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Gruppe INEX (Hg.)

Nie wieder Kommunismus?

Zur linken Kritik an Stalinismus
und Realsozialismus

 

 

 

 

 

U N R A S T

 

 

 

 

Die Gruppe INEX aus Leipzig widmet sich seit 2008 der Kritik des Extremismusansatzes. Im Zusammenhang damit beschäftigt sie sich seit längerer Zeit mit Realsozialismus, Stalinismus und Totalitarismustheorien.

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Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.

 

 

 

Gruppe INEX (Hg.): Nie wieder Kommunismus?

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-045-1

 

© UNRAST Verlag, Münster

Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. 0251 – 66 62 93

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag: kv | Berlin

Satz: UNRAST Verlag | Münster

Inhalt

 

 

Christian Schmidt
Die Politik des Kommunismus
Oder: Drei »wirkliche« Probleme bei der Überwindung des Kapitalismus

Che Buraška
In der Sackgasse
Der real existierende Nationalismus in der Sowjetunion

Diethard Behrens
Vom Scheitern eines Versuchs gesellschaftlicher Modernisierung
Thesen zum Stalinismus

Rüdiger Mats
Mit »wissenschaftlichem Sozialismus« in den Staatsbankrott
Eine Analyse der realsozialistischen Wirtschaft zeigt, dass eine kommunistische Ökonomie nicht mit Befehl und Gehorsam, Geld und Markt auf einen vernünftigen Weg gebracht werden kann

Christoph Jünke
Schädelstätte des Sozialismus
Stalinistischer Terror Revisited

Bini Adamczak
Hauptsache Nebenwiderspruch
Geschlechtliche Emanzipation und russische Revolution

Philipp Graf
»Nach Hitler wir!«
Zu Anspruch und Wirklichkeit des DDR-Antifaschismus

Ulrike Breitsprecher
»Vom Faustkeil zum Atomkraftwerk«
Der Wandel der Utopie zur Propaganda in der DDR

Hendrik Wallat
»Die Weltreaktion ist auch Moskau!«
Rätekommunistische und anarchistische Kritik am Bolschewismus

Sebastian Tränkle
»Akrobatenkunststücke auf dem Seil des Gewissens«
Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und die Debatte um revolutionäre Politik und Moral

Alexis Kunze
»Liegt es am System?«
Antistalinistische Haltung und die »Neue Linke«

Gruppe [pæris]
Der real gescheiterte Sozialismus und die real existierende sozialistische Linke
Die Lehre aus dem Staatssozialismus ist nicht, die Marktwirtschaft zu verteidigen, sondern mehr über ihre herrschaftsfreie Abschaffung nachzudenken

Zu den Autor_innen

Anmerkungen

Gruppe INEX

Nie wieder Kommunismus? – Einleitung zum Buch

 

 

Die kritische Auseinandersetzung mit den historischen Versuchen, die Ideen von Sozialismus und Kommunismus zu realisieren, ist im Grunde so alt wie diese Versuche selbst. Sie ist ein Erkenntnisprozess linker Bewegungen, der durch viele Generationen hindurch und von verschiedenen Standpunkten aus vorangetrieben wurde. Aber es gab immer eine ganze Reihe von linken Positionen, die eine solche kritische Auseinandersetzung erschwerten. Zuvorderst wurden diese von bekennenden Stalinist_innen, aber auch von demokratischen Linken vertreten, die den Realsozialismus oft trotz des Wissens über seine »Unvollkommenheit« als die bessere Alternative zum Kapitalismus verteidigten. Andere Linke sahen von vornherein keine Notwendigkeit für eine kritische Auseinandersetzung. Zum einen war diese Abwehrhaltung ein Reflex auf die antikommunistische Propaganda während des Kalten Krieges und die systemaffirmative Arroganz nach dem Untergang des Ostblocks. Zum anderen machten es unterschiedliche Praxen zwischen undogmatischen Linken und den Staatsparteien sozialistischer Staaten und ihren Protagonist_innen im Westen einfach, gemeinsame theoretische Bezüge, geteilte Begrifflichkeiten und ideelle Ursprünge nicht anzuerkennen. Teil dieser Verdrängungsstrategie war der Verweis auf die historischen Verhältnisse, an denen der Versuch der Bolschewiki, den Sozialismus in Russland zu errichten, scheiterte. Stalinismus erschien demnach tendenziell von »außen« gemacht, was den Glauben erleichterte, für seine Folgen keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Derlei Ursachenbeschreibungen laufen nicht nur Gefahr, die menschenfeindliche Realität des Stalinismus zu relativieren. Sie geben zudem keine befriedigende Antwort auf die Fragen, wie es zu Stalinismus und Realsozialismus kommen konnte und was daraus für Linke heute zu lernen ist.

Die schier ungebrochene Selbstgewissheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus bekam spätestens Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Brüche. Die andauernde Erfahrung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus verstärkte auch die Suche nach kritischen Erklärungsmodellen und Möglichkeiten einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation. In diesem Zusammenhang bekommt die Abgrenzung gegenüber Stalinismus und Realsozialismus eine neue Relevanz. Sie ist die notwendige Bedingung, um den Kapitalismus auf fundamental emanzipatorische Weise zu überwinden und für dieses Projekt Zustimmung zu gewinnen. Insofern lässt sich derzeit ein gestiegenes Interesse an Auseinandersetzungen mit der »eigenen« Geschichte ausmachen. Auch die Motivation zur Herausgabe dieses Sammelbandes geht auf Diskussionen über die Grundbedingungen einer erfolgreichen linksradikalen Gesellschaftskritik zurück. Doch darf es dabei nicht darum gehen, durch symbolische Abgrenzung den Weg für eine neue revolutionäre Politik zu bereiten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung muss das Interesse stehen, den Wandel der kommunistischen Befreiungsidee zur menschenfeindlichen Wirklichkeit verstehen zu können, um auf der Basis von Erkenntnis jede Wiederholung im Ansatz zu verhindern.

Der Weg zum Wissen über das Wesen des Stalinismus und Realsozialismus ist mühsam. Ein Hindernis stellt die hierzulande vorherrschende Art der Darstellung der Geschichte des Sozialismus dar. Als Gruppe, die sich ursprünglich mit dem Ziel konstituierte, die ordnungsstaatlichen Funktionen der Extremismusformel zu kritisieren, wendeten wir uns immer auch gegen die mehr oder weniger offensichtlichen Versuche, die sozialistische DDR und das nationalsozialistische Deutschland als wesensgleiche Diktaturen zu begreifen. Trotz einiger Parallelen wird eine solche Gleichsetzung weder dem Charakter des Nationalsozialismus noch des Realsozialismus gerecht. Diese Art des Vergleichs beider Systeme dient auch nicht, wie häufig behauptet, dazu, eine genauere historische Kenntnis zu gewinnen. Im Vordergrund steht vielmehr das politische Interesse, die kapitalistische Demokratie als alternativlos festzuschreiben. Doch durch die Zurückweisung der instrumentellen Anwendung einer totalitarismustheoretischen Perspektive zeigt sich umso mehr die Schwierigkeit, die DDR und andere realsozialistische Staaten kritisieren und sie vom Nationalsozialismus abgrenzen zu können. Demzufolge ist dieses Buch Ausdruck unseres Bemühens, Stalinismus und Realsozialismus zu verstehen. Am Anfang steht dabei das Eingeständnis, dass die kommunistischen Versuche, die Gesellschaft grundlegend umzugestalten, sofern sie nicht niedergeschlagen wurden, bis dato alle in unterdrückerische Systeme umgeschlagen sind. Die Angst vor Regression hat insofern gute Gründe. Gerade deshalb müssen Stalinismus und Realsozialismus unserer Meinung nach als Negativfolie dienen, an der es sich abzuarbeiten gilt.

 

Wer heute vom Kommunismus redet, darf von Realsozialismus und Stalinismus nicht schweigen. Umstritten ist jedoch, wie weit diese Kritik reichen muss. Die unter anderem als Selbstbezeichnung genutzte Vokabel des real existierenden Sozialismus, die, nebenbei bemerkt, eine absurde Doppelung ist, schreibt die Unterscheidung zwischen ideellem Anspruch und der alltäglichen sozialistischen Realität selbst in die Geschichte ein. Doch ist die Verbindung zwischen dem theoretischen Konzept, das von Marx maßgeblich angestoßen und von diversen Marxist_innen weiterentwickelt wurde, eng mit den historischen Fehlschlägen verbunden. Der Sozialismus wollte die Diktatur des Proletariats, die in einer Vorstufe zum Kommunismus die Makel der alten Ordnung beseitigen und die Gesellschaft ökonomisch und politisch neu strukturieren würde. Der Kommunismus war das Ziel dieser historischen Bewegung und wurde verstanden als die Überwindung der Herrschaft des Kapitals und die schrittweise Neuordnung der Gesellschaft hin zu einer Situation, in der die Menschen in einer freien Assoziation individuell nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten miteinander in Interaktion treten und sich verwirklichen können. Der Realsozialismus machte die praktische Unvollkommenheit dieser Konzeption deutlich. Er zeigte, dass weder die Idee des Kommunismus noch seine theoretischen Vordenker_innen ein Rezept für eine emanzipatorische Aufhebungsbewegung bereithielten. Als die Sozialist_innen und Kommunist_innen sich 1917 die Macht erkämpft hatten, wollten sie sie nicht mehr teilen. So wich das Projekt der Befreiung dem der Umerziehung im Interesse der Partei, legitimiert durch höhere Wahrheiten. Es führte in Unterdrückung und Liquidierung eines großen Teils derer, die widersprachen, und in die ständige Überwachung der Massen. Der Realsozialismus begrub in der Praxis die Hoffnung auf eine wahre Freiheit unter Gleichen und führte den Anspruch, die Unterdrückung zu beseitigen ad absurdum. Ein plumpes Ablehnen der Begriffe »Kommunismus« bzw. »Sozialismus«, oder der Versuch, sich auf jene Theoretiker_innen zu stützen, die nicht »beschmutzt« sind, löst das Probleme der Geschichte der radikalen Linken nicht: Offensichtlich ist, dass Stalinismus und Realsozialismus als Verwirklichung der kommunistischen Idee gedacht waren und bis zum Schluss Impulse aus der kommunistischen Idee und ihrer Theorie bezogen.

Der Verlockung, Kommunismus als abstrakte Idee zu behandeln, um ihn damit von seiner Geschichte abzuschneiden, sollte also nicht nachgegeben werden – schon weil die befreite Gesellschaft ohne ihre wirkliche Bewegung ein Traum bliebe. Gerade aber die tatsächliche Organisation und Praxis des Kommunismus sind durch die Hypothek des Realsozialismus belastet. Mit Blick auf die Orientierungsfunktion marxistischer Theorie in der heutigen Praxis linker Gruppen und Bewegungen ist es notwendig zu fragen, inwiefern die Marx’sche Kritik als Abstraktion und der Kommunismus als Idee für die Entstellungen der sozialistischen Wirklichkeit verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund benennt Christian Schmidt in seinem Text Die Politik des Kommunismus drei in der Marx’schen Theorie fundierte Probleme bei der Überwindung des Kapitalismus. Zunächst betrachtet der Autor die Wissenschaftsauffassung von Marx, aus der im Marxismus Herrschafts- und Wahrheitsansprüche der Partei abgeleitet und gegen Versuche politischer Mitbestimmung durchgesetzt wurden. Das Umschlagen von Wissenschaft in Ideologie finde sich, so Schmidt, aber bereits im Kernstück der theoretischen Arbeit von Marx, in der Kritik der politischen Ökonomie selbst angelegt. Indem Marx die im Kommunismus notwendige Produktion den Maßgaben von Rationalität und Effizienz unterordnet, gibt er diesen Bereich für den politischen Prozess und damit auch für demokratische Entscheidungen verloren. Die Entpolitisierung der Ökonomie bei Marx zog die Entstehung eines eindimensionalen Produktionsregimes nach sich, das Diskussionen über Bedingungen und Ziele der Produktion nicht mehr erlaubte. Schließlich verweist Christian Schmidt auf die Lücke in der Marx’schen Befreiungskonzeption, die zwar einerseits die Selbstaneignung der Politik bejahe, andererseits dafür aber kein Modell anbiete, wie die allen offenstehende Entscheidungsautorität in einer hochgradig arbeitsteilig produzierenden Gesellschaft denkbar ist.

Das Autor_innenkollektiv Che Buraška sucht ebenfalls nach theoretischen Fehlern der kommunistischen Politik. In ihrem Text In der Sackgasse: Der real existierende Nationalismus in der Sowjetunion setzen sie allerdings einen anderen thematischen Akzent. Auch die Ursache für die antiemanzipatorische Nationalitätenpolitik der Bolschewiki müsse demnach in den Theorien von Lenin und Stalin verortet werden. Statt rigoroser Staats- und Herrschaftskritik haben jene auf einen ethnopluralistischen Befreiungsnationalismus gesetzt. Deshalb brauchte es auch nicht erst das Ausbleiben der Revolution in den westlichen Industrienationen, vor allem in Deutschland, um das Umschwenken von der Idee der Weltrevolution zur Kampagne des Sozialismus in einem Land zu befördern.

Im Unterschied zu den ersten beiden Texten des Sammelbandes wendet sich der Beitrag Vom Scheitern eines Versuchs gesellschaftlicher Modernisierung von Diethard Behrens mehr den historischen Kontextbedingungen der russischen Revolution und der Entstehung des Realsozialismus zu. Der Autor führt vor Augen, dass es sich bei der Herausbildung des stalinistischen Herrschaftssystems um ein Zusammenspiel aus historischer, autoritär-repressiver Prägung der Bolschewiki und deren konzeptioneller Ohnmacht gegenüber den krisenhaften Prozessen während und nach der Oktoberrevolution handelt. Eine Modernisierung mit allen Mitteln schien für die Kommunistische Partei Russlands die adäquate Lösung zu sein, um die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. Dass sie dafür die gewaltsame Bekämpfung der Opposition und sogar deren Liquidierung in Kauf nahm, zeugt laut Behrens ebenfalls von jener Erfahrung der Zeit zwischen den gescheiterten Revolutionen 1905 / 07 und 1917.

Ob in der Sowjetunion überhaupt so etwas wie Sozialismus existierte, hängt unter anderem von der Beurteilung der Produktionsweise ab. Im Rückblick ist die Umsetzung der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln gründlich diskreditiert. Zentralisierung, bürokratische Verwaltung und Planwirtschaft gelten im Allgemeinen als Kennzeichen einer per se zum Scheitern verurteilten realsozialistischen Ökonomie. Tatsächlich gab es, so Rüdiger Mats in seinem Text Mit »wissenschaftlichem Sozialismus« in den Staatsbankrott, problematische Elemente im leninistischen Programm, die durch die Bedingungen des Kriegskommunismus und die schlechte Ausgangslage der sowjetischen Industrieproduktion noch verstärkt wurden. Ein Argument gegen jegliche Formen der Planwirtschaft sei dies aber nicht. Im Gegenteil sei diese angesichts kapitalistischer Ungleichheit in der Reichtumsverteilung für eine zukünftige Bedürfnisbefriedigung aller Menschen unabdingbar. Allerdings plädiert der Autor für ein realistisches Bild einer kommunistischen Übergangsgesellschaft. Auch in ihr müsse mit Mangel, Produktionsschwierigkeiten und Interessengegensätzen gerechnet werden. Im Gegensatz zum Realsozialismus bedürften solche Situationen aber einer weitgehenden demokratischen Mitsprache, um nicht erneut in bürokratischer Despotie und ökonomischem Desaster zu enden.

Die Misswirtschaft und die dadurch ausbleibenden Verbesserungen der Lebenssituation von Menschen, die stattdessen mit vermehrten Entsagungen konfrontiert waren, mussten seitens des Staates kompensiert werden. Der Unmut hätte sich sonst direkt gegen jene gerichtet, die sich selbst als die führende Hand der Produktion stilisierten. In den dreißiger Jahren überzog Stalin die Sowjetunion mit einer Terrorwelle, zu der es bis heute nur wenige vergleichbare Episoden in der Geschichte gegeben hat. Christoph Jünke erläutert unter dem Titel Schädelstätte des Sozialismus, wie der Terror als Ventil für den Unmut der Bevölkerung fungierte. Stalin gab die Schuld mal mehr, mal weniger willkürlich ausgewählten Menschen aus den eigenen Reihen. Die Schauprozesse waren so auch Mittel zur Disziplinierung derer, die potentiell mit Widerstand hätten reagieren können. Letztendlich war der Terror Instrument zur Durchsetzung eines »totalitären« Konformismus und diente einer bürokratischen Herrschaftskaste zur Absicherung von Macht und Privilegien.

Von der Überwindung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse kann nur gesprochen werden, wenn dies ohne Abstriche mit dem Ende patriarchaler und heteronormativer Zustände einhergeht. Häufig wird angenommen, die Oktoberrevolutionär_innen hätten zunächst große Fortschritte in der Geschlechterpolitik, in Bezug auf die Situation der Frauen und bei der Durchsetzung sexueller Freiheiten gemacht. Diese Errungenschaften seien nicht von langer Dauer gewesen und recht bald wieder von den gerade überwunden gedachten Rollenbildern überlagert worden. Die Frage lautet dann: Waren die frühen, scheinbar fortschrittlichen Ideen gar nicht mehr Teil der Strategie der größtmöglichen Mobilisierung aller benachteiligter Gesellschaftsschichten zur Eroberung der politischen Macht? Bini Adamczaks Artikel Hauptsache Nebenwiderspruch: Geschlechtliche Emanzipation und russische Revolution zeigt, wie das in Russland herrschende christlich-staatliche Modell von Sexualität durch ein normativ psychiatrisches Modell ersetzt wurde. Der sexualreformerische Biologiediskurs der frühen Sowjetunion hatte allerdings enge Grenzen. Das »Recht« auf biologische Abweichung galt zum einen nur im europäisch erachteten Teil der Sowjetunion, während geschlechtliche und sexuelle Anomalien in der islamisch geprägten zentralasiatischen Sowjetunion als Ausdruck kultureller Zurückgebliebenheit gewertet wurden. Neben dieser eurozentristischen Beschränkung relativierte sich der Fortschritt in der geschlechtlichen Emanzipation zudem aufgrund einer androzentrischen Normierung. Die Sowjetunion wurde gerade im Zusammenhang mit den Idealen einer tatkräftigen »Arbeiterklasse« zur Gesellschaft der Männlichkeit, in der sich alle Subjektivitäten an »männlichen« Werten wie Härte, Rationalität und Effizienz messen lassen mussten. Im Gegenzug wurde »Weiblichkeit« nicht nur als Synonym zum bürgerlichen Klassenstandpunkt, sondern darüber hinaus als rückständige Entwicklungsstufe der Menschheit begriffen. Indem die russische Revolution einen männlichen Universalismus durchsetzte, blieb sie hinter dem Anspruch geschlechtlicher Freiheit weit zurück.

Das Verfehlen emanzipatorischer Zielstellungen lässt sich an vielen weiteren Maßgaben des Realsozialismus beschreiben. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR entwickelte sich nach 1945 das Ziel, eine antifaschistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, zum zentralen Gründungsanspruch des zweiten deutschen Staates. In seinem Artikel »Nach Hitler wir!« beschreibt Philipp Graf die Wirklichkeit des DDR-Antifaschismus. Dabei reproduziert er nicht den heute üblichen Abgesang, der der DDR-Staatsideologie nur legitimatorischen und somit machterhaltenden Charakter zuschreibt. Stattdessen geht es ihm um eine Rekonstruktion des Antifaschismus, die der Tatsache gerecht wird, dass die Führungskader der SED sowie eine ganze Reihe von Künstler_innen mit einer aus der persönlichen Erfahrung des Exils, der nationalsozialistischen Verbrechen und der Schrecken des Krieges erwachsenen Motivation an den Aufbau eines antifaschistischen und deshalb »besseren« Deutschlands gingen. Philipp Graf argumentiert, dass der ideologische Anspruch in doppelter Weise ernst zu nehmen sei: zum einen als Erfahrungshintergrund der Aufbaugeneration, zum anderen als Weltanschauung, die von Vulgärmarxismus und der Unterschätzung des deutschen Antisemitismus geprägt war. Die fiktive Beschreibung vom Nationalsozialismus als Instrument des Kapitals machte dann sowohl die Integration ehemals bekennender Nazis in die realsozialistische Gesellschaft als auch den Wandel des Staatsantifaschismus zur zunehmend sinnentleerten Phrase möglich.

Mit der konkreten Situation in der DDR setzt sich auch der Artikel von Ulrike Breitsprecher Vom Faustkeil zum Atomkraftwerk. Vom Wandel der Utopie in der DDR auseinander. Die Autorin stellt dar, wie sich der kritische Impuls kommunistischer Utopien veränderte und nach und nach in mehrfacher Weise auflöste. Bereits in der Anfangsphase der DDR wurde der Ausblick auf eine bessere sozialistische Zukunft zum Mobilisierungsmittel und Integrationsinstrument auch für den Großteil der Bevölkerung, der wenige Jahre zuvor noch das NS-Regime verteidigt und unterstützt hatte. Später, mit dem Aufbau und den Schwierigkeiten der sozialistischen Ökonomie, degenerierte die utopische Hoffnung auf eine umfassende Verbesserung des Lebens zur staatlich geförderten Technikphantasie. Die in Aussicht gestellte Befreiung von der Mühsal der Arbeit blieb uneingelöst. Im Gegenteil, die Utopie verkam zur Propaganda, mit der das Regime versuchte, die Massen noch intensiver in den Produktionsprozess einzubinden. Am Ende der DDR hatte der instrumentelle Gebrauch von Utopie zum völligen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit, ja sogar zum Verlust ihrer selbst geführt. Nur eine kleine Gruppe von Bürgerrechtler_innen und Reformsozialist_innen begehrte gegen die SED-Herrschaft auf, weil sie die schlechte Realität mit den emanzipatorischen Potentialen der kommunistischen Idee verglichen. Die große Masse der Menschen orientierte sich da längst schon wieder an den Verlockungen des Kapitalismus und am Ideal völkischer Zugehörigkeit.

So wie die Teile der DDR-Opposition, die einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« verfolgten, eine historische Marginalie blieben, die noch dazu vom Antikommunismus als authentischer Beweis für das Scheitern aller sozialistischer Versuche vereinnahmt wurde, so blieb auch der Einfluss früherer Formen antistalinistischer Kritik begrenzt. Und doch zeigen auch diese Beispiele, dass sozialistische, anarchistische und kommunistische Alternativen zum Realsozialismus immer gedacht wurden und insofern eine andere Geschichte möglich gewesen wäre. Drei Aufsätze, die verschiedenen Phasen der Geschichte des realen Sozialismus gewidmet sind, setzen sich mit jeweils zeitgenössischen oppositionellen Positionen zum Stalinismus auseinander. Mit einer Erinnerung an die frühen Schriften und verdrängten Einsichten von Rätekommunisten und Anarchisten der zwanziger und dreißiger Jahre macht Hendrik Wallat unter dem Titel »Die Weltreaktion ist auch Moskau!« den Anfang. Seine Rückschau belegt, dass es vor allem Vertreter_innen dieser Strömungen in der radikalen Linken waren, die zeitig und vehement den Antipluralismus, die Gewalt, den Führerglauben und den staatskapitalistischen Modernisierungsfetisch in der Sowjetunion und bei ihren kommunistischen Verteidiger_innen anprangerten. Damit will der Autor nicht den Eindruck erwecken, es handele sich um ein in der Imagination der behandelten Oppositionellen widerspruchsloses kommunistisches Projekt. Ein heutiges kommunistisches Bewusstsein muss sowohl aus der Auseinandersetzung mit den analytischen Stärken, aber auch von der Offenlegung ihrer theoretischen Irrtümer lernen, die im Text von Hendrik Wallat nicht verschwiegen werden.

Es waren auch diese theoretischen Schwächen antistalinistischer Positionen, die es leicht machten, ihnen mit Ignoranz zu begegnen. Anderen kritischen Stimmen verweigerten sich viele Linke, weil sie diese in erster Linie als Verrat an der Idee des Kommunismus und als Apologeten der bürgerlich-kapitalistischen Weltanschauung wahrnahmen. An prominenter Stelle geschah dies mit den Interventionen Arthur Koestlers. In seinem Text »Akrobatenkunststücke auf dem Seil des Gewissens« weist Sebastian Tränkle nach, dass die Rezeption Koestlers als antikommunistischer Intellektueller zu kurz greift. Koestlers Roman Sonnenfinsternis, der die Moskauer Schauprozesse der dreißiger Jahre zum Vorbild hat, müsse vielmehr als differenzierte Auseinandersetzung mit den stalinistischen Auswüchsen des Marxismus-Leninismus gelesen werden. Nicht die Dämonisierung der Idee des Kommunismus steht in diesem Roman im Vordergrund, sondern die Beschreibung der perfiden Logik, die hinter den Umschlagen der bolschewistischen Revolution in die Verbrechen des Stalinismus steckte. Koestler geht es, das zeigt der Artikel deutlich, nicht nur um die Frage nach den Legitimationen für Folter und Schauprozesse, sondern auch um eine Antwort darauf, warum sich so viele der Beschuldigten zu ihren angeblichen Verfehlungen bekannten. Der Glaube daran, dass das Ziel des Kommunismus die gewaltsame Beseitigung jeglicher Widerstände rechtfertige, machte nicht nur die Täter, sondern auch Opfer des Terrors – zumindest anfangs – über jeden Zweifel an Partei und System erhaben. Diesen ideologiekritischen Kern in Sonnenfinsternis entfaltet Sebastian Tränkle, indem er ihn als literarischen Spiegel der Debatte über Politik und Moral dechiffriert, die in den zwanziger und dreißiger Jahren unter anderem von Karl Kautsky, Leo Trotzki und John Dewey geführt wurde. In Anknüpfung daran ist Tränkles Beitrag ein Plädoyer für den Beginn einer neuen Diskussion über die politische Ethik revolutionärer Konzepte.

Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg verschiebt sich zumindest im Westen der Stellenwert antistalinistischer Kritik. 1949 kommt es in Paris zum Krawtschenko-Prozess, in dem die Zeitung Les Lettres française den 1944 nach Amerika emigrierten Viktor Krawtschenko als westlichen Spion beschuldigt und ihm vorwirft, er habe in seinem Buch über das System GuLag nur Lügen verbreitet. Durch den juristischen Sieg Krawtschenkos, der mit der Veröffentlichung Dutzender Verhöre von Opfern des stalinistischen Terrors einherging, bekam die Existenz des GuLag vor den Augen der westeuropäischen Linken eine konkretere, weniger leicht zu leugnende Gestalt. Nach Stalins Tod folgte 1956 in der Sowjetunion selbst ein partielles Eingeständnis des Terrors durch Nikita Chruschtschows Geheimrede. Welche Wirkung das nun präsente Wissen über den stalinistischen Terror auf den kritischen Umgang mit dem realen Sozialismus hatte, ist Gegenstand des Artikels Liegt es am System? Antistalinistische Haltung und die »Neue Linke« von Alexis Kunze. Der Autor illustriert die Entwicklung einer antistalinistischen Haltung ab den vierziger Jahren am Beispiel der Positionen von Cornelius Castoriadis, Ernst Bloch und Rudi Dutschke. Das Denken von Castoriadis steht für eine trotzkistisch inspirierte Kritik des Stalinismus, die diesen als bürokratische Variation des Kapitalismus deutet und davon ausgehend die Idee der Befreiung erneuert. Anhand von Ernst Bloch zeichnet der Text einen intellektuellen Wandlungsprozess nach, der von der Verteidigung des kommunistischen Herrschaftssystems hin zur Einsicht persönlicher Mittäterschaft und zur Notwendigkeit einer Revision der marxistischen Theorie reicht. Alexis Kunze zeigt, wie diese Elemente der Abwendung vom Stalinismus von Rudi Dutschke aufgegriffen werden und bei dieser Integrationsfigur der Neuen Linken zur strategischen Konsequenz führen, den Kommunismusbegriff für das politische Projekt der Befreiung zu verwerfen.

Den Belastungen durch die negative Ausstrahlung des Realsozialismus entkommt die heutige Linke nicht mit sprachlichen Manövern. Im Bewusstsein vieler Menschen ist der Terror und die mangelnde Lebensqualität des Ostblocks fest mit der Meinung verknüpft, dass alle Versuche, die kapitalistische Marktwirtschaft durch eine gesellschaftliche Verfügung über Produktionsmittel und Verteilung zu ersetzen, zum Scheitern verurteilt sind. Demzufolge wird selbst in Strömungen der Linken in der Abfederung kapitalistischer Ungleichheitsproduktion die einzige Möglichkeit sozialer Wirtschaftspolitik gesehen. Die Gruppe [pæris] schlägt in ihrem Beitrag Der real gescheiterte Sozialismus und die real existierende sozialistische Linke andere Lehren vor, die aus dem Scheitern der realsozialistischen Ökonomie zu ziehen wären. In ihren Augen ist es ein Fehlschluss, dass eine an den Bedürfnissen Aller ausgerichtete Organisation der Produktion immer auf bürokratische Verstaatlichung hinauslaufe. Stattdessen könne und müsse an die Stelle des kapitalistischen Wirtschaftssystems eine von den Arbeitenden selbstverwaltete Ökonomie gesetzt werden. Diejenigen Linken, die tatsächlich an Alternativen zu Markt und Staat interessiert sind, müssten heute Möglichkeiten von demokratischer Entscheidungsmacht in der Produktion und Verteilung diskutieren. Laut [pæris] können entsprechende Überlegungen auch nicht auf den Zeitpunkt revolutionärer Veränderung verschoben werden. Notwendig sei es, im Hier und Jetzt konkrete Ideen zu entwickeln, wenn möglich, diese schon auszuprobieren und auf ihre realistische Umsetzungschance zu prüfen. Nur durch die breite Ansammlung von Wissen und Erfahrungen könne verhindert werden, dass in einer Umsturzsituation herrschaftliche Lösungen mit der Notwendigkeit avantgardistischer Führung durchgesetzt werden.

 

Die Artikel in diesem Sammelband dokumentieren zum Teil eine von INEX im Herbst 2010 organisierte Veranstaltungsreihe unter dem Titel Das Ende des Kommunismus: Zur linken Kritik am Stalinismus. Andere Beiträge kamen hinzu. Aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen ist der fragmentarische Charakter des Bandes nur logisch. Ebenso geht unsere Auswahl unterschiedlicher Autor_innen mit einem gewissen, sich im Buch abzeichnenden Meinungspluralismus einher. Gerade im ersten Teil des Buches lassen sich die Texte als Diskussion über den unterschiedlich angesetzten Stellenwert von Kontextbedingungen und ideologischen Verwirrungen bei der Erklärung des Stalinismus lesen. Sowohl unser Ansatz als auch unsere Autor_innenwahl sind dabei in einer wesentlich größeren Auseinandersetzung zu verorten. Es bestand dabei nie der Anspruch, die gesamtlinken Reflexionsprozesse auch nur annähernd widerzuspiegeln. Vielmehr muss der vorliegende Sammelband als ein kleiner Teil davon verstanden werden. Gelänge es mit der Lektüre des Buches weitergehende Auseinandersetzungen mit den Ursachen und Folgen von Stalinismus und Realsozialismus anzuregen, wäre schon viel gewonnen. Für die Zukunft linker Politik, die auf eine fundamentale gesellschaftliche Transformation zielt, sind diese Diskussionen unabdingbar. Gerade dann, wenn es linken Bewegungen gelingt, aus dem Schatten der Geschichte herauszutreten und gesellschaftliche Relevanz zu beanspruchen, muss die Kritik des Stalinismus mehr als oberflächliche Imagepflege sein. Es ist die Linke selbst, die Verantwortung dafür trägt, dass sich vergleichbare Verbrechen nicht wiederholen und eine Alternative zum Kapitalismus tatsächlich verlockend ist.

 

Leipzig, im Februar 2012

Christian Schmidt

Die Politik des Kommunismus

Oder: Drei »wirkliche« Probleme bei der Überwindung des Kapitalismus

Heute über den Kommunismus sprechen zu wollen, ohne ihn zu verdammen, verführt leicht dazu, nur von der Zukunft eines kommunistischen Projektes zu reden, aber nicht von dessen Vergangenheit. Aus einer der Zukunft bereits wieder zugewandten Sicht trieb nämlich in der Vergangenheit ein falscher, zumindest aber verfälschter Kommunismus sein Unwesen. So über den Kommunismus zu diskutieren, hieße aber, die einfache Wahrheit zu vergessen, dass auch ein zukünftiger Kommunismus das Erbe einer Bewegung im Rücken hätte, das ihm nicht erst durch das wieder Aufrufen des Namens »Kommunismus« zufällt. Es gilt vielmehr, was Jacques Derrida einst für den unauflöslich mit dem Kommunismus verbundenen Marxismus feststellte: »Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe. Sie bleibt vor uns, ebenso unbestreitbar, wie wir, noch bevor wir es antreten oder ablehnen, die Erben sind, und zwar trauernde Erben, wie alle Erben. Insbesondere dessen, was sich Marxismus nennt.«[1]

Es scheint nahe zu liegen, das kommunistische Erbe, die kommunistische Aufgabe als eine Idee zu fassen, als Forderung nach einer ausbeutungs- und herrschaftsfreien Gesellschaft. Doch es ist genau diese äußerst abstrakte Fassung des Kommunismus, die ihn von seiner Geschichte abschneidet. Wird der Maßstab der abstrakten Forderung angelegt, lässt sich nämlich leicht zeigen, dass alle gesellschaftlichen Experimente zur Verwirklichung des Kommunismus nicht frei von Ausbeutung waren und schon gar nicht frei von Herrschaft. Doch seine abstrakte Fassung schneidet den Kommunismus auch von dem ab, was Marx als das Medium seiner Verwirklichung bestimmt hatte. Gegen die revolutionären Ideen seiner Zeit hatte Marx bereits Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts darauf bestanden, dass der Kommunismus keine Haltung und auch keine Idee sein könne, sondern eine wirkliche Bewegung sein müsse. Die Wirklichkeit einer solchen Bewegung erweise sich dadurch, dass sie die Organisation des gesellschaftlichen Lebens samt der Produktion der Lebens- und Genussmittel umwälze.[2]

Der Kommunismus war also nie ein Ideal oder eine Theorie. Er war schon von Anfang an eine immense Aufgabe. Es ging unter seinem Namen immer darum, eine Gesellschaft in ihren praktischen Vollzügen der Selbsterhaltung und Selbstentwicklung so einzurichten, dass sie nicht zum Abbild der spießigen deutschen Sehnsucht nach den ebenso überschaubaren wie beschränkten Verhältnissen des Mittelalters würde.[3] Zugleich sollte diese neue Gesellschaft ihre äußerst produktive Komplexität, die nur durch hochgradige Arbeitsteilung entstehen kann, anders zuwege bringen als die von Ausbeutung getriebene kapitalistische Moderne.

Natürlich sind Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Knechtschaftsfreiheit Ideale, die den Kommunismus leiteten und leiten. Und ebenso natürlich war und ist die Marx’sche Kritik der kapitalistischen Ökonomie eine für den Kommunismus konstitutive Theorie. Aber sowohl die Freiheitsideale als auch die ökonomische Theorie können gegenüber der wirklichen Bewegung kein dauerhaftes Primat beanspruchen. Der Grund dafür ist, dass die wirkliche Bewegung die abstrakten Ideale erst konkretisiert. Was die ökonomische Theorie betrifft, so lässt sie, sobald sie den Kapitalismus überwindet, mit dem Kapitalismus zugleich die Tatsachengrundlage der Theorie zu einer vergehenden und schließlich vergangenen werden.[4] Mit anderen Worten, die reine Lehre des Kommunismus liefert, soweit sie aus imperativen Idealen besteht, nur einen sehr groben Orientierungsrahmen für die Ziele der eigentlichen Bewegung, und sie bestimmt, sofern sie eine Theorie ist, mit höchst möglicher wissenschaftlicher Genauigkeit nur die Bedingungen, gegen die sich das gesellschaftliche Umgestaltungsprojekt etablieren muss.

Es kann nicht darum gehen, die kommunistischen Ideale und die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus als Vorarbeiten zum Kommunismus gering zu schätzen. Ohne sie wäre ein Aufbruch im Sinne des Kommunismus gar nicht möglich. Die Gefahr besteht aber auch darin, sie zu überschätzen, das heißt zu glauben, dass grobe Orientierung und Bestimmung des abzulehnenden gesellschaftlichen Zustands bereits ausreichend wären, um die immense Aufgabe einer anderen Organisation des gesellschaftlichen Produktionszusammenhangs zu bewältigen. Marx sieht in seiner Zeit eine vergleichbare Überschätzung der Wirkungsmacht von Theorien in kleinbürgerlicher Großmäuligkeit enden[5], die die Verhältnisse nicht zu ändern vermag und damit heute in ihrer Mischung aus Überheblichkeit und Ohnmacht an die Kommentare einer Stammtischrunde zu den Entscheidungen des Bundestrainers erinnert. Das Marx’sche Gegenprogramm dazu ist der Bezug auf die immer wieder beschworene »Wirklichkeit«, die sich gegen theoretisch gehaltene Anfeindungen immun zeigt und nur durch wirkliche Organisation und wirkliches Handeln veränderbar ist.

Sind Organisation und Praxis als das eigentliche Problem beim Übergang zum und bei der Entwicklung des Kommunismus bestimmt, dann fällt es schwer, jene geschichtlichen Bewegungen einfach auszublenden, die sich diesen Aufgaben gewidmet haben. Ihr Scheitern, nicht nur im Sinne historischer Niederlagen, sondern als Verfehlen des Kommunismus im Sinne seiner grundlegenden, wenn auch unzureichenden Ideale und der negativen Bestimmungen der Theorie, wirft dann die Frage nach den Ursachen dieses Misslingens auf. Diese Ursachen waren unbestritten vielfältig und von höchst unterschiedlicher Natur. So lässt sich nach ökonomischen, politischen, kulturellen und historischen Besonderheiten fahnden, die den Sozialismus in die Richtung seiner tatsächlichen Entwicklung drängten. Doch im Sinne der Marx’schen Kritik am Kommunismus als Abstraktion wäre es noch wichtiger zu fragen, ob nicht auch die überlieferten reinen Bestimmungen des Kommunismus der Anlass zu seiner Entstellung in der Wirklichkeit waren.

Wie also verhalten sich die Bestimmungen des Kommunismus bei Marx zur Aufgabe der Organisation einer wirklichen Bewegung? Welche Formen der Politik hat der Kommunismus bei seiner Ausrufung mit in die Wiege gelegt bekommen?

Der wissenschaftliche Weg zur Selbstbestimmung

Die kommunistische Politik des 20. Jahrhunderts war ganz offenkundig von rigiden Vorstellungen geprägt, die den Herrschaftsanspruch von Parteiapparaten durchsetzen sollten, aber einem politischen Prozess im Sinne der gemeinsamen Bestimmung von Entwicklungen und Zielen keinen Raum ließen. Sie kann deshalb auch als a-politisch bezeichnet werden. Im Zweifelsfall sollten staatliche Entscheidungen eher repressiv durchgesetzt werden, als dass sie ihm Rahmen eines gesellschaftlichen Klärungsprozesses korrigiert worden wären. Die Möglichkeiten der Politik wurden in den sozialistischen Gesellschaften dementsprechend stark beschränkt. Jede Form der selbstständigen Verständigung oder gar der öffentlichen Willensbekundungen jenseits des partei-staatlichen Rahmens galt als kriminell, zumindest aber verdächtig.

Von all dem findet sich so bei Marx selbst nichts. Kurioserweise war es aber ausgerechnet die Marx’sche Wissenschaftsauffassung, aus der sich im Marxismus ein Wahrheits- und Herrschaftsanspruch ableitete, der jeden politischen Prozess radikal einengte.[6] Aus der Perspektive der unbedingten Bindung der Marx’schen Theorie an die Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus erscheint es so, als könnte dieser Entwicklung nur eine komplette Fehldeutung durch die kommunistischen Bewegungen zugrunde liegen. Wird aber in Betracht gezogen, dass Wissenschaft bei Marx der Gegenbegriff zu Ideologie ist, dann zeigt sich schnell ein tief greifendes Problem, aus dem diese Verkehrung des ursprünglichen Marx’schen Anspruchs entstand.

Kennzeichnendes Merkmal der Ideologie ist laut Marx der fehlende Bezug von geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozessen auf deren Grundlage, also auf die Praxis der Herstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die Konsequenzen dieses Nicht-Thematisierens von gesellschaftlichen Bedingungen des Handelns sind, dass die für die gesellschaftliche Wirklichkeit ursächlichen Praktiken entweder durch unwirksame Handlungsmöglichkeiten ersetzt werden oder die Verhältnisse gleich als der Veränderbarkeit durch menschliches Handeln gänzlich entzogen erscheinen. Ersteres kann beispielsweise dadurch geschehen, dass Ideen als herrschend angesehen werden und neue Ideen als gesellschaftsverändernd. Gleichwohl unterscheidet die Ideologie vom bloßen Irrtum, dass sie selbst mit der Wirklichkeit auf eine Weise verbunden ist, in der sie der Hervorbringung der Gesellschaft, so wie sie ist, dient und durch diese gesellschaftliche Realität selbst immer wieder erzeugt wird. Louis Althusser, dessen Rekonstruktion und Weiterentwicklung der Marx’schen Ideologietheorie die Bezüge zwischen Ideologie und gesellschaftlichen Praktiken besonders deutlich werden lässt, spricht davon, »dass die praktisch-gesellschaftliche Funktion sich in [der Ideologie] gegenüber der theoretischen Funktion (oder auch der Erkenntnisfunktion) durchsetzt«.[7]

Die Wissenschaft ist im Gegensatz zur Ideologie bei Marx wesentlich kritisch. Das heißt, sie soll immer wieder das praktische Fundament der Gesellschaft und der mit ihr verbundenen Ideologie aufweisen. Das ist Marx deshalb so wichtig, weil durch die Kenntnisse der praktischen Prozesse, die eine Gesellschaft hervorbringen, deutlich wird, dass sie veränderbar ist. Darüber hinaus zeigt sich so auch noch, welche Strukturen praktisch umzuorganisieren sind, um den gesellschaftlichen Reproduktionsvorgang anzuhalten.[8] Die Wissenschaft hat also etwas Zerstörerisches. Sie richtet sich gegen das alltägliche Wissen darüber, wie die Dinge anscheinend funktionieren. Althusser glaubt daher, dass für das Funktionieren einer jeden Gesellschaft eine Ideologie notwendig ist, die den komplexen Organisationserfordernissen Rechnung trägt. »Im historischen Materialismus ist die Vorstellung nicht möglich, dass selbst eine kommunistische Gesellschaft jemals ohne Ideologie auskommen könnte.«[9] Allerdings unterliegen die Ideologien im Zuge gesellschaftlicher Umwälzungen ebenfalls radikalen Wandlungen, sodass der von den sozialistischen Ansätzen seiner Zeit ausgehende Althusser für den sich scheinbar entwickelnden Kommunismus vorhersieht, dass in ihm schließlich die Ideologie der »wissenschaftlichen Weltanschauung« den praktischen Zusammenhalt der neuen Gesellschaft ermöglichen werde.

Die Wissenschaft einmal als Kritik und dann als Ideologie offenbart aber das Problem der mit ihr verbundenen Wahrheitsansprüche. Als Kritik bringt sich die Wissenschaft in Gegensatz zu den Erfahrungen der praktischen Erfordernisse des Lebens in der kritisierten Gesellschaft. Sie denunziert die Urteile, die jeden Handlungsvollzug begleiten, als notwendig falsches Denken. Wird sie aber zur Weltanschauung, dann schlägt diese Distanzierung von den kritisierten gesellschaftlichen Praktiken in die oben als a-politisch gekennzeichnete Propaganda für eine Parteilinie und einen bürokratischen Herrschaftsapparat um.

Die kritische Wissenschaft muss gegen die unmittelbar einleuchtende alltägliche Erfahrung überzeugend sein, um aufgrund ihres Gegensatzes zur Pragmatik des gesellschaftlich beförderten Mitmachens nicht einfach im umgangssprachlichen Sinn zu einer Ideologie erklärt zu werden, die die Praxis und die von ihr hervorgebrachten Wahrheiten einfach ignoriert. Dazu muss sich die kritische Wissenschaft über den praktischen Horizont erheben und dessen Wahrheiten zum Schein, zur Erscheinung einer unbegriffenen gesellschaftlichen Praxis erklären. Damit werden die Menschen in ihrem Handeln aber als unmündig vorgeführt. »Sie wissen das nicht, aber sie tun es«[10], heißt es entsprechend im berühmten Fetischkapitel des ersten Bands vom Kapital mit Bezug auf die durch den Warentausch vermittelte gesellschaftliche Arbeitsteilung in der kapitalistischen Gesellschaft.

Nun ist Unmündigkeit aber mit Sicherheit kein guter Ausgangspunkt für die Organisation eines Umwälzungsprozesses, für den die Theorie keine Blaupause anbieten kann. Sie scheint vielmehr danach zu verlangen, dass eine Ausbildung oder Erziehung zur Mündigkeit stattfindet. Die entsprechenden Programme zur Läuterung und Verbesserung der Menschen sind schon seit den Anfängen der bürgerlichen Revolten gegen den Feudalismus bekannt. Sie wurden damals mit biblischen Bezügen gerechtfertigt. So galt etwa während der englischen Revolution die Geschichte des vierzig Jahre währenden, an Bestrafungen und Säuberungen reichen Auszugs der Israeliten aus Ägypten als das nachzuahmende Vorbild für den gesellschaftlichen Neuanfang.

Heute könnte es plausibel erscheinen, solche Modelle mit ihren religiösen Bezügen als historische Besonderheiten abzutun. Doch Michael Walzer hat sehr überzeugend vorgeschlagen, sie als Reflexionsformen der revolutionären Situation zu interpretieren. Indem er das Exodusmotiv der bürgerlichen Revolution in England auf seine prinzipielle Bedeutung für die Gründungsversuche neuer Gesellschaftsmodelle befragte, sah er aus der Verstricktheit in die vorrevolutionären gesellschaftlichen Zustände eine revolutionäre Konstellation erwachsen, die sich im Leninismus beim Versuch, den Kommunismus einzuführen, wieder aktualisierte:

»das sklavische Volk, unfähig sich selbst vorzustellen, wie die Befreiung aussehen könnte, der revolutionäre Führer, der von außen kommt, dessen Lebenserfahrung ganz anders ist als jene der unterdrückten Männer und Frauen, die er führt; die Gruppe von Kämpfern, aus dem Volk rekrutiert, doch auch von ihm getrennt, um einen organisierten und disziplinierten Kader zu bilden; und schließlich die ständigen ›Säuberungen‹ des Volkes durch die Kämpfer.«[11]

Besonders die zu Praktiken geronnenen Deutungen der Ideologie scheinen solche drastischen Maßnahmen zu erfordern, um aus dem Kreislauf der Wiederholungen der immer gleichen Gesellschaft auszubrechen. Solange die Zukunft der neuen Gesellschaft ein bloßes Versprechen ist, dessen Verwirklichung mehr praktische Hindernisse im Weg liegen, als sich Zeichen seiner Realisierung finden lassen, tendieren die Unterdrückten nämlich dazu, zu Zuständen zurückzukehren, die ihnen wenigstens einen Weg versprechen, ihr Leben – wenn auch mehr schlecht als recht – zu meistern.

Marx analysierte 1850 in diesem Sinn die französischen Auseinandersetzungen seiner Zeit und kam zu dem Ergebnis:

»Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte.«[12]

Doch selbst dieser revolutionären Partei sagt er noch einen langwierigen Transformationsprozess voraus, in dem die gegenwärtig lebenden Menschen nichts zu gewinnen hätten: »Das jetzige Geschlecht [ … ] hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muß untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.«[13]

Und doch zeigt sich in einer knapp zwei Jahre später geschriebenen Abhandlung zur selben Abfolge von revolutionären Erhebungen, politischen Koalitionen und Niederlagen des Proletariats, dass für Marx der Kampf um den Kommunismus zwar langwierig zu werden versprach, aber gleichwohl einen ganz anderen Charakter tragen sollte, als er von Walzer beschrieben wurde.

»Proletarische Revolutionen [ … ] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche [ … ] bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht.«[14]

Hier ist ganz im Einklang mit den Überlegungen in der »Deutschen Ideologie« keine Rede von der Überwindung der ideologisch befestigten Praxis durch die avantgardistisch verfochtenen Rezepte einer Wissenschaft, deren Wahrheit auch gegen die eigenen Verbündeten mit Gewalt Geltung verschafft werden müsste. Stattdessen entsteht das Bild eines selbstreflexiven Prozesses von Experimenten, die sich aus der gesellschaftlichen Praxis des Kapitalismus herauszukämpfen versuchen. Im Mittelpunkt steht die Einsicht, dass es die Menschen selbst sind, die ihren Lebenszusammenhang nicht nur immer wieder hervorbringen, sondern auch zu gestalten vermögen.