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Wadim S. Rogowin

Die Partei der Hingerichteten

Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth

Mehring Verlag

Inhalt

Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

Einführung

1. KAPITEL: »Massenoperationen«

2. KAPITEL: Das Januar-Plenum des ZK: »Über die Fehler der Parteiorganisationen«

3. KAPITEL: Das Januar-Plenum des ZK: Der Fall Postyschew

4. KAPITEL: Die Vorbereitung auf den dritten Prozess

5. KAPITEL: Die Episode mit Krestinski

6. KAPITEL: Bucharin und Wyschinski

7. KAPITEL: Die »Verschwörung« von 1918

8. KAPITEL: Das Rätsel um Bucharin

9. KAPITEL: Die Sternenbahn Jagodas

10. KAPITEL: Vergiftungen und Vergifter

11. KAPITEL; Was war im Prozess die Wahrheit?

12. KAPITEL: Der Hauptangeklagte

13. KAPITEL: Die innenpolitischen Ziele des Prozesses

14. KAPITEL: Die außenpolitischen Ziele der Moskauer Prozesse

15. KAPITEL: Der Generalstaatsanwalt

16. KAPITEL: Das Urteil

17. KAPITEL: Die internationale Resonanz auf den Prozess

18. KAPITEL: Trotzki über die Moskauer Prozesse

19. KAPITEL: Das historische Schicksal der Moskauer Prozesse

20. KAPITEL: Stalin und sein nächstes Umfeld

21. KAPITEL: Im inneren Kreis des Politbüros

22. KAPITEL: Die Beseitigung des Zentralkomitees

23. KAPITEL: Der Parteiapparat

24. KAPITEL: Die Armee

25. KAPITEL: Das NKWD

26. KAPITEL: Der Komsomol

27. KAPITEL: Die parteilose Intelligenz

28. KAPITEL: Das Volk

29. KAPITEL: Die große Säuberung in den Augen der Feinde der Sowjetmacht

30. KAPITEL: Die große Säuberung in den Augen der russischen Emigration

31. KAPITEL: Die große Säuberung in den Augen der Kommunisten

32. KAPITEL: Gab es Schuldige?

33. KAPITEL: Oppositionelle in den Lagern

34. KAPITEL: Die Tragödie von Workuta

35. KAPITEL: Wer zog einen Vorteil aus der großen Säuberung?

36. KAPITEL: Die Rekruten des Jahres 1937

37. KAPITEL: Wer wurde nach Stalins Tod bestraft und wie?

38. KAPITEL: Der Terror gegen ausländische Kommunisten

39. KAPITEL: Nichtrückkehrer des Jahres 1937

40. KAPITEL: Nichtrückkehrer des Jahres 1938

41. KAPITEL: Das Verdikt der Dewey-Kommission

42. KAPITEL: Bolschewismus, Stalinismus, Trotzkismus

43. KAPITEL: »Der Rummel um Kronstadt«

44. KAPITEL: »Ihre Moral und unsere«

45. KAPITEL: »Der Alte hätte es ohne das Söhnchen schwer«

46. KAPITEL: Der Agent mit dem Decknamen »Tulpe«

47. KAPITEL: Der Tod von Leo Sedow

48. KAPITEL: Trotzki in Mexiko

49. KAPITEL: Mordanschläge im Ausland

50. KAPITEL: Pariser Intrigen

51. KAPITEL: Das Ende der »Jeshowstschina«

52. KAPITEL: Die Fälschung der Geschichte

ANLAGE I: Aus der Geschichte der Aufdeckung der Stalinschen Verbrechen

ANLAGE II: Statistische Angaben über die Opfer der Massenrepressalien

Personenverzeichnis

Impressum

Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

Der vorliegende Band ist Band 5 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.

Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.

Einführung

Die Verbrechen, die in den zweieinhalb Jahren der großen Säuberung (Juli 1936 – Ende 1938) verübt wurden, waren so gewaltig und ungeheuerlich, dass die Veröffentlichung der gesamten Wahrheit das poststalinsche politische Regime hätte ins Wanken bringen können. Deshalb dosierten die politischen Führer nach dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU die »bewilligte« Wahrheit über die tragischen Ereignisse der dreißiger Jahre sorgfältig, vermischten sie mit den nicht angetasteten Stalinschen Mythen und Fälschungen, wichen mehrfach von den eigenen Enthüllungen ab und belegten ab Mitte der sechziger Jahre das Thema »Stalinscher Terror« generell mit einem Tabu.

Das zwei Jahrzehnte anhaltende Verbot jeglicher Erinnerung daran, was als blutende Wunde im Bewusstsein der sowjetischen Menschen fortlebte, linderte den unauslöschlichen Schmerz dieser Wunde nicht, sondern verstärkte ihn nur. Die gesellschaftliche Atmosphäre, die von Versuchen geprägt war, das historische Gedächtnis des Volkes einzuschränken oder gar auszulöschen, gibt A. Twardowski in seinem Poem »Das Gedächtnis verlangt sein Recht« sehr deutlich wieder:

»Vergesst, vergesst!« gebietet man uns schweigend.

Ertränken will man im Strom des Vergessens

die noch lebendigen Ereignisse. Die Wellen sollen

darüber zusammenschlagen. Das Vergangene – vergesst es! …

Man gebietet Vergessen und bittet gütigst,

wir sollten uns nicht erinnern; das Gedächtnis möge versiegelt

werden,

damit Uneingeweihte durch diese Offenbarungen

nicht plötzlich in Verwirrung gestürzt werden …

Arglos wiederholen manche immer wieder,

dass uns diese schwarze Vergangenheit,

die einen Schatten auf uns wirft,

angeblich nicht zu Gesichte stehe.

Doch nichts von dem, was geschah, ist vergessen,

die Spuren in der Welt sind nicht verwischt.

Die Unwahrheit wird uns nur schaden,

allein die Wahrheit steht uns zu Gesicht![[1]]

Die Ideologen der KPdSU, die sich nicht gerade durch eine reiche historische Vorstellungskraft auszeichneten, waren von der Unerschütterlichkeit und Langlebigkeit des herrschenden politischen Regimes mit seiner abgeschotteten Ideologie überzeugt und nahmen an, wahrheitsgetreue wissenschaftliche Untersuchungen und schöngeistige Werke über den Stalinschen Terror würden das Licht der Welt frühestens nach Ablauf eines Jahrhunderts erblicken. Diesen Zeitraum räumte z.B. Suslow für die Veröffentlichung von W. Grossmanns Roman »Leben und Schicksal« ein.

Die Wirklichkeit entwickelte sich jedoch nicht nach dem Drehbuch der kurzsichtigen und konservativen Partokraten, die in den Stalinschen Vorurteilen erstarrt waren. Die Tilgung des Themas »Massenrepressalien« aus der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung überließ diese Problematik de facto den ausländischen Sowjetologen und den einheimischen Dissidenten. Da es nach dem zwanzigsten Parteitag unmöglich war, die bisherige Abschottung von der Außenwelt und die Unerbittlichkeit Andersdenkenden gegenüber zu bewahren, begann sich das geistige Vakuum im Bewusstsein der Sowjetmenschen mit einer Ideologie zu füllen, die über die Kanäle der »Samisdat« und »Tamisdat«[*] floss.

Ein ernsthafter Einschnitt im Massenbewusstsein war die Veröffentlichung von Solschenizyns »Archipel GULAG« im Ausland, der auf geheimnisvollen Wegen auch in die UdSSR gelangte und hier weite Verbreitung fand. Dieses Buch wurde von den sowjetischen Lesern vor allem deshalb als Offenbarung aufgenommen, weil darin zahlreiche »menschliche Zeugnisse« gesammelt worden waren, deren Veröffentlichung unser Land verboten hatte. Es schien, dass nun endlich die gesamte Wahrheit über den Staatsterror in der UdSSR gesagt sei. Aber das von Solschenizyn ausgewählte, ausschließlich auf Memoiren basierende Genre »oral history« ergab kein vollständiges und adäquates Bild der Ereignisse in unserem Land vor Stalins Tod. Darüber hinaus hatte Solschenizyn die verwendeten Quellen häufig geändert und ihnen eine voreingenommene Interpretation gegeben, um sie seiner Konzeption anzupassen, die den Stalinschen Totalitarismus aus der Ideologie und der revolutionären Praxis der Bolschewiki ableitete.

Zu einem erneuten gesellschaftlichen Interesse für das Thema des Stalinschen Terrors kam es in den Jahren der politischen Erschütterung, die offiziell als »Perestrojka« bezeichnet wird. Die Öffnung der sowjetischen Archive ließ erkennen, dass dort mit bürokratischer Akkuratesse alle Dokumente gesammelt waren, die aus den Kanzleien der Partei oder der Staatssicherheit stammten. Der Fetischismus in bezug auf die Erzeugnisse, die am Schreibtisch entstanden, auch am Schreibtisch eines Schergen, war in der Stalinzeit so groß, dass auf jeder Gefangenenakte die mystische Formulierung prangte: »Aufzubewahren für ewig«.

Die Veröffentlichung von Dokumentationen und Memoirenliteratur über die große Säuberung stieß auf lebhafte Resonanz bei der Öffentlichkeit, die Ende der achtziger Jahre vollauf damit beschäftigt war, ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignisse zu verarbeiten. Dadurch kam es zu einer sprunghaften Erhöhung der Auflagen bei den Periodika, die ihre Seiten nun für früher verbotene Memoiren, belletristische Werke und analytische Artikel über die Ereignisse der zwanziger und dreißiger Jahre zur Verfügung stellten. Eine weitere Entwicklung in dieser Richtung hätte es ermöglicht, ein adäquates Bild über den innerparteilichen Kampf in der KPdSU (B) und seinen terroristischen Abschluss zu geben. Sehr bald jedoch wurden die ersten ehrlichen Untersuchungen zu den tragischen Seiten der sowjetischen Geschichte von einer Mauer antikommunistischer Propaganda zum Stehen gebracht. Die »demokratische« Publizistik verlagerte ihre Anstrengungen von der Kritik am Stalinismus auf die mechanische Reproduzierung der Geschichtsversionen der ersten russischen Emigrantenwelle und der reaktionärsten westlichen Sowjetologen. Der Zweck dieser ideologischen Operationen war der gleiche wie bei den Geschichtsfälschungen der Stalinschen Schule: Das historische Gedächtnis und das soziale Bewusstsein des Sowjetvolkes sollte betrogen und vergiftet, gar ausgelöscht werden.

Bei dieser bis heute andauernden ideologischen Hexenjagd trafen sich die Positionen der »Demokraten« und ihrer »nationalpatriotischen« Gegenspieler paradoxerweise bei der Ablehnung des Bolschewismus und der Oktoberrevolution. Der Begriff »Bolschewismus« selbst wurde zum schlimmsten Schimpfwort in der »rechten« wie auch in der »linken« Publizistik, obgleich die Schlussfolgerungen dieser ideologischen Strömungen einen diametralen Gegensatz bilden. Während die »Demokraten« den Stalinschen Totalitarismus aus dem angeblich von vornherein gegebenen »utopischen« und »verbrecherischen« Charakter der bolschewistischen Ideen ableiten, rechtfertigen und glorifizieren die »Patrioten« (eingeschlossen auch diejenigen, die sich als Kommunisten bezeichnen) den Stalinismus, indem sie ihn dem Bolschewismus gegenüberstellen.

Viele Stalinisten gelangen allmählich zu einem Verständnis des sozialpolitischen Inhalts der großen Säuberung, indem sie diese für einen Grenzpunkt in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft halten, der den endgültigen Bruch des Stalinismus mit dem ideell-politischen Erbe der Oktoberrevolution bedeutete. Eine Konzeption dieser Art enthalten beispielsweise die Arbeiten des Emigranten A. Sinowjew, der wohl den nach Solschenizyn wichtigsten Beitrag jüngerer Zeit zur Verunglimpfung der gesamten Nachrevolutionsgeschichte leistete und sich heute in einen offenen Apologeten Stalins und des Stalinismus verwandelt hat. Sinowjew sieht die KPdSU nicht als politische Partei, die vor der Oktoberrevolution entstand und in ideologischer Hinsicht aus dem Bolschewismus erwachsen ist, sondern bezeichnet sie als Kind Stalins, das »im harten Kampf gegen die Vertreter der Leninschen Garde«[[2]] gegründet wurde.

Ähnliche Gedanken, wie sie für die zeitgenössischen »Reichs-« und »Staatlichkeitsverfechter« typisch sind, werden mit noch größerem Nachdruck von dem Publizisten S. Kara-Mursa formuliert, der Russland als besondere »Gesellschaft mit eigener Tradition« betrachtet, die keine Ähnlichkeit mit der übrigen Welt hat, eine Gesellschaft, die von der Oktoberrevolution gesprengt und von Stalin wiederhergestellt wurde. Auf dieser Grundlage erklärt er den Stalinismus direkt als »Restauration nach der Revolution (mit einer grausamen Bestrafung der Revolutionäre)«.[[3]] Die Leser des vorliegenden Buches werden sich davon überzeugen können, dass derartige Überlegungen – allerdings qualifizierter – bereits in den dreißiger Jahren vom rechten Flügel der russischen Emigration geäußert wurden.

Die ideologische »Renaissance des Stalinismus« war deshalb möglich, weil innerhalb des letzten Jahrzehnts die »Aufarbeitung« unserer historischen Vergangenheit nicht in Form ernsthafter historischer Untersuchungen erfolgte, sondern als oberflächliche publizistische Schimpfreden und Eskapaden, in deren Verlauf die wirklichen historischen Fakten rücksichtslos vergessen oder verzerrt wurden.

Ein historischer Vergleich der »demokratischen« mit der »nationalpatriotischen« Auffassung bestätigt, dass Goethe mit seinem bekannten Gedanken recht hatte: »Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liege die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen …«[[4]]

Die Schwierigkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung der großen Säuberung liegt vor allem darin, dass diese Säuberung weder in ihrem Wesen noch in ihrem Ausmaß Beispiele und Analogien in der politischen Menschheitsgeschichte kennt. Das ist der Unterschied beispielsweise zum Bürgerkrieg 1918–1920, bei dem man viele Gemeinsamkeiten zu anderen großen Bürgerkriegen finden kann.

Zu Beginn der dreißiger Jahre wollte Trotzki ein Buch mit dem Titel »1918« schreiben, in dem er den Bürgerkrieg in Sowjetrussland mit dem Krieg der Südstaaten gegen die Nordstaaten Amerikas zu vergleichen beabsichtigte. In einem Interview für die Presseagentur »Associated Press America« sagte er, die amerikanischen Leser würden erstaunt sein über die Analogien zwischen diesen Kriegen, ebenso wie er selbst erstaunt war, als er den Bürgerkrieg in den USA untersuchte.[[5]]

Mehrere Generationen sowjetischer Menschen waren zu Recht stolz auf den Sieg des revolutionären Volkes über die vereinten Kräfte der weißen Armeen und der ausländischen Interventen, ähnlich wie die Amerikaner auch heute noch stolz sind auf den Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Für eine tragische Zeit in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft hielten sie die Jahre der Zwangskollektivierung und der großen Säuberung – im Prinzip zweier Bürgerkriege, in denen die Zahl der Opfer weitaus größer war als im Bürgerkrieg 1918–1920.

Während die Zwangskollektivierung von bewaffneten Gegenaktionen der Bauern begleitet war, schien die große Säuberung auf den ersten Blick ein Anfall sinnloser irrationaler Gewalt zu sein. Selbst viele ernsthafte Forscher reduzieren ihre politische Funktion ausschließlich darauf, dass sie das Volk einschüchtern und dadurch jeden Widerstand gegen das herrschende Systemverhindern sollte. Eine solche Konzeption, die zahlreiche weiße Flecken in der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft belässt, reduziert das komplizierte und widersprüchliche Bild der historischen Ereignisse auf ein vereinfachtes Schema: der allmächtige Stalin, die sich ihm völlig unterordnende Partei und das sklavisch stumme Volk.

Die Beseitigung der weißen Flecken und die Einführung einer neuen Komponente – des Widerstandes wahrer kommunistischer Kräfte gegen das Stalinsche Regime – in die historische Analyse führt zu der Schlussfolgerung, dass der Stalinismus diesen zunehmenden Widerstand nurb niederhalten konnte, indem er staatlichen Terror anwandte, wie er in Formen und Ausmaß bis zu diesem Zeitpunkt nicht anzutreffen war.

Von diesen Positionen aus wurde in meinem vorhergehenden Buch »1937« beleuchtet, wie es zu der großen Säuberung kam und wie die ersten Etappen verliefen. Das Buch »Die Partei der Hingerichteten«, das eine eigenständige historische Untersuchung darstellt, ist die Fortsetzung dieser Arbeit. Hier werden die Ereignisse von Juni 1937 bis Ende 1938 analysiert und politische Subjekte sowie soziale Objekte der großen Säuberung betrachtet. Außerdem wird untersucht, wie die Säuberung von verschiedenen sozialen Gruppen in der UdSSR und politischen Kräften im Ausland wahrgenommen wurde.

Ebenso wie in meinen vorangegangenen Arbeiten zur Geschichte des innerparteilichen Kampfes in der KPdSU (B) und in der internationalen kommunistischen Bewegung wird das Hauptaugenmerk auf den Gegensatz und den Kampf von Stalinismus und Trotzkismus gelegt. Die Logik dieses Kampfes, in dem sich die ideelle Kraft jeder dieser politischen Strömungen umgekehrt proportional zur jeweiligen materiellen Stärke verhielt, führte nicht nur zur physischen Vernichtung der Anhänger der linken Opposition, sondern auch zur Beseitigung mindestens zweier Generationen von Bolschewiki, welche die Oktoberrevolution vorbereitet und verteidigt hatten. Das Besondere dieses Vernichtungsfeldzugs gegen den Bolschewismus bestand darin, dass er von der Stalinclique unter dem Deckmantel der bolschewistischen Phraseologie und Symbolik geführt wurde. Zahllose gerichtliche und außergerichtliche Fälschungen wurden auf sozialistischen Prinzipien aufgebaut, die damals im Massenbewusstsein vorherrschend waren. Mit anderen Worten: Für die brutale Unterdrückung der großen revolutionären Bewegung von innen heraus verwendete man politische Losungen, die von der Bewegung selbst entlehnt wurden.

Der Titel des vorliegenden Buches – »Die Partei der Hingerichteten« – wird in Analogie zu dem Ausdruck verwendet, mit dem man die Kommunistische Partei Frankreichs bezeichnete, die zur Hauptkraft des antifaschistischen Widerstands und zum Hauptobjekt des Hitlerterrors in diesem Land geworden war. Mit noch größerer Berechtigung lässt sich dieser Ausdruck auf die bolschewistische Partei anwenden, deren Mitglieder mindestens die Hälfte aller Opfer der großen Säuberung bildeten. In den Jahren 1936–1938 wurde die Leninsche Partei endgültig durch die Stalinsche ersetzt und der Bolschewismus als politische und ideologische Massenkraft beseitigt.

* * *

Die Grundideen dieses Buches wurden in Vorlesungen dargelegt, die der Autor 1995–1996 an Universitäten in den USA, England, Australien, Argentinien und Deutschland hielt. Die fruchtbringenden Diskussionen, die sich dabei ergaben, gestatteten die Präzisierung der Konzeption und einiger Thesen der Untersuchung. Der Autor dankt den Mitarbeitern der Universitäten sowie den Repräsentanten linker politischer Parteien und Bewegungen, die sich an der Organisierung und Durchführung dieser Vorlesungen beteiligt haben.

Kapitel 2 und 3 wurden gemeinsam mit M.W. Golowisnin verfasst.

[*] Im Unterschied zur »Samisdat«, der in illegalen Eigenverlagen im Inland erscheinenden Literatur, bezeichnet die »Tamisdat« die im Ausland herausgegebene. – D.Ü.

Anmerkungen im Originaltext

1 A. Tvardovskij: Poemy, Moskva 1988, S. 327–330.

2 Pravda, 17.5.1995.

3 Pravda, 24.5.1995.

4 J.W.v. Goethe, Werke Band XII, Hamburg 1963, S. 422.

5 Bjulleten’ oppozicii, 23/1932, S. 9.

1. KAPITEL:
»Massenoperationen«

Einer der wichtigsten Meilensteine bei der großen Säuberung war das ZK-Plenum im Juni 1937, das jeglichen Widerstand im Zentralkomitee der Partei gegen den Stalinschen Terror erstickte. Dieses Plenum, das den Organen des NKWD außerordentliche Vollmachten erteilte, eröffnete die Serie der sogenannten »Massenoperationen«.

Am 2. Juli verabschiedete das Politbüro die Verordnung »Über die antisowjetischen Elemente«. Wie auf dem ZK-Plenum im Juni 1957 mitgeteilt wurde, fand sich im Archiv ein handschriftlicher Entwurf dieses Beschlusses von Kaganowitsch. Auf die Beschuldigung, dass er der Autor dieses Dokumentes sei, entgegnete Kaganowitsch, es sei ihm, wie das auf den Politbüro-Sitzungen oft vorkam, von Stalin diktiert worden.[[1]]

In der Verordnung hieß es: »Es wurde bemerkt, dass ein Großteil der ehemaligen Kulaken und Kriminellen, die seinerzeit aus verschiedenen Gebieten in nördliche und sibirische Gegenden ausgesiedelt wurden und nach Ablauf der Aussiedlungsdauer in ihre Gebiete zurückkehrten, Hauptanstifter jeglicher Art von antisowjetischen Verbrechen und von Diversion sowohl in den Kolchosen und Sowchosen als auch im Verkehrswesen und in einigen Industriezweigen sind.« Auf dieser Grundlage wurden die Parteiorgane beauftragt, »alle in ihre Heimat zurückgekehrten Kulaken und Kriminellen unter Sonderaufsicht zu stellen, um die feindlichsten von ihnen unverzüglich zu verhaften und in einem von einer Dreierkommission geführten administrativen Verfahren zu erschießen. Alle anderen feindlichen Elemente sollen registriert und auf Weisung des NKWD in bestimmte Gebiete ausgesiedelt werden.«[[2]]

Am 9. Juli bestätigte das Politbüro die Zusammensetzung der Gebiets- und Republiken-Dreierkommissionen sowie die Anzahl der ehemaligen Kulaken und Kriminellen, die in einem außergerichtlichen Verfahren mit Erschießen oder Aussiedlung bestraft werden sollten.

Am 10. Juli schickte Chrustschow an Stalin eine Meldung: »Ich teile mit, dass insgesamt 41.305 Kriminelle und Kulakenelemente, die ihre Strafe verbüßt haben und in der Stadt sowie im Gebiet Moskau ansässig geworden sind, unter Spezialaufsicht gestellt wurden. Davon sind 33.436 Kriminelle. Aufgrund des vorliegenden Materials werden 6.500 Personen der 1. Kategorie und 26.936 der 2. Kategorie von Kriminellen zugerechnet … Es wurden 7.869 Kulaken, die ihre Strafe verbüßt haben und in der Stadt sowie im Gebiet Moskau ansässig geworden sind, unter Spezialaufsicht gestellt. Aufgrund des vorliegenden Materials werden aus dieser Gruppe 2.000 Personen der 1. Kategorie und 5.869 der 2. Kategorie zugerechnet.«[[3]]

Am 31. Juli bestätigte das Politbüro einen NKWD-Befehl zum Beginn der Operation »zur Repressierung ehemaliger Kulaken, aktiver antisowjetischer Elemente und Krimineller«. In diesem Befehl wurden die Personengruppen, die außergerichtlich repressiert werden sollten, erweitert und umfassten nunmehr:

Kulaken, die nach ihrer Strafverbüßung zurückgekehrt sind, aus den Lagern oder Arbeitssiedlungen geflohen sind oder sich vor der Entkulakisierung versteckt haben und weiterhin aktive antisowjetische Tätigkeit betreiben;

Mitglieder antisowjetischer Parteien (Sozialrevolutionäre, Georgier, Mussavatisten, Daschnaken, ehemalige Weiße, Gendarmen, Schergen, Reemigranten, die aus den Repressionsorten verschwunden sind);

die aktivsten antisowjetischen Elemente, die jetzt in Gefängnissen, Lagern, Arbeitssiedlungen und -kolonien untergebracht sind;

Kriminelle, die eine verbrecherische Tätigkeit ausführen und mit

einem kriminellen Milieu in Verbindung stehen.

Der Befehl enthielt eine Aufschlüsselung bzw. ein Limit für die Repressalien, bezogen auf die einzelnen Republiken, Regionen und Gebiete. Insgesamt war vorgesehen, 258.950 Personen zu verhaften, davon sollten 72.950 als »zur ersten Kategorie zugehörig« verurteilt werden. 10.000 sollten in den Lagern erschossen werden. Diese Operation sollte innerhalb von vier Monaten abgeschlossen

sein, und die Ermittlungen in den Fällen der Repressierten sollten »in einem beschleunigten und vereinfachten Verfahren« erfolgen. Dabei erstreckten sich die Repressalien auch auf die Familien der Repressierten. »Einzuweisen in Lager oder Arbeitssiedlungen« waren diejenigen Familien, »deren Mitglieder zu aktivem antisowjetischen Handeln imstande« waren. Die Familien von Personen, die entsprechend der 1. Kategorie repressiert wurden, mit Wohnsitz in Großstädten, Grenzgebieten oder Kurorten des Kaukasus waren »in andere Gebiete, nach ihrer Wahl«[[4]] auszusiedeln.

Da die Formulierungen in diesem Befehl äußerst verschwommen waren, öffneten sie der ungezügelten Willkür Tür und Tor. Wie die »Massenoperation« im Gebiet Moskau verlief, berichtete bei den Ermittlungen der Vorsitzende der Gebiets-Sondertrojka, Semjonow: »An einem Abend behandelten wir mitunter bis zu 500 Fälle und verhandelten in Minutenabständen gegen Personen, die wir zum Tod durch Erschießen und zu unterschiedlichen Strafmaßen verurteilten … Wir schafften es nicht einmal, die Vorladungen durchzulesen, geschweige denn alle Unterlagen in der Akte einzusehen.« Ein Kollege Semjonows sagte aus: »Ich habe mehrfach Gespräche Semjonows mit Jakubowitsch nach einer Trojka-Sitzung gehört, als Semjonow zu Jakubowitsch sagte: ›Wieviel hast du denn heute abgeurteilt?‹ Worauf Jakubowitsch antwortete: ›Um die 500.‹ Darauf entgegnete Semjonow Jakubowitsch lachend: ›Wenig … Ich – 600!‹«

Anfang 1938 überprüfte die »Trojka« des Gebiets Moskau die Fälle von 173 im Gefängnis einsitzenden Invaliden, von denen sie dann 170 zum Tod durch Erschießen verurteilte. Semjonow sagte aus: »Diese Personen haben wir nur deshalb erschossen, weil sie Invaliden waren, die in die Lager nicht aufgenommen würden.«[[5]]

Ähnlich sah es auch in anderen Gebieten aus. Der ehemalige stellvertretende Chef der NKWD-Verwaltung für Miliz im Gebiet Iwanowo, Schrejder, erinnerte sich, dass dort für die Arbeit der Trojka folgender Ablauf galt. Es wurde ein sogenanntes »Album« eingerichtet, bei dem auf jeder Seite der jeweilige Vor-, Vaters- und Familienname des Verhafteten sowie das von ihm begangene »Verbrechen« standen. Danach setzte der Chef der NKWD-Verwaltung ein großes »R«[*] auf das Blatt und unterschrieb. Die übrigen Mitglieder der Trojka unterschrieben im allgemeinen die Seiten des »Albums« auch gleich – im voraus.

Im Ergebnis dieser Verfahrensweise erschoss man von Juli 1937 bis Januar 1938 im Gebiet Iwanowo alle früheren Sozialrevolutionäre, alle Kommunisten, die – und sei es auch noch so entfernt – mit den Trotzkisten in Beziehung standen, viele ehemalige Anarchisten und Menschewiki sowie fast alle früheren Angestellten der Chinesisch-Orientalischen Eisenbahnverwaltung.[[6]]

Neben diesen Kategorien erhielten die Sondertrojkas zur Verhandlung auch Fälle von Kriminellen, die mehrfach wegen Mordes, Banditenunwesen, Eigentumsdelikten, Flucht aus Haftanstalten u. ä. vorbestraft waren. Stalin hoffte, im Fieber des großen Terrors mit einem Schlag auch die kriminellen Rückfalltäter loszuwerden.

Die Sekretäre der Gebietskomitees und die Chefs der NKWD-Verwaltungen, die auf den Geschmack gekommen waren, richteten mehrfach die Bitte an Moskau, man möge ihnen ihr Limit erhöhen. Diese Fragen wurden im Politbüro erörtert oder von Stalin allein entschieden, der dann die entsprechende Weisung an Jeshow weiterleitete. Infolgedessen wurde die »Massenoperation« praktisch bis Ende 1938 verlängert. In der zweiten Hälfte des Jahres 1937 sanktionierte das Politbüro die Aufstockung der festgesetzten Limits um fast 40.000 Personen. Am 31. Januar 1938 bestätigte das Politbüro eine »zusätzliche Anzahl zu repressierender früherer Kulaken, Krimineller und aktiver antisowjetischer Elemente« – 57.200 Personen. In den darauffolgenden acht Monaten wurden durch Politbürobeschlüsse für die einzelnen Republiken und Gebiete auch diese Limits um weitere 90.000 Personen erhöht. Damit fielen der fast ein ganzes Jahr dauernden »Massenoperation« mehr als 400.000 Menschen zum Opfer.[[7]]

Die zweite »Massenoperation« war die wahllose Bekämpfung einer Reihe von Nationalitäten, vor allem solcher, die über eigene Territorien verfügten, welche zum Russischen Reich gehört hatten und nach der Oktoberrevolution zu unabhängigen Staaten geworden waren (Polen, Finnen, Letten, Litauer, Esten). Zur »Begründung« dieser Repressalien diente eine geheime Richtlinie, wonach Personen dieser Nationalitäten (ebenso wie Vertretern anderer Nationen, die ihr Staatsgebilde außerhalb der UdSSR hatten), auch wenn sie verdienstvolle Revolutionäre waren, unterstellt wurde, Spionage für »ihren« Staat betreiben zu wollen.

Die ethnischen Säuberungen erfolgten auf der Grundlage von NKWD-Befehlen, die durch Verordnungen des Politbüros bestätigt wurden. So verabschiedete das Politbüro am 31. Januar 1938 die folgende Verordnung: »Dem Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten wird die Erlaubnis erteilt, die Operation zur Zerschlagung der Gruppen von Spionen und Diversanten, bestehend aus Polen, Letten, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Iranern, Harbin-Leuten,[**] Chinesen und Rumänen, die sowohl ausländische als auch sowjetische Staatsbürger sein können, nach Maßgabe der entsprechenden Befehle des NKWD der UdSSR bis zum 15.04.1938 zu verlängern. Bis zum 15. April 1938 ist die bestehende außergerichtliche Verfahrensweise bei diesen Operationen zu belassen … Das NKWD wird aufgefordert, bis zum 15. April eine analoge Operation durchzuführen und bulgarische sowie mazedonische Kader zu zerschlagen (so steht es im Text – W. R.) …«[[8]]

Diese »Massenoperationen«, aus denen de facto ein ethnischer Völkermord geworden war, zeichneten sich durch besondere Willkür aus. So wurden in Rostow Letten und Polen nach Listen verhaftet, die aufgrund von Informationen aus der Adress-Auskunftsstelle zusammengestellt worden waren. Im Februar 1938 wurden hier 300 Iraner verhaftet – sämtliche Mitglieder der Schuhputzer-Genossenschaft.[[9]]

In den Aussagen des Vorsitzenden der NKWD-Sondertrojka für das Gebiet Moskau, Semjonow, hieß es: »Während der Massenoperationen 1937–1938 zur Festsetzung von Polen, Letten, Deutschen u. a. Nationalitäten wurden die Verhaftungen vorgenommen, ohne dass belastendes Material vorlag … Man verhaftete und erschoss ganze Familien, es waren Frauen dabei, die nicht lesen und schreiben konnten, Minderjährige, sogar Schwangere, und alle wurden als Spione erschossen, ohne jegliche Beweismittel, allein deshalb, weil sie einer bestimmten Nationalität angehörten.«[[10]]

Besonders wütete man unter den Kommunisten dieser Nationalitäten. Nach den Worten eines der engsten Spießgesellen Jeshows, Radsiwilowskis, erging an die örtlichen NKWD-Organe folgende Weisung Jeshows: »Machen Sie mit diesen Leuten kein großes Federlesen, sie werden nach dem ›Album-Verfahren‹ abgefertigt. Es muss bewiesen werden, dass die Letten, Polen, Deutschen u.a., die der KPdSU (B) angehören, Spione und Diversanten sind.«[[11]]

Die zahlreichste Kategorie unter den repressierten »National-Vertretern« waren Polen und Letten. Ihre Bekämpfung erfolgte parallel zur Beseitigung der sozialen und kulturellen Rechte dieser Nationalitäten. Beispielsweise hatte es Anfang der dreißiger Jahre in der Ukraine und in Belorussland 670 polnische Schulen, zwei polnische Hochschulen und drei Theater gegeben, in polnischer Sprache waren eine zentrale, sechs Republik- und 16 Rayonzeitungen erschienen. Sie alle wurden 1937/38 geschlossen. In Moskau schloss man das Theater, den Klub und die Schule der Letten.[[12]]

Bereits 1936 wurden 35.820 Polen repressiert. Chrustschow erinnerte sich: »Als 1936, 1937 und 1938 eine richtige ›Hexenjagd‹ in Gang gekommen war, hatte es ein Pole schwer, seine Stellung zu behalten, und von einer Beförderung in eine leitende Stellung konnte überhaupt keine Rede mehr sein. Allen Polen wurde in der UdSSR mit Misstrauen begegnet.«[[13]]

Eine große Zahl von Letten befand sich deshalb in der UdSSR, weil sich nach dem Bürgerkrieg in Lettland ein halbfaschistisches Regime herausgebildet hatte, das einen erbarmungslosen Kampf gegen Revolutionäre führte. Dadurch kam es zu einem bedeutenden Zustrom politischer Emigranten aus Lettland in die Sowjetunion. In der UdSSR waren auch alle Kämpfer der Lettischen Schützendivision geblieben, die eine große Rolle bei der Verteidigung der Sowjetmacht gespielt hatte.

Im Dezember 1937 wurde ein NKWD-Befehl über großangelegte Verhaftungen unter den Letten erlassen. Die meisten Verhafteten wurden Opfer von Gruppenerschießungen. Allein vom 5. Januar bis zum 20. Juli 1938 wurden 15 Erschießungen durchgeführt, bei denen 3.680 Letten den Tod fanden.[[14]]

In der »Jurasow-Kartei«[[15]] sind mehr als tausend repressierte Letten erfasst, von denen die meisten 1937–1938 erschossen wurden. Darunter gibt es nicht wenige einfache Arbeiter, Kolchosbauern, Ingenieure und Lehrer. Hauptsächlich vertreten waren jedoch die qualifizierten Schichten der Intelligenz – Professoren, Journalisten, Literaten, Wirtschaftsleiter, Diplomaten, Offiziere, Tschekisten. Mehr als die Hälfte aller in der Kartei Erfassten waren Mitglieder der KPdSU (B), mehr als ein Drittel Bolschewiki, die schon in der Illegalität gearbeitet hatten, Teilnehmer der Revolution von 1905–1907, Mitglieder der Gesellschaften von Katorga-Verurteilten und Verbannten, Delegierte von Parteitagen der KPdSU (B). Fast alle wurden erschossen, angeklagt der Spionage für das bürgerliche Lettland.

Letten, Litauer und Esten, die keinen hohen Sozialstatus besaßen, wurden aus Moskau, Leningrad und anderen Großstädten in Orte mit Sondersiedlungen ausgesiedelt.

Mehrere tausend Finnen wurden allein im Gebiet Leningrad repressiert, wo zugleich auch alle dortigen finnischen Schulen, Fachschulen, Kulturhäuser, Kirchen, Zeitungen, Verlage sowie die finnische Abteilung am Herzen-Institut geschlossen wurden.[[16]]

1937–1938 wurden die ersten Massendeportationen ganzer Nationen durchgeführt. Die größte war die Aussiedlung der Koreaner aus dem Fernen Osten.

Am 10. Juni 1924 hatte der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, Rykow, die »Satzung des Bundes der auf dem Hoheitsgebiet der UdSSR lebenden Koreaner« unterzeichnet, wonach die koreanische Gemeinde umfassende juristische Rechte und Möglichkeiten bei der Entwicklung ihre Nationalkultur erhalten sollte.[[17]] In der Fernöstlichen Region war ein Nationalrayon der Koreaner mit 55 koreanischen Dorfsowjets gebildet worden.[[18]]

Im April 1937 erschien in der »Prawda« ein Artikel, in dem es hieß, dass der japanische Geheimdienst in das Gebiet des Fernen Ostens seine zahlreichen koreanischen und chinesischen Agenten geschickt habe, die sich »als gebürtige Einwohner dieses Gebietes ausgeben«[[19]]9

Am 21. August 1937 wurde die Geheimverordnung des Rates der Volkskommissare und des ZK »Über die Aussiedlung der koreanischen Bevölkerung aus den Grenzgebieten des Fernen Ostens« verabschiedet. Sie beauftragte das NKWD, bis zum 1. Januar 1938 die Koreaner aus der Fernöstlichen Region nach Kasachstan und Usbekistan umzusiedeln. Aus den Ausgesiedelten wurden »Spezialansiedler«, denen es untersagt war, in ihre Heimatorte zurückzukehren.[[20]] Dieser Beschluss basierte darauf, dass die Koreaner der Massenspionage beschuldigt wurden sowie auf ihrer angeblichen Bereitschaft, auf der Seite Japans zu kämpfen, falls dieses die UdSSR überfiele.

Am 11. September richtete Stalin an das Parteikomitee der Fernöstlichen Region ein Telegramm: »Aus allem erkennt man, dass die Zeit herangereift ist, die Koreaner auszusiedeln … Wir fordern Sie auf, sofort strenge und eilige Maßnahmen zu ergreifen, um den Terminplan präzise auszuführen.«[[21]]

Im Verlaufe der Deportation, die im Oktober 1937 abgeschlossen war, wurden aus der Fernöstlichen Region etwa 172.000 Koreaner ausgesiedelt. 25.000 Koreaner und 11.000 Chinesen wurden verhaftet.[[22]]

Auch aus den Kaukasus-Republiken wurden einige nationale Minderheiten deportiert, vor allem die dort lebenden Kurden. Bis 1937 gab es in Armenien ein kurdisches Nationaltheater, in Armenien und Georgien gab es kurdische Schulen, es wurden nationale Zeitungen herausgegeben. Alle diese Einrichtungen mussten 1937/38 schließen, als ein Großteil der Kurden in die mittelasiatischen Republiken und nach Kasachsten umgesiedelt wurde. Aus Aserbaidschan wurden die Iraner nach Kasachstan zwangsumgesiedelt.[[23]]

Die »Massenoperationen« liefen unter strenger Geheimhaltung ab, denn die Repressalien gegen Menschen, die schon einmal bestraft worden waren, konnten ebenso wie der ethnische Völkermord auch durch die raffinierteste Sophistik nicht gerechtfertigt werden.

Die in den Jahren der großen Säuberung repressierten Parteilosen bildeten etwa die Hälfte der Opfer bei den »Massenoperationen«. Für die Kommunisten gab es spezielle »Limits« (s. Kapitel 25), doch den Maßnahmen gegen sie gingen in der Regel Parteistrafen und längere Ermittlungen voraus. Diese Maßnahmen erreichten ein solches Ausmaß, dass Stalin im Januar 1938 ein Tarnmanöver unternahm, das den Eindruck erwecken sollte, das Zentralkomitee sei über die massenhaften Parteiausschlüsse beunruhigt und wolle sie stoppen.

[*] Abgekürzt: »Rasstrel« – Erschießen. – D.Ü.

[**] Mit Harbin-Leuten waren Personen gemeint, die freiwillig in die UdSSR zurückgekehrt waren, nachdem die sowjetische Regierung die Chinesisch-Orientalische Eisenbahn an Japan verkauft hatte.

Anmerkungen im Originaltext

1 Istorièeskij archiv, 2/1994, S. 49–50.

2 Trud, 4.6.1992.

3 Istorièeskij archiv, 4/1993, S. 81.

4 Trud, 4.6.1992; Reabilitacija. Politièeskie processy 30–50-x godov, Moskva 1991, S. 13.

5 Soprotivlenie v GULAGe. Vospominanija. Pis’ma. Dokumenty, Moskva 1992, S. 115, 120, 127.

6 M.B. Šrejder: NKVD iznutri. Zapiskièekista, Moskva 1995, S. 71.

7 O.V. Chlevnjuk: Politbjuro. Mechanizmy politièeskoj vlasti v 30-e gody, Moskva 1996, S. 189–191.

8 Moskovskie novosti, 21.06.1992, S. 19.

9 S.A. Kislizyn: Skazavšie »Net« (Epizody iz istorii politièeskoj bor’by v sovetskom obšèestve v konce 20-x – pervoj polovine 30-x gg.), Rostov-na-Donu 1992, S. 62.

10 Soprotivlenie v GULAGe, S. 118.

11 Ebenda, S. 119.

12 Tak eto bylo.T. I, Moskva 1993, S. 86.

13 Voprosy istorii, 4/1994, S. 65.

14 Daugava, 12/1989, S. 118–119.

15 Daugava, 4–12/1989.

16 Tak eto bylo. T. III, S. 283.

17 Belaja kniga o deportacii korejskogo naselenija v 30–40-e gody. Kn. I, Moskva 1992, S. 32–36.

18 Voprosy istorii, 5/1994, S. 141.

19 Pravda, 23.4.1937.

20 Belaja kniga o deportacii korejskogo naselenija v 30–40-e gody. Kn. I, S. 64.

21 Izvestija, 10.6.1992.

22 Voprosy istorii, 5/1994, S. 144; Tak eto bylo. T. III, S. 277.

23 Tak eto bylo. T. I, S. 87, 96–97.