Die Klinik am See – 24 – Jessica begegnet dem Leben

Die Klinik am See
– 24–

Jessica begegnet dem Leben

Was wie ein Märchen begann ...

Britta Winckler

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-874-2

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Jessica Dahlberg saß in dem Licht, welches nur ein verschwenderisch schöner Frühsommertag zu verschenken hatte. Alles um sie herum wirkte weich und warm und enthielt den Zauber von Leben und Bejahung.

»Ich darf dieses Kind nicht bekommen, Herr Dr. Lindau«, sagte das blonde Mädchen mit dem herben Gesicht und gab dem Licht keine Chance, ihren Zügen das starre Entsetzen zu nehmen, welches das Untersuchungsergebnis in ihrem Innern ausgelöst hatte.

»Welche Schwierigkeiten tun sich auf?«, fragte der erfahrende Gynäkologe und langjährige Chefarzt der Klinik am See ruhig, wissend, dass diese Mitteilung nicht bei jeder Frau Freude hervorrief.

»Mein Vater würde die Schande nicht überleben.« Jessica Dahlberg verkrampfte die Hände im Schoß, während ihre Augen den Arzt hilfesuchend ansahen.

»Schande?« Der Arzt hob erstaunt die Brauen. »Ich glaube, in diesen Begriffen denkt heute auch ein Pastor nicht mehr. Aber bevor wir jetzt über die Schwierigkeiten sprechen, welche Sie ganz offensichtlich vonseiten Ihres Vaters erwarten, sollten wir uns erst einmal über den Vater des Kindes unterhalten.«

Das blonde Mädchen schüttelte den Kopf, und eine ganze Weile sah es aus, als würde kein weiteres Wort über ihre Lippen kommen, dann aber veränderte sich der Ausdruck ihrer Augen. Die Panik wich und machte einem erlebten Traum Platz, der das Wissen von Glück in ihr Herz getragen hatte.

Der Arzt sah das hübsche Gesicht als Spiegel der Seele erblühen, alle Empfindungen preisgeben und ein tiefes Gefühl sichtbar werden. Das Mädchen war neunzehn Jahre alt, hatte vor zwei Monaten die Schule abgeschlossen – und ganz sicherlich war auch ein ebenso junger Mann Vater des Kindes, das sie nun erwartete.

»Ihr Freund – ein früherer Mitschüler?«, forschte er in ihre Traumverlorenheit hinein, da er wünschte, dass sie darüber sprach. Als verantwortungsbewusster Arzt durfte er sich nicht allein auf den medizinischen Teil beschränken, wenn deutlich wurde, dass das Umfeld der Patientin Probleme aufwarf. Ein Kind, das erwartet wurde, war ein Mensch, der mit allen Ansprüchen auf seine Daseinssicherung auf die Welt kam, das musste er stets im Auge behalten.

Jessica Dahlberg schreckte auf, und der Traum in ihren Augen zersplitterte augenblicklich wie Glas.

»Nein – ein Mann«, sagte sie leise, »ein Mann, doppelt so alt wie ich – und verheiratet.«

»Ich verstehe.« Dr. Lindau kannte die Realitäten des Alltags, und diese boten selten den leichten Weg. »Möchten Sie, dass ich den Vater des Kindes von Ihrer Schwangerschaft unterrichte?«

»Nein!« Jessica Dahlberg fuhr vom Stuhl hoch und starrte den Arzt entsetzt an.

»Keine Aufregung – setzen Sie sich«, sagte er ruhig.

Sie tat, was er sagte, wirkte aber wie jemand, der auf dem Sprung ist, gewisse Dinge zu verhindern.

»Denken Sie jetzt mal nicht an sich und Ihren Stolz, oder an den Vater des Kindes und die Schwierigkeiten, in die er geraten könnte, denken Sie einzig und allein an das Wesen, das Sie erwarten – mit allen Verpflichtungen, welche das mit sich bringt.« Die Stimme des Arztes klang mahnend. »Und glauben Sie mir, das sind eine ganze Reihe von Verpflichtungen.«

»Ich möchte nicht, dass er davon erfährt, ich ihn damit belaste.«

Ihr Gesicht zeigte den Willen, dieses auf keinen Fall zuzulassen.

Dr. Lindau wurde nun sehr ernst. »Überschätzen Sie in dieser Lage nicht Ihre eigene Kraft, Frau Dahlberg! Ich kann Sie nur warnen.« Seine Stimme klang eindringlich und lebenserfahren.

»Bitte, befreien Sie mich von dieser Schwangerschaft – es würde alle Probleme lösen«, bat sie und richtete ihre Augen groß und flehend auf ihn.

»Ach – einfach so?« Dr. Lindau erhob sich ärgerlich. »Wissen Sie überhaupt, was das für mich heißen würde?« Diese jungen Leute hatten heute eine Moral, die er nicht zu teilen vermochte. Kopflos schlitterten sie in Abenteuer und suchten dann den problemlosesten Weg, um sich von den Folgen zu befreien.

Der große schlanke Arzt ging mit langen Schritten auf und ab, um dann wieder hinter seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

»Wenn Sie es nicht mir zuliebe tun, so denken Sie an meinen Vater«, bat Jessica erneut, und ihre Stimme klang verzweifelt.

»Und Sie glauben, er als Pastor würde diese Tat gutheißen?«, stellte er die eher rhetorische Frage.

Jessica schüttelte den Kopf. »Ihm würde beides nicht gefallen, weder der Abbruch, noch ein außereheliches Kind. Sein Ansehen in der Gemeinde wäre ruiniert und das Vorbild, welches er allen Kirchenmitgliedern stets gewesen ist, bekäme gefährliche Risse.«

Dr. Lindau wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich kenne Ihren Vater von seinen Krankenbesuchen hier im Hause, Frau Dahlberg, und er schien mir immer sehr verständnisvoll und mitfühlend. Glauben Sie nicht, dass Ihre Sorgen um seine Reaktion auf Ihre Schwangerschaft etwas überzogen sind?«

»Sie kennen meinen Vater in seiner Funktion als Pastor, Herr Dr. Lindau, als Privatmann ist er eher ängstlich angepasst und streng um sein makelloses Bild bemüht.«

»Das sind kritische Worte, Frau Dahlberg, lassen wir es erst einmal darauf ankommen.« Dr. Lindau erhob sich. »Sie wissen, eine ledige Mutter ist heute keine Seltenheit mehr – und nicht selten bewusst gewünscht.«

»Heißt das, Sie helfen mir nicht?«, fragte Jessica fassungslos und erhob sich ebenfalls.

»Nicht so, wie Sie denken, Frau Dahlberg. Sie sind jung und gesund und leben in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen, sodass für mich als Arzt kein Grund besteht, Ihre Schwangerschaft zu unterbrechen.« Dr. Lindau kam um den Tisch herum und blieb vor dem blonden Mädchen stehen. »Was aber die angebotenen Gespräche betrifft, welche ich sowohl mit dem Vater des Kindes als auch mit Ihrem Herrn Papa führen möchte, so stehe ich dazu.« Er reichte ihr die Hand. »Lassen Sie es mich wissen.«

Jessica Dahlberg stand sehr gerade und fragte sich, ob sie wirklich erwartet hatte, dass er sie von ihrer Schwangerschaft befreien würde. Ein Arzt war schließlich dazu da, Leben zu erhalten, wo immer es ging und in seiner Macht lag. Außerdem musste er sie für eine leichtsinnige Person halten, welche ungeschützt diesen Zustand selbst verschuldet hatte. Etwas, was heute keiner Frau mehr passieren musste.

»Entschuldigen Sie mein Ansinnen«, sagte sie leise und wandte sich der Tür zu, voller Ratlosigkeit darüber, was nun werden sollte. »Frau Dahlberg!«

»Ja?« Sie wandte sich zu dem Arzt zurück.

»Sehen Sie es positiv, und nehmen Sie die Schwangerschaft an. Denn wenn Sie das Kind wollen, so wird auch Ihre Umgebung es akzeptieren – Sie werden sehen.« Seine Worte klangen eindringlich und sollten Mut machen.

»Ja – sicher.« Jessica Dahlberg zwang sich zu einem Lächeln und verließ dann das Sprechzimmer.

Dr. Lindau sah nachdenklich auf die Tür, welche sich hinter dem Mädchen geschlossen hatte. Musste er sich Sorgen um sie machen? Nachdenklich bewegte er den Kopf. Nein, sie war nicht der Typ, der unüberlegt reagierte. Trotzdem würde er sie im Auge behalten müssen. Gerne hätte er den Mann gesprochen, der sie in diese Lage gebracht hatte, unerfahren wie sie war. Verantwortungsloses Verhalten war eine Art Leichtsinn, den er verabscheute.

*

Jessica war nach dem Besuch bei Dr. Lindau eine Weile ziellos auf dem Rad durch die sanfte, schöne Landschaft gefahren, völlig zerrissen von dem, was sie erfahren hatte.

Sie erwartete ein Kind! Die Untersuchung durch Dr. Lindau hatte ihre Vermutung bestätigt, und der Scherbenhaufen, der sich nun vor ihr auftat, schien unüberwindbar. Sie hatte die Liebe erfahren, und der Zustand, in dem sie sich jetzt befand, war der Preis.

Schließlich ließ sie sich ins Gras sinken und blickte über den weiten See, der glänzend unter dem Himmel lag. Der Glanz blendete die Augen, und während sie diese schloss, lehnte sie sich zurück gegen den weichen Grasboden. Das Licht kam jetzt gefiltert durch die unbewegten Lider, und die Wärme hüllte wohltuend den Körper ein.

Eine ganze Weile war sie mit ihren Gedanken noch in Auefelden am See, doch dann trug die Erinnerung sie fort, und sie tauchte ein in die lichtdurchflutete Landschaft Griechenlands. Sie vermeinte wieder den weißen Glanz zu spüren, der über Land und Meer lag, und atmete zittrig und doch tief, während das Erlebnis sie wieder einfing.

Zwei Monate war das alles her – so unwiederbringlich! Jessica schluchzte trocken auf und drückte das heiße Gesicht seitlich ins Gras. Wie unerfahren und neugierig war sie aufgebrochen in dieses einzigartige Land der Antike. Aber was war die Akropolis gegen das Gefühl, das ihr bald darauf wie eine Urgewalt begegnet war, gänzlich unvorbereitet und machtlos ihm ausgeliefert, als hätte der eigene Wille ihren Körper verlassen gehabt.

Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Das Abiturzeugnis in der Hand, war sie strahlend zu ihrem Vater geeilt, der fühlte, dass er diese Leistung anerkennend honorieren musste. Eine Reise in den Bayerischen Wald hatte er vorgeschlagen, da er außerdem befand, sie sei von der Lernerei ein wenig blass und angegriffen. Die gesunde Luft dieser Gegend erschien ihm da ebenso geeignet, wie die Präsenz seiner Cousine Margret, welche dort eine Pension betrieb.

Dieses Belohnungsziel aber hatte umgehend den Protest der beiden älteren Frau Frederike und Henriette Tauber hervorgerufen, welche als Freundinnen der Familie von jeher regen Anteil an der Erziehung der mutterlosen Jessica genommen hatten.

»In den Bayerischen Wald?!«, hatte Friederike entrüstet ausgerufen. »Nichts gegen ihn, aber eine Reise nach Griechenland erscheint mir angemessener für die vollbrachte Leistung, und auch passender für ein junges Mädchen. Was meinst du dazu, Henriette?«, hatte sie die Unterstützung ihrer Schwester eingeholt.

Henriette war ganz derselben Meinung gewesen. Sie war weit gereist und mit ihren siebzig Jahren immer noch ein Wandervogel. »Natürlich fährt die Kleine nach Griechenland!«, hatte sie dem Vorschlag zugestimmt und sich dann aufgemacht, um die Angelegenheit mit dem Pastor zu regeln.

»Griechenland?« Pastor Dahlberg glaubte erst, sich verhört zu haben. »Bedenken Sie, meine verehrte Dame, wie ich mit so einer aufwändigen Reise vor meiner Gemeinde dastehe? Ein Mann in diesem Amt ist ­einem bescheidenen Leben verpflichtet – und das gilt auch für meine Tochter. Und was den Bayerischen Wald betrifft, so finde ich ihn passend und vertretbar.«

»Aber, Herr Pastor, haben wir in Auefelden nicht schon Bäume genug, um das arme Kind nun auch noch unter den dunklen Ernst der Tannen des Bayerischen Waldes zu zwingen?« Henriette Tauber wusste ihre ganze Verständnislosigkeit in ihre ohnehin recht eindringliche Stimme zu legen, um damit das empfindliche Ohr des Kirchenmannes zu treffen. »In Griechenland steht die Wiege der Kultur, dort sind Licht und Heiterkeit des Herzens.«

»Und die Kosten, meine Verehrteste? Bedenken Sie die Kosten!« Pastor Dahlberg, asketisch im Äußeren wie im Denken, wehrte sich, als er auch noch Friederike Tauber nahen sah.

»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein, Herr Pastor, Sie wissen, meine Schwester und ich stehen uns nicht schlecht. Außerdem sind wir der Kleinen zu mancherlei Dank verpflichtet. Stets ist sie hilfsbereit und freundlich.« Friederike legte sich nun ebenfalls mächtig ins Zeug, wobei die eigentliche Wirkung von ihren Augen ausging, welche hell und durchdringend den armen Pastor beinahe ans historische Kirchengebälk aufspießten.

»Ich werde darüber nachdenken, meine Damen«, wusste er sich mit letzter Kraft aus der doppelten Bedrängnis zu ziehen, und der schwarze Talar umwehte ihn wie ein Schutz vor mancherlei Verführung, als er davoneilte. Die Schwestern aber verfolgten ihn mit kritischen Blicken und jenem Zug in den zarten Gesichtern, der ihren Willen erkennen ließ, ihre Vorstellung durchzusetzen.

Eine Woche war dann vergangen, ohne dass Pastor Dahlberg in seinem Denken zu einem Entschluss gekommen war. Er brauchte neues Kirchengestühl – und seine Tochter sollte nach Griechenland reisen! Wie vertrug sich das?

Die beiden Frau Tauber aber hatten längst die silberweißen Lockenköpfe zusammengesteckt und sich auf ihre weibliche List besonnen, um die Angelegenheit in ihrem Sinne voranzutreiben. Sie ignorierten ganz einfach den nächsten Gottesdienst, was ihnen allerdings nicht leichtfiel, denn immerhin waren sie treue Kirchgängerinnen.

Pastor Dahlberg bemerkte ihre Abwesenheit von der Höhe der Kanzel aus dann auch sofort – und sie traf ihn mit großem Erschrecken. Welcher Kirchenmann konnte es sich in der heutigen kirchenmüden Zeit schon noch leisten, auch nur auf eines seiner treuen Schäfchen zu verzichten?

So war er dann bereits am Nachmittag zu den abtrünnigen Damen geeilt, um händeringend seine Einwilligung zu dieser Reise zu geben.

Vierzehn Tage später war sie, Jessica, nach Griechenland gereist, die triumphierenden Gesichter der Damen Tauber im Gepäck und die sorgenvolle Miene ihres Vaters zurücklassend. Sie war dem Licht entgegengefahren, voller Erwartung, wie jemand dem Leben entgegenreist, während die düstere Enge des Pfarrhauses mehr und mehr schwand. Das Leben begann – endlich! Wenn sie Glück hatte und einen Studienplatz bekam, würde sie im Herbst das Medizinstudium aufnehmen, um später einmal Kinderärztin zu werden, ein Wunsch, der auch die Zustimmung ihres Vaters fand.

So war das alles geplant gewesen, mit der Hoffnung auf einen strebsamen schnurgeraden Weg, der in eine wohlgeordnete Zukunft führen sollte – und nun?

Die Sonne brannte auf ihrem Gesicht, welches noch die Bräune Griechenlands trug, und vermochte doch nicht die rasch laufenden Tränen zu trocknen. Wie wundervoll war Griechenland gewesen, wie einmalig schön und zauberhaft die Reihe der Tage, welche als Studienreise eine aufregend interessante Route zu den Tempel- und Orakelstätten, den Theatern und Stadien, den bizarren Küsten mit ihren malerischen Hafenstädten geboten hatte. Lichtdurchflutet die Landschaften und Strände, abgeschieden und geheimnisvoll die einsamen Täler und die freundlichen Dörfer.

Was aber war dieses Fest der Sinne dann gegen die Begegnung mit dem Menschen gewesen, der mächtig wie einer der alten griechischen Götter in ihr Leben eingegriffen hatte und alle engen Moralbegriffe ihres bisherigen Lebens mit einem Schlage aufgehoben hatte.

Sie war der Liebe begegnet, und das Kind, welches sie nun erwartete, war ein Kind dieser Liebe. War es nicht von daher schon etwas Besonderes? Ein großes Geschenk, welches blieb?