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Teresa Koloma Beck/Klaus Schlichte

Theorien der Gewalt zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2014 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: J.C. Füllhaas, Schlacht bei Solferino (1859)

© ÖNB, Bildarchiv 403.928-B

E-Book-Ausgabe September 2018

978-3-96060-062-6

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-080-2

1. Auflage 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Einleitung

2.Gewalt als sozialwissenschaftliches Problem

2.1 Das Andere der modernen Gesellschaft: Gewalt in der sozialwissenschaftlichen Tradition

2.2 Zum Begriff der Gewalt

2.3 Abgrenzung zu anderen Begriffen

2.4 Die umstrittene Legitimität des Gewaltmonopols

3.Rechtfertigung und Kritik der Gewalt

3.1 Zur Rechtfertigung der Staatsgewalt

3.2 Kritik der staatlichen Gewalt

3.3 Zur Rechtfertigung des Krieges

3.4 Die Kritik des Krieges und der Gewalt

4.Erklärende Gewalttheorien

4.1 Der Brückenschlag: Theorien von Macht und Herrschaft

4.2 Der Blick aufs Detail: Gewaltphänomenologie

4.3 Gewaltordnungen

4.4 Gewalt und Subjekt

5.Schluss: Vom Verschwinden der Gewalt

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über die Autoren

1. Einleitung

Gewalt zählt zu jenen Phänomenen menschlichen Zusammenlebens, die – wie Armut oder Klimawandel – gemeinhin als »Problem« wahrgenommen werden. Gewalt findet statt, wo Menschen einander absichtlich etwas zuleide tun, und das Problem besteht darin, dass dies so einfach möglich ist. Denn die menschliche Existenz ist fragil. Unsere Haut ist dünn. Und es braucht nicht viel, um darunter liegende Organe lebensgefährlich zu schädigen. So ist jeder von uns verletzbar und gleichzeitig fähig, einen anderen zu verletzen. Das Nachdenken über diese Konstellation hat eine lange Geschichte, die weit vor den Beginn wissenschaftlichen Denkens zurückreicht. Denn sie wirft ganz grundsätzliche Fragen auf, was die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Zusammenlebens betrifft.

Blickt man jedoch auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema, so fällt auf, dass Gewalt die Aufmerksamkeit sehr verschiedener Disziplinen und Teildisziplinen auf sich zieht. Dies liegt in der Dynamik von Gewaltereignissen selbst begründet, die gleichzeitig Strukturen des Sozialen wie des Individuellen berühren, die Psyche ebenso wie die organischen Bedingungen menschlichen Lebens. Gewalt – von der Ohrfeige des Vaters in das Gesicht des Kindes über die Schlägerei unter Jugendlichen bis zu Hinrichtung, Folter und Krieg – kann menschliches Zusammenleben drastisch verändern. Das macht sie zum genuinen Gegenstand sozialtheoretischer und sozialwissenschaftlicher Reflexionen. Doch betreffen diese Ereignisse immer auch individuelle Körper und Bewusstseine, denn sie verletzen, lösen Schmerz aus, vegetative Erregungszustände, Affekte und Emotionen. Vor diesem Hintergrund beschäftigen sich seit dem frühen 20. Jahrhundert zunehmend auch die Naturwissenschaften – von der Zoologie über die Entwicklungspsychologie bis zu Neurobiologie und Genetik – mit dem Thema.

Gewaltphänomene werden also im Kontext verschiedener Disziplinen, mittels unterschiedlicher Methoden und vor dem Hintergrund sehr verschiedener Konzepte untersucht. Oft unterscheiden sich schon die gestellten Probleme. Doch selbst wenn es eine gemeinsame übergeordnete Fragestellung gibt – beispielsweise die nach den Entstehungsbedingungen von Gewaltbereitschaft –, fallen die Antworten unterschiedlich aus, je nachdem, ob sie beispielsweise von einem Neurowissenschaftler gegeben werden, der Stoffwechselprozesse im Gehirn untersucht; von einer Evolutionspsychologin, die nach entwicklungsgeschichtlichen Determinanten fragt; von einem Genetiker, der sich mit erblichen Prädispositionen beschäftigt; von einer Soziologin oder einem Ethnologen, die nach den gesellschaftlichen Bedingungen individueller Gewaltbereitschaft fragen, oder von einer Politikwissenschaftlerin, die sich mit den Auswirkungen der politischen Ordnungen auf individuelles Gewalthandeln beschäftigt. So stehen diese verschiedenen Zugänge keineswegs in einem harmonisch-komplementären Verhältnis zueinander, sondern produzieren konkurrierendes, bisweilen auch sich wechselseitig ausschließendes Wissen. Besonders deutlich wurde dies beispielsweise in den letzten Jahren in den Debatten um die Bedeutung genetischer und neurobiologischer Faktoren für die Entstehung von individueller Gewaltbereitschaft: Während nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Erfahrungen mit der Rassenlehre Skepsis gegenüber deterministischen Erklärungen sozialer Phänomene weit verbreitet war, machen seit den späten 1980er Jahren Hirnforscher, Evolutionspychologinnen und Genetiker mit Arbeiten über biologische Ursachen der Gewalt von sich reden. Populär sind diese Forschungen besonders deshalb, weil sie einleuchtende und pragmatische Lösungen gleich mitzuliefern scheinen: Aus einem sozialen oder politischen wird ein medizinisches Problem, dem individuell vorgebeugt und das mithilfe pharmazeutischer Mittel auch »geheilt« werden kann (für aktuelle Beispiele siehe Buss 2007; Raine 2013).

In den Sozialwissenschaften bleibt die Plausibilität dieser Argumentation ebenso umstritten wie die Ethik der vorgeschlagenen Lösungen.1 Obwohl also Gewalt als Forschungsgegenstand interdisziplinäre Zusammenarbeit und transdisziplinäre Konzeptionen gleichsam zu fordern scheint, bleibt die Wissensproduktion über verschiedene Disziplinen verteilt, die einander zumeist ignorieren und nur bisweilen ausschnitthaft voneinander Kenntnis nehmen. Und auch innerhalb der Disziplinen gibt es verschiedene Zugänge zum Thema – und damit verschiedene Einsichten und Vorschläge.

Innerhalb dieses kontroversen Gegenstandsfeldes wird dieser Einführungsband sich nur auf einige Aspekte konzentrieren. Unser Ziel ist es also nicht, den Blick möglichst weit über das Gelände schweifen zu lassen, sondern es besteht vielmehr darin, einen bestimmten, sozialtheoretisch und sozialwissenschaftlich besonders interessanten Ausschnitt genauer zu betrachten: Bei den im Folgenden vorgestellten Gewalttheorien handelt es sich um Sozialtheorien2, die Gewalt als Problem in Prozessen sozialer Ordnungsbildung thematisieren. Diese Perspektive schließt nicht nur das weite Feld naturwissenschaftlicher Forschung zu Gewaltphänomenen aus, sondern fokussiert auch innerhalb der Sozialwissenschaften noch einmal den Blick – und zwar in zwei Richtungen. Zum einen geht es in den vorgestellten Ansätzen um Gewalt als soziales Phänomen. Im Zentrum des Interesses steht also nicht das gewaltsam handelnde Individuum, sondern die soziale Dynamik der Gewalt selbst. Innerhalb dieser Dynamiken rücken dann – und dies ist die zweite Fokussierung, die wir vornehmen – Prozesse der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnungen in den Mittelpunkt. In anderen Worten: Nicht um das »Woher?« von Gewalttätigkeit oder Gewaltbereitschaft im Sinne einer individuellen Disposition oder einer Form sozialer Devianz wird es im Folgenden gehen, auch nicht um die individuellen Folgen von Viktimisierung, sondern um Gewalt in Prozessen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Dabei legen wir zunächst einen engen Gewaltbegriff zugrunde, der die intendierte Verletzung menschlicher Körper ins Zentrum stellt, also Vorgänge, die gemeinhin als »physische Gewalt« bezeichnet werden. Strukturierend für unsere Darstellung der verschiedenen Ansätze sind nicht so sehr bestimmte Erscheinungsformen der Gewalt als spezifische sozialtheoretische Fragestellungen und Debatten, die leitend für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewaltphänomenen waren. So wird man in diesem Band vergeblich nach Kapiteln zu Theorien der Revolution, des Krieges, des Terrorismus oder der Vergewaltigung suchen.3 Doch zeigen wir, in welchen spezifischen Theoriekontexten diesen Gewaltformen besondere theoretische Aufmerksamkeit zuteilwurde – der Revolution beispielsweise im Streit um die Legitimität der Staatsgewalt oder Vergewaltigungen im Kontext von Theorien, die versuchen, die Auswirkungen der Gewalt auf Subjektstrukturen zu klären.

Diese Perspektive mag zunächst konstruiert erscheinen, ist doch die gängige Erwartung an Theorie-Einführungsbände, dass sie bestehende theoretische Ansätze vorstellen und zueinander in Beziehung setzen. Doch dass wir hier eine sehr spezifische Rahmung des Problems an den Anfang stellen, ist nicht unserer Lust an intellektueller Akrobatik geschuldet, sondern liegt vielmehr im Gegenstand selbst begründet. Denn obwohl Gewalthandeln eine wichtige Rolle in der sozialtheoretischen, insbesondere der politischen Ideengeschichte spielt, ist die explizite Auseinandersetzung mit dem Thema lange ausgeblieben. Sieht man von den Konjunkturen der Debatten über Kriminalität, Terrorismus oder »humanitäre Interventionen« ab, dann wird Gewalt in den Sozial- und Geisteswissenschaften bis heute exotisiert. »Wenn hinten, weit, in der Türkei/Die Völker aufeinander schlagen« – diese Zeilen aus Goethes Faust spiegeln bis heute eine dominante Wahrnehmung wider: Gewalt ist nach dem impliziten Selbstverständnis dieser Disziplinen eine Angelegenheit der schon fernen Vergangenheit oder noch fernerer Gegenden. So haben die kanonischen Autoren jeder Soziologie-Einführungsvorlesung – Marx, Durkheim, Weber, Simmel, Luhmann, Foucault, Habermas – zwar alle irgendwo etwas über die Gewalt gesagt. Eine Theorie der Gewalt hat aber niemand von ihnen vorgelegt. Die einzige Ausnahme im Kanon der mittlerweile klassischen Lektüre ist vielleicht Hannah Arendt, die sich im Kontext ihrer Arbeit am Machtbegriff auch mit der Gewalt beschäftigte (siehe dazu Abschnitt 4.1). Selbst Autoren wie Norbert Elias und Michel Foucault, die für die Gewaltforschung höchst relevant geworden sind, haben Gewalt immer in Verbindung mit etwas anderem theoretisch behandelt, aber sie nie zum alleinigen zentralen Inhalt einer Theorie gemacht. Versuche, genuine Gewalttheorien in unserem Sinne zu entwickeln, gibt es erst seit kurzem. Die Beiträge von Jan Philipp Reemstma (2008) oder Randall Collins (2008), die wir im vierten Kapitel behandeln, können als solche gelten.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass es in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine lange Tradition der Beschäftigung mit Gewaltphänomenen gibt, und zwar nicht nur an ihren Rändern, sondern im Kern dessen, was gemeinhin als ihr Mainstream oder gar als kanonisch gilt. Auch mangelt es nicht an Versuchen, der Gewalt einen theoretischen Ort zuzuweisen oder sie für die Konstruktion von Theorien zu nutzen. Doch steckt die Entwicklung sozialwissenschaftlicher Gewalttheorien im engeren Sinne noch in den Kinderschuhen; und eine Übersicht zu den im Kontext anderer Theoriearbeiten gewonnenen Erkenntnissen fehlt. Dieser Einführungsband will diese Lücke schließen. So werden wir auf den folgenden Seiten sozialwissenschaftlich einschlägige Arbeiten vorstellen, die Gewalt im Kontext von Prozessen sozialer Ordnungsbildung problematisieren.

Dabei unterscheiden wir zwischen zwei Diskussionssträngen, die gleichzeitig diese Einführung strukturieren: Zum einen wird es um solche politischen und sozialen Theorien gehen, die die Legitimität der Gewalt zum Thema machen. Diese Gewalttheorien entwickeln sich vor allem in der theoretischen – und später auch politischen – Auseinandersetzung mit dem Staat: Seit den frühen Staatstheorien, etwa von Jean Bodin und Thomas Hobbes, ist die grundsätzlich immer verfügbare Option des gewaltsamen Handelns Ausgangspunkt für die Begründung politischer Ordnung. Es handelt sich in der Regel um normative Theorien, die begründen, wie Gewalt durch die Institutionen und Apparate des Staates kontrolliert und auf legitime Weise ausgeübt werden kann. Doch sind diese Arbeiten zur Legitimierung staatlicher Gewalt nicht ohne Widerspruch geblieben, und so gibt es insbesondere seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder theoretische Bemühungen, gerade die Gewalt des Staates zu kritisieren oder Gegengewalt gegen staatliche Herrschaft zu begründen. Bei diesen Auseinandersetzungen handelt es sich jedoch nicht um Theoriedebatten im Elfenbeinturm der Wissenschaft. Vielmehr spiegeln sich in diesen Positionen politische und soziale Konflikte und die Gewalterfahrungen der jeweiligen Zeit.

Zum Zweiten stellen wir die aus unserer Sicht wichtigsten sozialwissenschaftlichen Theorien vor, die empirische Dynamiken der Gewalt rekonstruieren und erklären. Denn mit der Ausweitung der empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften entwickelte sich jenseits der politischen Theorie, der es um Normen und ihre Begründungen geht, eine zweite Art von Theorien der Gewalt. Das sind Theorien, die den Anspruch haben, das Vorkommen und die Dynamik von Gewaltphänomenen aus empirischer Sicht zu klären. Treibend für diesen Zweig der Forschung waren vor allem die Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts. Theorien und Konzepte wurden aus der Beschäftigung mit Revolutionen und Bürgerkriegen, aber auch mit staatlicher Repression und der Gewalt zwischen Staaten entwickelt. Die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts, die beiden Weltkriege, die Völkermorde und die Schoah nehmen darin einen besonderen Platz ein. Dabei wird schnell deutlich – und von den Theoretikern der empirischen Gewaltforschung meist auch zugestanden –, dass diese Forschung, wenn auch empirisch, so doch nicht wertneutral ist.

Normative Theorien, die die Ausübung von Gewalt entweder begründen oder kritisieren, einerseits und empirische Theorien, die Gewalt erklären oder verständlich machen wollen, andererseits stehen also im Mittelpunkt unseres Bandes. Dieser Zugang mag unkonventionell erscheinen, beschäftigen sich Überblicke und Einführungen in diesem Themenfeld bisher doch entweder mit dem einen oder dem anderen, das heißt mit den normativen Theorien der Politik oder den empirischen Forschungen zu Gewaltphänomenen.4 Die Kombination beider Forschungsstränge ergibt sich jedoch aus der sozialtheoretischen Grundkonzeption dieser Einführung: Wie oben ausgeführt, stehen hier solche Gewalttheorien im Zentrum, die sich mit der Rolle von Gewalt in der (Re-)Produktion und Transformation sozialer Ordnung beschäftigen. Und diesem Problem haben sich Forscherinnen und Forscher nun einmal sowohl aus theoretisch-philosophischer wie auch aus empirischer Perspektive genähert. Die Zusammenführung beider Theoriestränge macht es möglich, auch die wenig thematisierten Bezüge zwischen ihnen aufzuzeigen. Deshalb werden wir beispielsweise im Kapitel, das den empirischen Gewalttheorien gewidmet ist, auf einige Autoren normativer Gewalttheorien zurückkommen. Darüber hinaus erlaubt es dieses Vorgehen, den Blick für eines der zentralen Probleme der Forschung zu und der Theoretisierung von Gewaltdynamiken zu schärfen, das in der Überlagerung von empirischen Beobachtungen durch normative Setzungen besteht. Aus der Vielzahl der Beiträge, die wir in diesem Band behandeln und die nur ein Ausschnitt aus einer sehr viel breiteren Diskussion sind, könnte man schließen, dass eine umfassende Theorie der Gewalt nicht möglich ist. Sie kann, so unsere These, immer nur Teil einer allgemeineren Theorie von Gesellschaft und Politik sein.

Während unsere Einführung in dieser Hinsicht also eher breit angelegt ist, haben wir in anderen Hinsichten Schwerpunkte gesetzt. Die Theorien der Gewalt, die wir vorstellen, entstammen fast alle westlichen Kontexten oder aber den historischen Erfahrungen mit der kolonialen und imperialen Expansion europäischer Staaten. Eine Übersicht über die in anderen Kulturkreisen, vor allem zu früheren Zeiten entwickelten Vorstellungen zu Fragen der Gewalt ist deshalb ein Desiderat geblieben. Und selbst im Hinblick auf die Auswahl der behandelten Theorien muss diese Einführung notwendig selektiv sein. Heute noch diskutierte Grundpositionen sind uns wichtiger gewesen als das Ideal der Vollständigkeit. Auch bei den empirischen Gewalttheorien haben wir den Schwerpunkt auf gegenwärtig diskutierte Ansätze gelegt, an denen sich gleichwohl längere Traditionen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung zeigen lassen.

Darüber hinaus beziehen sich die ausgewählten Arbeiten fast ausschließlich auf politische Phänomene. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass sich das Nachdenken über die hier im Zentrum stehenden sozialen Dynamiken der Gewalt vor allem im Kontext der Reflexion politischer Prozesse, insbesondere der Staatsbildung entwickelt hat. Anders als in kriminologischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, in denen Gewalt notwendig vor allem als Abweichung von gesellschaftlichen Normen und deshalb als zu bekämpfendes Übel vorkommt, waren Staatstheoretiker und -empiriker bereits früh sensibel für die ambivalenten Dynamiken der Gewalt und versuchten, diese theoretisch einzufangen. Sie erkannten, dass Gewalt nicht nur zerstört, sondern gleichzeitig auch soziale Strukturen hervorbringen kann. Unsere empirische Fokussierung auf im weitesten Sinne politisch motivierte kollektive Gewalt ist also vor allem dieser Pfadabhängigkeit akademischer Wissensproduktion geschuldet. Viele der in diesen Arbeiten gewonnenen grundsätzlicheren Einsichten über die sozialen Dynamiken der Gewalt lassen sich jedoch auch auf andere soziale Zusammenhänge übertragen. Vergemeinschaftungsprozesse durch Gewalt beispielsweise sind nicht nur in Staatsbildungsprozessen, beim Militär oder in nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen zu beobachten, sondern ebenso in Milieus organisierter Kriminalität, unter Hooligans oder in Jugendbanden. Ebenso stellt sich die Frage nach der Legitimität von Gewalthandeln überall dort, wo solches Handeln vorkommt – sei es im Krieg, bei Polizeieinsätzen oder am familiären Mittagstisch.

Mit diesen Abgrenzungen sind die Definitionsprobleme indes nicht beseitigt. Denn der Begriff der Gewalt hat sich historisch gewandelt, und seine Bedeutung ist insbesondere im Deutschen bis heute schillernd und ambivalent. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass es sich bei der Gewalt keineswegs um einen Begriff mit präzisem empirischen Korrelat handelt: Nicht jede intendierte Verletzungshandlung wird notwendig als »Gewalt« bezeichnet – denken wir etwa an religiöse Riten oder auch den Besuch beim Zahnarzt. Was als Gewalt bezeichnet wird und was nicht, ist deshalb nicht nur eine wissenschaftliche Frage, sondern auch immer eine politische. Darauf machen nicht zuletzt die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Konzeptionen aufmerksam, die unter Stichworten wie »strukturelle Gewalt« (Galtung), »symbolische Gewalt« (Bourdieu) oder »normative Gewalt« (Butler) darauf zielten, den Begriff deutlich weiter zu fassen, um auf gravierende soziale Probleme aufmerksam zu machen (siehe dazu Abschnitt 2.2). In diesem Sinne ist Gewalt nicht nur ein analytisch-beschreibender, sondern auch ein Kampfbegriff. Die Entwicklung von Gewalttheorien in unserem Sinne ist von der Entwicklung der Begriffsbedeutung und den ihr zugrunde liegenden Kämpfen nicht ablösbar.

Für diese Einführung scheinen uns deshalb zwei Dinge geboten. Zum Ersten arbeiten wir mit einer klaren Ausgangsdefinition, die es erlaubt, analytisch zwischen der Phänomenologie des Geschehens einerseits und dessen sozialer Bewertung andererseits zu unterscheiden. Diese Definition haben wir weiter oben bereits umrissen: Sie stellt die absichtliche Verletzung menschlicher Körper5 ins Zentrum, führt aber mit, dass solches Geschehen auch mit anderen Begriffen beschrieben werden kann. So wird es möglich, in diesem Band Autoren und Theorien zu berücksichtigen, die zwar nicht unsere Gewaltdefinition teilen, aber doch Themen und Fragen behandeln, die Gewalt in unserem Sinne direkt berühren. Zum Zweiten scheint es uns notwendig, zur Kontextualisierung der Theorien die zentralen Kontroversen nachzuzeichnen, die sich mit dem Begriff verbinden. Ehe wir uns der Vorstellung von Gewalttheorien zuwenden, werden wir deshalb im Folgenden zunächst einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Problematisierung von Gewalt geben.

Wie und in welchen Kontexten wird also Gewalt zu einem Gegenstand der Sozialtheorie? Mit Blick auf diese Frage scheint es sinnvoll, drei verschiedene, jedoch voneinander nicht unabhängige Problemkomplexe zu unterscheiden: das Problem der Kontrolle, das Problem der Legitimität und das Problem der wissenschaftlichen Theorie und Methode.

Das Problem der Gewaltkontrolle ergibt sich aus den potenziellen Wirkungen von Gewalthandlungen auf soziales Zusammenleben. Es entsteht, da Verletzen und Verletztwerdenkönnen gleichermaßen zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens zählen. Der Körper ist fragil, es braucht nicht viel, um ihn nachhaltig zu schädigen. Äußerst treffend spricht der Soziologe Heinrich Popitz in diesem Zusammenhang von der »Verletzungsoffenheit« des Menschen als einer anthropologischen Grundkonstellation, die dazu führt, dass wir gleichzeitig »verletzungsmächtig« gegenüber anderen werden (Popitz 1986: 69). Für menschliche Gemeinschaften wird dies potenziell zum Problem. Denn Zusammenleben braucht Regeln, die praktisch jedoch wenig ausrichten, wenn jeder jederzeit versuchen kann, mit Gewalt eigene Interessen auch gegen die Regeln durchzusetzen. Mit Blick auf soziale Ordnungsbildung stellt sich also das Problem der Gewaltkontrolle. Und man muss kein so pessimistisches Menschenbild wie Thomas Hobbes haben (siehe dazu Abschnitt 3.1), um die Verbindung von Verletzungsoffenheit und Gewaltfähigkeit des Menschen als ein Grundproblem sozialer Ordnung zu erkennen. Hobbes’ Lösung bestand bekanntermaßen in der Monopolisierung des Gewaltpotenzials, also des Rechts auf Gewaltausübung. Doch auch wenn in historischer Langzeitperspektive die Formierung von Gewaltmonopolen die innere Befriedung von Gesellschaften vorangetrieben hat, bringt dieser Schritt die Gewalt keineswegs zum Verschwinden. Denn das Gewaltmonopol ist keine statische Größe, vielmehr muss es in einem kontinuierlichen Prozess aufrechterhalten und verteidigt werden. Dies schließt den Einsatz von Gewalt gegen diejenigen ein, die das Monopol herausfordern. Die Einhegung der Gewalt kann also selbst auf die Anwendung physischer Zwangsmittel nicht verzichten. »Soziale Ordnung«, schreibt Popitz, »ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt – Gewalt ist eine notwendige Bedingung der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung.« (Popitz 1986: 69)

So wirft die Lösung des Ordnungsproblems direkt ein zweites auf, nämlich das normative Problem der Legitimität von Gewalthandeln. Denn, wie eben erwähnt, bedeutet die Monopolisierung des Gewaltpotenzials zunächst vor allem, dass Gewalt nicht mehr – oder genauer gesagt: nicht legitimerweise – von jedem zum Einsatz gebracht werden kann, sondern nur noch vom Monopolisten. Diesen Anspruch jedoch muss Letzterer kontinuierlich aufrechterhalten. So hat der Prozess der Aufrechterhaltung eines Gewaltmonopols nicht nur eine handlungspraktische, sondern eben auch eine normative Dimension. Für den Monopolisten geht es nicht nur darum, die Gewalt der Herausforderer praktisch zu verhindern oder ihr ein Ende zu setzen. Er muss dabei auch sicherstellen, dass das eigene Gewalthandeln die Legitimität der eigenen Position nicht untergräbt, weil es unbillig oder unverhältnismäßig erscheint. Während das handlungspraktische Problem der Gewalt sich in seiner Grundstruktur in allen Gesellschaften gleichermaßen stellt, gewinnt das normativlegitimatorische Problem vor allem in der Moderne an Relevanz und Brisanz. Denn die Konsolidierung und Verbreitung universalistischer Werte, vor allem was den Schutz menschlichen Lebens betrifft, erschwert die Rechtfertigung von Gewalt. Vor diesem Hintergrund wird die Frage der »legitimen Gewalt« in der Moderne zu einem zentralen Gegenstand politischen Denkens, das seinen stärksten Ausdruck in der Staatstheorie gefunden hat.

Mit dem Fortschreiten der Moderne entstand dadurch jedoch ein drittes, wissenschaftsgeschichtlich-theoretisches Problem, das die Reflexion des Themas Gewalt in den Sozialwissenschaften betrifft. Die Entwicklung der Sozialwissenschaften ist aufs Engste mit dem Projekt der Moderne verbunden. Zum Zeitpunkt ihrer Formierung war in weiten Teilen Europas die weitgehende Befriedung der Gesellschaft durch einen gewaltmonopolisierenden Leviathan keine Utopie mehr, sondern – in Gestalt der modernen Nationalstaaten – alltägliche Realität geworden. Gewalt galt als ein Relikt vergangener, vormoderner Zeit, das mit fortschreitender Modernisierung ganz verschwinden würde. Die entstehenden Sozialwissenschaften machten diese Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften zur impliziten Grundlage ihrer Reflexionen, mit dem Effekt, dass Gewalt nur in Form von Anomie oder Devianz, nicht aber als konstitutives Moment in Prozessen der Vergesellschaftung gedacht werden konnte. Die Fortschrittserzählung der Moderne wurde zwar schon nach dem Ersten Weltkrieg in Zweifel gezogen. Für einige Theoretiker waren die Schoah und der Zweite Weltkrieg dann ein weiterer Beleg für die Fortdauer der Gewalt in der Moderne. Doch die Mehrheit der Sozialwissenschaftler begann erst in den 1980er Jahren, das Verhältnis von Gewalt und Moderne neu zu denken und beispielsweise im massenhaften Morden totalitärer Regime nicht Anzeichen für deren Bruch mit den Errungenschaften der Moderne zu sehen, sondern stattdessen Zeichen der Modernität selbst. Im folgenden zweiten Kapitel werden wir uns diesem Problem zunächst etwas ausführlicher widmen, ehe wir uns in den Kapiteln drei und vier nacheinander der Vorstellung normativer und erklärender Gewalttheorien zuwenden werden.

2. Gewalt als sozialwissenschaftliches Problem

In politischen wie auch in wissenschaftlichen Debatten wird Gewalt in der Regel als Problem thematisiert. Ähnlich wie bei »Armut«, »Frieden« oder »Demokratie« handelt es sich um einen stark werthaltigen Begriff, doch anders als die beiden letztgenannten führt er in der Regel keine positive, sondern eine negative Konnotation mit sich. Wo von Gewalt die Rede ist, steht etwas auf dem Spiel, geht es um ein Problem, das gelöst, eine Situation, die verändert werden muss. Dem Zeitgenossen ist diese Unselbstverständlichkeit der Gewalt selbstverständlich. Denn Gewalt zerstört nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche, soziale Beziehungen, im Extremfall sogar das ganze Beziehungsgeflecht von Gesellschaften. Diese Unselbstverständlichkeit der Gewalt ist jedoch, wie in der Einleitung bereits angedeutet, keine historisch-kulturelle Universalie, sondern ein Charakteristikum der Moderne. Denn Geschichte wie Gegenwart kennen Kontexte, in denen das Ausüben und/oder das Erleiden physischer Gewalt zum regulären Erwartungshorizont sozialer Interaktion gehört und dabei keineswegs notwendig mit Vorstellungen von der Zerstörung sozialer Beziehungen assoziiert ist, sondern beispielsweise als Gemeinschaft stiftendes Ereignis gilt oder auch als eine Form der Lust.6

In der modernen Sozialtheorie jedoch blieb die Partikularität des zeitgenössischen Gewaltverhältnisses lange Zeit unreflektiert, mit dem Effekt, dass Gewalt auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung als etwas Unselbstverständliches, als Abweichung von der Norm thematisiert werden konnte. Auch in der Sozialtheorie erschien Gewalt also in erster Linie als ein Problem, das es zu lösen, und nicht als ein Phänomen, das es zu verstehen galt. So beschäftigt sich bis heute die Mehrzahl der Arbeiten, die unter dem Stichwort »Gewaltforschung« veröffentlicht wird, mit den Ursachen der Gewalt – sei es nun Gewalt an Schulen oder in Kriegen – sowie den Möglichkeiten ihrer Beendigung und Prävention. Und obwohl in historischer Perspektive Kriege und andere Gewaltkonflikte offensichtlich treibende Faktoren gesellschaftlicher Transformationsprozesse waren, blieb die soziale Dynamik der Gewalt bis zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Leerstelle der Forschung. Sie spielt eine Rolle – ganz zentral beispielsweise in der Staatstheorie –, aber sie wird nicht zu einem eigenständigen Gegenstand der Reflexion.

Die Entwicklung von Gewalttheorien in unserem Sinne ist aufs Engste mit diesem Problem in der Forschungstradition verbunden. Deshalb werden wir uns in diesem Kapitel zunächst der Gewalt als Problem für die Sozialwissenschaften und insbesondere die Sozialtheoriebildung zuwenden, ehe wir in den beiden folgenden Kapiteln einflussreiche Gewalttheorien im Detail vorstellen werden. Zunächst werden wir darstellen, wie und in welcher Hinsicht Gewalt zu einem Problem der Sozialwissenschaften wird. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion werden wir dann in einem zweiten Schritt den Begriff der Gewalt in historischer Perspektive diskutieren.

2.1 Das Andere der modernen Gesellschaft: Gewalt in der sozialwissenschaftlichen Tradition

In der sozialwissenschaftlichen Tradition ist die explizite Beschäftigung mit dem Thema Gewalt, wie bereits in der Einleitung erwähnt, noch immer ein relativ junges Forschungsfeld. Angesichts der drastischen Auswirkungen, die Gewalthandeln haben kann, und der Prominenz des Themas in öffentlichen Debatten mag dies überraschen. Verständlich wird diese späte Entdeckung der Gewalt als Forschungsgegenstand, blickt man in die Entstehungsgeschichte der sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Die systematische Beschäftigung mit den empirischen Gegebenheiten menschlichen Zusammenlebens begann mit der Aufklärung, die, laut dem bekannten Diktum Immanuel Kants, nach dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« strebte (Kant 1922: 169). Vernunft, nicht Religion, sollte fortan die menschlichen Geschicke leiten. Wissen stellte dafür die entscheidende Voraussetzung, den Schlüssel zur Freiheit, dar.7 Die Formierung der Sozialwissenschaften ist also aufs Engste mit dem Reformprojekt der Aufklärung verbunden. Das Erbe dieser Verbindung ist der Impuls, die Gesellschaft zu verbessern, also das Streben danach, dass die Wissensproduktion nicht einfach dem Erkenntnisfortschritt, sondern dem Fortschritt der Gesellschaft selbst dienen soll, der viele sozialwissenschaftliche Arbeiten bis heute prägt (für eine pointierte Kritik siehe Coser 1956: 15-32). Die Suche nach neuen Erkenntnissen war fortan keine kontemplative Angelegenheit mehr, die hinter Klostermauern verfolgt wurde, sondern diente dazu, Kontrolle über das zuvor Unkontrollierte oder Unkontrollierbare zu gewinnen. In einer sich selbst verstärkenden Dynamik wurde so das sich entwickelnde sozialwissenschaftliche und sozialtheoretische Denken (im Englischen treffender gefasst in der Formulierung social thought) prägend für das Selbstverständnis »moderner Gesellschaften«, während gleichzeitig die Eckpfeiler dieses Selbstverständnisses zu nicht weiter hinterfragten Ausgangspunkten sozialwissenschaftlicher und sozialtheoretischer Wissensproduktion wurden. So führte die historische Verquickung von Disziplinentwicklung und gesellschaftlichem Reformprojekt unausweichlich zu blinden Flecken, zu empirischen Gegenstandsfeldern also, die in der Theoriebildung unbeachtet blieben, weil sie außerhalb des modernen Selbstverständnisses lagen oder in dessen Perspektive als irrelevant erschienen.