispel, der alte Mann mit der guten Rente, der sich bei Sohn und Schwiegertochter nicht wohl, sondern ausgenutzt fühlte und eigentlich in ein Altenheim hatte gehen wollen, bis er Gerd kennengelernt hatte. Heute hatte er in einer Seniorensiedlung seine eigene kleine Wohnung, die, wie er immer schmunzelnd betonte, seine Zufluchtsstätte war. Vater Knispel behauptete heute noch, daß er sein Glück nur Gerhard Günther zu verdanken habe, der ihm den Vorschlag mit der Seniorensiedlung machte. Dort war man sein eigener Herr, konnte tun und lassen, was man nur wollte, und konnte sich zurückziehen, wenn einem danach war.
Es gab überhaupt keinen einzigen Menschen, der Gerd und Marion Günther etwas Schlechtes gewünscht hätte – und doch kam das Unheil schon mit Riesenschritten auf sie zu.
Im Augenblick saßen sie alle beisammen auf der hübschen Terrasse des gemütlichen alten Hauses in Bad Tölz, in dem Marion aufgewachsen war. Maria Sebastian hatte wieder einen ihrer herrlich lockeren Sandkuchen gebacken, die niemand so gut machte wie sie, wenn man ihrem Schwiegersohn glauben konnte.
Plötzlich stellte Marion ihre Kaffeetasse hin und lehnte sich zurück. Mit strahlendem Lächeln sah sie sich in der Runde um und lächelte wie ein Kind am Weihnachtsabend, wenn es erkennt, daß das Christkind alle, aber auch wirklich alle Wünsche erfüllt und keinen einzigen vergessen hatte.
Maria sah ihre schöne Tochter, die sich gerade das schwarze widerspenstige Haar nach hinten strich, an und sagte erwartungsvoll: »Du siehst aus, als hättest du etwas sehr Schönes erlebt.«
»Du bist nahe dran, Mutti. Aber du hast es nicht ganz getroffen. Ich habe nicht etwas Schönes erlebt, sondern bin gerade dabei, es voll auszukosten. Aber ich möchte es weitergeben an euch und euch teilhaben lassen.«
Nun wurden Gerhard und Peter aufmerksam, Gerhard, der neben Marion saß, legte seine Hand auf die ihre und strahlte sie an. Da nahm Marion die Hand ihres Mannes und legte sie sich gegen die Wange, als sie klar und deutlich erklärte: »Ich bekomme nämlich ein Kind, müßt ihr wissen.«
Zuerst war es einmal ganz still am Tisch. Und dann schienen alle auf einmal sprechen zu wollen. Nur Marion saß da und strahlte, war glücklich und fühlte sich sichtlich wohl.
Gerd endlich nahm seine Frau fest in die Arme, zog sie zu sich empor und fragte besorgt: »Seit wann weißt du es? Und – ist es auch wirklich so? Ist kein Irrtum möglich?«
»Ich weiß es seit gestern.« Marion lächelte wie ein Engel. »Und es ist kein Irrtum möglich. Ich war vorgestern beim Arzt und habe heimlich den Test machen lassen. Und gestern morgen habe ich ihn noch einmal angerufen, um ganz sicher zu sein. Und er hat mir versichert, daß…«
Weiter ließ Gerd seine Frau gar nicht sprechen. Er verschloß ihr den Mund mit seinen Lippen und ließ sie auch nicht los, als er tief Luft geholt hatte.
»Ich durfte ihn am Sonnabend morgen anrufen, weil er Bereitschaftsdienst hatte und mir wohl am Freitag meine Unsicherheit angemerkt hatte. Ich – ich war so erschüttert, daß ich an mein Glück kaum glauben konnte.«
»Da ergeht es mir ebenso«, flüsterte Gerd und legte das Gesicht in Marions weiches dunkles Haar. »Ich kann es noch gar nicht fassen.«
Maria Sebastian weinte vor Glück und stieß schluchzend immer wieder hervor.
»Oh, daß ich das noch erleben darf! Daß ich das wirklich noch erleben darf!«
»Jetzt hör schon auf, so etwas zu sagen. Du bist doch noch keine alte Frau, Maria!« protestierte Peter Sebastian lachend. »Mit achtundvierzig Jahren ist man doch im besten Alter. Du wirst eine wundervolle Großmama sein!« Er sah sie neckend an und fügte hinzu: »Als du so alt warst wie Marion, war sie schon zwei Jahre und lief schon herum, um jedermann mit Fragen zu löchern.«
»Ach, ich könnte die ganze Welt umarmen«, stieß Maria Sebastian schluchzend hervor, nahm einfach eine der hübschen Kaffeeservietten vom Tisch und fuhr sich damit über die tränennassen Augen. Dann ging sie zu Marion hinüber, nahm sie fest in ihre Arme und küßte sie auf beide Wangen.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die vier glücklichen Menschen sich so weit gefaßt hatten, daß sie sich wieder ruhig an den Kaffeetisch setzen und normal miteinander unterhalten konnten.
Maria war wild entschlossen, die Baby-Ausstattung ganz allein zu bestreiten, indem sie häkeln und stricken würde, was das Zeug hielt. Jedenfalls erklärte sie das voller Energie, als sie einen Schluck Kaffee genommen hatte. Ihr Mann versprach für die Kindermöbel aufzukommen, und Gerd protestierte endlich lachend, indem er fragte: »Besser, ihr sagt nicht, was ihr alles für das Baby tun wollt. Es wäre richtiger, wenn ihr uns sagen würdet, was wir, als die Eltern, dafür tun dürfen. Immerhin sind Marion und ich doch auch beteiligt und betroffen, wie ihr zugeben müßt, egal, ob euch das nun gefällt oder nicht.«
»Du hast natürlich völlig recht«, gab Maria zu und versuchte, ein zerknirschtes Gesicht zu machen, was ihr aber nicht gelingen wollte. »Da sitzen wir hier und reden und reden und denken gar nicht an Marion, die ja schließlich die Hauptperson ist.«
Gerd schien die Hand seiner Frau nicht mehr loslassen zu wollen. Er sah sie eindringlich an und fragte dann besorgt: »Fühlst du dich auch wirklich wohl, Marion? Ich möchte nicht, daß du dir zuviel zumutest und…«
»Siehst du, gerade das habe ich befürchtet!« rief Marion lachend aus.
»Ich habe gewußt, daß du versuchen wirst, mich in Watte zu packen, wenn ich das nicht von Anfang an verhindere.«
»Aber ich will doch nur nicht, daß du dich übernimmst, Liebling!« sagte Gerd beleidigt. Marion lachte ihn einfach aus.
»Hör zu, ich sage dir jetzt wortwörtlich, was Dr. Montag mir gesagt hat. Eine Schwangerschaft ist keine Krankheit. Und es ist grundfalsch, wenn man eine Schwangere wie eine Schwerkranke behandelt. Sie soll ein ganz normales Leben führen, nicht trinken und nicht rauchen. Und mit beidem habe ich keine Probleme, weil ich nie geraucht und nie getrunken habe. Nicht, weil ich prüde bin, sondern weil es mir einfach nicht geschmeckt hat. Ich werde mein normales Leben weiterleben, irgendwann, wenn Dr. Montag meint, es sei an der Zeit, zur Schwangerschaftsgymnastik zu gehen und mich nach dem neuesten Stand der Medizin auf das Baby vorbereiten. Ich wäre glücklich, wenn du bei der Geburt dabeisein könntest. Aber das hat doch alles noch Zeit. Ich wollte nur betonen, daß ich ganz normal weiterleben werde. Das kann ich aber nur, wenn ihr mich laßt.«
»Recht hat sie«, stimmte Peter Sebastian energisch zu und warf ihr einen anerkennenden Blick zu, als wollte er ihr damit sagen, daß er stolz auf sie war. Sie war eben seine Tochter, ein Mensch, der sich nicht hängen ließ und in jeder Lage neugierig war, wie es weitergehen würde.
Aber dennoch wurde nur über das Baby gesprochen, das ihr Leben verändern würde, das noch mehr Glück für sie bedeutete und ihrem Leben einen ganz anderen Sinn geben würde, als es bisher gehabt hatte.
Es war auch ganz klar, daß Marion und Gerd nicht, wie sie eigentlich vorgehabt hatten, gleich nach der gemütlichen Kaffeestunde aufbrechen würden. Sie blieben bis nach dem Abendessen. Als sie endlich zur Heimfahrt aufbrachen, ging die Sonne blutrot unter und tauchte alles in warmes und angenehmes Licht. Maria und Peter Sebastian standen Arm in Arm am Gartentor und blickten dem davonfahrenden Wagen nach. Erst, als sie ihn nicht mehr erkennen konnte, als es den Anschein hatte, er sei im blutroten Feuer der untergehenden Sonne verschwunden, wandten sie sich ab und gingen miteinander in den schönen großen Garten.
Es war eine stille, friedvolle Stunde, eine von jenen Stunden, die im Leben der Menschen etwas ganz Kostbares bedeuten. Und es war eine Stunde, wie sie sie so schnell nicht wiedererleben würden, weil das Schicksal schon ausgeholt hatte und nur noch ein wenig zögerte, bevor es zuschlug.
*
Marion und Gerd genossen die Fahrt. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und fühlte sich geborgen und zufrieden wie schon lange nicht mehr.
»Sie waren reineweg wie aus dem Häuschen«, sagte Marion lachend. Gerd nickte und erwiderte: »Dazu hatten sie doch allen Grund. Ich war es ebenso, ich bin es immer noch. O Marion, ich kann mir das alles noch gar nicht so richtig vorstellen. Ich als Vater. Ich könnte verrückt werden vor lauter Freude.«
»Meinst du, mir würde es anders ergehen? Was wünscht du dir eigentlich? Einen Sohn oder eine Tochter?«
Das war eine Frage, die ihn verunsicherte. Er überlegte eine kurze Weile, bis er ehrlich zugab: »Ich glaube, darüber sollte man sich wirklich keine Gedanken machen, Liebes. Ein Kind, egal, ob Junge oder Mädchen, wird uns immer glücklich machen. Ich wünsche mir nur, daß das Kind gesund ist und zu einem fröhlichen, lebensbejahenden Menschen heranwachsen kann.«
»Ich wußte, daß du so denkst. Manche Männer versteifen sich auf einen Sohn und nehmen es ihren Frauen übel, wenn es ein Mädchen geworden ist. Das finde ich dumm, denn beide, Mann und Frau, sind doch beteiligt, nicht wahr? Nein, mir ist es ganz gleich, ob Sohn oder Tochter. Hauptsache, es ist ein gesundes Kind.«
Sie küßte ihn auf die Wange.
»Ich wußte, daß du so denkst, aber ich gebe auch ganz ehrlich zu, daß ich es noch einmal bestätigt haben wollte. Ich liebe dich, Gerd. Ich liebe dich so sehr, daß es beinahe schon weh tut.«
Er rieb seine Wange an ihrem weichen Haar und erwiderte lächelnd und voller Glück: »Und damit sprichst du haargenau das aus, was ich empfinde.«
Sie schwiegen wieder, weil das Glück, das sie beide empfanden, keine Worte brauchte. Man spürte es, und das war eigentlich genau das, was es ausmachte.
Marion lächelte vor sich hin. Sie spürte eine angenehme Müdigkeit in sich emporkriechen. Es würde gut sein, ein wenig zu schlafen, eng an Gerd gelehnt, und sich seiner Nähe und Wärme so bewußt sein zu können. Noch ehe sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, war Marion schon eingeschlafen. Es war ein Schlaf, aus dem sie viele, viele Monate nicht mehr würde aufwachen können.
Gerd lächelte in sich hinein. Seine Marion! Er hatte sie vom ersten Augenblick, da er sie sah, geliebt. Und diese Liebe hatte nicht nachgelassen, sie war immer größer und stärker geworden. Und jetzt, das wußte er, gab es nichts auf der Welt, das ihr schaden könnte, gar nichts.
Im Lichtkegel der Scheinwerfer erschien ein Reh. Gerd wollte bremsen, wußte aber, daß es dazu zu spät war. Er riß das Steuer nach links herum, weil er dem Tier ausweichen wollte. Und doch wußte er mit aller Gewißheit, daß alles vergebens sein würde. Er sah den Lichtmast auf sich zukommen, sah, daß er ihm nicht mehr ausweichen konnte, und hätte am liebsten vor Angst und Entsetzen laut aufgeschrien.
Das alles spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Gerd starrte durch die Windschutzscheibe und hörte den Aufprall, das Splittern von Glas und das ohrenbetäubende Kreischen von Blech und Beton. Dann war alles still.
Eine Schrecksekunde lang saß Gerd Günther unbeweglich, dann wandte er sich zu Marion, die wie leblos in ihrem Gut hing. Er stieg aus und lief um den zerbeulten Wagen herum auf Marions Seite, riß die Tür auf und löste den Gurt, hob sie vorsichtig heraus und legte sie auf das feuchte Gras. Er klopfte ihre Wangen und rief ihren Namen.
»Marion! Ich bitte dich, Liebes, wach auf und sag mir, daß du auch mit dem Schrecken davongekommen bist!«
Aber Marion reagierte nicht auf seine flehentlichen Bitten. Sie lag ganz stumm und bewegungslos da und schien sich auch nicht um die Angst zu kümmern, die in ihm emporstieg und immer größer wurde, so daß er bald das Gefühl hatte, sie nicht mehr ertragen zu können.
Noch ehe er sich überlegen konnte, was nun zu tun war, erfaßten ihn die Scheinwerfer eines herankommenden Wagens. Gerd stand mit hängenden Armen da und starrte dem Licht entgegen. Der Wagen hielt an. Und dann sah Gerd zwei Polizeibeamte aussteigen und auf ihn zukommen. Da endlich atmete er tief auf.
»Meine Frau!« stieß er hervor und deutete auf die reglose Marion im Gras. »Sie muß sofort in ein Krankenhaus. Ich – wollte dem Reh ausweichen. Aber meine Frau! Sehen Sie doch, sie ist bewußtlos. Man muß etwas tun!«
»Und genau das werden wir auch«, sagte der eine Beamte, während der andere zum Streifenwagen zurückging und über Funk den Notruf weitergab an die Klinik, mit der eine ständige Verbindung bestand. Dann kehrte er zu seinem Kollegen zurück, der noch bei dem aufgeregten Gerd stand und versuchte, ihn ein wenig zu beruhigen.
»Der Krankenwagen wird gleich hier sein. Wir bleiben so lange bei Ihnen, bis Ihre Frau in die Klinik geschafft wird –. Aber vielleicht könnten Sie uns bis dahin schon einmal Ihre Personalien geben. Wir müssen den Fall zu Protokoll nehmen, weil ja jemand verletzt worden ist.«
Gerd nahm sich sichtlich zusammen. Er brachte es fertig, auf die Fragen zu antworten, aber als man in der Ferne das Martinshorn hören konnte, sagte er abschließend: »Ich laufe Ihnen nicht davon, meine Herren. Bitte, haben Sie Verständnis. Sie – sie bekommt nämlich ein Baby. Deshalb habe ich ja so große Angst um sie.«
»Oh, in der Klinik am See wird man sie wieder hinkriegen, warten Sie nur ab. Dr. Lindau ist in der ganzen Gegend bekannt, und seine Klinik hat den allerbesten Ruf. Den besten, den man sich nur wünschen könnte.«
Mehr brauchte nicht mehr gesagt zu werden. Schon hielt der Krankenwagen bei ihnen. Die Sirene war ausgeschaltet, nur das Blaulicht zuckte und warf in regelmäßigen Abständen das flackernde Blaulicht über die Szene. Gerd, der kaum noch zu einem zusammenhängenden Gedanken fähig war, wußte, daß er diese Szene niemals mehr würde vergessen können. Sie prägte sich ihm fest ein wie etwas, was sein Leben in ganz andere Bahnen lenken würde. Und das tat es ja auch, wenn Gerd im Augenblick auch noch keine Ahnung davon hatte.
Claus Hartung, derzeit der einzige männliche Pfleger der Klinik am See und Fahrer des klinikeigenen Krankenwagens, stand schon da, überschaute mit einem einzigen Blick die Situation und nickte Tim Eder, der seinen Ersatzdienst in der Klinik leistete, zu. Sie hoben Marion geschickt und gekonnt auf die Trage, schoben sie in den Krankenwagen und sahen Gerd fragend an. Gerd kletterte in den Krankenwagen und setzte sich, nahm Marions schlaffe Hand in die seine und drückte sie ganz fest, als hoffe er, es werde ihm dadurch gelingen, sie aufzuwecken.
Aber als sie in der Klinik von Auefelden ankamen, lag Marion Günther immer noch so bewegungslos da wie vorher. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, daß sie bald ins Bewußtsein zurückkehren würde.
Das Bereitschaftspersonal der Klinik stand schon da, als sie ankamen. Es dauerte nur Sekunden, bis Marion im Untersuchungszimmer lag und Dr. Anja Westphal, die dem Bereitschaftspersonal in dieser Nacht angehörte, sich über sie beugte.
Der Puls war normal, stark und kräftig und regelmäßig. Der Blutdruck war ein wenig abgesackt, aber keineswegs bedrohlich. Äußere Verletzungen, die die tiefe Bewußtlosigkeit rechtfertigten, waren nicht festzustellen. Anja schüttelte den Kopf. Sie wußte nicht, was sie noch tun sollte und entschied, die Patientin zu röntgen, um eventuelle innere Verletzungen auch ausschließen zu können.
Während man Marion in die Röntgenabteilung brachte, setzte sich Anja zu Gerd, der nervös auf einer Bank vor dem Untersuchungszimmer saß und wartete. Sie stellte sich vor und sah ihn freundlich an.
»Ich habe bei Ihrer Frau bisher keine Verletzung feststellen können, Herr Günther«, sagte sie behutsam und schränkte ein, als sie sah, wie er tief und erleichtert ausatmete: »Ich kann mir allerdings diese tiefe Bewußtlosigkeit nicht erklären. Ich nehme an, daß Ihre Frau einen Schock erlitten hat, der sie bewußtlos werden ließ.«
»Aber – sie kann einfach keinen Schock davongetragen haben. Sie hat doch von dem Unfall gar nichts mitbekommen. Sie hat auch das Reh nicht gesehen, dem ich ausweichen wollte. Sehen Sie, Marion hat doch fest geschlafen und…«
»Deshalb kann sie doch einen Schock erlitten haben, Herr Günther. Davor kann einen auch der tiefste Schlaf nicht bewahren. Die tiefe Bewußtlosigkeit Ihrer Frau sagt doch, daß sie einen Schock erlitten hat. Sie wird jetzt noch geröntgt, um alle anderen Möglichkeiten auszuschließen. Ich glaube nicht, daß eine innere Verletzung vorliegt, aber ich möchte gern sichergehen.«
»Und gerade heute hat sie uns gesagt, daß sie ein Kind erwartet«, murmelte Gerd bedrückt. »Wir waren bei ihren Eltern in Bad Tölz. Dort hat sie es uns gesagt. Wir haben uns alle so sehr gefreut und sind unbeschreiblich glücklich gewesen. Ich – ich mache mir die schrecklichsten Vorwürfe, Frau Dr. Westphal. Ich hätte einfach weiterfahren sollen, mich nicht um das Reh kümmern sollen. Dann wäre Marion jetzt sicher noch gesund – genau wie ich auch. Ich wollte, mich hätte es getroffen und nicht sie.«
»Sie machen alles nur noch viel schlimmer, wenn Sie sich jetzt mit Selbstvorwürfen peinigen, Herr Günther«, sagte Anja beruhigend. »Ich weiß sehr wohl, wie gefährlich die Strecke nach Bad Tölz ist. In jedem Sommer werden dort Rehe überfahren. Und es ist sogar schon ein schlimmer Unfall gewesen, wie man berichtet. Die Forstmeisterei hat es schon entlang der Straße mit hohen Drahtzäunen versucht, aber das war auch keine gute Lösung, denn darin verfingen sich die Tiere, und man hat die Zäune ganz schnell wieder entfernt.«
»Ich möchte bei meiner Frau bleiben«, sagte Gerd. Man wußte nicht, ob er das, was Anja Westphal ihm da gerade erklärt hatte, auch begriff oder nicht. »Ich möchte bei ihr sein.«
»Das können Sie auch, obwohl Sie ihr sicher nicht helfen können. Meinen Sie nicht, daß es viel besser wäre, wenn Sie sich schlafen legen würden? Ich kann es durchaus verantworten, Sie über Nacht hierzubehalten.«
»Ich werde bleiben, wenn auch nicht als Patient. Mag sein, daß ich auch einen kleinen Schock davongetragen habe. Aber davon spüre ich nichts. Es geht mir nur um meine Frau – und um das Baby, das wir erwarten.«
»Schwester Bärbel hat heute Nachtdienst. Sie wird Sie auf das Zimmer bringen, in das wir Ihre Frau legen werden. Heute nacht können wir nicht viel tun, aber morgen wird Dr. Lindau sich persönlich um Ihre Frau kümmern. Bis dahin wird sie auch wohl aus ihrer Bewußtlosigkeit aufgewacht sein und uns selbst sagen können, ob sie irgendwelche Beschwerden hat oder nicht.«
»Und dem Kind? Ich meine, kann der Unfall dem Baby geschadet haben?«
Anja Westphal legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm und sah ihn freundlich an, während sie vorschlug: »Sobald Ihre Frau aus der Röntgenabteilung kommt, machen wir eine Ultraschall-Aufnahme von dem Baby. Sie können dabei sein, wenn Sie mögen. Und dann werden wir auch sehen, ob das Baby Schaden erlitten hat oder nicht.«
Gerd atmete tief auf. Er sah Anja an und stieß dann hervor: »Danke. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich – ich kann Ihnen nicht sagen, wie mir zumute ist.«
»Ich kann es mir denken. Hauptsache, Sie quälen sich nicht mit Selbstvorwürfen. Das wäre unnötig und würde niemandem nützen.«
Gerd nickte dankbar. »Ich konnte dem Reh wirklich nicht mehr ausweichen. Ich wollte, ich hätte es gekonnt.«
»Es ist nun einmal geschehen. Keiner kann es ändern. Je eher Sie sich damit abfinden, desto besser ist es für alle Beteiligten.«
Gerd wollte noch etwas sagen, aber da kam das fahrbare Bett mit Marion zurück. Er neigte sich über sie, rief leise und sehnsüchtig ihren Namen und seufzte auf, als sie nicht reagierte. Sie lag da, mit geschlossenen Augen. Fast, als sei sie schon gestorben, dachte Gerd und erschrak zutiefst bei diesem Gedanken.
Nein, wehrte er sich innerlich, nein, das darf nicht sein. Sie darf nicht sterben, nicht bei einem solchen Anlaß. Es wäre doch so sinnlos. Und es würde nicht nur ein Mensch sterben, sondern zwei, denn das Baby würde sie doch mitnehmen in den Tod. Unser Kind, auf das wir uns so gefreut haben.
»Bringen Sie sie zum Ultraschall«, bat Anja Westphal Tim freundlich und winkte Gerd, ihr zu folgen.
Vorsichtig hob man Marion, die bereits ein Nachthemd aus der Klinik trug, auf die Liege. Gerd stand daneben und kam sich schrecklich überflüssig vor, als Anja Westphal Marions flachen Bauch mit einem Gel einrieb und dann auf den Monitor wies. Gerd starrte darauf und erkannte im ersten Augenblick gar nichts.
Daher dann sah er etwas Durchsichtiges, Verschwommenes, das aber klare Konturen annahm, als Anja es ihm erklärte.
»Sehen Sie, Herr Günther, das ist die Fruchtblase. Und das, was Sie da aufzucken sehen, was wie ein winziges Licht aufflackert und in rascher Folge verschwindet, wieder angeht und abermals verschwindet, das ist das Herz Ihres Kindes.«
Gerd hatte sich unwillkürlich ein wenig nach vorn geneigt, als könnte er so besser sehen und besser erkennen. Er starrte auf den winzigen Punkt, der wie ein regelmäßiges Lichtlein aufflammte und verlosch, aufflammte und verlosch.
Es ist das Herz meines Kindes, das Herz, das dem Leben entgegenschlägt, sagte er sich.
»Aber – aber es ist doch lebendig. Sobald das Herz schlägt, ist es doch lebendig«, stammelte er und machte erst gar keinen Versuch, seine Ergriffenheit und die Andacht, die von ihm Besitz ergriffen hatte, zu verbergen.
Anja nickte ihm zu. Es war immer das gleiche. Sobald sie eine Ultraschall-Untersuchung bei einer schwangeren Frau vornahm, spürte auch sie Andacht und Ergriffenheit vor dem werdenden Leben, das man durch die Apparate der modernen Medizin sehen und beobachten konnte.
»Ist – ist es gesund? Ich meine, kann man sehen, ob der Unfall dem Kind geschadet hat?« wollte Gerd aufgeregt wissen, als Anja den Apparat abgeschaltet hatte und ihm lächelnd zunickte.
»Es ist keine Schädigung der Leibesfrucht zu erkennen, wie es so schön heißt, Herr Günther. Mit anderen Worten – dem Kind geht es gut. Alles deutet auf eine ganz normale Schwangerschaft in der elften Woche hin.«
»Dem Himmel sei Dank«, stöhnte Gerd da auf und schlug beide Hände vor das aufgewühlte Gesicht. »Ich wäre verrückt geworden, wenn dem Baby etwas geschehen wäre. Das hätte Marion mir niemals verzeihen können, glaube ich.«
»Ich schlage vor, wir bringen Ihre Frau jetzt erst einmal zur Station. Dann sollten auch Sie sich ein wenig Ruhe gönnen, Herr Günther. Sie nutzen niemandem, am allerwenigsten Ihrer Frau, wenn Sie uns noch zusammenklappen.«
»Keine Sorge, das werde ich ganz sicher nicht. Jetzt, da ich weiß, daß mit dem Baby alles in Ordnung ist, daß Marion keine Verletzungen erlitten hat, bin ich schon ein bißchen beruhigter. Ich möchte nur bei ihr sein, wenn sie aus der Bewußtlosigkeit zu sich kommt. Dann will ich ihre Hand halten und ihr das Gefühl geben, daß alles gut ist.«
Dr. Westphal fuhr noch mit zur Station, beugte sich noch einmal über Marion und nickte dann abschließend Gerd zu. Sie wies auf die nicht allzu breite Couch, die im Zimmer stand, und sagte freundlich: »Dort können Sie sich ausruhen, wenn Sie merken, daß es zuviel für Sie wird, Herr Günther.«
»Danke. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Es wird mir nichts zuviel sein, ganz bestimmt nicht. Ich will nur bei ihr sein, wenn sie aufwacht.«
»Möchten Sie jemanden benachrichtigen? Vielleicht Ihre Schwiegereltern in Bad Tölz?« schlug Anja freundlich vor. Aber Gerd schüttelte nur den Kopf.
»Sicher schlafen sie schon. Lassen wir sie in Ruhe. Es wäre niemandem damit gedient, wenn wir sie jetzt aufschrecken würden. Dazu ist morgen noch Zeit genug. Außerdem wird Marion dann auch wach sein und ihnen selbst sagen können, daß alles nur halb so schlimm war und wir alle noch einmal mit dem Schrecken davongekommen sind.«
»Ich glaube, das würde ich, wäre ich an Ihrer Stelle, auch so machen, Herr Günther. Ich schaue nachher noch einmal herein.« Damit wandte sich Anja ab und verließ den Raum. Gerd ließ sich neben dem Bett Marions nieder und nahm ihre Hand in die seine. Vielleicht spürte sie seine Nähe und seine Liebe und Sorge und würde aufwachen. Wenn sie doch nur aufwachen würde, wenn es nur für einen winzigen Augenblick des Erkennens wäre!
*
Dr. Hendrik Lindau strich sich das immer noch volle, wenn auch schon ergraute Haar zurück, als Anja Westphal ihm von dem Neuzugang der vergangenen Nacht berichtete.
»Keine äußeren und inneren Verletzungen. Puls und Blutdruck völlig normal und stabil. Schwangerschaft in der elften Woche, auch alles in Ordnung. Aber bis vor einer halben Stunde war die Patientin noch bewußtlos.«
»Hirntrauma ist auszuschließen?« fragte Dr. Lindau ruhig. Anja nickte.
»Ich habe sie aus allen Perspektiven röntgen lassen. Nichts…! Alles negativ. Sie ist kerngesund, bis auf diese vermaledeite Bewußtlosigkeit.«
»Leg dich schlafen, Anja«, schlug Lindau vor und sah seine Kollegin, die ihm seit der Studienzeit auch eine gute Freundin war, auffordernd an. »Du hast alles getan, was man tun konnte. Ich sehe mir die Patientin gleich mal an. Aber du machst jetzt, daß du in dein Bett kommst. Ich will dich vor morgen hier nicht sehen, verstanden?«
»Kehr nicht den Chefarzt heraus, das steht dir nicht«, gab sie lachend zurück und ging zur Tür seines Sprechzimmers. Von da winkte sie ihm noch einmal zu. »Bis morgen also.«
»Schlaf gut.« Dr. Lindau hatte Anja schon vergessen, sobald die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. So war es immer. Sobald er sich mit einem »Fall« beschäftigte, hatte alles andere an Bedeutung verloren.
Schwester Marianne, Stationsschwester, atmete auf, als sie den Chef kommen sah.
»Ich weiß schon nicht mehr, was ich mit dem Ehemann machen soll, Herr Chefarzt«, sagte sie unsicher. »Er sitzt unentwegt an ihrem Bett, ruft dann und wann leise ihren Namen und weigert sich strikt, seine Frau auch nur für eine Minute aus den Augen zu lassen.«
»Na, dann gehe ich halt mal hinein und unterhalte mich mit ihm. Ist sie denn immer noch nicht aufgewacht?«
»Alles unverändert. Ich kann mir das nicht erklären.«
»In der Medizin gibt es vieles, was man sich nicht erklären kann, das sollten Sie wissen. Lassen Sie nur, ich gehe allein hinein. Später komme ich dann zu Ihnen, dann können wir alles miteinander besprechen.«
Damit öffnete er auch schon die Tür zu Marion Günthers Zimmer.
Gerd Günther schaute auf, als er jemanden hereinkommen hörte. Er sah schrecklich müde aus mit verhangenen Augen und trübem Blick, unrasiert und verzweifelt.
»Ich bin Hendrik Lindau, der Inhaber dieser Klinik. Und Sie sind Herr Günther, nicht wahr?« stellte sich Lindau vor und reichte Gerd seine schmale, aber erstaunlich kräftige Hand. Gerd nickte nur und stammelte endlich: »Sie will einfach nicht aufwachen, Herr Dr. Lindau. Ich kann mir das einfach nicht erklären. Warum wacht sie denn nicht auf?«
Lindau, der sich über Marion beugte, ihre Augenlider hob und nach ihrem Puls fühlte, sah Gerd ehrlich an.
»Das ist eine gute Frage«, sagte er zögernd und fügte dann energischer hinzu: »Ich wollte, ich könnte sie Ihnen beantworten.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Gerd angstvoll. »Soll das heißen, Sie können meiner Frau nicht helfen?«
»Im Augenblick jedenfalls nicht – oder noch nicht viel. Wir können sie nur künstlich ernähren, sie beobachten, rund um die Uhr, und hoffen, daß sie ins Bewußtsein zurückkehrt.«
»Ist das alles?« stieß Gerd hervor, und man sah ihm deutlich an, daß er sich vom Besuch des Chefarztes dieser herrlichen Klinik mehr erwartet hatte.
»Es tut mir leid, aber auch wir Ärzte sind nur Menschen. Wunder können wir nicht vollbringen. Es ist sehr selten, daß jemand nach einem relativ harmlosen Unfall wie dem Ihren so lange ohne Bewußtsein ist. Medizinisch ist das einfach nicht zu erklären. Man kann auch nichts tun, weder mit Gewalt noch medikamentös, Herr Günther. Man kann einfach nur abwarten, daß sich alles von selbst wieder ergibt. Ihre Frau hat, obwohl sie, wie Sie sagen, geschlafen hat, durch den Unfall einen Schock erlitten. Es muß ein besonders schwerer Schock gewesen sein, der ihren gesamten Organismus und vor allem das Nervensystem völlig durcheinandergebracht hat. Sobald sie den Schock überwunden hat, wird sie auch wieder zu sich kommen und sich wundern, daß sie überhaupt jemals ohne Bewußtsein gewesen ist.«
»Aber – wie lange soll denn das noch andauern?« fragte Gerd verzweifelt und sah auf Marions schönes Gesicht, das wie eine kunstvolle, kostbare Maske wirkte. Keine Miene verzog sich in diesem stillen Gesicht, das ihm so fremd war.
»Auch das ist eine Frage, die ich Ihnen nicht beantworten kann. Bei einem geht es schnell, und bei Ihrer Frau scheint es eben extrem lange zu dauern. Es gibt Fälle, da sind Patienten erst nach Jahren wieder aufgewacht.«
»Sie wirken nicht sehr beruhigend«, murmelte Gerd bitter. Da trat Lindau näher zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Was hätten wir davon, wenn ich Ihnen Versprechungen machen würde, die sich hinterher nicht erfüllen lassen? Besser ist doch, man sieht den Tatsachen, so, wie sie nun einmal liegen, ins Auge, Herr Günther. Wir müssen alles für Ihre Frau und das ungeborene Kind tun. Und Sie können sich darauf verlassen, daß das auch geschieht. Sie sollten sich niederlegen, sich ausruhen.«
»O nein, dazu ist keine Zeit. Ich hab tausend Dinge zu tun. Da gibt es das Protokoll bei der Polizei zu unterschreiben. Dann muß ich meine Schwiegereltern in Bad Tölz anrufen und in meinem Büro in Regensburg. Ich will bei ihr bleiben, Dr. Lindau, verstehen Sie mich. Ich will bei ihr bleiben, weil ich das Gefühl habe, ihr durch meine Gegenwart helfen zu können. Außerdem hilft es auch mir, wenn ich bei ihr sein kann.«
»Als erstes sollten Sie ordentlich frühstücken«, fand Lindau und nickte ihm zu. »Wenn Sie alles erledigt haben, was Sie erledigen müssen, kommen Sie zu mir in mein Sprechzimmer. Dort können wir dann alles miteinander besprechen.«
Dr. Lindau gab ihm noch einen aufmunternden Schlag auf die Schulter und verließ das Krankenzimmer.
Jetzt war das eingetreten, wovor sich jeder Belegarzt, jeder Klinikarzt, fürchtete: Man hatte eine Patientin hier, die im Todesschlaf lag, von dem niemand wußte, ob er endgültig war oder ob sie noch einmal aufwachen würde. Es war noch viel schlimmer, als man sich ausmalen konnte, weil Marion Günther ein Kind erwartete. Man konnte doch nicht absehen, wie das Kind auf die Bewußtlosigkeit der Mutter reagierte, ob es sich tatsächlich normal entwickeln würde oder nicht. Dr. Lindau sah unendliche Probleme vor sich auftauchen. Probleme, die er so schnell nicht würde lösen können – und allein schon gar nicht.
In seinem Sprechzimmer setzte sich Dr. Lindau an den Schreibtisch und starrte blicklos auf die Schreibtischplatte. Seine Gedanken flogen in die Vergangenheit zurück, und er erlebte noch einmal den Tod seiner Frau. Wie hatte er um ihr Leben gekämpft! Was hatte er alles getan, nur, damit sie bei ihm blieb. Er hatte den Kampf verloren. Astrid war ohne die Mutter aufgewachsen und trotzdem zu einem fröhlichen, lebensbejahenden Menschenkind geworden, das ihm einen Schwiegersohn gebracht hatte, der so recht nach seinem Herzen war.
Lindau schreckte aus seinen Gedanken empor, als sich die Tür leise öffnete. Sein Gesicht erhellte sich, als er die Besucherin erkannte. Grethe Forberg, die Hebamme der Klinik, der Mutter vieler, vieler Kinder, wie sie sich immer selbst bezeichnete, denn sie verausgabte sich immer wieder völlig bei jeder Geburt, die sie erlebte. Dabei war es unerheblich, ob es sich um eine schwere oder normale oder besonders einfache Geburt handelte. Immer kam ein neues Menschlein auf die Welt. Und schon allein das Bewußtsein, ihm dabei geholfen zu haben, zur Welt zu kommen rührte Grethe Forberg immer so sehr, daß sie oft nahe daran war, in Tränen auszubrechen. All ihre Weiche und Wärme hinderte sie jedoch nicht daran, sich ganz energisch durchzusetzen, wenn sie das Gefühl hatte, es sei notwendig. Nichts haßte sie so sehr wie Schlamperei. Sie sah auch den kleinsten Fehler und nahm nie ein Blatt vor den Mund. Und so war alles immer mustergültig in Ordnung, wenn sie in die Klinik kam, um ihre Patientinnen zu versorgen und nach den Kindern zu schauen.
Stumm setzte sie sich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Dr. Lindaus und sah ihn ernsthaft und fragend an.
»Das ist ein dicker Problemfall«, äußerte sich Dr. Lindau endlich. »Wie es aussieht, liegt sie im Todesschlaf, und kein Mensch kann wissen, ob, wann und wie sie aufwacht. Kein Mensch kann jetzt schon sagen, wie die Schwangerschaft verlaufen wird. Kein Mensch kann sagen, ob das alles dem Kind schadet oder nicht.«
»Ich finde, der Ehemann hätte die Behandlung eher verdient als die junge Frau«, warf Grethe Forberg ein. Lindau winkte ab.
»Er wird sich ganz schnell wieder fangen, sobald er eine anständige Tasse Kaffee getrunken und sich frisch gemacht hat. Dann wird er bei mir erscheinen, und ich muß ihm eingestehen, daß es sich bei seiner Frau um ein Dauer-Koma handelt. Ich habe es zwar schon unmißverständlich angedeutet, aber ich denke, wir sollten ihm die Wahrheit nicht verschweigen.«
»Die Wahrheit, Herr Chefarzt? Was ist in diesem Fall denn die Wahrheit?« fragte Grete Forberg ruhig. Sie durfte sich eine solche Frage erlauben, denn ihre Beziehung war nicht die des Chefarztes zu seiner Hebamme, sondern eher freundschaftlich. Zudem wußten beide sehr genau, was sie voneinander zu halten hatten.
Ihr Vertrauen zueinander war unendlich.
»Was die Wahrheit ist?« wiederholte Dr. Lindau ihre Frage. »Die Wahrheit ist, daß wir mit unserem Latein am Ende sind. Wir können nicht viel für sie tun. Und das ist, finde ich, eine schreckliche Wahrheit.«
»Wenn sie das Kind nicht verliert und das steht eigentlich kaum zu erwarten, sehe ich nicht ein, daß sie nicht mehr aufwachen wird. Eine Geburt ist ein so wichtiger hormoneller Vorgang für den Organismus, daß man allerhand davon erhoffen darf.«
»Und wenn wir das Kind mit Kaiserschnitt holen müssen?« wandte Dr. Lindau ein, als spreche er zu sich selbst. Aber Grethe Forberg ließ sich ihren Optimismus nicht nehmen, obwohl sie ganz sicher nicht hätte sagen können, woher er rührte.
»Geburt bleibt Geburt, ganz gleich, wie sie vonstatten geht. Aber ich muß einräumen, daß eine natürliche Geburt vielversprechender sein würde. Warten wir es ab, Herr Chefarzt. Etwas anderes können wir doch nicht tun.«
»Da haben Sie allerdings recht. Streiten wir uns nicht um des Kaisers Bart, ehe der Fall akut wird.«
Grethe Forberg hatte ihn gerade eben verlassen, als es abermals klopfte. Der Mann, der nun eintrat, unterschied sich von dem, den Dr. Lindau am Krankenbett seiner neuen Patientin getroffen hatte, wie Tag und Nacht.
Gerhard Günther hatte geduscht, sich rasiert und gefrühstückt. Man sah ihm an, daß seine Lebensgeister geweckt waren, daß er sich besser fühlte, als er sich auf dem Stuhl niederließ, auf dem bis vor wenigen Minuten noch Grethe Forberg gesessen hatte.
»Ich – ich wüßte so gern, wie es weitergehen soll. Aber ich fürchte, darüber können Sie mir auch nicht viel sagen, nicht wahr?« Dr. Lindau sah das Flehen, das Betteln in den Augen seines Besuchers und kam sich unendlich grausam und hart vor, als er zugeben mußte: »Genau genommen kann ich Ihnen gar nichts sagen, Herr Günther. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich von solchen Fällen weiß. Und das wäre auch kein Maßstab, nach dem man sich richten könnte. Man hat nämlich die Erfahrung gemacht, daß jeder Fall anders gelagert ist und jeder Patient anders reagiert. Ich weiß, wie schrecklich das klingt – aber alles, was wir tun können, ist warten.«
Gerd biß sich auf die Unterlippe und stieß dann hervor: »Wenn sie doch wenigstens reagieren würde, nur eben, nur ganz ganz wenig. Aber es macht so mutlos, sie anzusehen. Ihr Gesicht ist unbewegt, wie eine Maske. Es spiegelt nichts mehr von ihrem Inneren wieder. Sie ist so fremd und so kalt und so weit von mir entfernt. Ich kann ihr dort, wo sie mit ihren Gedanken ist, nicht folgen. Und dabei habe ich keinen anderen Wunsch als den, ihr zu helfen.«
»Den haben wir hier auch. Leider aber können wir nichts anderes tun als abwarten. Ich nehme es Ihnen nicht übel, Herr Günther, wenn Sie noch einen Kollegen hinzuziehen möchten. Ich hätte auch Verständnis dafür, wenn Sie Ihre Frau in eine Regensburger Klinik bringen lassen wollten.«
»Daran habe ich mit keinem Gedanken gedacht. Nein, Marion soll hierbleiben. Ich möchte ihr keinen neuen Transport zumuten. Wozu auch? Besser aufgehoben als hier ist sie nirgendwo anders.«
»Ihr Vertrauen freut mich natürlich. Sie können versichert sein, daß wir Ihre Frau ständig unter Aufsicht und Kontrolle halten.«
»Haben Sie denn überhaupt noch Hoffnung, daß sie jemals wieder aufwacht?« wollte Gerd hoffnungslos wissen. Und da wurde Dr. Lindau lebhaft und erklärte energisch: »Solange ein Patient atmet und sein Gehirn nicht tot ist, ist Hoffnung vorhanden, Herr Günther. Und bei Ihrer Frau ganz besonders, denn es gibt ja keine vernünftige Erklärung für ihre tiefe Bewußtlosigkeit.«
»Ich werde mir das nie, nie verzeihen können«, stieß Gerd hervor. Da legte Dr. Lindau seine Hand auf die Gerds und sagte eindringlich: »Machen Sie sich nicht noch selbst krank durch Selbstvorwürfe, die völlig unnötig sind, Herr Günther. Kein Mensch rechnet damit, daß ihm plötzlich ein Reh vor den Wagen springt.«
»Ich weiß, daß ich es nicht ändern kann. Aber es ist schrecklich, was da mit Marion vor sich geht. Es ist mir einfach unheimlich.«
»Das kann ich sehr gut verstehen. Ein Mensch, der im Dauer-Koma liegt, verändert sich für seine Angehörigen sehr. Das ist nur natürlich, weil seine Gesichtszüge nichts mehr von seinen Empfindungen zeigen. Es wäre am besten für Sie, wenn Sie sich ablenken würden.«
»Ich sollte meine Schwiegereltern anrufen und ihnen sagen, was sich zugetragen hat«, murmelte Gerd bedrückt. Dr. Lindau erhob sich und deutete auf das Telefon auf seinem Schreibtisch.
»Das können Sie gleich von hier aus tun. Ich wollte sowieso noch einmal zur Station, Herr Günther. Es wird Sie niemand stören. Bis nachher also.«
Gerd sah ihn dankbar an und zog das Telefon näher zu sich heran, als Dr. Lindau das Sprechzimmer verlassen hatte.
*
»Ein herrlicher Morgen«, sagte Maria Sebastian, als sie sich zu ihrem Mann an den appetitlich gedeckten Frühstückstisch auf der Terrasse setzte. »Die Sonne meint es in diesem Jahr besonders gut mit uns.«