Irrlicht – Jubiläumsbox 7 – E-Book: 35 - 40

Irrlicht
– Jubiläumsbox 7–

E-Book: 35 - 40

Gabriela Stein
Vanessa Crawford
Kathrin Luny
Gloria von Raven
Maja Mehrling
Susan Grant

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-245-9

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Über den Tod hinaus

… begehrte Captain Wart seine letzte große Liebe

Roman von Gabriela Stein

Cecile erkannte nicht die Gefahr, in der sie sich befand. Sie hatte nur einen Wunsch, fort von diesem Mann. Doch da fühlte sie sich ins Boot gezerrt. Sie schrie auf. Die Wellen ließen das Boot wie ein Spielzeug gegen die Steinwände schlagen. Das ist das Ende, dachte Cecile.

Tessa war unehelich geboren worden. Sie hatte ihren Vater weder gekannt, noch vermißt.

Cecile Finley, ihre Mutter, war vor neunzehn Jahren verlobt gewesen. Diese Verlobung hatte nur kurze Zeit bestanden. Als sie merkte, daß sie ein Kind erwartete, hatte sie den Ort verlassen und war nach Edinburgh zurückgekehrt. Später hatte sie die Stelle bei Dr. Hutton aufgegeben und war nach London gegangen. Hier war sie unter dem Mädchennamen ihrer Mutter untergetaucht.

Seither hatte sie nie wieder etwas von Dr. James Denniston, ihrem ehemaligen Verlobten, den sie heute noch liebte, gehört. Nie hatte sie körperliche Beziehungen zu ihm gehabt. Cecile war sich nicht bewußt, mit irgendeinem anderen Mann jemals intime Beziehungen gehabt zu haben.

Damals hatte sie auf geheimnisvolle Weise Lord Darwin kennengelernt, von dem sie annahm, daß er Captain Wratt gewesen war. Die Sage, die damals am Kap Wratt kursierte, stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert und besagte, daß dieser Captain Wratt über Jahrhunderte hinweg gelebt hatte, weil er einmal einem großen Fisch das Leben schenkte und dafür ewiges Leben erhielt, solange er es wollte. Dieser Mann war in Ceciles Armen gestorben.

Nach ihrer Meinung war es möglich, daß Tessa von ihm stammte, obwohl sie sich nicht erinnerte, je mit ihm näher zusammengewesen zu sein. Aber da gab es einige rätselhafte dunkle Punkte, die sie zweifeln ließen.

Es blieb Cecile nichts weiter übrig, als Tessa zu gestehen, daß sie ihren Vater nicht kenne. Ihre Unruhe wuchs, je älter Tessa wurde, die jetzt achtzehn Jahre alt war. Würde sich ihre Tochter nicht eines Tages von ihr abwenden? Dazu kam, daß nichts im Aussehen des Mädchens auf den Vater schließen ließ. Sie war ganz das Ebenbild ihrer immer noch schönen Mutter.

*

An einem sanften Frühlingstag war Cecile gegen Abend zu Fuß heimgegangen. Überall begann es in der Natur zu grünen. Krokusse drängten aus noch blassem Rasen heraus. In den Gärten blühte der Ginster.

Sie war den ganzen Nachmittag von einer inneren Unruhe befallen gewesen, die sich bis zum Abend noch nicht gelegt hatte. Zuerst glaubte sie an eine nahende Krankheit. Aber das war es nicht. Sie war nicht krank, und auch Tessa erfreute sich bester Gesundheit. Ihre Gedanken forschten nach einer möglichen Ursache für diesen sonderbaren Zustand – vergebens.

Cecile hatte weder den Frühlingsduft verspürt noch war ihr bewußt geworden, daß sie schon eine ganze Weile unterwegs war. Daher war sie überrascht, als sie jetzt vor dem Haus angelangt war, in dem sie wohnte. Zögernd stieg sie die zwei Stockwerke hinauf.

Schon, als sie ihre Wohnungstür aufschloß, sah die den Zettel, der unter dem Spiegel auf einer Ablage lag.

»Tessa!« rief sie, aber sie erhielt keine Antwort. Sie ging verwundert hinüber in das Zimmer ihrer Tochter, das gegen deren sonstige Gewohnheit heute unaufgeräumt wirkte. Was mochte Tessa veranlaßt haben, so plötzlich die Wohnung zu verlassen?

Cecile zog ihren Mantel aus und hängte ihn im Flur auf, dann griff sie nach dem Zettel.

Liebe Mutti, Tomy hat mich abgeholt. Er will mich heute seinen Eltern vorstellen. Es kann also etwas später werden.

Tessa.

Die Nachricht war in aller Eile geschrieben worden. Cecile stand ganz still. »Tomy Beyerton also«, murmelte sie leise. Sie ging mit dem Zettel in der Hand ins Wohnzimmer und setzte sich. Sie fühlte, wie sich die Spannung noch verstärkte. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, bemühte sich um mehr Gelassenheit und atmete tief durch. Obwohl sie sich lange auf diesen Tag vorbereitet hatte, war er doch so plötzlich gekommen, daß sie keines folgerichtigen Gedankens fähig war.

Es ging bereits auf einundzwanzig Uhr zu, als Cecile unten ein Auto vorfahren hörte. Sie stand hinter den Gardinen und spähte durch den Nebel, der die zwei Gestalten auf der Straße aufzulösen schien. Trotzdem erkannte sie, daß sich Tomy von Tessa mit einem Kuß verabschiedete. Zuerst hatte Cecile befürchtet, daß er mit hinaufkommen würde. Aber er fuhr ab, was sie mit einem erleichterten Seufzer feststellte.

Kurz darauf schloß ihre Tochter die Korridortür auf. Cecile rührte sich nicht, sie war voller Spannung. Es erschien ihr unendlich lange, bis Tessa ins Zimmer kam. Sie knipste das Licht an und erschrak, als sie ihre Mutter sah.

»Du bist hier?« fragte sie überrascht. »Warum machst du kein Licht?« Aber sie wartete gar nicht ab, was ihre Mutter sagen würde. Sie flog auf sie zu und umarmte sie stürmisch. Ihre Augen strahlten vor Glück. »Mutti!« rief sie erregt. »Wir wollen uns in vier Wochen offiziell verloben. Seine Eltern sind ganz reizende Leute.«

Cecile hatte sich langsam gefaßt. »So?« fragte sie einsilbig. Doch es fiel Tessa nicht auf, daß ihre Mutter recht schweigsam war.

»Ich habe schreckliche Angst gehabt, aber es war wirklich nicht nötig. Ich glaube, sie mögen mich.«

Cecile verzog etwas spöttisch ihre Lippen. »Du meinst, sie akzeptieren dich, Tessa?«

Verwundert schaute Tessa jetzt auf. Über ihr Gesicht huschte ein enttäuschter Schatten. »Warum sagst du das? Wenn es nicht der Fall gewesen wäre, hätten sie mich wohl kaum eingeladen. Außerdem hätte ich es bestimmt gleich bemerkt.«

Cecile lächelte etwas wehmütig. »Haben sie keine Fragen gestellt?«

»Was ist los?« wollte Tessa wissen, die jetzt bemerkte, daß ihre Mutter ziemlich blaß aussah. »Bist du krank, Mutti?« fragte sie mitfühlend.

Cecile schüttelte den Kopf. »Es ist deine Nachricht, sie kommt mir so plötzlich. Ihr kennt euch doch noch nicht so lange.«

»Aber lange genug, um zu wissen, daß wir uns lieben. Die Eltern von Tomy haben sich auch nicht sehr lange gekannt, als sie sich verlobten. Sie haben es uns erzählt. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen.«

»Gutes Zeichen«, wiederholte Cecile. »Haben sie Fragen gestellt, unsere Familie betreffend?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir.«

»Sie fragten nach meinem Vater.«

»Und was hast du ihnen gesagt?«

Das Leuchten in Tessas Augen war nicht mehr so intensiv, und auch ihre Hochstimmung ebbte langsam ab. Sie glaubte zu fühlen, daß ihre Mutter mit ihrer Wahl nicht einverstanden war. Sie warf den Kopf zurück. »Ich habe ihnen gesagt, daß Vater tot sei, und daß ich ihn gar nicht gekannt habe.«

»Und?Wie haben sie reagiert?« Tessa stemmte die Arme in die Seite. »Du fragst aber merkwürdig.«

»Ich frage nicht ohne Grund, Tessa. Sicher wollen diese Leute einen Stammbaum von dir haben.«

Tessa lachte übermütig auf. »Ich bin doch kein Hund, Mutti, der einen Stammbaum nachweisen muß, damit man weiß, daß er auch reinrassig ist.«

Cecile, die sonst auf jeden Scherz ihrer Tochter eingegangen war, blieb heute ernst. Ein leichtes Beben ihrer Lippen verriet, daß sie innerlich sehr erregt war.

Unwillig sagte Tessa: »Morgen kommt Tomy, um deine Einwilligung zu erbitten. Du bist doch mit ihm einverstanden, Mutti?«

Cecile wandte sich ab, um ihrer Tochter nicht in die Augen sehen zu müssen. »Er ist ein sehr netter junger Mann«, flüsterte sie. »Ich mag ihn, er ist offen und ehrlich, und er wird in seinem Beruf bestimmt eine Menge erreichen. Bist du aber auch ganz sicher, daß er der Richtige für dich ist?«

»Natürlich ist er der Richtige, Mutti!« rief Tessa unwillig.

»Und sein Vater? Ich meine, was macht er eigentlich?«

»Soviel ich weiß, ist er im Parlament und seit einigen Monaten in den Adelsstand erhoben worden. Sie haben ein ganz tolles Haus. Ich habe mich zuerst richtig gefürchtet hinzugehen, aber Tomy ist nicht von meiner Seite gewichen, das hat mir sehr geholfen.«

Cecile hatte sich mit einem Ruck umgedreht. Jetzt starrte sie ihre Tochter aus großen Augen an. Lord Beyerton würde keine Schwiegertochter akzeptieren, deren Vater unbekannt war. Ein heißes Mitgefühl mit ihrer Tochter machte ihr das Atmen schwer.

»Morgen, sagst du, wird Tomy Beyerton kommen?«

»Ja, Mutti. Ich kann es gar nicht erwarten.«

Cecile taumelte zurück, ihre Knie waren so zittrig, daß sie sich setzen mußte. Das war es also, deswegen war sie den ganzen Nachmittag voller Unruhe gewesen. Als ob sie es geahnt hätte.

Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Tochter.

»Tomy sagt, das Haus habe seine Mutter mit in die Ehe gebracht. Sie ist eine wirkliche Lady, überaus vornehm in der Wahl ihrer Worte, dabei aber liebenswürdig und warmherzig.«

»Soso«, murmelte Cecile, stand auf und ging hinüber in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. »Das Abendessen ist gleich fertig, Tessa, du könntest mir helfen, damit es schneller geht. Ich bin müde und möchte mich früh schlafen legen.«

»Für mich brauchst du nichts zu machen, Mutti. Ich habe bei den Beyertons gegessen. Ganz toll, mit Butler und so.«

»Dann solltest du schlafen gehen, damit du morgen ausgeruht ins Büro kommst.«

»Hast du schlafen können, als Vater um deine Hand angehalten hat?« Tessa bekam keine Antwort, aber sie sah auch nicht, wie Cecile zusammenzuckte. »Übrigens wollen dich Tomys Eltern kennenlernen. Mach dich auf eine Überraschung gefaßt. Ich hoffe, daß du dich mit Lady Beyerton gut unterhalten wirst.«

»Sofern wir einen gemeinsamen Gesprächsstoff finden, Tessa. Wir leben beide in so verschiedenen Welten, daß sie eine arbeitende Frau kaum als gleichberechtigt ansehen dürfte.« Cecile konnte einen gewissen Sarkasmus nicht unterdrücken, der wohl mehr aus ihrer unglücklichen Lage kam.

»Du machst dir eine ganz falsche Vorstellung von ihr. Sie ist wirklich ganz reizend und freut sich, dich kennenzulernen.«

Cecile biß sich auf die Lippen. Selbst wenn Tomys Eltern sich darüber hinwegsetzten, eine Schwiegertochter zu bekommen, die nicht ihren Kreisen entstammte, über die Tatsache, daß der Vater Tessas unbekannt war, würden sie nicht hinwegsehen. Das Mädchen war nun einmal unehelich. Das würde die Kluft zwischen ihnen nur noch vergrößern. Engländer waren in diesen Dingen sehr konservativ. Ihrer Tochter stand eine große Enttäuschung bevor, die Cecile ihr gern erspart hätte.

Als Cecile nicht antwortete, trat Tessa dicht an die Mutter heran. »Du hast nie über meinen Vater gesprochen, Mutti! Erzähl mir von ihm! Wie war er? Es war mir unangenehm, daß ich nicht einmal seinen Beruf nennen konnte.«

Cecile verzog spöttisch ihre Lippen. »Sie haben danach gefragt?«

»Ja, sie wollten wissen, was er war.«

»Und, was hast du geantwortet?«

»Die Wahrheit, ich habe gesagt, daß ich das nicht wisse.«

Cecile nickte heftig. »Wie haben sie darauf reagiert?«

Tessa wurde nachdenklich. »Lord Beyerton sah seine Frau an und sie ihn, dann hat sie mich angelächelt, und Lord Beyerton läutete nach dem Butler. Tomy meinte, du würdest all diese Fragen beantworten. Ich nehme an, daß er dir morgen eine Einladung seiner Eltern mitbringt.«

Cecile stellte das Geschirr in den Schrank zurück, das in ihren Händen leicht klirrte. Ihr war der Appetit vergangen. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Ich werde nicht hingehen, Tessa!« sagte sie so fest, daß ihre Worte keinen Widerspruch duldeten.

Völlig entgeistert starrte das junge Mädchen ihre Mutter an. »Du willst meine zukünftigen Schwiegereltern nicht kennenlernen?«

Ceciles Atem ging schwer, sie wich dem Blick ihrer Tochter aus. »Ich kann nicht«, antwortete sie leise.

»Ich verstehe dich nicht«, rief Tessa ärgerlich. »Du hast doch nicht etwa Angst vor ihnen?«

»Wenn es nur das wäre, Tessa, das könnte ich überwinden. Schließlich muß Lord Beyerton seinen Unterhalt ebenso verdienen wie ich.«

»Dann – dann begreife ich nicht, warum du mir das antun willst. Aber du wirst es dir überlegen, nicht wahr? Bitte, sage, daß du es dir überlegen wirst«, bettelte Tessa.

»Morgen, Tessa!« wich Cecile aus. »Morgen will ich versuchen, dir einiges zu erklären.« Wie sie das aber bewerkstelligen sollte, wußte Cecile selbst noch nicht. Wie konnte sie in einigen Stunden eine plausible Erklärung finden, wenn sie es in neunzehn Jahren nicht geschafft hatte, den Vater ihrer Tochter zu nennen.

*

In dieser Nacht lag Cecile schlaflos in ihrem Bett. Sie hörte vom Nebenzimmer her die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Tochter. Als sie die Stille nicht mehr ertrug, stand sie auf und ging ins Wohnzimmer hinüber. Hier zündete sie den Kamin an und setzte sich zusammengekauert davor. Es war eine kalte Nacht. Die Räume erwärmten sich nur schwer, trotzdem fand sie nicht die Ruhe, die sie brauchte, um noch einmal ins Bett zu gehen.

Sie hätte so gern gesagt: Schau, dein Vater ist tot, er war der vornehmste, warmherzigste Mensch, den ich kannte, aber er hat mich… Das Wort ließ sie erzittern. Sie mußte damals ohnmächtig gewesen sein, als es geschah. Gern hätte sie gesagt: Dein Vater ist Lord Darwin. Dann hätte sie auch sagen müssen, daß er bereits fünfhundert Jahre alt war. Nein, das würde ihr niemand glauben, sie würden sie für geistesgestört halten. Es änderte sich nichts, Cecile wußte nichts, gar nichts. Über diese Lücke in ihrem Gedächtnis hatte sie damals bald den Verstand verloren.

Erst gegen Morgen kroch Cecile endlich ins Bett zurück. Ihre Glieder waren steif, aber der Schlaf blieb aus. Da erinnerte sie sich plötzlich eines Ringes, den ihr Lord Darwin gegeben hatte, bevor er starb. Sie hatte ihn bei Pfarrer Chrayg in Wratt in Verwahrung gegeben und nie wieder daran gedacht. Ganz heiß wurde ihr bei diesem Gedanken. Sie fuhr im Bett hoch.

Das Ereignis auf dem Kap stand bedrückend deutlich vor ihren Augen, als sei es erst gestern gewesen. Gab es eine Möglichkeit, Tessa zu helfen? Sollte sie zurückkehren nach Wratt? Würde sie das Geheimnis noch lösen können? Diese bange Frage dröhnte in ihren Ohren. Sie sah das Gesicht Dr. Dennistons vor sich. Sicher war er längst verheiratet und erinnerte sich kaum noch an sie, die ihn so plötzlich verlassen hatte, ohne Gründe zu nennen, ohne Abschied.

James Denniston war ein verständnisvoller Mann gewesen. Warum nur hatte sie nicht den Mut gefunden, mit ihm zu sprechen? Sie war voller Panik davongelaufen.

Cecile schlug die Bettdecke zurück und ließ die Beine über die Bettkante hängen. Ihre Gedanken arbeiteten jetzt ganz klar und nüchtern. Sie mußte herausfinden, was damals geschehen war. War es überhaupt möglich, nach so vielen Jahren das Problem zu lösen, das sie so lange erschreckt und geängstigt hatte? Aber – hatte sie noch eine andere Wahl? Heute bekam sie die Rechnung präsentiert, die sie begleichen mußte – nicht für sich, für Tessa, ihre Tochter.

*

Es war ein sonniger Morgen, als Cecile Finley in Wratt eintraf, trotzdem fror sie bis ins Innerste. Ein eisiger Wind wehte vom Atlantik her. Ihre Gedanken gingen um neunzehn Jahre zurück. Damals war sie mit einem Fischerboot von Durness nach Wratt gekommen. Es war eine stürmische Überfahrt geworden, mit Sturm und Regengüssen. Sie würde nie vergessen, was sie empfunden hatte, als das Kap auftauchte, auch die Angst der Fischer hatte sie deutlich vor Augen.

Cecile atmete tief durch und sah sich dann auf dem kleinen Bahnsteig um. Sie war die einzige, die hier ausgestiegen war. Ein junger Mann fiel ihr auf, der einen Fotoapparat in der Hand hielt und sich bemühte, ein Bild von ihr einzufangen. Überrascht riß sie die Augen auf und blickte ihn fragend an. Er winkte ihr zu, einen Moment still zu stehen. Unbewußt kam Cecile dieser Aufforderung nach. In ihrem Gesicht spiegelten sich Erstaunen und Überraschung.

Er kam mit schnellen Schritten näher. Sein Gesicht war sehr jung, er wirkte sympathisch. Er trug verwaschene Jeans und eine lange Wolljacke, die offen um seinen schmalen Körper wehte. Seine Haare waren gelockt und von einem seidigen Schimmer.

»Finden Sie keine lohnendere Objekte?« fragte Cecile ein wenig spöttisch.

»Ich habe Sie doch damit nicht belästigt?« Es klang ängstlich.

Cecile winkte ab, für sie schien das Gespräch beendet. Aber er blieb an ihrer Seite. »Es ist mein Hobby«, sagte er mit einem schüchternen Lächeln. »Es kommen so selten Fremde nach Wratt.«

Cecile nickte zustimmend. Ja, das kannte sie noch. Wer in diesen abgelegenen Fischerort fuhr, kannte sein Ziel. Es gab nichts Aufregendes in Wratt, das Fremde anlocken konnte.

»Sie sind mir doch nicht böse?« wollte er zutraulich wissen.

»Nein, nein, ich war nur so überrascht über Ihren Empfang.«

»Werden Sie erwartet?« fragte er, sich suchend umsehend.

»Ich glaube nicht.«

»Kann ich Sie irgendwo hinbringen?«

Cecile schaute den jungen Mann genauer an. Irgend etwas in seinem Gesicht erinnerte sie an jemanden, aber sie wußte nicht an wen. Sie konnte ihn gar nicht kennen, dafür war er zu jung und bestimmt noch nicht geboren worden, als sie damals hier weilte.

»Ich möchte zu Pfarrer Chrayg«, antwortete sie schnell entschlossen. »Aber ich kenne den Weg, bemühen Sie sich nicht.«

»Schade, ich hätte Sie gern begleitet. Ich habe Sie noch nie gesehen. Wann waren Sie denn das letzte Mal hier?«

Unnötigerweise errötete Cecile. »Vor neunzehn Jahren«, erwiderte sie fast gegen ihren Willen.

»Oh! Dann wollen Sie sicher in die Kirche?«

»Nein, nicht in die Kirche, zu Pfarrer Chrayg persönlich.«

»Wissen Sie nicht, daß er längst pensioniert ist? Er wohnt schon lange Jahre in einem kleinen Haus am Rande des Ortes.« Der junge Mann deutete mit dem Arm die Straße hinunter. »Wußten Sie das nicht?«

In Cecile kroch ein Gefühl der Unsicherheit hoch. »Geht es da nicht zu den Kapfelsen?« erkundigte sie sich verwundert, während ihre Stimme seltsam belegt klang.

»Da geht es zum Leuchtturm!« Er lachte.

Cecile blieb stehen. »Zum Leuchtturm?« wiederholte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Leuchtturm auf dem Kap stand, als ich das letzte Mal hier war.«

»Er steht schon einige Jahre.«

Cecile schüttelte den Kopf. »Ich war in der Tat lange nicht hier«, murmelte sie versonnen. »Anscheinend hat sich doch einiges geändert.«

»Das kann ich nicht beurteilen«, entgegnete der junge Mann. »Soviel ich weiß, hat man ihn vor zehn Jahren gebaut.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte Cecile: »Sie sind aus Wratt?«

»Nein, nicht direkt. Ich wohne ein ganzes Stückchen weiter südlich, aber ich bin oft hier, weil ich in Wratt Freunde habe.«

»Wie schön für Sie.« Warum gebe ich mich mit ihm ab? dachte Cecile. Das alles interessiert mich nicht. Sie beschleunigte jetzt ihre Schritte und griff nach dem Koffer, den er fest in der Hand behielt.

»Keine Sorge, ich bringe Sie zum alten Pfarrer«, sagte er lächelnd.

Irgendwie gefiel er ihr, er hatte einen offenen Blick und wirkte vertrauenerweckend. Sie zog die Hand zurück und nickte. Cecile dachte, daß er sich vielleicht etwas Geld verdienen wollte, es gab nicht viele Möglichkeiten in diesem Ort, und Arbeit war hier schon immer knapp gewesen, wie sie sich erinnerte.

»Sind Sie verwandt mit ihm?« fragte er plötzlich, während ihr Atem etwas schwer wurde, weil der Wind jetzt von vorn kam und ihr das Durchatmen erschwerte.

»Nein.«

Er spürte, daß sie nicht darüber reden wollte. »Na ja, geht mich ja nichts an«, sagte er. »Ich meine nur, warum er Sie nicht hat abholen lassen.«

Cecile antwortete nicht, sie hatte genug damit zu tun, sich gegen den starken Wind zu behaupten.

»Wenn Sie ein Bild haben möchten, bringe ich es zu Ihnen. Werden Sie länger bleiben?«

»Das kann ich noch nicht sagen, es hängt von den Umständen ab. Eigentlich habe ich vor, gleich wieder abzureisen. Vielleicht bleibe ich auch einige Tage, ich weiß es noch nicht.«

Wie konnte Cecile in diesem Augenblick wissen, daß große Dinge sie erwarteten und daß sie in Wratt bleiben würde, wenn sie des Rätsels Lösung gefunden hatte.

»Schade«, rief er treuherzig.

»Na ja«, sagte Cecile. »Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, würde ich mich darüber freuen. Bringen Sie es halt vorbei, damit ich mich überzeuge, was Sie aufgenommen haben!«

Sie gingen an dem Haus vorüber, in dem damals der Pfarrer gewohnt hatte. Sie erinnerte sich sofort an das erste Mal, wo sie ihn aufgesucht hatte. »Wieso wohnt Mr. Chrayg in einem neuen Haus?« fragte sie unvermittelt.

»Es ist kein neues Haus, aber ich glaube, an die zehn oder fünfzehn Jahre wird er wohl schon dort wohnen mit seiner alten Haushälterin.«

»Wenn ich mich nicht irre, hieß sie Martha?«

»Ja, das ist sie. Sie hat ihn ganz schön an der Kandare.« Er lachte unmißverständlich auf und zeigte dabei blendendweiße Zähne.

Cecile warf dem jungen Mann einen mißbilligenden Blick zu. Er verzog sein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.

»Verzeihung, ich hätte das wohl nicht sagen sollen?«

Nur mühsam konnte Cecile ein Lächeln unterdrücken, denn auch sie erinnerte sich ganz genau an die energische Martha.

Der junge Mann blieb plötzlich stehen. »Wir sind da«, verkündete er.

Cecile entnahm ihrer Handtasche ein Geldstück und reichte es ihm hin.

Entsetzt blickten seine Augen sie an, dann überzog ein tiefes Rot sein hübsches Jungengesicht, selbst seine Ohren waren glühend errötet. Er stellte den Koffer so schnell neben Cecile, daß sie einen Schritt zurücktrat. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und lief eilig davon, ohne sich umzusehen.

*

Eine Klingel gab es hier nicht, aber einen schweren Eisenkopf mit einem Ring. Nach zweimaligem Klopfen hörte sie schlurfende Schritte näher kommen. Dann ging die Tür auf. Cecile erkannte Martha sofort wieder. Sie war alt und klapprig geworden, aber ihre Miene drückte eiserne Entschlossenheit aus, ihre Haltung war fast herausfordernd. Unwillkürlich mußte Cecile lächeln.

»Guten Morgen, Martha«, sagte sie. »Ich möchte zu Pfarrer Chrayg!«

Die Augenbrauen Marthas zogen sich zusammen, und es entstand eine steile Falte auf ihrer Stirn. Vielleicht schüchterte sie andere Besucher mit ihrem unfreundlichen Blick ein, Cecile war eher belustigt.

»Er ist nicht mehr Pfarrer, da haben Sie den Weg ganz umsonst gemacht«, murrte Martha und maß die jüngere Frau abschätzend. Dann trat sie einen Schritt vor die Tür. »Es geht ihm nicht sehr gut«, sagte sie mit abgedämpfter Stimme. »Wenn Sie zum Pfarrer wollen, müssen Sie sich schon in sein Haus im Ort begeben, es liegt gleich neben der Kirche.« Damit wandte sie sich um und wollte die Tür schließen.

»Aber Martha!« rief Cecile lachend. »Erkennen Sie mich denn nicht mehr wieder?«

Die Haushälterin öffnete die Tür wieder etwas und unterzog Cecile einer erneuten Prüfung. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Sollte ich Sie kennen?« fragte sie nachdenklich. »Ich gebe zu, irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.«

»Ich bin…« Cecile stockte, ehe sie ihren richtigen Namen nannte, den Namen, unter dem Martha sie vermutlich wiedererkennen würde. »Cecile McLane!«

Martha prallte zurück. »Cecile McLane!« schrie sie leise auf. Ihre Hände hoben sich, und ihre Lippen zitterten ein wenig. Mit einem schnellen Griff zog sie die verwunderte junge Frau ins Haus und schlug die Tür mit leichtem Ruck zu. Dann trat sie einen Schritt zurück. »Cecile McLane«, murmelte sie fassungslos. »Wo haben Sie denn die ganzen Jahre gesteckt? Unser Pfarrer hat Sie überall gesucht, Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Warum haben Sie nie etwas von sich hören lassen?«

»Das sind viele Fragen auf einmal, Martha. Ich will es gern erzählen. Ist Pfarrer Chrayg wirklich ernstlich krank?«

Über Marthas Gesicht huschte ein spitzbübisches Lächeln. »Krank? Der? Der ist noch nie so gesund gewesen. Etwas wunderlich ist er halt geworden, aber wir sind alle nicht jünger geworden, nicht wahr?« Sie hielt inne und betrachtete Cecile mit erhöhter Aufmerksamkeit. »Ich sage nur manchmal, daß er sich nicht wohl fühlt, weil die Leute ständig etwas von ihm wollen. Möchte wissen, wozu der neue Pfarrer da ist, wenn alle nur zu Pfarrer Chrayg kommen. Ja, ja, sie haben noch Vertrauen zu ihm. Aber er braucht seine Ruhe, darum lasse ich nicht jeden zu ihm.«

Sie nahm Cecile den Mantel ab und stellte den Koffer zur Seite. »Cecile McLane«, sagte sie wie zu sich selbst. »Nach so langen Jahren! Er wird sich vor Freude kaum fassen können. Weiß Dr. Denniston, daß Sie hier sind?«

Der Name ihres einstmaligen Verlobten ließ Cecile zusammenfahren. Es war ihr unangenehm, daß Martha seinen Namen erwähnte, und sie hatte auch nicht vor, ihn aufzusuchen. Wahrscheinlich war er verheiratet und dachte nicht mehr an sie.

»Nein«, antwortete Cecile strenger, als sie es wollte. »Er weiß es nicht. Ich bin auch nur gekommen, weil ich mit Pfarrer Chrayg sprechen wollte.«

In diesem Moment rief eine tiefe, schnarrende Stimme vom Zimmer her. »Martha, wer ist es denn? Wo bleibst du so lange?«

Martha deutete mit dem Kopf zum Zimmer hin und schmunzelte: »Er ist neugierig wie ein kleines Kind«, kicherte sie. Dann eilte sie ins Zimmer. Cecile hörte, wie sich ihre Worte überschlugen.

»Was redest du da für ein wirres Zeug zusammen, Martha!« schimpfte er mit brummiger Stimme. »Kannst du das noch einmal wiederholen?«

»Ich habe es laut und deutlich gesagt«, widersprach Martha erregt. »Sie haben genau gehört, was ich sagte. Warum soll ich es wiederholen?«

Irgend etwas polterte zu Boden. Cecile machte schnell einige Schritte und blieb im Türrahmen stehen. Als er sie entdeckte, öffnete er seine Lippen, aber es drang kein Laut darüber hinweg. Er streckte ihr eine Hand entgegen. Seine Finger bewegten sich mit einer Heftigkeit, die seine Unruhe ausdrückten. Er bemühte sich aufzustehen, blieb aber schließlich doch sitzen. Der Schreck war ihm ordentlich in die Glieder gefahren.

»Miß McLane!« rief er, und seine Hand winkte erregt. »Sind Sie es wirklich, oder narrt mich ein Spuk?«

Cecile kam näher und ergriff seine noch immer ausgestreckte Hand. »Ich bin es wirklich, Mr. Chrayg«, antwortete sie leise.

Sein Gesicht war faltig geworden, und seine kleinen Augen blickten etwas wässerig zu ihr auf. Glück und Unglück seiner kleinen Gemeinde hatte er erlebt und mitempfunden, er war müde geworden. Sein Haar war weiß mit einem kleinen Stich ins Gelbliche. Wahrscheinlich war er früher einmal blond gewesen. Cecile zog sich schnell einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.

Seine kalten Finger umschlossen noch immer ihre Hand, als er seine Haushälterin mit düsterem Blick ansah, die sich vor Rührung die Augen trocknete.

»Was stehst da herum, Martha! Richte ein Zimmer für Miß McLane, sie wird bei uns wohnen.«

»Aber nicht doch«, warf Cecile erschrocken ein. »Ich wollte eigentlich heute noch zurückreisen.«

Er fuhr wütend auf. »Kommt gar nicht in Frage. Wir haben eine Menge zu ordnen«, verkündete er mit wichtiger Miene. »Es wurde Zeit, daß Sie sich um…« Er hielt mitten im Satz inne und nickte ziemlich heftig. »Sie werden schon sehen. Nur nicht alles auf einmal, das kann ich nicht mehr verkraften. Es ist möglich, daß ich alles durcheinander bringe. Lassen Sie mich erst ein wenig verschnaufen, dann reden wir weiter. Haben Sie schon gegessen?«

Cecile hatte den Eindruck, als würde sie Unruhe in den Alltag der beiden alten Leute bringen, darum sagte sie so ruhig wie möglich: »Bitte, regen Sie sich nicht so auf, Mr. Chrayg! Wenn Sie meinen, daß unser Gespräch wichtig ist, bin ich gern bereit, noch einen Tag länger zu bleiben, aber dann muß ich wirklich zurück. Ich habe einen Beruf und nicht lange Urlaub.«

Er winkte ab. »Schon gut«, murmelte er. »Sie werden mir alles erzählen. Wo Sie die ganzen Jahre gesteckt haben und ob Sie geheiratet haben.«

»Ist das wichtig?«

»Ich denke, daß Sie noch allein sind, ist es so?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil Sie immer noch McLane heißen, oder haben Sie den Namen nur genannt, damit ich mich besser entsinne?« Er zwinkerte mit einem Auge, was bei ihm grotesk wirkte.

»Nein«, erwiderte Cecile leise. »Ich heiße noch immer so.«

Der alte Mann nickte versonnen vor sich hin. Über sein Gesicht huschte ein Zug von Trauer. »Er ist auch noch immer allein«, flüsterte er und sah Cecile tief in die Augen.

Ohne, daß sie gefragt hatte, wußte sie, von wem der alte Mann sprach. Sie senkte schuldvoll den Kopf und preßte die Lippen fest aufeinander. »Es tut mir leid«, wisperte sie überwältigt.

»Als sein erster Zorn über Ihr plötzliches Verschwinden damals verraucht war, hat Doc Denniston Sie überall gesucht.«

Cecile schluckte heftig. »Er hat nach mir gesucht?« fragte sie überrascht.

»War das nicht sein gutes Recht? Er war mit Ihnen verlobt, und Sie standen dicht vor der Heirat. Was ist eigentlich damals in Sie gefahren?«

Cecile senkte den Kopf. »Er hat nach mir gesucht«, wiederholte sie versonnen.

»Leider vergeblich. Er war sogar zweimal bei einem Arzt in Edinburgh. Aber der wußte auch nicht, wo Sie abgeblieben waren, nachdem Sie Ihre Stelle bei ihm aufgegeben hatten. Die Ämter konnten auch keine Auskunft geben. Sie waren und blieben verschollen, einfach wie vom Erdboden verschluckt. Es hat ihn damals sehr getroffen.«

Cecile versuchte, sich James Dennistons Gesicht vorzustellen. Sie hatte es in all den Jahren aus ihrem Gedächtnis verdrängt, nun empfand sie, daß sie kaum noch eine Vorstellung von ihm hatte. Sein Gesicht hatte sich aufgelöst und war verschwommen.

»Ich hatte meine Gründe«, gab ­Cecile zu. »Aber das ist nun unwichtig geworden.«

»Sie sollten sich trotzdem aussprechen«, riet ihr der alte Mann. »Er verdient es um Sie, glauben Sie mir.«

Cecile schüttelte den Kopf. »Es ist so sehr lange her«, flüsterte sie. »Es wird nicht so einfach sein. Es ist viel geschehen in der Zwischenzeit. Neunzehn Jahre sind eine kleine Ewigkeit.«

»O ja, da haben Sie recht. Sie werden nicht da anknüpfen können, wo Sie aufgehört haben. Es braucht schon Mut, diese Zeit ungeschehen zu machen, besonders für ihn.«

»Ich habe nicht vor, mit ihm zu sprechen, Pfarrer Chrayg«, sagte Cecile fest.

Ärgerlich stampfte er mit dem Stock auf den Boden. »Dann gibt es einen anderen Mann in Ihrem Leben, nicht wahr?«

Cecile schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich glaube, ich habe immer nur James Denniston geliebt.« Ihre Stimme kam ganz leise. Seltsam, wie die neunzehn Jahre zusammenschmolzen und wie das Gesicht James langsam wieder Konturen bekam. Sie sah ihn wieder vor sich, jung, ernst, verantwortungsbewußt.

»Na also!« Der alte Mann schmunzelte. »Dann ist noch Hoffnung, Miß McLane. Er kommt übrigens öfter mal auf einen Sprung vorbei, um nach mir zu sehen. Er weiß, daß ich ungern aus dem Hause gehe. Aber er spricht nie von Ihnen. Das will aber nicht bedeuten, daß er Sie aus seinen Gedanken gestrichen hat.«

»Ich könnte es ihm allerdings nicht verdenken«, erwiderte Cecile.

Es blieb eine ganze Weile still. Dann fragte er »Haben Sie gleich hergefunden?«

»Ein junger Mann brachte mich her, den ich auf dem Bahnhof getroffen habe. Er hat mich fotografiert.«

»George?«

»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er war sehr freundlich.«

»Das kann nur George gewesen sein. Ich kenne ihn gut, der ganze Ort mag ihn.«

»Er sprach von einem Leuchtturm, der inzwischen errichtet worden ist.«

»Hat er Ihnen auch gesagt, wer ihn erbauen ließ?«

»Nein, wir haben nicht weiter darüber gesprochen.«

»Ja, er wurde bald nach dem Tode von…« Er hielt inne, und Ceciles Augen waren starr auf den alten Mann gerichtet.

Der Pfarrer nickte. »Sie erinnern sich an den Fremden, der in Ihren Armen starb, dort oben auf dem Felsen?«

»Ja«, hauchte sie. »Ich werde es wohl nie vergessen können. Es war Captain Wratt, nicht wahr?«

»Heute bin ich überzeugt davon, daß er es war. Damals wollte ich es nicht glauben, es sprach zuviel dagegen.«

»Aber er war es!« rief Cecile überzeugt und fest.

»Ich weiß. Ich pflege sein Grab. Es ist namenlos geblieben. Man wollte mir die Geschichte einfach nicht abnehmen, und gleich darauf wurde ich dann auch zwangspensioniert. Man glaubte wohl, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf.«

»Aber es war Captain Wratt – Lord Darwin«, verbesserte Cecile.

»Wie sollte ich das damals beweisen, mein Kind? Heute dürfte es noch schwieriger sein.«

»Erzählt man sich die Sage vom Captain Wratt denn nicht mehr?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das ist vorbei«, sagte er bedauernd. »Die heutige Jugend hat andere Sorgen und lacht über solche alten Geschichten.«

»Aber ich habe immer daran geglaubt – und Sie auch, nicht wahr?«

»Ich habe diese Sage gern erzählt, allen, die sie hören wollten, und ich erinnere mich, daß Sie mir damals aufmerksam zuhörten und vielleicht auch ein klein wenig über mich den Kopf schüttelten. Martha hat nie daran geglaubt, aber geschwiegen, weil etwas Geld dadurch reinkam.«

»Und heute?«

»Sie glaubt auch heute nicht daran.«

»Aber der alte Mann, der damals starb, er muß doch irgendwo hergekommen sein.«

»So sind die Menschen nun mal, was sie nicht begreifen, das gibt es für sie nicht.«

»Die Sage mutet wirklich wie ein Märchen an. Aber irgendwo haben diese alten Sagen wohl ein Körnchen Wahrheit.«

»Und das ist gut so, Miß McLane. Erinnern Sie sich, daß Sie mir einen Ring zur Aufbewahrung gaben, den der alte Mann Ihnen kurz vor seinem Tod zugesteckt hat?«

»O ja, er gab ihn mir, bevor er…«

»Sind Sie des Ringes wegen gekommen?«

Cecile biß sich auf die Lippen. »Nicht des Ringes wegen«, antwortete sie. Sie überlegte, wie sie dem alten Mann beibringen sollte, daß sie eine Tochter hatte, deren Vater ihr unbekannt war.

Mitten in ihre Überlegungen hinein ergriff er ihre Hände und drückte sie fast schmerzhaft: »Es ist gut, daß Sie da sind. Ich hätte diese Last nicht länger ertragen. Ich werde nicht mehr lange leben. Ich…« Er brach mitten im Satz ab, als überkomme ihn ein Schwindel, sein Gesicht wurde hektisch rot und seine Hände begannen unvermittelt zu zittern.

»Hat Sie der Ring belastet, Mr. Chrayg? Soll ich ihn mitnehmen?«

»Natürlich, er gehört Ihnen ja. Aber es hat eine besondere Bewandtnis mit diesem Ring. Er gehörte Captain Wratt, oder Lord Darwin, wie wir ihn jetzt nennen wollen. Darum bin ich auch so sicher, daß die Sage wirklich wahr ist. Es ist gut, daß Sie gekommen sind, Miß McLane, es ist gut so.« Er wiederholte sich. Tastend glitten ihre Blicke über sein Gesicht.

»Welche Bewandtnis könnte der Ring für mich haben, außer, daß er eine wertvolle Erinnerung ist?«

Er blickte sie scharf an. »Hat Ihnen der Alte, bevor er starb, nichts mehr mitteilen können?«

»Nein, ich erinnere mich, daß er es versuchte, ich habe ihn nicht verstanden. Es ging wohl über seine Kräfte.«

»Lassen Sie mir ein wenig Zeit, Miß McLane! Ich habe zu lange auf diesen Augenblick gewartet und möchte ihn genießen. Bitte, drängen Sie mich jetzt nicht! Es ist nicht mit wenigen Worten berichtet. Er war ein guter Mensch, dieser Lord Darwin, und er liebte Sie über alles, Cecile.«

Cecile stand auf. »Ich werde Martha in der Küche helfen«, sagte sie. »Wenn ich schon eine Nacht hierbleiben werde, müssen Sie mir erlauben, mich nützlich zu machen.«

»Nichts da!« befahl er mit rauher Stimme. »Es gibt jetzt Wichtigeres, sehr viel Wichtigeres.«

Cecile sah verwundert auf den alten Mann hinunter. War nicht alles gesagt, was zu sagen war? Ahnte er das Vorhandensein ihrer Tochter? Oder wußte er etwas darüber, wer ihr Vater war? Er benahm sich recht merkwürdig. Sie beugte sich zu ihm hinunter.

»Mr. Chrayg«, flüsterte sie, während sie ein heißes Gefühl durchrann. »Ich bin nicht allein!« Sie hielt den Atem an, aber er hatte sie wohl nicht richtig verstanden.

Er nickte. »Das kann ich mir denken. Eine hübsche junge Frau bleibt nicht lange allein. Armer James Denniston!«

»Ich meine keinen Mann, Mr. Chrayg«, berichtigte Cecile ihn verzweifelt.

»Sie sind nicht allein nach Wratt gekommen?«

»Doch, gewiß.«

»So? Sonst hätte Martha noch ein Zimmer herrichten müssen.«

»Sie verstehen mich nicht!« rief Cecile verstört.

»Es geht mich nichts an!« schnarrte er. »Wir brauchen keine Fremden. Es ist nicht gut, wenn andere eingeweiht werden. Nur Sie und mich geht das was an!«

Cecile starrte ihn entgeistert an. Nein, er wußte nichts von Tessa, sonst hätte er anders reagiert. Wenn er aber nichts darüber ahnte, konnte er ihr in dieser Beziehung auch nicht helfen. Sie bedauerte jetzt sehr, zu ihm gefahren zu sein. Sie hätte es wissen müssen. Und der Ring? Sie hatte neunzehn Jahre ohne diesen Ring auskommen können, warum sollte sie ihn jetzt so dringend benötigen? Nein, an dem Ring lag ihr nichts, obwohl es ein Andenken war, das sie in Ehren halten würde.

Sie schwiegen, und jeder war wohl die Jahre in Gedanken zurückgewandert und hatte die Ereignisse von damals heraufbeschworen.

Cecile dachte an jene Nacht, in der das Dorf Wratt sein fünfhundertjähriges Bestehen feierte. Sie hatte eine Einladung Lord Darwins auf seine Yacht angenommen, aber er war nicht gekommen, statt dessen empfing sie ein anderer, Lord Edwin. Sie hatte deutlich diese Nacht vor Augen und fühlte die Panik genauso wie damals. Es war Sommer gewesen, und sie hatte auf den Captain gewartet, den sie für Lord Darwin hielt, und nur, um Gewißheit über seine Identität zu erhalten, hatte sie dieser Einladung zugestimmt. Es waren keine weiteren Gäste anwesend, obwohl sie es gehofft hatte. Sie würde allein mit ihm sein, hatte sie gedacht, sie, das Mädchen und er, der Fremde. Aber er war ausgeblieben. Was war damals wirklich geschehen, in jener Nacht, da die Yacht hinaussegelte auf das offene Meer? Lord Edwin war bei ihr gewesen.

Hier erschrak Cecile. An diesen Mann hatte sie nicht mehr gedacht. Nun, von einem Augenblick auf den anderen, sah sie sein Gesicht vor sich, seine dunklen Augen, und fröstelte.

»Haben Sie Hunger?« fragte Pfarrer Chrayg, der sie schon eine ganze Weile beobachtete.

Nur schwer fand Cecile in die Gegenwart zurück. »Verzeihen Sie, ich war in Gedanken«, murmelte sie.

Der alte Mann versuchte, sich aus seinem Ohrensessel zu erheben, er nickte dabei. Auch Cecile hatte sich erhoben.

»Mr. Chrayg«, sagte sie und hielt den Atem an. »Ich habe eine Tochter!«

»Was ist?« Es klang scharf. Dann hatte er ihre Worte erfaßt und klopfte mit dem Stock auf den Boden, daß Cecile glaubte, er würde die Dielen durchstoßen. Das Holz klang hohl. »Was haben Sie?« fragte er mit überlauter Stimme.

Martha erschien in der Tür und schüttelte verwundert den Kopf. »Was ist denn nun schon wieder?« murrte sie, mit einem Augenzwinkern zu Cecile hinüber.

Überrascht schaute der alte Mann zur Tür. »Ich habe dich nicht gerufen, Martha! Verschwinde in deine Küche und laß uns in Ruhe!« Er schlug abermals mit dem Stock auf den Boden. Beide Frauen zuckten zusammen.

»Haben Sie ihn geärgert?« fragte Martha leise, die schnell nähergekommen war und Cecile stirnrunzelnd ansah. Aber er hatte ihre Worte gehört.

»Sie hat eine Tochter«, verkündete er mit lauter Stimme. »Sie hat wahrhaftig eine Tochter, Martha!« Er schaute Cecile­ über seine Brille hinweg forschend an. »Warum haben Sie das nicht gleich erzählt?«

Martha blickte Cecile staunend an. Der jungen Frau wurde recht unbehaglich zumute. Schließlich dröhnte seine Stimme wieder durch den Raum, sie kam knapp und klar. »Wie alt?«

»Achtzehn«, antwortete Cecile ebenso knapp.

»Achtzehn«, wiederholte er nachdenklich. Es dauerte eine Weile, bis er den Blick wieder von ihr abwandte und erneut mit dem Stock aufstieß. »Der Vater ist Doc Denniston?«

Cecile schüttelte den Kopf.

Der alte Mann taumelte zurück. Martha sprang hinzu und ließ ihn behutsam in seinen Ohrensessel zurückgleiten. Seine Augen blickten jetzt starr und ungläubig auf Cecile.

Martha warf ihr einen mißbilligenden Blick zu, der ihr bedeutete, sie möge den alten Mann nicht so aufregen.

Kaum hörbar kam jetzt die Stimme des Mannes aus dem Sessel. Er wirkte sehr müde, als er die Worte flüsterte. »Er ist es? Der Captain ist der Vater Ihrer Tochter?«

Cecile sank neben dem alten Mann auf die Knie und barg ihren Kopf auf der Lehne seines Sessels. Sie spürte, wie seine Hand liebkosend über ihr Haar strich.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie sehr leise. »Ich bin gekommen, um es herauszufinden. Tessa braucht Heiratspapiere und deshalb…«

Die Bewegung seiner Hand erstarrte. Für eine ganze Weile schwieg er, dann packte er ihre Schulter. »Ich will sie sehen!« rief er plötzlich mit veränderter Stimme, die jetzt sehr bestimmt und befehlend klang. »Sie soll sofort herkommen. Wenn ich sie sehe, werde ich den Vater in ihr erkennen, da bin ich sicher!«