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Dr. Marc Schmidt, Sprachheillehrer am Centre de Logopédie, Luxemburg, Dozent in der Ausbildung von ErzieherInnen und LehrerInnen, arbeitet seit über 20 Jahren im Vorschulbereich mit Kindern mit Sprachstörungen.

Außerdem von M. Schmidt im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:

Sprachtherapie mit mehrsprachigen Kindern (2014, ISBN 978-3-497-02446-9)

Kontextoptimierung für Kinder von 3–6 Jahren (2. Aufl. 2014, ISBN 978-3-497-02472-8)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra-fie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02754-5 (Print)

ISBN 978-3-497-60468-5 (PDF)

ISBN 978-3-497-60985-7 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Cover unter Verwendung eines Fotos von © spass/Fotolia

Abb. 5, 12, 14 und 15 stammen von: Lisa Valette, Daniel Schmitz, Angie Schmit-Voermans, Tim Kler,

Alyssa Santos, Pedro José und Lara Sofia Oliveira.

Satz: Jörg Kalies – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Einleitung

1         Bestandsaufnahme und Grundlagen

1.1       Kindertagesbetreuung vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr

1.1.1    Kindertagesstätte und Kindergarten

1.1.2    Population

1.2       Herkunft und Verwandtschaft der Sprachen

1.3       Interkulturelles Lernen

1.4       Begriffserläuterungen

1.5       Positive Effekte der mehrsprachigen Erziehung

1.6       Spracherwerbsbedingungen

1.7       Spracherwerbsverläufe

1.8       Von der Umgangssprache zur Bildungssprache

2         Mehrsprachige Projekte

2.1       Bestandsaufnahme

2.2       Immersions- versus Angebotsmodelle

2.3       Allgemeine Effekte des Kita-Besuchs auf die kindliche Entwicklung

2.4       Studien zu Immersionsmaßnahmen

2.5       Vergleich zwischen additiven und alltagsintegrierten Maßnahmen

2.6       Erkenntnisse aus diversen Projekten

2.6.1    Studien in Österreich

2.6.2    Studien in Deutschland

2.6.3    Diglossie in der Schweiz

2.6.4    Europäische Studien

3         Kontrastoptimierung: ein Konzept mehrsprachiger Förderung

3.1       Grundlagen des Konzeptes

3.2       Zehn Prinzipien mehrsprachiger Förderung

4         Einschätzung der mehrsprachigen Kompetenzen

4.1       Meilensteine des Spracherwerbs

4.1.1    Grundlagen

4.1.2    Deutsch

4.1.3    Englisch

4.1.4    Romanische Sprachen

4.1.5    Slawische Sprachen

4.1.6    Türkisch

4.1.7    Arabisch

4.2       Sprachbiographie

4.3       Evozierte Sprachanalyse

5         Förderung mehrsprachiger Kinder nach dem Konzept der Kontrastoptimierung

5.1       Raumgestaltung und -ausstattung

5.2       Organisation der Sprachen planen

5.3       Erster Kontakt mit dem Kind

5.4       Eingewöhnungsphase

5.5       Erstes Rahmenthema: Geburtstag feiern

5.6       Weiterführendes Rahmenthema: Gefühle

5.7       Weiterführendes Rahmenthema: Farben und Formen

6         Elternarbeit

6.1       Elterngespräche

6.2       Konkrete Sprachfördersituationen

7         Roadmap zur Umsetzung des mehrsprachigen Konzeptes

Literatur

Sachregister

Online-Material

Eine Liste mit geeigneten Kinderbüchern können Leserinnen und Leser auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter www.reinhardt-verlag.de herunterladen.

Einleitung

In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben Globalisierung und Migrationsströme dazu geführt, dass die Anzahl der Menschen, die tagtäglich mit mehreren Sprachen in Kontakt sind, weiter gestiegen ist. Nach neuesten Schätzungen benutzt weit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung täglich mehrere Sprachen (Wartenburger 2010). Mehrsprachigkeit ist in den meisten Ländern der Welt der Normalfall.

In Westeuropa spiegelt sich diese Situation in zunehmendem Maße auch in den Kindertagesstätten (Kitas) und in der Schule wider. Die Anzahl der Kinder, die mehr als eine Sprache sprechen, wächst beständig. Im Klassenzimmer begegnen sich Schüler mit unterschiedlichen Herkunftssprachen und unterschiedlichen Kulturen. Viele von ihnen sprechen zu Hause eine andere Sprache als in der Kita oder in der Schule.

Die frühe Begegnung mit mehreren Sprachen wird vonseiten der Schulen, und ganz besonders von einer stetig anwachsenden Zahl an Kitas und Kindergärten, zusätzlich dadurch unterstützt, dass bewusst nicht nur eine, sondern parallel zwei Kommunikationssprachen angeboten werden. Sogenannte bilinguale Kindergärten verfolgen z.B. das Ziel, allen Kindern bereits in einem frühen Alter (zumindest) eine zweite Sprache zu vermitteln. Ferner werden in vielen Einrichtungen die Erstsprachen der Kinder konsequent in den Alltag einbezogen.

In zahlreichen Projekten wird auf die positiven Auswirkungen des frühen mehrsprachigen Kontakts hingewiesen: In einem frühen Alter sind die Kinder in der Lage, auf spielerische Art und Weise nicht nur eine, sondern zwei oder sogar drei Sprachen gleichzeitig zu lernen. Kinder mit einer anderen Herkunftssprache erwerben die spätere Unterrichtssprache im Idealfall schon als Kleinkind. Das Kind ist in einem frühen Alter fähig, mindestens in zwei Sprachen monolinguale Kompetenzen – auch als muttersprachliche oder erstsprachliche Kompetenzen bezeichnet – zu erwerben: In beiden Sprachen kann es sich noch vor der Einschulung mit großer Leichtigkeit ausdrücken. Auch in anderen Entwicklungsbereichen, bspw. auf sozialer, emotionaler und kognitiver Ebene, sollen Kinder, die schon früh intensiv mit zwei oder mehr Sprachen in Kontakt sind, Vorteile gegenüber einsprachig aufwachsenden Kindern besitzen.

„Mehrsprachige Kinder sind in der Regel längerfristig kognitiv leistungsfähiger und fremden Sprachen und Kulturen gegenüber toleranter“ (Wode 2000, 2).

Die Europäische Kommission fordert den frühen Kontakt mit mehreren Sprachen: In ihrem Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung (Europäische Kommission 1995) hat sie das Ziel formuliert, dass alle europäischen Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten, neben ihrer Muttersprache mindestens zwei weitere Sprachen zu lernen (ÖSZ 2012).

Diese Vielfalt an Sprachen, die im Umfeld der Kinder gesprochen werden, wirft einige wichtige Fragen auf:

   Inwieweit sind die Kinder tatsächlich in der Lage, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen? Die Sprachlernfähigkeit des Menschen ist prinzipiell auf Mehrsprachigkeit und nicht auf Einsprachigkeit ausgelegt: „Man kann heute guten Gewissens zur Einrichtung von bilingualen Kindergärten raten, weil wissenschaftlich nachgewiesen ist, dass, von pathologischen Sonderfällen abgesehen, jedes Kind in hinreichendem Maße über die erforderlichen Lernfähigkeiten verfügt“ (Wode 2000, 2). Unter „pathologische Sonderfälle“ werden Kinder verstanden, die von ihrer Anlage her keine guten Voraussetzungen mitbringen, um Sprachen zu lernen, z.B. Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES). Hierbei handelt es sich um Kinder, die Probleme mit der Sprachverarbeitung aufzeigen. Allerdings konnte auch bei diesen Kindern, wie auch bei Kindern mit Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung, nachgewiesen werden, dass sie in ihren Sprachen dieselben Sprachfähigkeiten erwerben wie Kinder mit vergleichbarer Problematik, die monolingual aufwachsen: „Mehrsprachigkeit ist keine zusätzliche Erwerbshürde für Kinder mit Beeinträchtigungen“ (Chilla/Niebuhr-Siebert 2017, 79).

   Sind der Mehrsprachigkeit demnach keine Grenzen gesetzt?

   Warum gibt es dann in den Schulen so viele Kinder, die nicht über die sprachlichen Kompetenzen verfügen, die für den Schulerfolg wichtig sind?

   Sind die Ursachen schulischer Misserfolge im mehrsprachigen Umfeld zu finden, oder spielen andere Faktoren eine zentrale Rolle?

   Wenn die Ursachen im mehrsprachigen Umfeld zu finden sind, inwieweit spielt dann die Anzahl der Sprachen, mit denen das Kind in Kontakt ist, eine Rolle?

   Oder liegen die Ursachen eher in der Beziehung zwischen dem Kind und seinen nahen Bezugspersonen, z.B. in der „emotionalen Qualität“ der zwischenmenschlichen Beziehung oder in der Intensität und Art und Weise, wie mit dem Kind gesprochen wird?

Im vorliegenden Buch werden diese zentralen Fragen der mehrsprachigen Erziehung, Förderung und Bildung im Mittelpunkt stehen:

   Im 1. Kapitel wird eine Bestandsaufnahme über grundlegende Themen, die in Zusammenhang mit dem simultanen und frühkindlichen mehrsprachigen Erwerb stehen, vorgenommen: von der aktuellen Situation in den Kitas über sprachstrukturelle Überlegungen, die positiven Effekte einer frühen mehrsprachigen Erziehung bis hin zur Beschreibung der günstigen Spracherwerbsbedingungen und möglichen Spracherwerbsverläufe.

   Im 2. Kapitel werden mehrsprachige Projekte analysiert und wichtige Prinzipien in den Vordergrund gestellt, auf denen das mehrsprachige Konzept basiert, welches in diesem Buch im Fokus steht.

Diese beiden ersten Kapitel befassen sich mit den Grundlagen der mehrsprachigen Förderung und geben einen Einblick in vielfältige Bereiche, die in einem fundierten Konzept Berücksichtigung finden sollten. Die einzelnen Kapitel und Unterkapitel sind so geschrieben, dass sie auch einzeln, jedes Kapitel für sich, verständlich sind und demnach nicht unbedingt in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden müssen. Auch die anschließenden Kapitel 3 bis 6, welche ganz konkret die Umsetzung in die Praxis aufzeigen, wurden so verfasst, dass sie ohne die theoretischen Vorkenntnisse, die in den beiden ersten Kapiteln erarbeitet werden, verständlich sind.

   Das mehrsprachige Konzept wird im 3. Kapitel anschaulich und praxisnah anhand von zehn elementaren Prinzipien beschrieben.

   Genauso praxisnah werden im 4. Kapitel die Rahmenbedingungen erläutert, die eine möglichst optimale Umsetzung des Konzeptes ermöglichen.

   Die konkrete Umsetzung des mehrsprachigen Konzeptes steht im 5., dem umfangreichsten Kapitel im Mittelpunkt: Anhand von vielen Beispielen und im Sinne einer gewissen Chronologie wird das Konzept Schritt für Schritt fassbar.

   Im 6. Kapitel wird gezeigt, wie das Konzept der mehrsprachigen Förderung über die Elternarbeit auch bis ins Elternhaus hineinreicht. Die Zusammenarbeit mit den Eltern beschränkt sich allerdings nicht nur auf dieses 6. Kapitel, sondern wird auch in den anderen Kapiteln immer wieder thematisiert.

   Eine Zusammenfassung des Konzeptes im Sinne einer „Roadmap“ rundet die Publikation ab: Schritt für Schritt werden noch einmal die wichtigsten Etappen aufgezeigt, in chronologischer Reihenfolge, die für die Umsetzung des Konzeptes mehrsprachiger Förderung von Bedeutung sind.

In diesem Buch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die meisten Personen, die in Kitas und vergleichbaren vorschulischen Einrichtungen arbeiten, weiblichen Geschlechts sind. Sie alle werden im vorliegenden Buch als „Pädagoginnen“ bezeichnet. Aufgrund der einfacheren Lesbarkeit werden Bezeichnungen, die sich nicht auf Berufsgruppen beziehen, die im pädagogischen Umfeld tätig sind, in ihrer männlichen Form verwendet.

1    Bestandsaufnahme und Grundlagen

1.1   Kindertagesbetreuung vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr

1.1.1  Kindertagesstätte und Kindergarten

Unter „früher Kindheit“ wird der Lebensabschnitt von der Geburt bis zum Eintritt in die Schule verstanden. Dem Säuglingsalter folgen nach Abschluss des ersten Lebensjahres das Kleinkindalter (zweites und drittes Lebensjahr) und das vorschulische Alter. Letzteres steht im vorliegenden Buch im Fokus und wird auch als Kindergartenalter oder als Elementarbereich bezeichnet.

Für diese Zeitspanne gibt es eine Reihe von familieninternen und -externen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungseinrichtungen (Aden-Grossmann 1997).

Kindergarten Die gebräuchlichste familienexterne Betreuungsform sind die Kindergärten (Wagner 2010): In Österreich ist der Kindergarten eine Einrichtung für die Kinder, die mindestens zweieinhalb Jahre alt sind. In Deutschland und in Luxemburg müssen die Kinder das dritte, in der Schweiz das vierte Lebensjahr vollendet haben. In den beiden skandinavischen Ländern Finnland und Schweden, die in den vergleichenden internationalen Qualitätsstudien überaus gut abschneiden, ist der Kindergartenbesuch oft schon ab dem ersten Lebensjahr möglich.

Kindergartenpflicht Für Kinder, die am 1. September des jeweiligen Jahres das fünfte Lebensjahr vollendet haben, ist der Kindergarten in Österreich gemäß dem oberösterreichischen Kinderbetreuungsgesetz seit 2010/2011 verpflichtend (mindestens 20 Stunden, soweit ausreichend Kindergartenplätze zur Verfügung stehen) mit dem Ziel, allen Kindern, unabhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft, beste Bildungsmöglichkeiten und Startchancen in das spätere Berufsleben zu bieten.

In der Schweiz sind ab dem Schuljahr 2015/2016 in der Mehrheit der Kantone zwei Jahre Kindergarten oder die beiden ersten Jahre einer Eingangsstufe in die Schulpflicht eingebunden (EDK 2017). Es gibt einige wenige Kantone in der Deutschschweiz, in denen der Besuch des Kindergartens nicht oder nur ein Jahr obligatorisch ist. Die große Mehrheit der Kinder besucht auch in diesen Kantonen während zwei Jahren den Kindergarten. In der Westschweiz werden die beiden Kindergartenjahre in der Regel zum „cycle 1“ oder „cycle primaire 1“ gezählt, die sich über vier Jahre erstrecken. Im Kanton Tessin wird zusätzlich zu den zwei obligatorischen Kindergartenjahren noch ein fakultatives Jahr für Kinder ab drei Jahren angeboten.

In Luxemburg können, ähnlich wie im Kanton Tessin in der Schweiz, die Kinder schon ab dem dritten Lebensjahr die sogenannte „Éducation Précoce“ besuchen, im Schuljahr ab dem vollendeten vierte Lebensjahr besteht Kindergartenpflicht.

In Deutschland gibt es seit dem 1. August 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Krippen- bzw. Kindergartenplatz vom vollendeten ersten Lebensjahr an, halb- oder ganztägig, je nach Berufstätigkeit der Eltern und Förderbedarf des Kindes. Eine Verpflichtung zur Einschreibung in einen Kindergarten gibt es aktuell in keinem deutschen Bundesland, trotzdem liegt die Besucherrate bei fast 94% (Statistisches Bundesamt 2012).

Neben den „traditionellen“ Kindergärten gibt es auch Kindergärten mit einem besonderen pädagogischen Profil, bspw. Waldkindergärten, Bauernhofkindergärten oder Kindergärten nach Montessori oder Waldorf. Zudem gibt es Kindergärten, die in der Sprache und nach den pädagogischen Grundlagen anderer Länder geführt werden: z.B. französische oder italienische Kindergärten im deutschsprachigen Raum. Die Umsetzung eines mehrsprachigen Konzeptes ist selbstverständlich auch in Kindergärten, die ein besonderes pädagogisches Profil pflegen, möglich.

Krippe In Abgrenzung zum Kindergarten werden Einrichtungen für jüngere Kinder als Krippen und für Kinder im Grundschulalter als Horte bezeichnet. Die Aufgabe der professionellen Betreuung besteht auch schon in Krippen darin, die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder zu unterstützen und zu erweitern, wobei in einem solch frühen Alter die sichere Bindung des Kindes an die Bezugsperson(en) eine entscheidende Rolle spielt (Wagner 2010; Kap. 1.6).

Tagespflege Zielgruppe der Tagespflege sind alle Altersgruppen. Die Betreuung findet in Gruppen durch ausgebildete Tagesmütter oder auch Tagesväter in deren Haushalt statt. Die Tagespflege ist in der Regel durch flexible Betreuungszeiten und kleine Gruppen von bis zu fünf Kindern gekennzeichnet.

Die Betreuung kann auch im Betrieb angeboten werden. Die betriebliche Kinderbetreuung ermöglicht den Eltern eine frühe Rückkehr in den beruflichen Alltag.

Kindertagesstätte Die Kitas sind sogenannte Kombi-Einrichtungen, die eine altersgemischte Betreuung anbieten. Sie sind in der Regel für Kinder ab dem ersten Lebensjahr bis zum Schulalter bestimmt. Unter Kita, in Österreich auch Ganztagskindergarten genannt, wird eine Einrichtung der institutionellen Kindertagesbetreuung verstanden. Die genaue Definition kann national und sogar regional unterschiedlich sein. Im Grunde bezeichnet der Begriff „Kindertagesstätte“ sowohl Kinderkrippen und Kindergärten als auch Schulhorte. Einrichtungen, welche diese drei Betreuungsmöglichkeiten miteinander kombinieren, werden häufig ebenfalls als Kita bezeichnet. In Deutschland werden demnach unter Kitas die Kindergärten implizit mit einbezogen. Im weiteren Verlauf des Buches wird demzufolge der Begriff „Kindertagesstätte“ als Oberbegriff verstanden.

pädagogisches Personal In Kitas sind in Deutschland neben pädagogischen Fachkräften auch Erzieherinnen, Kindheitspädagoginnen, Sozialpädagoginnen, Kinderpflegerinnen und ausgebildete Ergänzungskräfte angestellt. In den Kindergärten arbeiten in Österreich v.a. ausgebildete Kindergartenpädagoginnen, in der Schweiz und in Luxemburg neben Erzieherinnen v.a. Kindergärtnerinnen, die an Pädagogischen Hochschulen oder Universitäten ausgebildet wurden.

Pädagoginnen Im Folgenden wird das Personal, das in Kitas arbeitet, als „pädagogisches Team“ und die einzelnen Personen einheitlich als „Pädagoginnen“ bezeichnet, sie alle haben eine fundierte pädagogische Ausbildung.

1.1.2  Population

Betreuungsquote In Deutschland ist nach Wagner (2010) seit 1990 ein stetiger Zuwachs an öffentlichen und freien Kitas zu verzeichnen. Laut Statistischem Bundesamt (2016) lag die Quote der Kinder unter drei Jahren, die in Kitas oder in öffentlich geförderter Kindertagespflege betreut wurden, 2016 bei 32,7% (etwa 720.000 Kinder, Tendenz steigend) bei einem Betreuungsbedarf von 46%. Auffällig ist, dass die Quote der Kinder ohne Migrationshintergrund (38%) deutlich höher lag als diejenige mit Migrationshintergrund (22%). Die Betreuungsquote lag bei den 3- bis 6-Jährigen bei 93,6 %: 97% der Kinder ohne Migrationshintergrund, 90% der Kinder mit Migrationshintergrund besuchten eine Kindertageseinrichtung.

Anzahl mehrsprachiger Kinder In den Kitas erhöht sich die Zahl der Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, beständig: Zu Hause wird mehr als eine Sprache gesprochen, außerhalb der Familie wird eine andere Sprache gesprochen als zu Hause. Mehrsprachigkeit wird für viele Kinder schon in einem frühen Alter zur Normalität. Inwieweit Kinder mit Migrationshintergrund regelmäßig mit mehreren Sprachen in Kontakt sind, ist allerdings nur schwer einzuschätzen. Chilla et al. (2013) gehen insgesamt von etwa einem Drittel mehrsprachig aufwachsender Vorschulkinder in Deutschland aus.

Deutsch in der Familie Es gibt deutliche regionale Unterschiede bezüglich des Anteils der Kinder, die in der Familie nicht vorrangig deutsch sprechen. Hohe prozentuale Anteile erreichen v.a. Stadtkreise (in Baden-Württemberg liegt der Stadtkreis Stuttgart mit 42% an erster Stelle), weitaus geringere Werte erreichen viele ländliche Gebiete (in Baden-Württemberg die Landkreise Breisgau Hochschwarzwald und Emmendingen mit 10% bzw. 11%). In Österreich ist die Situation vergleichbar: An den Wiener Volksschulen haben 52,9% der Kinder eine andere Erstsprache als Deutsch, außerhalb Wiens liegt die Quote bei 24%. In über 60% der Familien in Luxemburg wird eine andere als die luxemburgische Sprache als Erstsprache gesprochen (Portail des statistiques 2015). Luxemburgisch ist eine von drei Amtssprachen (neben Französisch und Deutsch) und im Kindergarten die primäre Kommunikationssprache.

Viele Eltern einsprachig aufwachsender Kinder möchten ihre Kinder in einer Kita einschreiben, in der ihr Kind mit mindestens einer weiteren Sprache in Kontakt kommt. Nach Maywald (2002, 40f.) ist ihnen bewusst, dass sich die Kinder in diesem frühen Lebensabschnitt in einer äußerst sensiblen Entwicklungsphase befinden und dass ihnen somit eine hohe Lernfähigkeit zugeschrieben wird.

unterschiedliche Modelle Die Kitas versuchen, auch dieser Entwicklung Rechnung zu tragen, Mehrsprachigkeit als wesentliche Größe in die alltägliche Arbeit einzubinden und das Sprachangebot an die verschiedenen Zielgruppen anzupassen: Lernen der Majoritätensprache (z.B. Deutsch in Deutschland oder Luxemburgisch in Luxemburg), Lernen der Herkunftssprache (für Kinder aus sprachlichen Minoritäten, z.B. Türkisch oder Portugiesisch), Lernen der Majoritäten- und Minoritätensprache (z.B. Deutsch und Türkisch), Lernen einer zusätzlichen Sprache (z.B. Englisch oder Französisch zusätzlich zu Deutsch) (Wode 2000).

unterschiedliche Zielsetzungen In der vorliegenden Publikation wird dieser unterschiedlichen Zielsetzung der frühkindlichen Einrichtungen Rechnung getragen:

   Erwerb der deutschen Sprache als Majoritätensprache

   Wertschätzung und Förderung der Herkunftssprachen (z.B. Türkisch oder Portugiesisch)

   Einbezug einer zusätzlichen Sprache (z.B. Englisch oder Französisch)

Die Majoritätensprache wird im Folgenden als Kommunikationssprache bezeichnet. Unter Herkunftssprachen werden die Erstsprachen der Kinder verstanden, demnach die Sprachen, mit denen die Kinder zuerst, in der Regel im Elternhaus, in Kontakt kommen. Kinder mit deutscher Herkunftssprache sprechen als Erstsprache Deutsch, Kinder mit einer anderen Herkunftssprache (z.B. Türkisch) sprechen als Erstsprache diese andere Sprache. Kinder, die zu Hause von frühester Kindheit an mit zwei Sprachen aufwachsen, besitzen zwei Erstsprachen. Die dominante der beiden Sprachen ist in diesem frühen, vorschulischen Alter in der Regel die stärkste Sprache des Kindes, die Sprache, in der es sich am besten mitteilen kann.

Sprachförderbedarf Nach den Einschulungsuntersuchungen (ESU, ein Jahr vor der Einschulung) in den Landkreisen Rastatt und Baden-Baden hat in etwa jedes fünfte Kind einen intensiven Sprachförderbedarf. Darunter werden nicht nur Probleme in der Erstsprache, sondern auch geringe Kenntnisse in der deutschen Sprache als Zweit- oder Drittsprache verstanden, die dann eine intensive Unterstützung benötigen. Vergleicht man die Kinder mit unterschiedlichen Herkunftssprachen untereinander, so sind deutliche Unterschiede auszumachen: Eins von zehn Kindern mit Familiensprache Deutsch, sechs von zehn Kindern mit Familiensprache Türkisch hat bzw. haben einen sprachlichen Förderbedarf. Geprüft werden anhand eines standardisierten Sprachtests die Bereiche Aussprache, Wortschatz, Grammatik, Sprachverständnis und Sprachgedächtnis in der Kommunikationssprache Deutsch.

Umso wichtiger ist eine frühe sprachliche Förderung der Kinder:

„Die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder spielen in schulischen, ja auch schon in vorschulischen Bildungsprozessen eine zentrale Rolle. Mittels präventiver Maßnahmen im vorschulischen Bereich, wie der frühzeitigen Erfassung von sprachlichen Kompetenzen und einer früh einsetzenden Sprachförderung, versucht man, den Kindern einen besseren Start für ihre Bildungslaufbahn zu ermöglichen“ (Jampert et al. 2005, 11).

Aufenthaltsdauer Interessant ist auch der Trend, dass sich die Quote der Kinder, die von den verlängerten Öffnungszeiten der verschiedenen Einrichtungen Gebrauch macht, seit über zehn Jahren kontinuierlich erhöht (Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg 2011). In Baden-Württemberg lag die Anzahl der Kinder, die über sieben Stunden in einer Kindertageseinrichtung betreut wurden, bei knapp 15%, Tendenz steigend.

ZUSAMMENFASSUNG

Die vorliegende Publikation richtet sich schlussfolgernd primär an alle Pädagoginnen, die mit 3- bis 6-jährigen Kindern in Kitas arbeiten: Erzieherinnen, Kindergärtnerinnen, Kindheitspädagoginnen, Sozialpädagoginnen, Kinderpflegerinnen und ausgebildete Ergänzungskräfte. Die verschiedenen Einrichtungen zeichnen sich durch eine altersgemischte Betreuung aus.

Schlussfolgerung Die Anzahl der Kinder, die bereits in einem frühen Alter mit mehreren Sprachen in Kontakt kommen, erhöht sich beständig. Im Gegensatz dazu vermindert sich der Anteil der Kinder, die zu Hause deutsch (bzw. luxemburgisch) sprechen. Zudem schreiben viele deutschsprachige Eltern ihre Kinder, die zu Hause einsprachig deutsch aufwachsen, bewusst in eine Einrichtung ein, die neben dem Deutschen noch eine zusätzliche Sprache anbietet.

1.2   Herkunft und Verwandtschaft der Sprachen

In Europa werden 23 offizielle Sprachen gesprochen. Hinzu kommen Dutzende regionale Sprachen und Hunderte Sprachen der Emigranten aus nicht europäischen Ländern. Viele europäische Sprachen gehören, historisch gesehen, der indogermanischen Sprachfamilie an, der mit über drei Milliarden Sprechern größten Sprachfamilie weltweit (Schmidt 2014a, 15):

indoeuropäische Sprachen    die westgermanischen (u.a. Englisch, Deutsch, Niederländisch) und nordgermanischen (u.a. Dänisch, Schwedisch und Norwegisch) Sprachen

   die romanischen Sprachen (u.a. Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch und Rumänisch)

   die südslawischen (u.a. Bulgarisch, Serbokroatisch, Bosnisch, Slowenisch und Mazedonisch), westslawischen (u.a. Polnisch, Slowakisch und Tschechisch) und ostslawischen Sprachen (u.a. Russisch, Belorussisch und Ukrainisch)

Die Öffnung des Arbeitsmarktes, Krieg, Vertreibung und materieller Notstand haben dazu geführt, dass viele Länder Europas durch eine multikulturelle und vielsprachige Gesellschaft geprägt sind. Die verschiedenen Sprachen sind durch die hohe Anzahl von Migranten nicht mehr strikt an territoriale Grenzen gebunden.

Kinder mit Migrationshintergrund In Deutschland hat etwa jede fünfte Person einen Migrationshintergrund (Bundeszentrale für politische Bildung 2016).

DEFINITION

„Eine Person hat dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist“ (Statistisches Bundesamt 2017).

Zwei Drittel dieser Personen (66,9%) sind selbst eingewandert (erste Generation), ein Drittel (33,1%) in Deutschland geboren, wobei etwa die Hälfte über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügt.

Die meisten Personen mit Migrationshintergrund stammen aus der Türkei (16,7%), gefolgt von Polen (9,9%), Russland (7,1%), Kasachstan (5,5%) und Italien (4,5%) (Bundeszentrale für politische Bildung 2016).

Auch in Österreich haben mehr als 20% der 8,7 Millionen Einwohner einen Migrationshintergrund (Statistik Austria 2016). Dabei stammen 39% der Personen aus einem anderen EU- oder EWR-Staat oder aus der Schweiz. Aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens (ohne die EU-Mitglieder Slowenien und Kroatien) stammen 28%, 15% aus der Türkei.

Im Jahr 2015 hatten 36% der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren in der Schweiz einen Migrationshintergrund (ständige Wohnbevölkerung: 8,4 Millionen). Innerhalb von zehn Jahren stieg der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 29% auf 36% an (Neue Zürcher Zeitung 2015). Die meisten Personen mit Migrationshintergrund sprechen als Erstsprache Deutsch oder eine der romanischen Sprachen Italienisch, Portugiesisch, Französisch und Spanisch sowie Türkisch und Serbisch.

In Luxemburg sprechen die meisten Personen mit Migrationshintergrund Portugiesisch, dann Französisch, Italienisch und Deutsch. Sie stellen über 60% der Gesamtbevölkerung dar. Diese lag Anfang 2017 bei knapp 600.000 Einwohnern.

altaische Sprachen Unter den Migrationssprachen gehören Türkisch und Kasachisch nicht zur indogermanischen Sprachfamilie, sondern genau wie z.B. Aserbaidschanisch oder Usbekisch zu den altaischen Sprachen. Diese Sprachen sind eng miteinander verwandt und zeigen demnach viele sprachstrukturelle Gemeinsamkeiten auf: gewohnte Laute, sich ähnelnde Wörter und vergleichbare grammatische Strukturen. Besondere Kennzeichen der türkischen Sprache sind z.B.:

   Die Vokalharmonie, nur Vokale der gleichen Klangfarbe treten in einem Wort auf: Die Mehrzahl von „ev“ (Haus) ist „evler“ (Häuser), die Mehrzahl von „ad“ (Name) ist „adlar“ (Namen).

   Das fehlende grammatische Geschlecht und das damit verbundene Fehlen von Artikeln: „Der Teller“ heißt im Türkischen einfach „tabak“, „das Glas“ „bardak“ und „das Messer“ „bıçak“.

sprachstrukturelle Unterschiede Diese Beispiele (die Liste wäre um einiges zu verlängern) verdeutlichen, dass die altaischen Sprachen im Vergleich zu den indogermanischen Sprachen (z.B. Deutsch) viele sprachstrukturelle Unterschiede aufzeigen: Deutsch zeigt keine Vokalharmonie auf und hat sogar drei grammatische Geschlechter (männlich, weiblich, sächlich), die u.a. an den Artikeln verdeutlicht werden (z.B. den bestimmten Artikeln der, die, das). Ein Kind mit einer altaischen Erstsprache (z.B. Türkisch) benötigt demnach eine längere „Einhörphase“ in die deutsche Sprache als Zweitphase als ein Kind mit Erstsprache Englisch oder Holländisch. Es fällt einem Kind leichter, eine zusätzliche Sprache aus derselben Sprachfamilie zu lernen als eine Sprache aus einer anderen Sprachfamilie: Ein Kind mit Erstsprache Portugiesisch lernt sicherlich leichter Spanisch oder auch noch Italienisch oder Französisch (alles romanische Sprachen) als Russisch (slawische Sprache), Deutsch (germanische Sprache) und v.a. Türkisch oder Ungarisch.

Einhörphase Kinder aus der Türkei oder aus dem arabischen Raum, die ein erstes Mal im Kindergarten mit der deutschen Sprache in Kontakt kommen, brauchen in der Regel mehrere Monate, bis sie sich mit den Klängen der neuen Sprache anvertraut haben. Das neue „Sprachbad“ ist für sie „fremder“ als für Kinder, die zu Hause z.B. Englisch oder Holländisch sprechen.

„Studien konnten nachweisen, dass das Lernen von strukturell und lexikalisch ähnlichen Sprachen zu Beginn schneller erfolgt als voneinander sehr unähnlichen Sprachen“ (ÖSZ 2017, 12).

finnourgische Sprachen Ungarisch, Finnisch, Estnisch und Lappisch gehören als sogenannte „Sprachinseln“ innerhalb Europas zu den finnougrischen Sprachen und haben nur wenige Gemeinsamkeiten mit den indoeuropäischen Sprachen. Ihnen wird eine größere Nähe zu den erwähnten altaischen Sprachen (z.B. Türkisch) nachgewiesen.

Merkmale der indoeuropäischen Sprachen Das Hauptkennzeichen der indoeuropäischen Sprachen besteht darin, dass sie einen flektierenden („beugenden“) Sprachauf bau besitzen. Mithilfe von Flexionsmorphemen werden grammatische Funktionen dargestellt, bspw. die Flexion der Verben, Artikel, Adjektive oder Nomen:

Das Osterei liegt hinter dem dicken Baum.

Sprachaufbau flektierender Die Flexionsmorpheme sind an grammatische Regeln gebunden. Allerdings sind viele „Endungen” nicht eindeutig, sodass das Erfassen einer zu lernenden grammatischen Regel besonders auch für Zweitsprachlerner nicht einfach ist:

Ich verstecke mich unter dem roten Tisch.

Sowohl das Flexionsmorphem „em” als auch das Flexionsmorphem „en” weisen auf eine Dativmarkierung hin.

Wir spielen, sie spielen.

Die Verbendung „en” kann sowohl auf die erste als auch auf die dritte Person Mehrzahl verweisen.

Diese Art von Schwierigkeiten taucht in den altaischen, wie in allen anderen agglutinierenden Sprachen, nicht auf:

images In einer agglutinierenden Sprache wird eine Bedeutungseinheit, bspw. Person, Zeit oder Kasus, durch ein einzelnes und eindeutiges Affix (Präoder Suffix) ausgedrückt.

Ein Beispiel aus dem Türkischen verdeutlicht dies: „göz“ (Auge), „gözler“ (Augen), „gözleri“ („Augen“ im Akkusativ). Das Affix „ler“ weist eindeutig auf die Mehrzahl hin, das Affix „i“ genauso eindeutig auf den Akkusativ.

isolierende Sprachen Auch in isolierenden Sprachen, Sprachen, die weder flektierend noch agglutinierend sind, gibt es diese Schwierigkeiten im Erfassen einer grammatischen Regel, wie sie in flektierenden Sprachen bestehen, nicht. Das Chinesische bspw. besteht als typische isolierende Sprache fast nur aus Wortstämmen (ohne Endungen) und unterscheidet sich besonders dadurch von den indoeuropäischen Sprachen.

Englisch Am Beispiel des Englischen (einer westgermanischen Sprache) kann man feststellen, wie sich die Sprachen im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger schnell verändern. Vor tausend Jahren entsprach Englisch strukturell ungefähr dem Deutschen, war eine stark flektierende Sprache mit vielen Endungen. Seit der Invasion der Normannen im Jahre 1066 hat sich die Sprache in Richtung einer isolierenden Sprache hin entwickelt und seine flektierten Formen zum allergrößten Teil verloren: „I eat, you eat, he eats, we eat, you eat, they eat.“ Nur noch in der dritten Person Einzahl taucht mit der Endung „-s“ ein Flexionsmorphem auf. Ähnliche Verläufe haben bspw. auch das Französische oder das Dänische genommen.

rigide oder flexible Syntax Eine Sprache mit wenigen Flexionsmöglichkeiten (v.a. Englisch, aber zum Teil auch Französisch) braucht eine rigide Syntax. Die einzelnen Wörter im Satz haben eine bestimmte Stellung, die mehr oder weniger fest ist:

Aujourd’hui, je mange une pomme à l’école.

(Wort für Wort übersetzt: Heute, ich esse einen Apfel in der Schule.)

Im Deutschen ist die Satzstellung flexibel:

Heute esse ich einen Apfel in der Schule.

In der Schule esse ich heute einen Apfel.

Ich esse heute in der Schule einen Apfel.

Einen Apfel esse ich heute in der Schule.

Aus mehreren Gründen ist es sinnvoll, die Zuordnung der Erstsprachen der Kinder zu einer bestimmten Sprachfamilie zu kennen genau wie die wichtigsten sprachstrukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die zwischen den Sprachen bestehen. Diese Aspekte werden in der Darstellung des Konzeptes im 3. Kapitel besonders im Fokus stehen:

Die Einhörphase dauert, wie oben erwähnt, in der Regel umso länger, je größer die sprachstrukturellen Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache sind.

images Die schnelleren Fortschritte beim Erwerb der Zweitsprache des einen Kindes im Vergleich zu einem anderen sind meistens dadurch bedingt, dass Erst- und Zweitsprache „näher“ zusammenliegen, demnach von den Lautstrukturen, vom Wortschatz und von der Grammatik her viele Ähnlichkeiten aufzeigen.

Gemeinsamkeiten Die Strukturen, die in Erst- und Zweitsprache vergleichbar sind, sind in einer ersten Phase besonders motivierend für das Kind, weil es diese schnell auf die neue Sprache übertragen kann. Dies trifft ganz besonders auf Wörter mit vergleichender Lautgestalt zu. Diese werden als „semantische Freunde“ bezeichnet:

BEISPIEL

eine Banane – a banana (englisch) – une banane (französisch) – a banana (portugiesisch) – una banana (italienisch) – bananu (bosnisch) – банана (serbisch) – banan (polnisch) – банан (russisch) – バナナ (japanisch). Auch das serbische, russische und japanische Wort für „Banane“ ähnelt, trotz unterschiedlicher Schreibweise, von der Lautgestalt her dem deutschen.

Unterschiede Äußerungen von Kindern in der Zweitsprache Deutsch, die als „fehlerhaft“ oder zumindest „ungewohnt“ wahrgenommen werden, sind oft auf sprachstrukturelle Unterschiede zwischen Erst- und Zweitsprache zurückzuführen:

BEISPIEL

Mélanie spricht zu Hause Französisch, im deutschen Kindergarten erzählt sie der Lehrerin: „Gestern ich habe gespielt mit die Oma.“ Die Schwierigkeiten mit der syntaktischen Anordnung der Wörter und den Wortendungen sind auf Unterschiede, die zwischen der deutschen und französischen Sprache bestehen, zurückzuführen: „Hier, j’ai joué avec la grand-mère.“

Unterschiedliche Strukturen führen zu vielen „negativen Transfers“, die in der Förderung der Zweitsprache besonders beachtet werden müssen.

Sprachen der Flüchtlinge Die zahlreichen Flüchtlinge, die aktuell in Europa einreisen, kommen aus den unterschiedlichsten Ländern, v.a. aus dem Mittleren Osten und aus Afrika. So verschieden ihre Herkunft ist, so verschieden sind auch die Sprachen, die sie sprechen:

   in Syrien und Irak v.a. Arabisch und Kurdisch

   in Afghanistan v.a. Persisch (in Afghanistan wird das Neupersische als „Dari“ bezeichnet, im Iran als „Farsi“) und Paschtu (oder Paschtunisch)

   in Eritrea u.a. Arabisch

Persisch (u.a. Dari und Farsi), Paschtu und Kurdisch gehören zur indoeuropäischen Sprachfamilie und sind demnach auch flektierende (beugende) Sprachen.

Arabisch ist die meistverbreitete Sprache der semitischen Sprachfamilie (gehört demnach nicht den indoeuropäischen Sprachen an), wird von rund 300 Millionen Menschen in 22 arabischen Ländern und zahlreichen anderen Ländern in Asien und Afrika gesprochen und ist auch eine flektierende Sprache.

Es gibt verschiedene Dialekte, welche das Arabische in den einzelnen Ländern färben, bspw. ein irakisches Arabisch oder ein syrisches Arabisch. Auch im Kurdischen gibt es mehrere Hauptdialektgruppen: Kurmandschi (Nordkurdisch), Sorani (Zentralkurdisch) und Südkurdisch, wobei Kurmandschi die weitverbreitetste kurdische Sprache ist.

1.3   Interkulturelles Lernen

„Die Beziehung zwischen Sprache und Kultur ist durch ein interdependentes Verhältnis gekennzeichnet, sodass Mehrsprachigkeit und Kultur nur schwerlich voneinander zu trennen sind. Denn erlernt der Mensch eine Sprache, erwirbt er in einem längeren Prozess Kulturspezifika und betritt damit neues Kultur-Terrain“ (Wischnewski 2013, 94).

soziokulturelle Komponente Sprache hat demnach eine starke soziokulturelle Komponente. Mit jeder neuen Sprache wird nicht nur sprachenspezifisches, sondern auch kulturgebundenes Wissen vermittelt und somit bestimmte Lebenshaltungen und -einstellungen. Eine neue Sprache ermöglicht den Zugang zu neuen Gedanken und Werten zu jener Gemeinschaft, die diese Sprache spricht. Sie ist immer auch ein Zeichen von Gruppenzusammengehörigkeit und von kultureller Identität (ÖSZ 2012).

images Jede Sprache ist ein Teil einer Kultur, mit der Lebensart, Traditionen, Werte und Gefühle verbunden sind.

Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, erschließen mit jeder weiteren Sprache neue kulturelle Werte, die ihre Identität mitprägen. Die folgende Aussage einer Mutter, deren Kind Deutsch als Zweitsprache erwirbt, verdeutlicht dies: „Durch die Zweisprachigkeit entwickelt mein Kind eine besondere Identität“ (Kuyumcu/Schulz-Schneider 2011, 5).

Transkulturalität Viele Eltern mit Migrationshintergrund erleben eine Vermischung verschiedener Kulturen: die Vermischung der Kultur, die sie v.a. als Kinder in ihrem Elternhaus erlebt haben, mit den kulturellen Besonderheiten, denen sie in der Gesellschaft, in der sie leben, begegnen.

Transkulturalität stellt diesen Aspekt der Vermischung in den Vordergrund und geht davon aus, dass Kulturen nicht homogene, klar voneinander abgrenzbare Einheiten sind. Sie werden, besonders infolge der Globalisierung, zunehmend miteinander vernetzt.

Multikulturalität und Interkulturalität werden demgegenüber wie folgt definiert:

DEFINITION

Multikulturalität, Interkulturalität Unter Interkulturalität wird das Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Kulturen verstanden, bei dem es zwar zur gegenseitigen Beeinflussung (Ikud 2017), nicht aber zur völligen Vermischung kommt (wie erwähnt, spricht man in dem Fall von Transkulturalität). Multikulturalität wird als ein Nebeneinanderbestehen verschiedener Kulturen definiert.

Die Akzeptanz, das Interesse und die Anerkennung einer kulturellen Gemeinschaft gegenüber einer anderen hat einen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung der Kinder und besonders auf deren Motivation, die neue Sprache zu lernen. Dies trifft natürlich auch auf die Flüchtlingsgemeinschaften und besonders die Flüchtlingskinder zu, die, wie oben erwähnt, zu einem großen Teil aus dem arabischen Raum kommen.

Einstellung der Eltern Für das Kind sind an erster Stelle die Einstellungen der nahen Bezugspersonen, insbesondere der Eltern, gegenüber der/den Erstsprache(n) wichtig. Wird eine Sprache im Elternhaus geschätzt, so hat dies positive Auswirkungen auf die Motivation des Kindes, die Sprache zu lernen (Triarchi-Hermann 2012). Die Einstellung der Eltern zu ihrer Erstsprache hängt stark vom Prestige der jeweiligen Sprache ab. Viele westeuropäische Sprachen und besonders die Bildungs- oder Unterrichtssprachen genießen in der Regel einen hohen Stellenwert. Kenntnisse im Englischen, Französischen oder Spanischen werden zumeist als Ressource wahrgenommen. Im 3. Kapitel wird aufgezeigt, wie wichtig eine gut entwickelte Erstsprache für die Gesamtentwicklung des Kindes und speziell für den Erwerb mehrsprachiger Kompetenzen ist und wie wichtig die Einstellungen der Bezugspersonen des Kindes im Spracherwerbsprozess sind.

Einstellung des pädagogischen Teams Die Einstellung des pädagogischen Teams gegenüber den Erstsprachen der Kinder wirkt sich auch positiv auf die sprachliche Entwicklung der Kinder aus. Grundsätzlich ist es sprachförderlich, wenn die kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit als Bereicherung angesehen werden (Ringler et al. 2013). Die Akzeptanz und Einbindung kultureller Vielfalt sollten demzufolge als Bereicherung aufgefasst und tagtäglich gelebt werden.

Ringler et al. 2013, 50