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Der neue Appell des
DALAI LAMA
an die Welt

Seid Rebellen des Friedens

Mit Sofia Stril-Rever

Aus dem Französischen übersetzt
von Ingrid Ickler

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Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
Faites la révolution! L’appel du Dalaï-lama à la jeunesse bei
Editions Massot/éditions Rabelais, Paris.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger
Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

ISBN 978-3-7109-0038-9

INHALT

1. Ich habe Vertrauen in euch

Die Europäische Union, ein Modell für den Weltfrieden

Berlin im November 1989 – Jugend, Freiheit, Demokratie

Die letzten Mauern der Schande müssen fallen!

Krieg, ein absoluter Anachronismus

2. Seid Rebellen des Friedens!

Seid die Generation der Lösungen!

Meine Devise: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«

Die Revolutionen der Vergangenheit haben den menschlichen Geist nicht verändert

3. Beginnt eine Revolution des Mitgefühls!

Das Zeitalter des Mitgefühls ist angebrochen

Mein Traum: Frauen werden Staatschefs

Das Scheitern der Religionen

Kollektive Intelligenz und Mitgefühl

Egoismus ist widernatürlich

4. Was könnt ihr für die Welt tun?

Werdet Athleten des Mitgefühls!

Universelle Verantwortung

Es ist höchste Zeit!

5. Die Welt des Mitgefühls existiert

– Epilog von Sofia Stril-Rever –

Die Revolution des Dalai Lama

Leben heißt, miteinander zu leben

Die Dämmerung des Mitgefühls ist angebrochen

Anmerkungen

1

ICH HABE VERTRAUEN IN EUCH

Meine lieben Brüder und Schwestern, meine jugendlichen Freunde, ihr, die Jugend der Welt, seid zu Beginn des dritten Jahrtausends geboren. Auch das Jahrhundert, in dem wir leben, ist noch sehr jung, nicht einmal zwanzig Jahre alt, genau wie ihr. Die Welt der Zukunft wird deshalb mit euch wachsen und zu der werden, die ihr gestaltet.

Ich richte meinen Appell an euch, weil ich euch aufmerksam beobachtet habe und Vertrauen in euch setze. Seit einigen Jahren treffe ich mich vermehrt mit Jugendlichen, sowohl in Indien als auch auf meinen Reisen nach Europa, Kanada, Australien oder Japan. Während der Gespräche, die ich dabei führte, habe ich die Überzeugung gewonnen, dass es eure Generation ist, die das neue Jahrhundert in ein Jahrhundert des Friedens und des Dialogs verwandeln kann. Ihr könnt die Menschheit mit sich selbst und mit der Natur versöhnen und sie zugleich wieder zu einer Gemeinschaft werden lassen, ein Band neu knüpfen, das heute zerrissen ist.

Die Wiedergeburt, die ihr verkörpert, wird von dem Erbe der alten Welt überschattet, einem Chaos aus Dunkelheit, Schmerzen und Tränen. Ihr steht an vorderster Front einer Nacht voller Gefahren, in der Hass, Egoismus, Gewalt, Habgier und Fanatismus das Leben auf der Erde bedrohen. Doch als junge Menschen tragt ihr die grenzenlose Kraft der Zukunft in euch, eine Macht, die es ermöglicht, mit der Finsternis der Vergangenheit aufzuräumen.

Ihr seid meine Hoffnung für die ganze Menschheit. Das möchte ich laut und deutlich aussprechen, damit ihr meine Botschaft wirklich hört und handelt. Ich sehe mit Vertrauen in die Zukunft, weil ich der festen Überzeugung bin, dass ihr die Zeit, die vor uns liegt, in Richtung Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität entwickeln werdet.

Inzwischen blicke ich auf zweiundachtzig Jahre Lebenserfahrung zurück. Mit sechzehn, am 17. November 1950, verlor ich meine Freiheit, als ich in Lhasa den goldenen Thron bestieg, um der höchste religiöse Führer Tibets zu werden. Mit fünfundzwanzig, im März 1959, verlor ich mein Land, das von der Volksrepublik China gewaltsam annektiert wurde. 1935 geboren, habe ich alle Schrecken des 20. Jahrhunderts erlebt, eines der blutigsten überhaupt. Denn in diesem Zeitraum hat der Mensch, an sich ausgestattet mit einer wunderbaren Intelligenz, das Leben nicht in Ehren gehalten und geschützt, sondern sich in den Dienst seiner Vernichtung gestellt und sich dabei der zerstörerischen Gewalt des Atoms bedient. Ihr wurdet in eine Welt geboren, in der das Waffenarsenal der Supermächte unseren Planeten mehr als zehnmal zerstören kann.

Eure Großeltern und eure Eltern haben zwei Weltkriege und eine Vielzahl regionaler Kriege erlebt, die im vergangenen Jahrhundert weit über zweihundert Millionen Todesopfer gefordert haben. Ein unerhörter Tsunami der Gewalt hat die Menschheit erfasst, genährt von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und ideologischer Verblendung. Ich habe den Holocaust der Nazis in Europa erlebt, den Abwurf der Atombombe in Japan, den Kalten Krieg, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Korea, Vietnam und Kambodscha, die Kulturrevolution und die Hungersnöte, die siebzig Millionen Opfer in China und Tibet forderten.

Ihr und ich habt Afghanistan und den Nahen Osten in Flammen aufgehen sehen. Einst stand dort die Wiege der Menschheit, heute sind diese Länder zerstört. Wir werden mit Bildern von Menschen konfrontiert, die in der Hoffnung, ihre Familie zu retten, über das Mittelmeer fliehen und ertrinken, wir sehen die im Wasser treibenden Leichen von Kindern, Frauen und Männern.

Ihr und ich seid außerdem Zeugen der Zerstörung unseres Ökosystems geworden und einer dramatischen Abnahme der biologischen Vielfalt. Alle zwanzig Minuten stirbt eine Pflanze oder eine Tierart aus. Ferner müssen wir die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes, der letzten großen Lunge unseres Planeten, mit ansehen, die Übersäuerung der Weltmeere, die Zerstörung des Great Barrier Reef, das Schmelzen des Packeises in der Arktis und der Antarktis. Durch das Abschmelzen von 46 000 Gletschern in Tibet sind die großen Flüsse Asiens von Austrocknung bedroht und damit die Lebensader von eineinhalb Milliarden Menschen, die an deren Ufern leben.

All diese Probleme sind euch wohlvertraut. Ihr wurdet in diese Spirale der weltweiten Zerstörung, der Kriege, des Terrorismus und der Ausbeutung der Erdressourcen hineingeboren und seid damit aufgewachsen.

DIE EUROPÄISCHE UNION, EIN MODELL FÜR DEN WELTFRIEDEN

Lasst euch nicht vom »Gemeine-Welt-Syndrom«1