Chefarzt Dr. Norden – 1115 – Schuldgefühle

Chefarzt Dr. Norden
– 1115–

Schuldgefühle

Fee Norden macht sich schwere Vorwürfe

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-976-3

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»Sag mal, war das vorhin eine Erdbeerroulade, die du da hereingebracht hast?« Felicitas Nordens erwartungsvoller Blick ruhte auf ihrer Schwiegertochter in spe.

»Erdbeerroulade mit Sahne und frischen Bio-Erdbeeren, handgepflückt aus unserem Schrebergarten«, erwiderte Tatjana stolz. Sie stand vor dem Tisch in ihrem Café ›Schöne Aussichten‹ und wartete auf die Bestellung. Wie immer um diese Jahreszeit standen frische Blumen auf den zusammengewürfelten Tischen. Sie spiegelten sich in der Decke aus gehämmertem Silber, in deren Mitte ein halbblinder Kronleuchter prangte. So ungewöhnlich er war, so nahtlos fügte er sich in die fantasievolle Einrichtung ein. Bunt bezogene Sofas und Tische und Stühle in allen erdenklichen Farben und Formen rundeten den Stilmix ab. Bei jedem anderen hätte die Einrichtung chaotisch gewirkt. Doch Tatjana hatte ein Händchen für das richtige Maß. Das gesamte Interieur bildete eine gemütliche Einheit, die in der ganzen Stadt nach ihresgleichen suchte.

Das stellten auch Laurenz und Melanie fest, ein befreundetes Ehepaar der Nordens, die das sagenumwobene Café ›Schöne Aussichten‹ zum ersten Mal besuchten.

»Lass mich raten: Du hast die Erdbeeren gepflückt, während sich Danny im Liegestuhl von seinem anstrengenden Alltag erholt hat«, scherzte Daniel Norden gut gelaunt. An diesem Tag hatte er frei und freute sich seines Lebens. Nur seine ehemalige Haushälterin Lenni würde gegen Abend in die Klinik zu einer Routineuntersuchung kommen. Doch bis dahin war noch viel Zeit.

»Weit gefehlt. Ich lag im Liegestuhl …«

Fee sah Tatjana verwundert an.

»Danny war noch nie ein begeisterter Gärtner. Wie hast du das denn hingekriegt?«

»Ganz einfach. Ich habe ihm gedroht, dass ich ihn auf dem Stuhl festbinde und vor seinen Augen eine ganze Erdbeerroulade allein esse. Das hat gewirkt.«

Triumph im Blick wandte sich Fee an ihren Mann.

»Meine Rede! Erpressung ist das halbe Leben. Besonders in der Kindererziehung.«

Ihre drei Begleiter lachten.

»Das werde ich mir für später merken.« Zärtlich strich Melanie über die Rundung ihres Bauches. Sie war im sechsten Monat schwanger. »Du bist schließlich Expertin in Sachen Kindererziehung.«

»Da bin ich mir gar nicht so sicher. Jedes Kind ist schließlich anders. Was bei dem einen wirkt, hilft bei dem anderen noch lange nicht.« Einen Moment lang dachte Fee an die glückliche, wenn auch anstrengende Zeit zurück, als ihre fünf Kinder noch klein gewesen waren. Manchmal fragte sie sich, wie sie das alles geschafft hatte.

Tatjana stand noch immer am Tisch. Allmählich wurde sie ungeduldig. Das Café war gut besucht, und ihre Arbeitskraft wurde gebraucht.

»Ich will ja nicht stören. Aber wenn ihr heute noch etwas essen wollt, solltet ihr bestellen.«

»Also, ich nehme einen klassischen Flammkuchen.« Laurenz klappte die Karte zu. »Der lacht mich so richtig an.« Er sah seine Frau fragend an. »Und du?«

»Ich nehme nur eine Rhabarberschorle. Schließlich bin ich schon dick genug.«

Laurenz bestellte Flammkuchen und Schorle, als Melanies Überzeugung schwankte.

»Obwohl … Flammkuchen klingt schon verlockend.«

»Geht das schon wieder los!«, offenbar hatte Laurenz bereits Bekanntschaft gemacht mit dieser Unentschlossenheit.

»Melanie kann nichts dafür. Das sind die Hormone.« Fee zwinkerte ihrer Freundin zu. »Progesteron und Östrogen werden für die Launen verantwortlich gemacht. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass eine Schwangerschaft eine Zeit tiefgreifender Veränderungen ist. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.«

»Da hörst du es!« Melanie lächelte ihren Mann an. »Ich kann gar nichts dafür, dass ich mich nicht entscheiden kann.«

»Das musst du jetzt aber. Schließlich hat Tatjana noch etwas anderes zu tun«, erinnerte Laurenz seine Frau.

»Ich kann ja schon einmal die Erdbeerrouladen und den Kaffee bringen. Bis ich zurück bin, haben Sie sich sicher entschieden.«

In Gedanken versunken kehrte Tatjana an die Theke zurück. Niemand ahnte, dass sie fürchtete, selbst schwanger zu sein. Einen Arzttermin hatte sie erst in der kommenden Woche bekommen. Bis dahin sollte niemand davon erfahren. Sie musste selbst erst mit sich ins Reine kommen.

Inzwischen setzten Laurenz und Melanie ihre Diskussion fort.

»Hast du denn Hunger?«

»Keine Ahnung.« Ratlos zuckte sie mit den Schultern. »Irgendwie schon.«

»Dann bestelle ich dir auch einen Flammkuchen.«

»Und wenn ich doch nicht hungrig bin?«

»Dann lasst ihr ihn einpacken und nehmt ihn mit nach Hause.« Dieser pragmatische Vorschlag kam von Daniel Norden.

Hilflos sah Melanie von einem zum anderen. Plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen.

»Und wenn ich morgen keine Lust auf Flammkuchen habe?«

»Dann bestelle ich dir eben Kuchen.«

Melanie riss die Hände hoch.

»Auf gar keinen Fall! Willst du, dass mir schlecht wird?«

Während die Freunde nicht dabei gewesen, hätte Laurenz längst die Beherrschung verloren. So aber riss er sich zusammen.

»Dann also doch einen Flammkuchen.«

Melanie schüttelte den Kopf.

»Nein. Gar nichts. Mir ist der Appetit vergangen.« Entschieden schob sie die Karte von sich. »Aber du könntest vorsichtshalber deinen Flammkuchen mit Gemüse bestellen, falls ich später doch hungrig bin.«

Daniel und Fee brachen in Lachen aus. In diesem Moment kehrte Tatjana an den Tisch zurück, servierte Getränke und Kuchen und nahm Laurenz’ Bestellung auf. Zu ihrer Erleichterung drehte sich das Gespräch jetzt um die Zubereitung des perfekten Flammkuchens und nicht mehr um Schwangerschaften, sodass sie kein künstliches Lächeln aufsetzen musste.

*

Auch Dr. Matthias Weigand, Notarzt in der Behnisch-Klinik, hatte an diesem Tag frei. Gemeinsam mit seiner neuen Freundin Dr. Sandra Neubeck schlenderte er durch den Englischen Garten. Die beiden waren noch nicht lange ein Paar. Sandras aufbrausende Art hatte den Start nicht ganz einfach gemacht.

Nach einer Reihe von Enttäuschungen hoffte Matthias, in ihr endlich die Partnerin gefunden zu haben, nach der er sich schon so lange sehnte. Sandra arbeitete als Assistenzärztin an der Behnisch-Klinik und wusste um den stressigen Alltag, von den kaum vorhandenen freien Wochenenden und der ständigen Abrufbereitschaft, die einem Klinikarzt drohend im Nacken saß. Im Augenblick standen die Zeichen aber günstig, dass er zwei ganze Tage mit seiner neuen Liebe verbringen konnte. Zeit, die ihm wichtig war, um Sandra endlich besser kennenzulernen.

»Du hast mir noch gar nicht erzählt, warum es dich von Freiburg ausgerechnet nach München verschlagen hat.« Hand in Hand spazierten sie am Eisbach entlang.

Der Frühling hatte mit aller Macht Einzug gehalten. Überall grünte und blühte es, und die Menschen zog es nach draußen an die frische Luft. Schon jetzt waren die Tische im Biergarten am Chinesischen Turm gut besetzt. Auf den Wiesen spielten Kinder und Hunde, hier und da hatten sich ein paar besonders tapfere Picknicker auf Decken niedergelassen. Zwischen zwei Bäumen hatten junge Leute ein elastisches Band gespannt und trainierten mit begeisterter Unterstützung der Zuschauer ihre Balance. Sandras Blick hing an den modernen Seiltänzern.

»Es gibt vieles, was ich dir noch nicht erzählt habe«, antwortete sie geheimnisvoll und dachte offenbar gar nicht daran, das Rätsel zu lösen. »Schau mal, der kann das richtig gut!« Sie deutete auf einen jungen Mann, der kühne Sprünge auf dem schmalen Band wagte und jedes Mal sicher landete.

»Das ist doch gar nicht schwer. Die Leine ist ja mindestens fünf Zentimeter breit«, behauptete Matthias in einem Anflug von Selbstüberschätzung. Er wollte Sandra um jeden Preis imponieren und trat auf die Gruppe junger Leute zu. Nach ein paar Sätzen machten sie Platz. Siegessicher winkte Matthias seiner Begleiterin zu und bestieg das federnde Band. Begleitet von Anfeuerungsrufen der Umstehenden auf der einen und Sandras spöttischen Blicken auf der anderen Seite breitete er die Arme aus. Vorsichtig schob er einen Fuß vor den anderen, als er auch schon gefährlich ins Schwanken geriet und hinunterfiel. Zur Belustigung seiner Zuschauer landete er wie ein Käfer auf dem Rücken. Ein Mann erbarmte sich seiner und hielt ihm die Hand hin.

Als Matthias wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, sah er seinem Retter ins Gesicht.

»Reinhart, was machst du denn hier!« Lachend klopfte er dem Kollegen auf die Schulter.

Sandra beobachtete die beiden mit Argusaugen. Sie war noch relativ neu an der Klinik und kannte noch nicht viele der Kollegen.

»Ich habe mir heute extra frei genommen, um unseren Notarzt vor einem schlimmen Schicksal zu bewahren.«

»Du bist zu gut zu mir.« Matthias sah sich um. »Bist du allein unterwegs?«

»Wo denkst du hin? Klaiber, Gröding und die geschätzte Kollegin May sind auch mit von der ­Partie. Sie ziehen allerdings den Biergartentisch einer wackeligen Slackline vor.«

»Eine weise Entscheidung«, witzelte Matthias, als sich Sandra zu ihnen gesellte.

»Willst du mich nicht bekannt machen?«, fragte sie, ohne Reinhart aus den Augen zu lassen.

»Wie unaufmerksam von mir!« Da war es wieder, das Gefühl, das ihn in Sandras Gegenwart so oft beschlich. War er zu empfindlich, oder konnte er ihr wirklich nicht genügen? »Das ist der geschätzte Kollege Reinhart Witt aus der Radiologie. Dr. Sandra Neubeck, seit kurzem Assistenzärztin in unserer zweiten Heimat.«

Reinhart begrüßte Sandra freundlich und wechselte ein paar Worte mit ihr.

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns zu den Kollegen gesellen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er das Paar mit sich. »Wir können zwar nur alkoholfreies Bier trinken, aber besser als nichts.«

Eigentlich hatte Matthias Weigand den Tag allein mit Sandra verbringen wollen. Ehe er aber Gelegenheit hatte, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln, lief sie schon hinter Reinhart her. Zähneknirschend heftete sich Matthias an ihre Fersen.

Mit großen Hallo wurden sie von dem Anästhesisten, der Kinderärztin und dem Chef der Onkologie begrüßt und an den Tisch gebeten.

Diesmal übernahm Sandra es selbst, sich vorzustellen.

»Warum trinkt ihr alle alkoholfrei?«, erkundigte sich Matthias und stellte ein richtiges Bier für sich und eine Limonade für Sandra auf den Tisch.