Mami – 1943 – Auf in ein neues Leben!

Mami
– 1943–

Auf in ein neues Leben!

Eine schwere Zeit muss vergessen werden

Lisa Simon

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-185-0

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Mit einem Blick auf die Küchenuhr stellte Vera Kilian fest, daß noch genügend Zeit war, um die Blumen im Garten zu gießen, bevor René aus der Schule kam.

Der achtjährige Junge besuchte die Grundschule in der Neubausiedlung, in der die Familie Kilian seit nunmehr sieben Jahren lebte.

Die fünfjährige Julia hockte im Wohnzimmer auf dem Teppichboden und kämmte hingebungsvoll ihre Lieblingspuppe.

»Schatz, hast du Lust, mit hinauszukommen und die Blumen zu gießen?« fragte Vera. »Du weißt ja, daß der Garten unsere Hilfe braucht, solange es nicht regnet.«

Sofort vergaß die Kleine ihr Spiel und nickte begeistert. Sie half ihrer Mutter gerne bei der Gartenarbeit. »Ich hole nur meine Gießkanne.«

Zärtlich lächelnd blickte Vera ihrer Tochter nach, die das feine blonde Haar ihres Vaters geerbt hatte. Gerhard war als Außendienstmitarbeiter einer Versicherung oft tagelang unterwegs. Er arbeitete hart, um seiner Familie ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Und oft genug plagte seine Frau das schlechte Gewissen, weil sie wegen Julia nicht mitarbeiten konnte, um den Schuldenberg für das Haus, das noch lange nicht bezahlt war, etwas schneller abtragen zu können.

Doch so sehr sie sich bemüht hatte – für die kleine Julia war kein Kindergartenplatz aufzutreiben. Nicht, daß Vera ihren Beruf als Buchhalterin vermißte, sie ging in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter auf. Und es erfüllte sie mit Stolz, daß es in dem schmucken Einfamilienhäuschen vor Sauberkeit nur so blitzte.

»Da bin ich wieder, Mami!« Julia hielt strahlend ihre kleine grüne Plastik-Gießkanne hoch. »Jetzt können wir den Blümchen Wasser geben!«

Während sich das Mädchen um die Blumenrabatten rund um das Haus kümmerte, goß Vera behutsam die herrlich blühenden Büsche, um die sie die ganze Nachbarschaft beneidete. Ja, es war schon ein gewaltiger Unterschied, ob man die sonnigen Nachmittage auf der eigenen Terrasse inmitten der Natur verbrachte oder auf dem engen Balkon einer Mietwohnung.

»So, mein Schatz«, sagte Vera nach dem Gießen, »jetzt muß ich mich aber sputen und nach dem Auflauf sehen. Dein Bruder wird gleich aus der Schule kommen.«

Der moderne Einbauküche machte das Kochen zum Vergnügen, und noch immer genoß Vera den täglichen Luxus, das Geschirr nach dem Essen in die Spülmaschine zu stellen anstatt per Hand abzuwaschen.

»Kommt Papi heute?« fragte Julia, die sich auf die Eckbank in der Küche gesetzt hatte und erwartungsvoll auf den leckeren Nudelauflauf wartete. »Er war schon so lange nicht mehr zu Hause.«

Vera lachte. »Aber dein Papi ist doch erst gestern früh losgefahren!«

»Das kommt mir aber viel länger vor.« Julia legte ihr niedliches Köpfchen schief. »Warum muß Papi denn immer so oft weg sein?«

Vera seufzte und zog sich einen Stuhl heran. »Das habe ich dir doch schon mehrmals erklärt, Engelchen. Papa hat nun mal einen Beruf, in dem er viel reisen muß. Vielleicht kann er später einmal hier in der Nähe arbeiten, aber im Moment geht das leider nicht.«

»Warum nicht?«

Das melodische Läuten an der Haustür enthob Vera einer Antwort. »Wir reden später darüber. Möchtest du nicht deinem Bruder öffnen, dann kann ich derweil den Tisch decken.«

Die Kleine sprang davon. Sie hing sehr an ihrem Vater, der doch so wenig Zeit für seine Tochter hatte. Aber dies war nun einmal der Preis für ein schönes Leben in den eigenen vier Wänden.

»Mami, ich habe eine Zwei im Mathe-Test geschrieben!« rief René noch vom Flur aus. »Frau König hat gesagt, meine Arbeit ist eine der besten aus der ganzen Klasse.«

Vera umarmte ihren Sohn erfreut. »Das ist ja wunderbar. Siehst du, es hat sich doch bezahlt gemacht, daß du dafür geübt hast anstatt mit deinen Freunden zu spielen. Na, dein Vater wird sich ganz besonders über die gute Note freuen.«

René schnupperte. »Gibt es etwa Nudelauflauf?«

»Ganz recht. Dein Lieblingsgericht hast du dir heute redlich verdient.«

Doch kaum hatte sich Vera an den Tisch zu ihren Kindern gesetzt, klingelte das Telefon.

»Wenn das Papa ist, darfst du ihm aber nichts von meiner Zensur sagen«, mahnte René. »Das möchte ich selber tun.«

»Natürlich.« Vera ging hinüber in den Flur, wo das Telefon stand. »Hallo Steffi, wie schön, daß du dich wieder einmal meldest.«

»Hast du heute nachmittag Zeit? Ich würde dich gern wieder einmal besuchen«, sagte Veras Freundin und frühere Arbeitskollegin. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Für dich habe ich immer Zeit. Du hast recht, in letzter Zeit hast du dich ziemlich rar gemacht.«

»Du könntest ja auch einmal mich besuchen…«

»Ach, Steffi. Du weißt doch, wie schwierig das mit zwei Kindern ist. Ich freue mich auf nachher.«

»Schön. Aber bevor du auf die Schnelle einen Kuchen backst – ich werde etwas vom Bäcker mitbringen.«

»Wie du meinst.«

Schmunzelnd ging Vera zurück in die Küche. Die beiden Freundinnen waren völlig verschieden; während Steffi sich bereits zur Abteilungsleiterin der Buchhaltung hochgearbeitet hatte und nicht daran dachte, eine Familie zu gründen und deshalb ihren Beruf aufzugeben, weinte Vera dem Berufsleben keine Träne nach.

Auch wenn Steffi sie oft als altmodisch bezeichnete – Vera machte es mehr Spaß zu kochen und das Haus in Ordnung zu halten, als berufliche Karriere zu machen.

*

Wie immer, wenn Steffi ihre Freundin besuchte, bewunderte sie das schöne Haus und den prächtigen Garten. An diesem warmen Maitag saßen die beiden Frauen draußen auf der Terrasse und genossen Kaffee und Erdbeertorte.

»Zugegeben«, sagte Steffi und ließ ihren Blick über den gepflegten Rasen gleiten, »manchmal beneide ich dich schon um dein Zuhause. Aber wenn ich dann sehe, wieviel Mühe es macht, dies alles instand zu halten, bin ich doch über meine Etagenwohnung glücklich.«

Vera goß Kaffee nach und gab schmunzelnd zurück: »Du wirst schon sehen, irgendwann erwischt es auch dich einmal und du träumst vom eigenen Häuschen und einer Kinderschar.«

Steffi legte nachdenklich den Kopf schief. »An den Gedanken, Hausbesitzerin zu werden, könnte ich mich schon gewöhnen – aber Kinder sind nun mal nicht mein Fall.«

»Was ist denn ein Haus ohne Kinderlachen?« fragte Vera verblüfft. Sie konnte sich ein Leben ohne Kinder nicht mehr vorstellen. »Ich würde mich völlig vereinsamt fühlen!«

»Du übertreibst, aber du hast ja schon früher in der Firma von einer ganzen Kinderschar geträumt.«

Vera lehnte sich entspannt zurück. »Am liebsten würde ich noch ein Kind haben – aber ich bin mir nicht sicher, wie Gerhard darauf reagieren würde.«

»Du mußt vollkommen übergeschnappt sein!« rief Steffi aufgebracht. »Ihr habt doch jetzt schon genügend Kosten, wie wollt ihr denn ein weiteres Kind ernähren?«

»Wo zwei Kinder satt werden, werden es auch drei…«

Steffi schüttelte heftig den Kopf. »Was wird aus deinem Beruf? Willst du nicht irgendwann wieder arbeiten? Bei drei Kindern wird es unmöglich sein, eigenes Geld zu verdienen.«

Vera überlegte einen Augenblick. »Natürlich wird es immer schwieriger, je länger ich aus dem Berufsleben heraus bin. Aber der Wunsch nach einem Baby wird immer stärker, kannst du das denn nicht verstehen?«

»Nein«, gab die Freundin unnachgiebig zurück. »Das kann ich weiß Gott nicht verstehen – und ich wette mit dir, Gerhard wird dich auch nicht verstehen.«

»Er liebt die Kinder genauso wie ich«, warf Vera hastig ein. »Du solltest sehen, wie er sich um die Kleinen kümmert, wenn er zu Hause ist.«

»Ja, wenn er da ist. Aber ich denke, daß ihm der Gedanke, noch mehr arbeiten zu müssen, weil ein weiteres Kind zu ernähren ist, nicht besonders gut gefällt.«

Vera blickte versonnen auf ihre Hände. In letzter Zeit war Gerhard immer sehr wortkarg, wenn er von seiner Tour nach Hause kam. Früher hatte er oft kleine Anekdoten aus seinem Berufsalltag zum Besten gegeben – doch nun saß er oft stundenlang da und starrte gedankenverloren an die Wand.

Vera hatte ihren Mann des öfteren auf diese auffällige Veränderung angesprochen; doch er hatte stets abgewinkt und behauptet, daß der Bezirk, den er zu vertreten hatte, immer größer wurde und kaum noch von ihm bewältigt werden konnte.

»Wo sind eigentlich deine kleinen Rangen?« fragte Steffi mitten in Veras Gedanken hinein. »Ich habe ihnen doch extra ein paar Süßigkeiten mitgebracht.«

Vera straffte sich. »Sie sind hinüber zum Spielplatz. Ich erzählte dir doch davon, daß es ihn erst seit wenigen Wochen gibt, weil viele Eltern sich beschwert haben.«

»Ich schätze, du Übermutter warst eine von denen, die am lautesten nach einem Tummelplatz für die Kinder geschrien hast«, gab Steffi mit einem ironischen Lächeln zurück. »Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe!«

»Aber ein Spielplatz ist wichtig!« protestierte Vera. »Irgendwo müssen sich doch die Kinder nachmittags aufhalten!«

Steffi lachte und hob abwehrend die Hände. »Ist ja schon gut. Verzeih mir bitte meine Unkenntnis.«

»Warum kann ich dir nie lange böse sein?« fragte Vera mit versöhnlichem Lächeln. »Wo du doch oft so negativ über mein Leben redest.«

»Weil wir gute Freundinnen sind und ich nur die Wahrheit sage. So, und jetzt würde ich gern dein versprochenes selbstgemachtes Eis probieren.«

*

Den Abend verbrachte Vera damit, Kinderkleidung auszubessern. Flüchtig dachte sie dabei an das Gespräch mit der Freundin – nein, sie fühlte sich als Nur-Hausfrau nicht minderwertig. Gerhard tat sein Bestes, um seine Familie zu ernähren, da konnte sie doch nicht so undankbar sein und nach Anerkennung schreien. Schließlich hatten sich beide die Kinder gewünscht.

Als das Telefon klingelte, stellte Vera den Fernseher leiser, bevor sie an den Apparat ging. Sie wußte, daß es Gerhard war, wie jeden Abend, wenn er unterwegs war.

»Ich soll dich von Steffi grüßen«, sagte sie. »Sie hat mich heute Nachmittag besucht.«

Gerhard lachte leise. »Hat sie dir wieder den Mund wässerig gemacht wegen der tollen Stelle in der Firma?«

»Das kann sie gar nicht, denn ich bin mit dem Leben, das ich führe, vollkommen zufrieden.«

Meistens unterhielten sich die Kilians über die Geschehnisse des Tages, so hatte Vera nie das Gefühl, daß Gerhard zu kurz kam, was das gemeinsame Familienleben betraf. Nur Renés gute Note erwähnte sie nicht – das sollte der Junge am nächsten Abend seinem Vater selbst erzählen.

»Kommst du denn morgen wie versprochen?« fragte Vera zum Abschluß. »Die Kinder erwarten dich schon sehnsüchtig.«

Er seufzte. »Wenn dieser Großkunde, mit dem ich morgen einen Termin habe, nicht kurzfristig absagt und ich einen weiteren Tag in dieser Gegend hier verbringen muß, komme ich heim.«

»Warum bittest du nicht endlich deinen Chef, daß er dich zum Innendienst einteilt?«

»Aber das habe ich dir schon hundert Mal erklärt: Mein Gehalt als Sachbearbeiter würde nicht ausreichen, unsere hohen Kosten zu decken. Grüße die Kinder von mir, ja?«

»Sie freuen sich schon auf ihren Papa.«

Zufrieden nahm Vera ihre Flickarbeit wieder auf. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen Mann wie Gerhard bekommen zu haben – und alle Frauen, denen es nicht so gut ging wie ihr selbst, taten ihr schrecklich leid...

*

»Papi, Papi!« Julia stürzte ihrem Vater entgegen. »Ich hab’ dich so vermißt!«

Gerhard nahm lachend das kleine, federleichte Mädchen hoch. »Und ich habe dich vermißt, meine Prinzessin! Wo ist denn dein Bruder?«

»Ach, der ist bei einem Freund, um so ein blödes Videospiel zu spielen.«