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Zur Autorin

Dr. Vera Bernard-Opitz (Em. Assoz. Prof. National University of Singapore) ist Klinische Psychologin sowie deutsche und amerikanische Verhaltenstherapeutin (BCBA-D). Sie arbeitet als Autorin, AVT/ABA-Supervisorin und Herausgeberin der neuen praxisorientierten Buchreihe »Autismus Konkret«. Vera Bernard-Opitz lebt und arbeitet einen Teil des Jahres in Irvine, USA und einen Teil im schönen Hildesheim, wo sie ein AVT-Zentrum leitet.

Vera Bernard-Opitz

Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen

Strategien für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030125-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030126-9

epub:   ISBN 978-3-17-030127-6

mobi:   ISBN 978-3-17-030128-3

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Vorwort zur Reihe »Autismus Konkret«

Das afrikanische Sprichwort »It takes a village to raise a child«/Deutsch: »Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen« gilt sicherlich auch für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS). Und vielleicht braucht es sogar mehr als ein Dorf: nämlich das Wissen von Spezialisten in verschiedenen Ländern, die sich Autismus Spektrum Störungen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ziel unserer Reihe »Autismus Konkret« ist es daher, das Wissen internationaler Experten zu relevanten Themen zu bündeln und Eltern, Therapeuten, Lehrer und anderen Fachkräften dieses Wissen in leicht verständlicher Form und so konkret wie möglich zur Verfügung zu stellen.

Oft ist es nicht einfach, Betroffenen mit ASS zu helfen. Eltern und Fachkräfte wissen, dass Zeit besonders kostbar ist, wenn es darum geht, effektiv Veränderungen zu bewirken. Daher sollten Erklärungsmodelle und Hilfen bewährt und wissenschaftlich anerkannt sein. Wir haben daher Kollegen in Deutschland, Österreich, England und den USA gebeten, ihr Spezialwissen über bestimmte evidenzbasierte und praxiserprobte Therapiemethoden in kurzer, konkreter Form mit unseren Lesern zu teilen.

Hierbei wird ein Einblick in folgende Themen gegeben: Lernen durch ABA und AVT (Applied Behavior Analysis und Autismusspezifische Verhaltenstherapie), Anders denken lernen – Kognitive Verhaltenstherapie zum Abbau von Frustration und Ängsten und zum Aufbau von sozialen Fähigkeiten, Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen, Lernen im Alltag – Natürliches Lernen, Lernen im Sekundentakt – Präzisionslernen, Lernen durch Apps, Lernen durch visuelle Hilfen, Lernen durch Videomodellierung, Lernen von Spiel und Beziehungen zu Gleichaltrigen: Integrierte Spielgruppen, Lernen im inklusiven schulischen Setting, Medikamentöse Hilfe und die Suche nach den Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen.

Wir hoffen, dass die Bände unserer Reihe »Autismus Konkret« Eltern und Kollegen helfen, Ursachen besser zu verstehen und wissenschaftlich anerkannte Therapiemethoden kennenzulernen. Hierbei wünschen wir, dass jeder Praxisband der Serie einen Beitrag leistet, therapeutische Hilfen für Betroffene mit ASS konkreter zu machen und Kindern und Jugendlichen mit ASS eine echte Chance zu geben, sich so zu entwickeln, dass eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft auch tatsächlich möglich wird. Und dazu braucht es sicher »Mehr als ein Dorf«.

Dr. Vera Bernard-Opitz, Herausgeberin der Reihe, Irvine, Juni 2018

Inhaltsverzeichnis

 

  1. Vorwort zur Reihe »Autismus Konkret«
  2. 1 Einführung
  3. 2 Welche Autismusmerkmale, Stärken und Schwächen müssen beim Umgang mit Verhaltensproblemen berücksichtigt werden?
  4. 2.1 Was sind zentrale Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen?
  5. 2.2 Was muss beim Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen beachtet werden?
  6. 2.3 Welche Stärken und positiven Seiten gibt es bei Menschen mit Autismus?
  7. 3 Wie können Verhaltensprobleme verstanden werden?
  8. 3.1 Was gilt als Verhaltensproblem?
  9. 3.2 Welche Verhaltensprobleme treten auf?
  10. 4 Was sind die Funktionen und die zugrundeliegenden Bedingungen von Verhaltensproblemen?
  11. 4.1 Was ist eine Funktionale Verhaltensanalyse?
  12. 4.2 Verhaltensprobleme sind gelernt – Mikroanalyse – Das ABC und S-O-R-K Modell
  13. 4.3 Allgemeine zugrundeliegende Bedingungen – Makroanalyse
  14. 4.4 Mögliche Funktionen von Verhaltensproblemen – Warum macht er oder sie das?
  15. 5 Wie kann man Verhaltensprobleme verändern?
  16. 5.1 Grundlage von Lernprogrammen: Verstärkung, Bestrafung, Modelllernen und kognitives Lernen
  17. 5.2 Welche Strategien sind effektiv?
  18. 5.3 Proaktive und reaktive Strategien: Verhaltensprobleme verhindern und darauf reagieren
  19. 6 Beispiele für die Behandlung von Verhaltensproblemen entsprechend ihrer Funktion oder Ursachen
  20. 6.1 Welche Strategien gibt es bei aufmerksamkeits- und wunschbedingten Problemen?
  21. 6.2 Welche Strategien gibt es bei vermeidungsbedingten Problemen?
  22. 6.3 Welche Strategien gibt es bei sensorisch bedingten Problemen?
  23. 6.4 Welche Strategien gibt es bei Stressintoleranz oder Wut-bzw. Ärgerausbrüchen?
  24. 7 Zusammenfassung und Ausblick
  25. Literatur

 

 

 

 

 

Gewidmet Frau Prof. Erna Duhm, Pionierin der Klinischen Psychologie – eine bewundernswerte Lehrerin und ein sehr besonderer Mensch

 

 

 

 

 

1          Einführung

Verhaltensprobleme machen das Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und ihrer Umwelt meist sehr schwer. Eltern, Lehrer, Schulbegleiter und Therapeuten sind häufig überfordert durch die heftigen Wutausbrüche, durch unflexibles, stereotypes, aggressives, (selbst-)destruktives oder auf andere Weise ungewöhnliches Verhalten. Oftmals leiden auch die Betroffenen unter ihrer Andersartigkeit und deren sozialen, schulischen und beruflichen Folgen. Strategien, die bei sogenannten »neurotypischen« Kindern, Schülern oder Klienten erfolgreich sind, helfen bei den meisten Personen mit ASS leider nicht.

•  Offensichtlich besteht Handlungsbedarf, wenn der vierjährige Michael bereits vom zweiten Kindergarten abgelehnt wird, nur, weil er im Morgenkreis ein bestimmtes Lied vermisst und aus diesem Grund solange schreit, bis alle es immer wieder singen.

•  Hilflosigkeit breitet sich in der Klasse von Erik aus, wenn dieser zum gefühlten 100-sten mal den Unterricht mit verblüffend echt klingenden Rasenmäher-Geräuschen stört.

•  Selbst die geduldigsten Eltern verlieren nicht nur ihre Nachtruhe, wenn ihr nicht-verbaler 14-jähriger Sohn um 4 Uhr nachts wiederholt mit den Türen knallt, damit man genau jetzt mit ihm eine Fahrradtour macht.

•  Auch herzzerreißendes Weinen oder blinde Wut bei kleinsten Anlässen kann die Beteiligten zermürben, z. B. wenn die Schaukel bereits besetzt ist, der Bäcker bereits alle Pizzabrötchen verkauft hat oder in sonst irgendeiner Weise eine imaginäre Ordnung gestört ist.

•  In noch extremeren Fällen steht eine Gefährdung der eigenen Person durch riskantes oder selbstverletzendes Verhalten im Vordergrund, wie z. B. im Fall der 18-jährigen Marianne, die versucht, sich mit einem Kissen auf dem Kopf und Handtüchern an den Beinen, vor den eigenen Schlägen zu schützen

•  Und was kann man tun, wenn das eigene Kind ständig »unter Strom« steht und der normale Alltag nicht ohne Endlosdiskussionen bewältigt werden kann?

•  Auch der Schüler, der zunehmend »hilfloser« wird, je weniger er vom Unterricht versteht und je mehr seine Schulbegleitung für ihn übernimmt, sollte ein Anlass für die Suche nach fachlicher Hilfe sein.

•  Selbst Erwachsene mit ASS scheitern oft – selbst nach erfolgreicher Ausbildung oder Studium – an den Anforderungen als Arbeitnehmer, Freund oder Partner. Die Äußerung eines erfolgreichen Unternehmers »Entweder habe ich Asperger oder ich bin ein A…, aber ich will meine Familie nicht verlieren« zeigt das Spektrum der Betroffenen und die Notwendigkeit von therapeutischer Hilfe.

Viele Eltern, Pädagogen und Therapeuten stoßen bei vergleichbaren Problemen mit normalen Erziehungs- oder Therapiestrategien an ihre Grenzen. Besorgniserregender ist es allerdings, wenn die Beteiligten oder Betroffenen aufgeben oder signifikante Probleme als unveränderbaren Teil der Persönlichkeit der Person mit Autismus ansehen. Ohne angemessene Intervention neigen herausfordernde Verhaltensweisen dazu schlimmer zu werden (Autism Speaks, 2012). Hierbei stellt sich oft die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, nicht zu helfen, wenn andererseits Hilfe Entwicklungschancen eröffnen und eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft realistischer machen würde.

Dieses Buch ist nicht für diejenigen geschrieben ist, die froh und stolz sind »Aspies« zu sein und auch anderen Leidensdruck, Therapie- und Änderungswünsche absprechen. Vergleichbar zu den Grundsätzen jeglicher Erziehung geht es gewiss nicht darum, Menschen in eine unveränderliche Norm zu zwingen, sondern ihnen Chancen zu geben – soweit es ihr Potential erlaubt – aktiv an einem normalen Alltag und dem Leben in der Gemeinschaft teilhaben zu können. Eine weitere selbstverständliche Grundlage ist, dass die Umgebung sich nach Möglichkeit an die Besonderheiten des Betroffenen anpassen sollte, was hier unter präventiven Strategien beschrieben wird.

Im vorliegenden Band geht es sowohl um präventive als auch um reaktive Strategien, die beim Abbau von Verhaltensproblemen und der Entwicklung von positiven Verhaltensweisen berücksichtigt werden müssen. Hierbei werden solche Auffälligkeiten beschrieben, die mit herkömmlichen Methoden kaum beeinflusst werden, wie andauernde Selbststimulationen, die Neugier, Spiel- und Sozialverhalten sowie Sprache verhindern können. Unflexibles oder gar zwanghaftes Verhalten kann den Betroffenen und seine Umwelt ebenfalls stark einschränken und Entwicklungschancen oder soziale Möglichkeiten reduzieren. Auch selbstverletzendes Verhalten ist oft ein Anlass für eine verhaltenstherapeutische Intervention. Ebenfalls für viele Familien stark belastend sind Probleme ihrer Kinder mit extremer Aggression oder destruktiven Tendenzen. Diese sind nicht selten Anlass für die meist schwere Entscheidung, das Kind in einem Heim unterzubringen.

Der vorliegende Band kann als eine Einführung in häufige Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit ASS und in ihre positiven Alternativen verstanden werden. Die dargestellten Ausführungen, Tabellen und Beispiele sollen das Vorgehen einer Verhaltensplanung konkret machen. Sie können allerdings nicht ein fachliches Training in ABA/AVT-Methoden (Applied Behavior Analysis und Autismusspezifische Verhaltenstherapie) oder als Verhaltenstherapeut bzw. BCBA (Board Certified Behavior Analyst) ersetzen (Bernard-Opitz & Nikopoulos, 2016).

Im Folgenden wird versucht, Eltern, Erzieher, Lehrer und andere Interaktionspartner in das Krankheitsbild und seine Besonderheiten einzuführen, Verständnis für den Betroffenen zu entwickeln und darauf aufbauend proaktive und reaktive Interventionen vorzustellen. Einsicht und Sensibilität für Andersartigkeit und eine positive Einstellung der Umwelt sind hierbei wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung von positivem Alternativverhalten wie z. B. angemessenes Sozial- und Kommunikationsverhalten, Spiel- und Freizeitverhalten oder aber auch einer erfolgreichen Bewältigung von emotionalen Problemen.

Dieses Buch hat sehr profitiert von Diskussionen mit Kollegen, Lehrern, Eltern, und Co-/Therapeuten. Besonderer Dank gilt Herrn Dr. Hans-Heinz Wolpers sowie Frau Ute-Genser-Dittmann für die detaillierte Korrektur und das Feedback zu meinem Manuskript. Meine Anerkennung gilt auch Frau Annika Grupp vom Kohlhammer-Verlag, die die »Autismus Konkret«-Serie sowie dieses Werk mit Enthusiasmus und Kompetenz betreut hat. Erneut bin ich meiner Tochter Andra dankbar für ihre erfrischenden Strichzeichnungen.

Das vorliegende Buch enthält zahlreiche Beispiele aus meiner Praxis. Diese sind durch Pseudonyme und zum Teil auch durch Veränderung von Details anonymisiert. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Eltern ihr Einverständnis zur Veröffentlichung von Fotos ihrer Kinder gegeben haben.

 

 

 

 

 

2          Welche Autismusmerkmale, Stärken und Schwächen müssen beim Umgang mit Verhaltensproblemen berücksichtigt werden?

2.1       Was sind zentrale Merkmale von Autismus-Spektrum-Störungen?

Nach der neuen Klassifikation durch das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (5. Auflage, American Psychiatric Association [APA], 2013) sind Autismus-Spektrum-Störungen durch Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie eingeschränkte und wiederholende Verhaltensweisen, Interessen und Tätigkeiten gekennzeichnet.

2.1.1     Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion

Ein zentrales Merkmal von ASS sind Auffälligkeiten in der Kommunikation und im Sozialverhalten. Beide Bereiche lassen sich kaum voneinander trennen, was bereits am ersten Blickkontakt von Kindern, ihrer Mimik und Gestik deutlich wird. Kinder mit ASS zeigen meist sehr früh mangelnden oder ungewöhnlichen Blickkontakt, so dass sie das soziale Geschehen um sie herum meist weniger mitbekommen als neurotypische Personen. Oft haben sie keinen Dreiecksblick (»joint attention«), zeigen nicht und kommunizieren weder über Mimik noch Gestik. Speziell junge Kinder mit ASS oder Kinder und Jugendliche mit starken Einschränkungen reagieren darüber hinaus zunächst oft nicht auf Lob, subtile Mimik des Gegenübers oder komplexe Erklärungen. Zum Teil suchen sie Aufmerksamkeit durch negatives Verhalten, auch, da sie komplexe Erklärungen, Benimmregeln, das sog. »Hidden Curriculum« (»Verstecktes Curriculum«, Smith Myles et al, 2004) oder soziale Hierarchien nicht verstehen.

Etwa 25% der Personen mit ASS entwickeln keine verbale Sprache, wobei Gründe u. a. in einer intellektuellen Behinderung, mangelnder Nachahmungsfähigkeit, unzureichendem Sprachverständnis oder fehlender Motivation zu kommunizieren gesucht werden können. Etwa 50% haben keine funktionale Sprache (Wendt, 2017). Einige Kinder und Jugendliche lernen, sich durch visuelle Systeme wie Handzeichen, Bilder oder Kommunikationsgeräte zu verständigen (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe, 2007; Bondy & Frost, 2001).