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Der Herausgeber

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Prof. Dr. Joachim Kahlert, Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, langjähriger Direktor des Münchener Zentrums für Lehrerbildung der LMU; Forschungsschwerpunkte: Inklusion in Schule und Unterricht; Professionalisierung von Lehrkräften; Didaktik des Sachunterrichts; Schulraumgestaltung

Joachim Kahlert (Hrsg.)

Die Inklusionssensible Grundschule

Vom Anspruch zur Umsetzung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034254-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034255-2

epub:    ISBN 978-3-17-034256-9

mobi:    ISBN 978-3-17-034257-6

Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. 1 Vom inklusiven Anspruch zum inklusionsorientierten Handeln – Anmerkungen zu einigen Missverständnissen in der Inklusionsdebatte
  2. Joachim Kahlert und Birgit Grasy
  3. 1.1 Inklusion – was war neu an diesem Anspruch?
  4. 1.2 Zum Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion im konkreten Handeln
  5. 1.3 Zur Dynamik und Variabilität inklusionspädagogischer Anforderungen
  6. 1.4 Inklusionssensibel unterrichten – Gelegenheiten sehen, beurteilen, ergreifen
  7. Literatur
  8. 2 Wie Inklusion gelingen kann. Gelingensbedingungen für erfolgreichen Unterricht
  9. Klaus Zierer
  10. 2.1 Analyse des Unterrichts
  11. 2.2 Planung des Unterrichts: Ziele
  12. 2.3 Planung des Unterrichts: Methoden
  13. 2.4 Durchführung des Unterrichts
  14. 2.5 Evaluation des Unterrichts
  15. 2.6 Zur Haltung der Lehrperson
  16. Literatur
  17. 3 Grundschule als Ort heterogenen bzw. inklusiven Lernens? Historische Fallbeispiele und gegenwartsrelevante Schlussfolgerungen zum Potenzial der Grundschule im Umgang mit Inklusion
  18. Michaela Vogt
  19. 3.1 Institutionelle Gestalt und Gründungsauftrag der Grundschule
  20. 3.2 Fallbeispiele zur äußeren Differenzierung aus der Geschichte der Grundschule
  21. 3.3 Fallbeispiele zur inneren Differenzierung aus der Geschichte der Grundschule
  22. 3.4 Schlussfolgerungen zum Umgang mit Verschiedenheit – ein Fazit
  23. Literatur
  24. 4 Entwicklungspädagogik in der Grundschule. Zur Bedeutung primärer und peripherer Lerndimensionen.
  25. Stephan Ellinger
  26. 4.1 Einführung und Problemstellung
  27. 4.2 Können – Wissen – Wollen: Drei Dimensionen des Lernprozesses
  28. 4.3 Kann sie nicht, weiß sie nicht oder will sie nicht?
  29. 4.4 Zur Bedeutung primärer und peripherer Lerndimensionen für benachteiligte Kinder
  30. 4.5 Diskussion: Entwicklungspädagogik als Grundlage sonderpädagogischer Förderung?
  31. 4.6 Epilog: Von der Entwicklungspsychologie zur Entwicklungspädagogik
  32. Literatur
  33. 5 Schülerinnen und Schüler mit einem Förderbedarf in ihrer emotional-sozialen Entwicklung
  34. Reinhard Markowetz
  35. 5.1 Wer sind die Kinder, die einen Förderbedarf im Bereich emotional-soziale Entwicklung haben?
  36. 5.2 Problemanzeige
  37. 5.3 Inklusive Bildung – Lernen im gemeinsamen Unterricht und im getrennten Unterricht
  38. 5.4 »Förderplanung« – eine neue Aufgabe und Herausforderung für Grundschullehrkräfte
  39. 5.5 Was ist zu beachten und zu fordern?
  40. 5.6 Fazit und Ausblick
  41. Literatur
  42. 6 Sprachsensibler Unterricht aus der Perspektive der Sprachheilpädagogik
  43. Andreas Mayer
  44. 6.1 Einleitung
  45. 6.2 Sprachheilpädagogik
  46. 6.3 Unterschiedliche Erscheinungsformen entwicklungsbedingter Beeinträchtigungen der Sprache und des Sprechens im Kindes- und Jugendalter
  47. 6.3.1 Überblick
  48. 6.3.2 Umschriebene Spracherwerbsstörungen
  49. 6.4 Schärfung des diagnostischen Blicks – wodurch fallen spracherwerbsgestörte Kinder im Unterricht auf?
  50. 6.4.1 Interaktions- und Kommunikationsverhalten
  51. 6.4.2 Semantisch-lexikalische Auffälligkeiten
  52. 6.4.3 Grammatische Auffälligkeiten
  53. 6.5 Möglichkeiten der Gestaltung eines sprachsensiblen Unterrichts
  54. 6.5.1 Stützung des beeinträchtigten Sprachverständnisses
  55. 6.5.2 Spezifisch akzentuierte Lehrersprache und Textoptimierung
  56. 6.5.3 Wortschatzarbeit als Unterrichtsprinzip
  57. 6.5.4 Sprachschaffender Unterricht: Klassenklima, Atmosphäre der Wertschätzung und gegenseitiger Respekt
  58. Literatur
  59. 7 Förderbereich geistige Entwicklung
  60. Erhard Fischer
  61. 7.1 Einführung
  62. 7.2 Schülerschaft
  63. 7.2.1 Wer ist gemeint?
  64. 7.2.2 Sichtweisen und Beschreibungen
  65. 7.2.3 Zusammensetzung der Schülerschaft
  66. 7.3 Diagnostische Erfordernisse
  67. 7.4 Unterrichtliche Maßnahmen
  68. 7.4.1 Didaktische Erfordernisse: Ziele und Inhalte
  69. 7.4.2 Methodische Erfordernisse: Lehr- und Lernformen
  70. 7.4.3 Therapeutische bzw. besondere Angebote für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedarfslagen
  71. 7.5 Voraussetzungen: Ressourcen, Kooperation, Teamarbeit und externe Unterstützung
  72. Literatur
  73. 8 Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung − eine Einführung
  74. Jürgen Moosecker
  75. 8.1 Übersicht der Behinderungsformen im Zusammenhang des Förderschwerpunktes kmE/Definition »Körperbehinderung«
  76. 8.2 Historische Perspektive – Entstehung erster Bildungsinstitutionen für Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderung
  77. 8.3 Lernverhalten im Kontext einer Cerebralparese (CP)
  78. 8.3.1 Neuro- und entwicklungspsychologische Ebene
  79. 8.3.2 Psychogene Ebene: Entwicklung der Neugiermotivation
  80. 8.3.3 Soziogene Ebene
  81. 8.3.4 Zusammenführung der Erkenntnisse
  82. 8.4 Exemplarische Fokussierung des Lernverhaltens von Schülerinnen und Schülern mit CP auf das zentrale unterrichtliche Feld des Schriftspracherwerbs
  83. 8.5 Ausgewählte Erkenntnisse empirischer Bildungsforschung: Gelingensfaktoren inklusiver Bildungsangebote für Schüler mit dem Förderbedarf kmE
  84. 8.6 Ausgewählte Aspekte einer pädagogischen Perspektive
  85. 8.6.1 Körper und Leib
  86. 8.6.2 Zur Identitätsgenese
  87. 8.6.3 Soziale Integration
  88. 8.7 Selbstverwirklichung in sozialer Integration
  89. Literatur
  90. 9 Förderbereich Hören
  91. Annette Leonhardt
  92. 9.1 Inklusion im Förderschwerpunkt Hören
  93. 9.2 Beschreibung der Schüler mit Förderbedarf Hören
  94. 9.3 Fördermaßnahmen
  95. 9.3.1 Rahmenbedingungen
  96. 9.3.2 Hörgeschädigtenspezifische Unterrichtsmaßnahmen
  97. 9.3.3 Lautsprachlich und gebärdensprachlich kommunizierende Hörgeschädigte
  98. 9.3.4 Soziale Inklusion
  99. 9.4 Abschließende Bemerkungen
  100. Literatur
  101. 10 Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigungen
  102. Ursula Hofer
  103. 10.1 Einleitung
  104. 10.2 Sehen und visuelle Wahrnehmung
  105. 10.2.1 Beeinträchtigungen des Sehens
  106. 10.2.2 Beeinträchtigte Verarbeitung von Sehinformationen
  107. 10.3 Besonderer Förderbedarf Sehen: Auswirkungen der Beeinträchtigung
  108. 10.3.1 Umweltfaktoren
  109. 10.3.2 Lernaktivitäten
  110. 10.4 Inklusive Bildungsangebote aus Sicht der Sehbehinderten- und Blindenpädagogik
  111. 10.4.1 Gestaltung von Lernumgebungen und medialen Angeboten
  112. 10.4.2 Unterrichtsgestaltung – didaktische Konzepte
  113. 10.5 Abschließendes Fazit
  114. Literatur
  115. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

 

 

1

Vom inklusiven Anspruch zum inklusionsorientierten Handeln – Anmerkungen zu einigen Missverständnissen in der Inklusionsdebatte

Joachim Kahlert und Birgit Grasy

 

»ohne Angst verschieden sein« (Theodor W. Adorno, 1951)

Wer sich mit Herausforderungen, Möglichkeiten und Chancen der Inklusion für Menschen und Institutionen beschäftigt, sollte die Unvermeidbarkeit von Exklusion nicht außer Betracht lassen.

Dabei geht es nicht darum, eine Hintertür für pragmatische Bequemlichkeit offen zu halten, die Beharrlichkeit von Institutionen hinzunehmen oder Privilegien zu verteidigen. Vielmehr wirkt die Einsicht in das Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion Vereinfachungen entgegen, die ideologieanfällig sind, unproduktive Auseinandersetzungen schüren und die Erfüllung der Aufgaben von Schule und Lehrer eher erschweren als unterstützen. Damit einher geht die Gefahr der Überforderung, die weniger auf die Größe der mit Inklusionsansprüchen verbundenen Aufgaben zurückzuführen ist, sondern auf die Ausblendung einer moralisch zunächst irritierenden Einsicht: Inklusion ist ohne Exklusion zwar zu denken, aber nicht zu realisieren.

 

1.1       Inklusion – was war neu an diesem Anspruch?

 

»Der demokratische Glaube an Gleichheit ist die Überzeugung, daß jeder Mensch, was immer auch das Ausmaß seiner Begabung sei, das Recht habe auf den gleichen Zugang zur Entwicklung der Begabung, die er besitzt (jedem soll die Gelegenheit gegeben sein, das, was er an Fähigkeiten besitzt, auch entwickeln zu können). Es ist der Glaube an die Fähigkeit jedes Menschen, sein eigenes Leben zu leben, frei von Zwang durch andere, vorausgesetzt, daß die richtigen Grundlagen geschaffen sind.«

Diese Ausführungen wurden nicht im Anschluss an die UN-Behindertenrechtskonvention (im Folgenden UN-BRK) formuliert, sondern von John Dewey kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges. In deutscher Fassung erschienen sie 1948 (Dewey, 1948, S. 3).

Schon einige Jahrzehnte zuvor hatte Dewey in seinem Hauptwerk »Demokratie und Erziehung« den Zusammenhang zwischen demokratischem Anspruch und gemeinsam geteilten Erfahrungen hervorgehoben:

»Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung« (Dewey, 1916/2011, S. 121; siehe auch S. 113ff.).

Vor dem Hintergrund der demokratisch-emanzipativen Grundidee von Schule und des modernen Bildungsverständnisses ist der mit Inklusion verbundene pädagogische Anspruch nicht neu.

Die Menschenrechte gelten nicht erst seit der UN-BRK. Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes wurde 1994 um den zweiten Satz erweitert: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« (BGBl I, 1994, S. 3146). In Bezug auf pädagogische Absichten trat bereits Comenius dafür ein, »Omnes«, »alle«, zur »Vollkommenheit ihrer Menschennatur« zu führen (Comenius, 1677/1991, S. 18ff.). Kein Mensch solle davon »ausgeschlossen, geschweige denn ferngehalten werden« (ebd. S. 35). Ausdrücklich bezieht er Menschen mit Behinderungen ein: »In dem Maße, wie jemand an der menschlichen Natur Anteil hat, soll er an jener Wartung teilnehmen; besonders ist dort, wo die Natur sich wegen eines inneren Mangels nicht selbst helfen kann, äußere Hilfe nötig« (ebd., S. 36f.). »Keiner darf jedoch übergangen werden« (ebd., S. 36).

Eine substanzielle Neuerung des Bildungsauftrages eines Schulsystems in einem demokratischen Gemeinwesen lässt sich aus der UN-BRK nicht entnehmen. Mit Artikel 24 »Bildung« verpflichten sich die Vertragsstaaten, »Menschen mit Behinderungen, ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen« (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2011, S. 35). Niemand dürfe »vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden« (ebd., S. 36). Ziel sei es, Menschen mit Behinderung die »volle und gleichberechtige Teilhabe an der Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft zu erleichtern« (ebd.).

Danach sind alle Kinder und Jugendlichen so zu fördern, dass sie ihre Persönlichkeit nach Maßgabe von Anlagen, Fähigkeiten und Interessen entfalten und am sozial-kulturellen Leben so selbstbestimmt und verantwortungsvoll wie möglich teilhaben können, und zwar in Gegenwart und in Zukunft. Zum damit verbundenen Bildungs- und Erziehungsauftrag gehört die Förderung von Fähigkeiten zum wissens- und wertebasierten Urteilen, zum sachgerechten, interessenbewussten und kompromissfähigen Handeln sowie zur eigenständigen Erweiterung individuellen Wissens und Könnens.

Mit Bezug auf die UN-BRK wird oft die gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen in einer Schule gefordert. Dies mag zwar ideologische Bedürfnisse befriedigen, wird aber weder der Vielfalt von Förderbedarfen und -möglichkeiten gerecht noch lässt sich aus der UN-BRK die Pflicht zur Umsetzung einer schulpolitischen Monokultur (»eine Schule für alle«) ableiten: »Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens« (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2011, S. 18).

Da das deutsche Bildungssystem von der »Bildsamkeit« (Tenorth, 2013) aller Schülerinnen und Schüler ausgeht und kein Kind, kein Jugendlicher aufgrund einer Behinderung von schulischer Bildung ausgeschlossen ist, wird der grundlegende Anspruch an Inklusion umgesetzt (Tenorth, 2013, 7ff.). Eine andere Frage ist, ob die Entwicklung des einzelnen Schülers bzw. der einzelnen Schülerin und damit Teilhabe in Gegenwart und Zukunft so gut wie möglich gefördert wird. Dies lässt sich nicht pauschal aus der Schulart erschließen, die jemand besucht, sondern muss mit professionell geschulter pädagogischer Sensitivität für jeden Einzelfall beurteilt werden. Die vorhandenen empirischen Befunde erlauben kein generelles Urteil darüber, welche Art der Beschulung den Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen am besten gerecht wird (vgl. z. B. Ahrbeck, 2017, 20f.; Möller, 2013, S. 29f.; Stranghöner/Hollmann/Otterpohl/Wild/Lütje-Klose/Schwinger, 2017). Weder gibt es eine empirisch eindeutig belegte Überlegenheit für eine inklusiv ausgerichtete Beschulung noch für die Beschulung in besonderen Einrichtungen (Möller, 2013, 33f.).

Es ist nicht zu erwarten, dass es in absehbarer Zukunft größere Klarheit darüber geben wird.

Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Art und Weise, wie ein besonderer Förderbedarf definiert und festgestellt wird. Weder international noch wenigstens national sind die dafür verwendeten Verfahren einheitlich (Hillenbrand, 2013). Berücksichtigt man den ökosystemischen Ansatz zur Erklärung menschlicher Entwicklung (Bronfenbrenner, 1981) sowie die Bedeutung einer umfassenden Mensch-Umfeld-Analyse für die Förderung des einzelnen Kindes und Jugendlichen (vgl. z. B. Hildeschmidt/ Sander, 2009; Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister 1994, S. 5ff.; ders., 2017, S. 250), dann rücken zahlreiche Bedingungen ins Blickfeld, die beeinflussen, wie gut ein institutionelles Setting die Fähigkeit zur Teilhabe fördert.

Vorwissen und Können der Schülerinnen und Schüler spielen dabei ebenso eine Rolle wie Lehrer-Schüler-Relationen, Vorgaben der Einzelschule, methodisch-didaktisches Geschick der Lehrkräfte, räumliche Gegebenheiten, verfügbare Medien, Erwartungen des schulischen Umfelds und nicht zuletzt auch außerschulische Unterstützungsmöglichkeiten. Es wäre also eine Vielfalt von Bedingungen zu kontrollieren, um Entwicklungsunterschiede zuverlässig und valide mit dem institutionellen Setting Förderschule bzw. allgemeine Schule erklären zu können.

Dies gilt erst recht, wenn man, in langfristiger Perspektive, Unterschiede der Teilhabemöglichkeit von Erwachsenen auf Auswirkungen unterschiedlicher schulischer Settings zurückführen wollte. Selbst wenn es gelingen würde, die Vielzahl der dabei zu kontrollierenden Variablen, die sonst noch auf die personale Entwicklung Einfluss nehmen, methodisch zu erfassen und statistisch sauber zu bewältigen, wäre nicht viel gewonnen. Eine solche Studie müsste, ihrem Erkenntnisinteresse entsprechend, sehr langfristig angelegt werden. Lägen die Befunde nach vielen Jahren vor, wären sie kaum nutzbar, denn die gesellschaftlichen und damit auch schulischen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Förderung hätten sich in der Zwischenzeit verändert. Die Erwartungen der Öffentlichkeit im Hinblick auf wichtige Aufgaben der Schule, wie Leistungsförderung, soziales Lernen, Erziehungsfunktionen, sowie die Wahrnehmung von pädagogischen Herausforderungen für und von Lehrerinnen und Lehrern, Schulleitungen und Schulverwaltungen bleiben nicht über Jahre konstant, neue Aufgaben kommen hinzu. Allein die Digitalisierung von Lebenswelten und von Lernmöglichkeiten wird dazu führen, dass sich die Lernbedingungen in Schule und Unterricht noch rascher als bisher wandeln.

Daher ist es weder klug, noch zeugt es von der für pädagogisches Handeln immer gebotenen Vorsicht, wenn quasi präskriptiv festgelegt wird, dass nur eine gemeinsame Beschulung dem auf Teilhabe konzentrierten Inklusionsgedanken gerecht wird. Eine intelligente Umsetzung inklusiver Absichten hält verschiedene Wege zur Teilhabe offen und sorgt für hinreichend hohe Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen schulischen Angeboten.

Je nach individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und nach institutionellen Bedingungen kann jede Schulart ein guter Ort für die Förderung von Teilhabe des einzelnen Kindes oder Jugendlichen sein – wenn die materiellen, personellen und pädagogischen Voraussetzungen dafür gegeben sind bzw. geschaffen werden (können). Aber auch umgekehrt gilt: Keine Schulart kann von vorneherein beanspruchen, in jedem Fall der bessere Ort zu sein.

 

1.2       Zum Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion im konkreten Handeln

 

In der pädagogischen Kommunikation über Inklusion, aber auch in anderen Kontexten, wird der Begriff »inklusiv« häufig so verwendet, als markiere er eine Eigenschaft, die man Institutionen, sozialen Ereignissen und Situationen zuschreiben könnte. Die Rede ist dann von einer inklusiven Gesellschaft, von einer inklusiven Schule, von inklusivem Unterricht, von inklusiven Settings etc.

Sofern damit die Absicht bzw. der Anspruch zum Ausdruck kommt, Teilhabe in Gegenwart und Zukunft nach bestem pädagogischem Wissen und Gewissen zu fördern, ist gegen diese Verwendung des Inklusionsbegriffs nichts einzuwenden. Missverständlich wird die Verwendung des Begriffs jedoch, wenn damit Eigenschaften von Situationen, Handlungen, Institutionen oder gar ganzer Gesellschaften beurteilt werden.

Inklusion ist kein Zustand, der sich kriterial so beschreiben ließe, dass in einer binären Logik entscheidbar wäre, wann Inklusion realisiert ist und wann nicht. Inklusion ohne Exklusion lässt sich zwar als Anspruch an das Handeln von Individuen, an die Funktion und Arbeitsweise von Institutionen und auch an gesellschaftliche Entwicklungen formulieren; aber sobald die Umsetzung dieses Anspruchs erfolgt, kommt unvermeidbar Exklusion ins Spiel. Das gilt auf der individuellen Ebene ebenso wie auf der gesellschaftlichen Ebene, für die Funktion von Institutionen (wie die Schule) ebenso wie für das Handeln in den Institutionen (z. B. als Lehrerin bzw. als Lehrer):

•  Auf der individuellen Ebene geht selbst die größte Bereitschaft, Teilhabe anderer Menschen zu fördern und zu ermöglichen, mit mehr oder weniger bewusst getroffenen Entscheidungen darüber einher, wie die dafür einzusetzenden persönlich verfügbaren Ressourcen – Zeit, Veränderungsbereitschaft, Aufmerksamkeit u. a. m. – genutzt werden. Diese Ressourcen sind immer (zu) knapp, denn niemand ist in der Lage, sein Potenzial an Menschlichkeit und Zuwendungsbereitschaft beliebig lange und für beliebig viele Menschen einzusetzen. Immer ist eine Abwägung nötig, für wen man sich wie, wie lange und wie intensiv besonders engagiert. Dass das Ergebnis solcher Abwägung in den meisten Situationen mehr oder weniger durch die private, institutionelle, zufällige oder gezielt hergestellte Nähe zu Menschen mit Beeinträchtigung stark beeinflusst wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Problematik, dass die Teilhabe fördernde Zuwendung für die eine Person andere Personen von der eigenen Zuwendungsmöglichkeit ausschließt. Man kann niemandem verwehren abzuwägen, wie viel von dem eigenen verfügbaren Zeitbudget zur Unterstützung von Teilhabe anderer eingesetzt wird. Die allermeisten Menschen dürften zeitliche Spielräume haben, um sich mehr um Menschen zu kümmern, deren Teilhabe am sozialen und öffentlichen Leben aufgrund einer Beeinträchtigung eingeschränkt ist. Wer von diesen Möglichkeiten weiß, aber die eigenen zeitlichen Ressourcen für die Befriedigung eigener Interessen einsetzt, nimmt damit zwangsläufig mehr an Exklusion in Kauf als nötig wäre.

•  Dieses Zusammenwirken von Inklusion und Exklusion gilt auch für die Verteilung von Ressourcen auf der gesellschaftlichen Ebene. So wünschenswert es ist, dass Barrieren der Teilhabe abgebaut und Teilhabe fördernde Maßnahmen ausgebaut werden, so klar ist auch, dass angesichts der Vielfalt von Bedarfen dafür immer nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Die öffentlich verfügbaren Mittel sind nicht beliebig ausweitbar. Man kann darüber streiten, welche Gemeinschaftsaufgaben zu Gunsten der Förderung von Teilhabe eingeschränkt oder wie sich mehr Mittel für öffentliche Ausgaben beschaffen lassen. Doch auch dies führt nicht zu endlos verfügbaren Mitteln, mit denen alle wünschenswerten Maßnahmen zur Unterstützung von Teilhabe finanziert würden. Entsprechend findet sich in der UN-BRK im Hinblick auf die Förderung von Teilhabe in Artikel 4 Abs. 2 ein Ressourcenvorbehalt: Zur Sicherung der Rechte der Menschen mit Behinderung habe jeder Vertragsstaat »unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Maßnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen« (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2011, S. 16f.; siehe dazu auch die Position des Völkerrechtlers Bernhard, 2015, S. 83f.). Dies schließt die Anerkennung konfligierender Rechtspositionen und die Abwägung auch anderer wichtiger gesellschaftlicher Belange ebenso ein (vgl. Kastl, 2017; siehe z. B. auch BVerfG 1997, Ziffer 57) wie die Abwägung der Entwicklungsmöglichkeiten auch jener Menschen, die ohne Behinderung einen Alltag führen müssen, der sie weit unterdurchschnittlich an den materiellen und sozialen Ressourcen der Gesellschaft teilhaben lässt. Die Mittel für die Förderung von Teilhabe sind ausbaufähig, sie bleiben aber immer knapp, denn das Bedürfnis nach Teilhabe wächst (zu Recht) mit.

•  Schließlich trifft das Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion auch für das professionelle Handeln in Schule und Unterricht zu. Selbst die engagiertesten, methodisch-didaktisch kreativsten und diagnostisch kompetentesten Lehrkräfte verfügen nur über begrenzte pädagogische Ressourcen wie Zeit, Aufmerksamkeit und didaktische Kreativität: Gezielte Aufmerksamkeit und Zuwendung für einen Schüler schränkt die Aufmerksamkeit für andere ein. Ideen für Differenzierung und spezielle Förderung sind nicht beliebig abrufbar. Kommunikatives Geschick bewahrt nicht vor Missverständnissen, deren Auflösung wiederum Zeit in Anspruch nimmt.

Das schafft Zielkonflikte.

Alle Kinder und Jugendlichen einer Klasse haben ein Anrecht auf bestmögliche Förderung. Man kann den Standpunkt vertreten, dass die Förderung der leistungsstarken Kinder weniger wichtig ist als die Förderung der Teilhabe von Kindern mit besonderen Entwicklungsbedürfnissen. Und sicherlich geht begrenzt beides – trotzdem muss abgewogen werden, denn der Wünschbarkeit von Förderung sind keine Grenzen gesetzt: Auch die gute Mathematikschülerin könnte noch besser werden, der Aufsteiger aus bildungsfernen Schichten seine Talente noch stärker entfalten und die mit ihren sprachlichen Leistungen zufriedenen Schülerinnen und Schüler könnten ein noch tieferes Verständnis der Literatur erwerben, würden sie stärker gefördert. Es mag als eine soziale Errungenschaft gelten, dass Kinder mit besonderem Entwicklungsbedarf besonders gefördert werden. Aber auch für Schule und Unterricht gilt, wie für alle sozialen Beziehungen (vgl. dazu z. B. Nassehi, 2002), dass es sich bei Inklusion um einen fortwährend zu gestaltenden Prozess handelt, der aufmerksames, sensibles Austarieren und Aushandeln zwischen Inklusion und Exklusion erfordert.

Mit binärer Logik von Inklusion und Exklusion Institutionen zu bewerten, Förderschulen von vorneherein als Hindernis für Inklusion zu diskreditieren oder gar mit kunstvollen Konstrukten zwischen Integration und Inklusion zu unterscheiden, bringt bestenfalls das idealistische Missverständnis zum Ausdruck, die Grenze zwischen Inklusion und Exklusion ließe sich unabhängig von dem jeweils konkreten, individuellen Fall und den individuellen Umständen klar ziehen. So verkommt der Begriff Inklusion zu einer »Zauberformel« (Dammer, 2012, S. 352) bzw. einer »Paradiesmetapher« (Ahrbeck, 2017, S. 16), die die ohnehin schwierige Bildungsarbeit an Schulen auf unproduktive Weise irritiert:

Moralisch aufgeladene Debatten prangern das heutige differenzierte Bildungssystems als inklusions- oder gar menschenrechtsfeindlich an (siehe dazu die Beispiele bei Ahrbeck 2016; ders., 2014). Mit gewagten Berechnungen wird die angebliche Kostenneutralität einer gemeinsamen Beschulung gegenüber der Aufrechterhaltung von Förderschulen behauptet; Förderschulen werden medial verunglimpft, Regelschulen überfordert, der Wille von Eltern, die eine Förderung ihres Kindes in einer besonderen Einrichtung nach wie vor für wünschenswert halten, wird missachtet (vgl. dazu Speck, 2015). Und auch in der als seriös geltenden Presse wird ein übereilig umgesetzter Inklusionsanspruch im Bildungssystem, der nicht von der Bereitstellung notwendiger Ressourcen begleitet war, mit dafür verantwortlich gemacht, dass eine Landesregierung abgewählt wurde (vgl. z. B. Himmelrath, 2017; Kohlmaier, 2017).

Dass sich Inklusion nicht ohne Exklusion realisieren lässt, bedeutet keinen Freibrief dafür, jede Form von Exklusion hinzunehmen, sei es aus Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit oder aus Mangel an Anstrengungsbereitschaft. Es spricht für die soziale und demokratische Qualität einer Gesellschaft, wenn versucht wird, Exklusion so gut es geht und unter Abwägung von Interessen und Entwicklungsmöglichkeiten aller Beteiligten zu vermeiden.

Selbstverständlich widerspricht es nicht nur den Menschenrechten, sondern schon dem sozialen Anstand und dem Bildungsauftrag in einer demokratisch orientierten Gesellschaft, jemanden aufgrund seiner Eigenschaften zu diskriminieren und von Entwicklungsmöglichkeiten auszuschließen. Ja, man kann und muss darüber diskutieren, welche besonderen Anstrengungen und welche materiellen und immateriellen Kosten dem Einzelnen oder der gesamten Gesellschaft zuzumuten sind, um die Möglichkeiten der Teilhabe von Menschen mit Behinderung bzw. mit einem besonderen Förderbedarf zu verbessern. Dabei geht es um Abwägung unterschiedlicher Interessen, Lebenschancen, Entwicklungsmöglichkeiten, und es zeichnet den Einzelnen und eine Gesellschaft im Allgemeinen aus, wenn diese Abwägungen zugunsten von Menschen getroffen werden, denen durch besonderes Engagement, durch Aufmerksamkeit und Unterstützung mehr Teilhabe geboten werden kann.

Weil sich Exklusion jedoch nie völlig vermeiden, Inklusion nie vollständig erreichen lässt, kann man zwar von inklusiven Absichten und Ansprüchen sprechen; aber die Handlungen selbst sowie die Institutionen, in denen inklusive Ziele umgesetzt werden, sollten besser als inklusionsorientiert bezeichnet werden. Das ist nicht nur seriöser, sondern erinnert auch daran, dass es nicht damit getan ist, diese und jene Maßnahmen umzusetzen. Inklusion wird oft nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie mit Sensibilität für das Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion zu gestalten.

Schulen können und müssen dazu einen Beitrag leisten und sie sind, wieder einmal, durchaus Vorreiter auch bei der Umsetzung dieser wünschenswerten gesellschaftlichen Aufgabe. Die Orientierung an der bestmöglichen Förderung einzelner Schülerinnen und Schüler ist als pädagogischer Auftrag nicht neu. Neu ist allerdings die Ausweitung des institutionellen Rahmens, in dem dieser Anspruch verwirklicht werden soll.

Der Ort, an dem die individuelle Förderung bestmöglich angestrebt wird, ist nicht mehr durch die Diagnose eines besonderen Förderbedarfs festgeschrieben. Vielmehr geht es darum, die ganze Bandbreite eines differenzierten Schulsystems klug zu nutzen, um den individuellen Förderbedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen nach bestem pädagogischem Wissen und Gewissen gerecht zu werden. Damit weitet sich (nicht nur) in der Grundschule die Bandbreite der Entwicklungsbedürfnisse von Schülerinnen und Schülern aus. Die Anforderungen an die diagnostischen und methodischen Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer nehmen zu.

 

1.3       Zur Dynamik und Variabilität inklusionspädagogischer Anforderungen

 

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die nicht an einer Förderschule, sondern an der allgemeinen Schule unterrichtet werden, betrug in Deutschland im Jahr 2000 12,4 Prozent; bis 2009 nahm der Anteil auf 19,8 Prozent zu, um dann in den Jahren nach dem Inkrafttreten der UN-BRK bis 2016 auf 39,3 Prozent anzusteigen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2017, S. 44; KMK-Statistik, 2018, S. 5; Images Tab. 1).

Nach dem Inkrafttreten der UN-BRK stieg der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an einer Allgemeinen Schule unterrichtet wurden, bis zum Jahr 2015 jährlich etwa um 3 Prozentpunkte an, in den Jahren zuvor im Schnitt um knapp einen Prozentpunkt.

Von den 205 811 Schülerinnen und Schülern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf, die laut Statistik der Kultusministerkonferenz im Jahr 2016 auf der Allgemeinen Schule unterrichtet wurden, gingen 77 215 Schülerinnen und Schüler auf eine Grundschule (ebd., S. 5 und 12). Die größte Gruppe bildeten Schülerinnen und Schüler (41,0 Prozent) mit dem Förderschwerpunkt Lernen, gefolgt von der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung (21,1 Prozent) sowie Sprache (18,4 Prozent) (ebd., S. 12).

FörderschwerpunktSchülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF)

Tab. 1: Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung in allgemein bildenden Schulen (Stand 2016)*

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* Zusammengestellt nach der KMK-Statistik »Sonderpädagogische Förderung: Vorläufiges Tabellenwerk Sonderpädagogische Förderung in allgemeinbildenden Schulen 2007 – 2016.« Verfügbar unter https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/AW_SoPae_2016.pdf (Abrufdatum 14. 05. 2018).

** allgemeine Schulen: allgemein bildende Schulen ohne Förderschulen; Angaben für Grundschulen ohne Niedersachsen, da dort Aufschlüsselung nach Schularten nicht möglich.

Die zur Beschreibung der besonderen Entwicklungsbedürfnisse von Schülerinnen und Schülern benutzten Kategorien sind zwar unverzichtbar, um sich über den besonderen Förderbedarf zu verständigen und die Auswahl sinnvoller Maßnahmen zu erleichtern (Ahrbeck, 2012, S. 68ff.). Aber der konkrete Förderbedarf zeigt sich innerhalb der jeweiligen Gruppe auf sehr unterschiedliche Art und Weise:

•  Allein Kinder mit besonderem Förderbedarf im Bereich Sprache können ganz verschiedene Anforderungen stellen. Manche haben Verständnisschwierigkeiten, wenn aus größerer Entfernung gesprochen wird, wenn der Blickkontakt fehlt oder wenn ein etwas komplexerer Satzbau zu entschlüsseln ist. Andere weisen Einschränkungen beim Ausdrucksvermögen auf, die mit mehr oder weniger ausgeprägten Artikulationsstörungen zusammenhängen, aber auch auf Wortschatzarmut und auf Schwierigkeiten bei der Verbflexion, bei der Artikelzuordnung oder bei der Beherrschung von Syntax und Morphologie zurückzuführen sind. Begleitend können Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten auftreten. Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen reichen von Anforderungen an die Lehrersprache über Feedback für das Kind bis hin zum Einsatz besonderer Sprachübungen. Was sich konkret für das einzelne Kind bewährt, muss im Unterricht erprobt werden. Das setzt voraus, dass die Lehrkraft hinreichend umfassendes Wissen über solche Maßnahmen hat, sie angemessen umsetzt und ihre Wirkungen aufmerksam beobachtet.

•  Kinder mit einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung können die für Sprachwahrnehmung wichtigen Frequenzen möglicherweise nicht hinreichend unterscheiden oder haben Schwierigkeiten mit der Auflösung der zeitlichen Struktur der gehörten Sprache. Wieder andere Teilleistungsstörungen beinträchtigen das Richtungshören, die Lautdifferenzierung oder die Selektivität. Bei Mehrfachbehinderungen treten Hörschwächen in Kombination mit Seh- und/oder mit Bewegungsbeeinträchtigungen auf. Welche Folgen Hörstörungen außerdem für den Spracherwerb sowie für die soziale und emotionale Entwicklung haben, wird vom Schweregrad, vom Zeitpunkt der Diagnose und vom Erfolg unterstützender Maßnahmen beeinflusst. Schon geringfügige Hörbeeinträchtigungen, die zum Teil nicht einmal erkannt werden, erschweren den Lernerfolg. Empfehlungen, die Lehrkräfte für den Unterricht mit Hörgeschädigten berücksichtigen sollen, beziehen sich u. a. auf die Gestaltung raumakustischer Bedingungen, auf den Unterrichtsaufbau, auf den Einsatz visueller Hilfsmittel, auf das Zeitmanagement und auf die Art und Weise, wie zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern gesprochen werden soll.

•  Andere Herausforderungen für diagnostische, methodische und didaktische Fähigkeiten der Lehrkräfte gehen mit der Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung von Schülerinnen und Schülern einher. Störungen im emotionalen Bereich können z. B. als Ängstlichkeit, Labilität oder auch als Depression auftreten; Schülerinnen und Schüler können aggressiv, egozentrisch, kontaktarm, leicht erregbar, interessen- oder freudlos wirken. Vielfach überlappen sich Störungen der Aufmerksamkeit, sozial unangemessene Verhaltensweisen und emotionale Beeinträchtigungen.

•  Weitere Herausforderungen bringen besondere Unterstützungsbedürfnisse beim Lernen mit sich, die mit Interaktionsstörungen, Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, Schwierigkeiten bei der altersangemessenen Perspektivenübernahme oder auch mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen zusammenhängen können. Und schließlich sind vielfältige individuelle Entwicklungsbedürfnisse im sensomotorischen Bereich und im Bereich der kognitiven Entwicklung zu berücksichtigen, wenn körperliche und/oder Sinnesbeeinträchtigungen mit Einschränkungen des Bewegungsspielraums, der Wahrnehmung, des Erfahrungshorizonts, der Kommunikationsmöglichkeiten und der psycho-sozialen Entwicklung einhergehen.

Selbstverständlich treten nicht alle Herausforderungen zusammen in einer Klasse auf. Aber im inklusionsorientierten Unterricht tritt der besondere Förderbedarf von Kindern einer Klasse auf vielfältige Weise in Erscheinung mit ebenfalls vielfältigen Entwicklungs- und Förderbedürfnissen aller anderen Schülerinnen und Schüler. Nicht nur kein Kind ist wie ein anderes, auch keine Klassenzusammensetzung mit ihren spezifischen Herausforderungen ist wie eine andere. Einen Königsweg zur Teilhabe gibt es nicht.

Dies zeigen auch Befunde aus dem Teilprojet »Inklusionsorientierter Unterricht« im »Begleitforschungsprojekt inklusive Schulentwicklung« in Bayern (BIS) (vgl. Heimlich/Kahlert/Lelgemann/Fischer, 2016). In diesem Teilprojekt wurden problemzentrierte Leitfadeninterviews mit Lehrkräften aus Grund-, Mittel-, Realschulen und Gymnasien geführt. Die Leitfragen zielten u. a. darauf ab zu ermitteln, welches Grundverständnis die Lehrkräfte vom inklusionsorientierten Unterricht haben, wie sie sich auf die Ausdifferenzierung der individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und die Ausweitung des Kooperationsbedarfs einstellen, welche Haltung sie zum Inklusionsauftrag einnehmen und welche Verbesserung der Rahmenbedingungen ihnen am dringlichsten erscheinen. Die methodische Anlage der Studie, das zugrunde liegende subjektzentrierte Innovationsmodell, das inhaltsanalytische Auswertungsverfahren sowie die Hinzuziehung von zusätzlichen »Felddaten« (Glaser/Strauss, 2010, S. 175ff.) aus Beobachtungen von 40 Unterrichtsstunden und aus über 50 mindestens halbstündigen Expertengespräche zur Erweiterung und Schärfung des »Kontextwissens« (Strauss, 1998, S. 74ff.) sind andernorts ausführlich beschrieben (Kahlert/Kazianka-Schübel, 2016).

Als grundlegenden Anspruch an inklusionsorientierten Unterricht betonen die Lehrkräfte, Normalität zu gestalten und Vielfalt zu strukturieren. Der gemeinsame Unterricht soll von allen Beteiligten als »normal« angesehen werden.

Dies bedeutet nicht, von individuellen Unterschieden abzusehen, sondern Verschiedenheit mit Achtsamkeit, Wohlwollen und Bereitschaft zum Arrangement zu gestalten. Konzentration auf die Sache und auf die Entwicklung und Pflege einer guten Arbeitshaltung unterstreichen die Ernsthaftigkeit des Anliegens, miteinander zu lernen. In einem wertschätzenden und angstfreien Klassenklima findet Teilhabe statt, an der jeder von jedem lernen kann:

»Da hat einfach ein Schüler auch von sich mal erzählt, warum er überhaupt im Heim ist und welche Lebensgeschichte er hinter sich hat. Also er hat viel mehr erzählt, als ich in der Klasse erzählt hätte, und es hat, glaube ich, auch die Klassengemeinschaft ein bisschen besser noch geformt, weil das Verständnis einiger Schüler für diesen Mitschüler, das ist der Schüler 1, der kräftige Große, dass der halt im Prinzip durch die Hölle gegangen ist bisher – nicht nur, was das Elternhaus anbelangt, sondern auch der ständige Schul- und Bezugs- und Erzieherwechsel, verschiedene Heime …« (L14/24)

(Anmerkung: Wörtliche Zitate aus den Interviewprotokollen werden mit dem Code für die Lehrkraft [hier: L14] und der Absatznummer des Interviewprotokolls in MAXQDA [hier: /24] ausgewiesen.)

Das wertschätzende und unterstützende Klassenklima entwickelt sich nicht aus guten Absichten, sondern durch Maßnahmen, die auch sonst zum Gelingen von Unterricht beitragen: klare Anforderungen und regulierende Strukturen. Dafür greifen die Lehrkräfte auf ein breites Methodenrepertoire zurück. Dies reicht von der Erstellung besonderer Arbeitsmaterialien, dem Einsatz digitaler Lernprogramme, dem Einräumen zusätzlicher Arbeitszeit, der Arbeit mit differenzierten Wochenplänen mit unterschiedlichen Anforderungsniveaus und individuellen Hilfen per E-Mail über regelmäßige Absprachen mit einzelnen Schülern über soziales Verhalten und Mitarbeit bis hin zur Reduktion von Umweltreizen bei Konzentrationsstörungen, zur Gewährung von Möglichkeiten für zeitweisen Rückzug und zur Nutzung von Deeskalationstechniken.

Dabei geht es nicht darum, Unterricht möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Methodenvielfalt gilt nicht als Wert an sich. Vielmehr schafft ein breites Methodenrepertoire die Basis, den Unterricht flexibel an das wahrnehmbare Lerngeschehen anzupassen, einzelnen Schülerinnen und Schülern geeignete Aufgaben und Arbeitsweisen zu bieten und auf Lernschwierigkeiten, die situativ auftreten, gezielt zu reagieren. Davon profitieren alle Schülerinnen und Schüler. Die Lehrkräfte denken gründlicher als bisher über die Auswahl von Unterrichtsinhalten nach sowie über Möglichkeiten zur Reduktion auf wesentliche Lerninhalte, über die methodische Gestaltung des Unterrichts und über Verständnishilfen.

Weil sie fortwährend um Ausgewogenheit zwischen der Aufmerksamkeit für die ganze Klasse und für einzelne Schülerinnen und Schüler ringen, nehmen die Lehrkräfte Zielkonflikte und ein Gerechtigkeitsdilemma wahr:

»Für mich persönlich ist inklusiver Unterricht, (…) dass man alle Schüler nach dem jeweiligen Können und Wissensstand und nach dem jeweiligen Verhalten fördert. Also nicht nur irgendwelche, die einen förderdiagnostischen Bericht haben oder die von mir noch extra so einen Plan ausgearbeitet bekommen, auf die achten wir natürlich oder ich persönlich besonders. Aber es geht auch um die anderen Schüler, dass die nicht zu kurz kommen dürfen. Es gibt genügend Schüler, die irgendwelche Hilfen brauchen.« (L14/11)

Weitere Zielkonflikte ergeben sich aus dem Spannungsfeld zwischen individueller Förderung und sozialer Normierung in Form von schularten- und schulstufenspezifischen Kompetenzerwartungen und Leistungsanforderungen. Diese sind zwar in Grenzen flexibel, aber nicht beliebig auflösbar, will man nicht die Allokationsfunktion von Schule und die curriculare Kontinuität des schulischen Bildungsganges aufheben. So werden Bemühungen einzelner Schülerinnen und Schüler enttäuscht, wenn sie trotz kontinuierlicher Anstrengung Rückmeldungen bekommen, die als Misserfolg wahrgenommen werden.

Zieldifferenter Unterricht, Notenaussetzung und Nachteilsausgleich können das Spannungsfeld abschwächen, aber nicht aufheben. Lernzieldifferentes Arbeiten führt dazu, dass das Leistungsniveau in der Klasse noch weiter auseinanderdriftet. Die Möglichkeit zur Notenbefreiung wird prinzipiell als Öffnung des pädagogischen Handlungsspielraums begrüßt. Allerdings wird auch davon berichtet, dass die Anstrengungsbereitschaft bei einzelnen Schülerinnen und Schülern nachlässt und Eltern sich mitunter gegen die Notenaussetzung wehren, weil sie sich davor fürchten, ihr Kind könnte diskriminiert werden. Sofern ein Nachteilsausgleich gewährt wird, sollte dies auch für die Mitschüler angemessen transparent gemacht werden. Dies beugt der Gefahr vor, dass sich Schülerinnen und Schüler ungerecht behandelt fühlen, und fördert das Verständnis für Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf.

Deutlich zugenommen hat nach Auskunft der Lehrkräfte der Aufwand bei der Unterrichtsvorbereitung zur Erstellung differenzierter Materialien und der Kooperationsbedarf im Kollegium, mit Eltern sowie mit außerschulischen Kooperationspartnern. Hinzu kommt der Zeitaufwand, der mit der Kooperation von Vertretern der allgemeinen Schule und der Förderschulen verbunden ist. Dabei treffen verschiedene Traditionen des Unterrichtens aufeinander. Curriculare Zwänge, Gruppengröße, Leistungserwartungen, Normierungen des Schulalltags sind in beiden Systemen unterschiedlich ausgeprägt. So ist es verständlich, dass die vielen Wünsche der Lehrkräfte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen ihres Wirkens vor allem darauf zielen, mehr Zeit nutzen zu können: für den einzelnen Schüler, für die Gespräche mit Eltern, für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts, für die kollegiale Fallberatung sowie für die Erweiterung ihrer diagnostischen Fähigkeiten. Vor allem kommt es ihnen aber darauf an, das tun zu können, was zum Kern jeder Profession gehört: sich auch durch Eigenstudium von Fachbeiträgen fortzubilden, in Ruhe den eigenen Umgang mit herausfordernden Situationen im Unterricht zu reflektieren oder aus ersten Ideen tragfähige Konzepte reifen zu lassen:

»Und wenn ich hier sitze (…) und keinen Stift in der Hand habe, kein Blatt vor mir liegen habe, nicht am Rechner sitze und mit keinem Kollegen rede, heißt das längst nicht, dass ich gerade nichts tue. Sondern ich brauche auch Momente zum Denken und das ist nicht Freizeit, und ich möchte einfach mal wieder diese Arbeitszeiten in den Griff kriegen. Das ist aber ein ganz generelles Problem.« (L12/75)

 

1.4       Inklusionssensibel unterrichten – Gelegenheiten sehen, beurteilen, ergreifen

 

In Anlehnung an verschiedene Mehrebenenmodelle (vgl. Heimlich/Kahlert/Lelgemann/Fischer, 2016, 131ff.) für die Schulentwicklung ließen sich auch zur »inklusiven Kompetenz« von Lehrkräften zahlreiche Anforderungen zusammentragen: Fähigkeit zur professionsübergreifenden Kooperation, aufsuchende Elternarbeit, Zusammenarbeit mit schulischen und außerschulischen Kooperationspartnern, methodisch-didaktische Kenntnisse zur Förderung von Kindern mit besonderen Entwicklungsbedürfnissen, Förderung kooperativen Lernens mit Peer-Tutoring, diagnostische Fähigkeiten zum Erkennen von Lernschwierigkeiten und Unterstützungsbedarfen u. v. m. (siehe auch Melzer/Hillenbrand/Sprenger/Hennemann 2015). Das von der Europäischen Agentur für Entwicklungen in der sonderpädagogischen Förderung (2012) herausgebrachte »Profil für inklusive Lehrerinnen und Lehrer« listet über 100 Anforderungen an Lehrkräfte auf, begleitet von der Anmerkung, dies erfolge »ohne Anspruch auf Vollständigkeit« (European Agency for Development in Special Needs Education, 2012, S. 13).

Dabei ist Inklusion beileibe nicht der einzige Aufgabenbereich, der mehr oder weniger umfangreiche Ansprüche an Lehrerinnen und Lehrer hervorbringt.

Zu Beginn der 2000er Jahre fanden 88 Standards für Kompetenzen von Lehrpersonen Aufmerksamkeit (Oser, 2001). Wenig später wartete die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder mit 84 Kompetenzen auf, die eine »Grundlage der Anforderungen beruflichen Handelns im Lehramt« (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2004, S. 7) bilden. Da sich diese jedoch nur auf die Bildungswissenschaften wie Pädagogik, Psychologie und Schulpädagogik beschränkten, wurden diese Anforderungen einige Jahre später noch durch spezielle fachdidaktische Kompetenzen ergänzt (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2008). Für die externe Evaluation der Lehrerarbeit sind Beobachtungsbögen im Einsatz, die mit bis zu 40 Items zu erfassen versuchen, in welchem Ausmaß erwünschte Anforderungen an guten Unterricht von der beobachteten Lehrkraft gezeigt werden (vgl. z. B. Helmke, 2009, S. 292ff.). Und ein von der Kultusministerkonferenz veröffentliche Katalog von medienpädagogischen Kompetenzen für Lehrende umfasst ein weiteres breites Anforderungsspektrum: sicherer Umgang mit technischen Geräten, Programmen, Plattformen; Vernetzung; Unterstützung der Schülerinnen und Schüler beim Erwerb von Kompetenzen für den Umgang mit digitalen Medien; Nutzung digitaler Medien für individualisiertes Lernen; Identifikation dafür geeigneter Bildungsmedien; Auseinandersetzung mit aktueller Forschung zur Bildung in der digitalen Welt; rechtliche Kenntnisse auf so unterschiedlichen Gebieten wie Datenschutz, Urheberrecht, Datensicherheit und Jugendschutz (vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz, 2016, S. 26ff.).

So wird inzwischen jede Facette des professionellen Handelns von Lehrkräften ausgeleuchtet und eine Erwartungsinflation angeheizt, die, wie jede Inflation, Ansprüche entwertet, indem man sie aufbläht.

Darum wird in dem vorliegenden Buch vermieden, den vielen Professionalisierungsansprüchen für Lehrkräfte einen weiteren »Kompetenzkatalog« hinzuzufügen.

Angesichts der Vielfalt von Bedingungen des Handelns in der Schule wäre schon viel gewonnen, eine inklusionssensible Haltung einzunehmen, die sich darum bemüht, mit förderpädagogisch aufgeklärter Urteilskraft, Gelegenheiten zur Unterstützung einer Wissen, Können und Verstehen dienlichen Teilhabe zu erkennen und pädagogisch klug zu nutzen.

Wie Claudia Solzbacher in einem Überblickbeitrag zeigt, wird unter einer professionellen Haltung sehr Unterschiedliches verstanden: Fähigkeit zur Selbstreflexion, Bereitschaft zur positiven emotionalen Zuwendung zu den Kindern, Orientierung an diversen Standards für den Unterricht, ein »professionelles Rückgrat« (Solzbacher, 2016, S. 130) und »hohe situationsspezifische Sensibilität« (ebd., S. 131).

Den grundlegenden Stellenwert sensibler Beobachtung des pädagogischen Handlungsfeldes hat bereits John Dewey in seinem eingangs zitierten Werk hervorgehoben:

»Je genauer wir beobachten, desto mehr fördernde und hindernde Umstände erkennen wir, und desto zahlreicher werden die Möglichkeiten, zwischen denen zu wählen ist« (Dewey, 1916/2011, S. 140). Und er hat damit die Hoffnung verbunden, dass sich dadurch auch die Handlungen selbst verbessern, denn »je größer die Zahl der Möglichkeiten des Handelns ist, die wir in der gegebenen Gesamtlage erkennen, desto mehr Sinn und Bedeutung gewinnt diejenige Handlungsweise, für die wir uns schließlich entscheiden, desto mannigfaltiger, vielseitiger und anpassungsfähiger vermögen wir sie zu beherrschen« (Dewey, 1916/2011, S. 140). Schlicht nennt er das: »verständig handeln« (ebd., S. 141).