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So sind sie, die

Belgier

Antony Mason

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Inhalt

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In Belgien leben 11 Millionen Menschen. Im Vergleich dazu gibt es 5,5 Millionen Dänen, 8,5 Millionen Schweizer, 17 Millionen Niederländer, 46,5 Millionen Spanier, 54 Millionen Engländer, 66 Millionen Franzosen, 82 Millionen Deutsche und 323 Millionen Amerikaner.

Die Bevölkerung besteht aus zwei Hauptsprachgruppen. Etwa 6 Millionen sprechen Flämisch und 4 Millionen Französisch (hinzu kommen 67.000 Deutschsprachige an der deutschen Grenze). Brüssel durchbricht diese säuberliche Einteilung, da es eine fast ausschließlich französischsprachige Insel im flämischsprachigen Flandern bildet.

Belgien hat etwa ein Viertel der Größe Englands und würde 18 Mal in Frankreich passen.

Nationalgefühl & Identität

Dass Brüssel die Hauptstadt Belgiens ist, ist eine gute Sache für die Belgier, denn der Status der Stadt als „Hauptstadt Europas“ bedeutet, dass Leute aus der ganzen Welt dieses Land (einigermaßen genau) auf einer Karte zeigen können. Es bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass Ausländer auch wissen, welche Sprache die Belgier sprechen, aber es ist immerhin ein Anfang.

Belgier zeigen keine glühende Begeisterung für ihre Nationalität. Aus einer Meinungsumfrage ging hervor, dass 60 % der Belgier sich wünschten, sie wären anderswo geboren. Ihre Nationalhymne besingt La Patrie (das sich reimt auf „O Belgique! O Mère Chérie“), aber nur wenige Belgier kennen mehr als eine Strophe. So begann ein Kandidat für das Amt des belgischen Premierministers, auf die Frage, ob er den Text der Nationalhymne kenne, die Marseillaise zu singen.

Eine Warnung vorab

Da es nichts Besonderes gibt, das man über Belgien und die Belgier sagen könnte, hat das Land bei Ausländern den Ruf, es sei langweilig. Das ist ein Vorurteil, das sich nicht leicht abschütteln lässt. Es ist, als würde man einen Langweiler fragen, ob er nicht etwas Interessantes zu sagen hätte. Belgier kennen dieses Gefühl nur zu gut. Sie haben es wirklich versucht.

Eine bemerkens- und liebenswerte Eigenschaft der Belgier ist, dass sie nicht in die Falle tappen, die dieser Ruf mit sich bringt. Sollen sich doch andere Länder aufplustern: Der Hahn, der am lautesten kräht, landet als Erster im Topf.

Doch die Spötter sollten besser aufpassen. Dinge aus Belgien kommen in Mode und zwar nicht nur Schokolade und Bier. Besucher Belgiens entdecken zu ihrer großen Überraschung die Genialität der belgischen Küche, die ehrliche Wärme der belgischen Gastfreundschaft, die meisterhafte Brillanz flämischer Kunst und sogar das eine oder andere château, das sich auf dem Land versteckt. Eine Gruppe Modedesigner, die sich The Antwerp Six nennt, ist zu internationalem Ruhm aufgestiegen und die Modefakultät der Antwerpener Kunstakademie produziert reihenweise Aufmerksamkeit erregender Talente. Auch anderen Nationen fällt inzwischen auf, dass die Belgier in ihrer ruhigen, unaufdringlichen Art offenbar viele Dinge genau richtig machen, um den Anforderungen im Europa des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein.

Berichten der Vereinigten Nationen zufolge, die diesen Eindruck nur bestätigen, gehört Belgien in der Europäischen Union zu den Ländern, in denen es sich am besten leben lässt, sowie zu den 20 wohlhabendsten Ländern der Welt, was die Belgier einigermaßen schockierte. Daraufhin verwendeten sie prompt jede Menge Druckertinte und Blogeinträge, um zu erklären, warum eine solche Auszeichnung nicht gerechtfertigt sei.

Nationale Identität

Die mangelnde Inbrunst der Belgier für ihr Land liegt wohl auch daran, dass die belgische Nation so jung ist. Erst 1830, nach jahrhundertelanger Besatzung und Invasionen durch Römer, Franzosen, Burgunder, Spanier, Österreicher und Niederländer, erlangte Belgien seine Souveränität.

Die Unabhängigkeit wurde durch eine Revolution erreicht, die sich an einer Oper entzündete. Aufgeheizt durch die Stimmung in Aubers La Muette de Portici (Die Stumme von Portici), stürmten die Opernbesucher in ihren eleganten Kleidern auf die Straßen Brüssels und hissten die Nationalflagge über dem Rathaus. Nach einigen Scharmützeln flohen die niederländischen Besatzungstruppen. Daraufhin stürmten Rebellen den Königspalast, wo sie das Ende der niederländischen Herrschaft damit feierten, dass sie eine Büste des Königs mit einem Käse krönten. Im Anschluss daran spazierten sie durch seine Gemächer und bewunderten seine Garderobe. Diesen Ereignissen mag der packende Elan der französischen Revolution fehlen, aber die Belgier haben sich schon immer eher für Bescheidenheit entschieden als für einen Platz in den Geschichtsbüchern. Und im Großen und Ganzen scheint ihnen diese Haltung recht gut gedient zu haben.

Das Belgisch-Sein ist nicht sehr tief in der Geschichte verwurzelt. Anders als andere junge Nationen wie Deutschland und Italien, definiert sich Belgien auch nicht über die Sprache, da es zwei Hauptsprachen gibt: Französisch und Niederländisch (das früher Flämisch hieß, heute aber von den Belgiern, die es sprechen, als Niederländisch bezeichnet wird).

Der Durchschnittsbelgier wirkt einigermaßen wohlhabend und zufrieden, wenn auch von Sorgen gezeichnet. Letztere entstehen durch den Stress, den zu viel komfortable Häuslichkeit, die Fülle an Konsumgütern und das viele gute Essen verursachen. Doch sehr nah unter der Oberfläche eines beschaulichen Landes, das seinen Mangel an nationalem Chauvinismus als Stärke sehen könnte (wenn es wollte), schwelt bittere Antipathie zwischen den beiden größten Sprachgruppen.

Während der 1990er Jahre war Belgien praktisch ein zweigeteilter föderaler Staat, in dem das niederländischsprachige Flandern und die französischsprachige Wallonie von einer nationalen Regierung und der Hauptstadt – einer hauptsächlich französischsprachigen Insel umgeben von flämischem Gebiet – zusammengehalten wurden.

„Il n’y a plus de Belges“ ist eine übliche Beschwerde. „Il n’y a que des Wallons et des Flamands.“ („Es gibt keine Belgier mehr. Es gibt nur noch Wallonen und Flamen.“) Heutzutage bedeutet Nationalismus nicht eine Leidenschaft für Belgien, sondern für Flandern oder die Wallonie. Die Emotionen zwischen den beiden Regionen können sehr stark hochkochen, besonders entlang der unbestimmten Grenzen zwischen ihnen. Man kann sich ihre entsprechenden Wahrzeichen, den wallonischen Hahn und den flämischen Löwen, sehr gut dabei vorstellen, wie sie versuchen, sich gegenseitig die Augen auszukratzen. Manchmal scheint die gesamte Zukunft Belgiens auf dem Spiel zu stehen. „Wir sind das einzige Land, das daran zweifelt, ob es überhaupt existiert,“ behauptet der belgische Poet Daniel De Bruycker. Es wird oft behauptet, das Land werde nur von zwei seidenen Fäden zusammengehalten: der königlichen Familie und den „Roten Teufeln“ (die Fußballnationalmannschaft).

Da Politiker aus beiden Lagern die Feindseligkeiten zwischen den Sprachgruppen nach dem Prinzip „teile und herrsche“ ausnutzen, ist es inzwischen ein politisches Statement geworden, sich selbst als Belgier (statt als Flame oder Wallone) zu bezeichnen. Autoaufkleber, die verkünden Belge, et fier de l’être („Belgier – und stolz darauf“), sind kein armseliger Versuch, ein Stigma loszuwerden, sondern Ausdruck des Wunsches, die belgische Nation zu erhalten.

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Wie die Belgier sich selbst sehen

Die Belgier sind etwas zu schnell dazu bereit, sich selbst als Nation kleinzureden. Sie tendieren dazu, ihr Land als flach und klein zu beschreiben – in Wirklichkeit ist es weder überaus klein, noch überaus flach, doch sie scheinen immer mit einer Beleidigung zu rechnen. Sogar König Leopold II., der das 19. Jahrhundert dominierte und als Geißel des Kongo galt, qualifizierte sein Land einmal mit der berühmten Bemerkung ab: „petit pays, petit gens“ (kleines Land mit kleingeistigen Leuten).

Trotz der vielen guten Dinge, die in neuerer Zeit über die Belgier gesagt und geschrieben wurden, hängt der Nation noch immer eine gewisse Melancholie und ein Mangel an Selbstbewusstsein an. Sie haben die besten Absichten, doch scheint immer etwas dazwischen zu kommen: wirtschaftliche Probleme, schlechte Gesundheit, Korruption in der Politik, die Flamen, die Wallonen, die Franzosen … oder dass sie Belgier sind.

Als der Modedesigner Dries van Noten zum ersten Mal entdeckte, dass die internationale Modewelt „Made in Belgium“ für ein unfehlbares Label für etwas wirklich Begehrenswertes hält, war er aufrichtig verblüfft. Belgien gilt normalerweise nicht als Gütesiegel für hohe Qualität, außer bei Schokolade.

Jedenfalls würden viele Belgier sagen, dass sie sich selbst nicht als Belgier sehen, sondern als Flamen oder Wallonen beziehungsweise an erster Stelle als Flamen oder Wallonen und erst an zweiter Stelle als Belgier. Beispielsweise würde in Flandern ein Flame, der ein internationaler Star geworden ist, höchstwahrscheinlich als großer Flame gefeiert, während ein Wallone, der ein internationaler Star geworden ist, von den Flamen als großer Belgier bezeichnet würde.

Was jedoch alle Belgier vereint – außer Bier, Pommes Frites, Tim und Struppi, der katholischen Kirche und einer 2000-jährigen Geschichte (wenn auch nicht als Staat) –, ist das Gefühl, zumindest keiner anderen Nationalität anzugehören. Sie mögen zögern, sich selbst als Belgier zu bezeichnen, aber sie sehen sich sicher nicht als Deutsche, Niederländer oder Franzosen. Das macht die Belgier besonders: Wenige Nationen werden durch das Negative definiert.

Wie die Flamen sich selbst sehen

Die Flamen halten sich selbst für fleißig, ehrlich und zuverlässig. Dies sieht man zum Beispiel an Brügge, Gent und Antwerpen – ein großartiges Trio – mit ihren prächtigen Kathedralen und wundervollen Kunstsammlungen mit Werken von Jan van Eyck, Dirk Bouts, Rubens, Jacob Jordaens, Van Dyck und anderen. Diese Städte waren zu ihrer Blütezeit Stadtstaaten, die noch heute Bürgerstolz und Unabhängigkeit ausstrahlen.

Die Flamen sind stolz: Sie haben das Gefühl, dass ihr Stern noch immer steigt und dass nach Jahrhunderten, in denen sie von den französischsprachigen Belgiern getreten wurden, der Stiefel jetzt am anderen Fuß sitzt.

Das Blatt hat sich gewendet. Nachdem die Schwerindustrie in der Wallonie zusammengebrochen ist, haben die Konsumgüterindustrie, die Hafenanlagen im Norden und der Tourismus für eine wirtschaftliche Blüte in Flandern gesorgt. Die Region gehört nun zu den wohlhabendsten Europas, führend in der Informationstechnologie, Pharmazie und Elektroindustrie. Für die Flamen ist dies ein Glücksfall und sie versuchen mehr schlecht als recht, ihre Schadenfreude zu unterdrücken. „Flanders: Star Region in Europe“ („Flandern: Starregion in Europa“) hieß der Slogan einer Werbekampagne. Diese stellt die längst fällige Gegenoffensive zu einer langen Geschichte von Negativschlagzeilen dar. Die Flamen haben sich selbst an der Spitze des europäischen Wirtschaftsaufschwungs positioniert. Sie rühmen sich für ihre Ehrlichkeit, Gutmütigkeit und Menschlichkeit und fühlen sich auf eine Art und Weise kultiviert, die nicht als großtuerisch bezeichnet werden kann. Tatsächlich, sehr belgisch.

Wie die Wallonen sich selbst sehen

Die französischsprachigen Belgier sehen sich (anders als die Flamen) zuerst und vor allem als Belgier. Die Wahrheit ist: Sie machen harte Zeiten durch. Sie haben das Gefühl, dass sie ganz schön in der Klemme sitzen.

Die Wallonen haben an Macht verloren. Sie haben in einem Land, in dem sie einst unbestritten das Sagen hatten, die Oberhand verloren. Die Wallonie hat sich in eine nette, verschlafene Provinz irgendwo in Europa verwandelt.