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Hans-Joachim Schubert u.a.

Pragmatismus zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2010 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: © Junius Verlag GmbH

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-084-8

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-682-8

1. Auflage 2010

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Einleitung

1.Charles Sanders Peirce – Philosophie der Kreativität
von Hans-Joachim Schubert

1.1 Der Pragmatismus – die Philosophie der Handlung

1.2 Der »Geist des Cartesianismus«

1.3 Wissenschaftstheorie: Deduktion, Induktion und Abduktion

1.4 Vom synthetischen Schluss a priori zur Abduktion

1.5 Semiotik: Zeichen, Objekt und Interpretant

1.6 Pragmatistische Maxime – der Kreislauf kreativen Handelns

2.The Chicago School of Philosophy – George Herbert Mead
von Harald Wenzel

2.1 Von der physiologischen Psychologie zur Sozialpsychologie

2.2 Symbolische Interaktion: Die Entstehung von Bewusstsein und Denken aus der Sozialität

2.3 Vom kreativen Selbst zur sozialen Reform

3.The Chicago School of Sociology
von Hans-Joachim Schubert

3.1 William I. Thomas und Robert E. Park: Die Theorie der Chicago School

3.2 Der Gegenstand der Chicago School: »The City of Chicago«

3.3 Die Methode der Chicago School: Prozessanalyse und Rekonstruktion symbolischer Interaktion

4.Symbolischer Interaktionismus
von Hans Joas und Wolfgang Knöbl

4.1 Die drei Prämissen des Symbolischen Interaktionismus

4.2 Das thematische Programm des Symbolischen Interaktionismus

4.3 Die Makrosoziologie des Symbolischen Interaktionismus

5.Neopragmatismus
von Hans-Joachim Schubert

5.1 Norman K. Denzin: Der Interpretative Interaktionismus

5.2 Hans Joas: Die Kreativität des Handelns

Anhang

Literatur

Über die Autoren

Einleitung

Der Pragmatismus ist eine »Philosophie der Kreativität«, die versucht, »eine Welt verständlich zu machen, in der Kreativität möglich ist« (Pape 1994: 9). Charles Sanders Peirce hat diese Idee in seiner Philosophie zuerst fruchtbar gemacht. Sie bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe pragmatischer Ansätze in den Sprach-, Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften. In dieser Einführung konzentrieren wir uns auf die pragmatistische Beantwortung der sozialwissenschaftlichen Fragen: Was ist soziales Handeln? Wie ist soziale Ordnung möglich? Wie kann sozialer Wandel verstanden werden? Soziales Handeln erschöpft sich im Pragmatismus nicht in der rationalen Verfolgung klarer Zwecke und nicht in der Exekution sozialer Normen. Die pragmatistische Handlungstheorie unterläuft den »homo oeconomicus« und den »homo sociologicus«, weil analytisch rekonstruiert wird, wie sich im Handlungsprozess individuelle Zwecksetzungen und generalisierte Verhaltenserwartungen durch kreatives Handeln konstituieren und stabilisieren. Deshalb sind im Pragmatismus grundlegende Motive des Handelns nicht wie im Utilitarismus gegebene Ziele, die Akteure nutzenmaximierend realisieren wollen, aber auch nicht internalisierte soziale Normen, die die Handlungen der Akteure kanalisieren, sondern Handlungsprobleme und Konflikte, die durch experimentelles Handeln überwunden werden müssen. Akteure koordinieren demnach ihre Handlungen, um Handlungsunsicherheiten zu überwinden und nicht aufgrund innerer Sanktionen (Normativismus) oder aufgrund eines Nutzenkalküls (Utilitarismus). Soziale Ordnung ist deshalb kein Zustand des Gleichgewichts individueller Interessen und keine autonome – die Grenzen des Handelns bestimmende – normative Struktur, sondern ein Prozess der symbolischen Aushandlung sozialer, subjektiver und objektiver Bedeutungen (negotiated order approach). Deshalb ist die Handlungsebene, auf die der Pragmatismus rekurriert, weder die Individualebene noch die Struktur- oder Systemebene, sondern die der symbolischen Interaktion, weil sowohl die Ordnung der Gesellschaft als auch die des Ichs von der semiotischen Interpretation objektiver Problemstellungen abhängt. Ausgangpunkt sozialen Wandels sind schließlich Institutionen, Habitualisierungen und generalisierte Strukturen, die zwar durch Handeln entstanden sind und dieses als Handlungsressource ermöglichen, es aber gleichzeitig auch als in Raum und Zeit ausgedehnte Bedeutungen beschränken können. In solchen Fällen formieren sich kollektive Bewegungen, die Restriktionen und Konflikte definieren und versuchen, Institutionen durch experimentelles Handeln zu verändern.

Die »Kreativität des Handelns« ist für den Pragmatismus von Charles S. Peirce der Schlüssel zur Beantwortung philosophischer Grundfragen: Bewusstsein, Erkenntnisse und Bedeutungen entwickeln sich nach Peirce im Verlauf der kreativen Lösung von Handlungsproblemen (Kap. 1). Das ist der rote Faden, den die Chicago School of Philosophy aufgegriffen hat. Die Sozialpsychologie George Herbert Meads und John Deweys zeigt, wie Akteure durch kreative Kommunikationsprozesse sowohl Ich-Identität als auch gesellschaftliche Strukturen konstituieren, wie Individuierung durch Sozialisierung stattfindet (Kap. 2). In der Chicago School of Sociology, die sich im Anschluss an Mead und Dewey entwickelt hat, kommt das Thema Kreativität in William I. Thomas’ Theorem der Situationsdefinition zum Ausdruck. Im Handlungsprozess müssen Akteure permanent ihre subjektiven Ziele sowie die objektiven Strukturen der Situation kreativ definieren, um Handlungsprobleme überwinden zu können. Für Robert E. Park sind ökonomische und politische Strukturen mit sozialen und kulturellen Ordnungen durch einen Kreislaufprozess kreativen und kollektiven Handelns vermittelt. Diese kreative Konstitution neuer sozialer Ordnungen und neuer Formen der Ich-Identität ist das Thema der empirischen Studien, die die Chicago School of Sociology über die sozialen Welten der Stadt Chicago durchgeführt hat (Kap. 3). Nach dem Zweiten Weltkrieg hat vor allem Herbert Blumer das pragmatistische Projekt fortgeführt. Sein Ziel war es zu zeigen, dass die Soziologie beim Verständnis sozialer Welten von kreativen symbolischen Interaktionsprozessen ausgehen muss. Mit dem Begriff des Symbolischen Interaktionismus als Label für den von ihm initiierten soziologischen Ansatz macht er deutlich, dass Bedeutungen und Ordnungen der subjektiven, sozialen und objektiven Welt im kreativen Prozess symbolvermittelten Handelns entstehen und nicht auf funktionale Erfordernisse oder auf individuell-nutzenorientierte Handlungen zurückgeführt werden können (Kap. 4). Schließlich kennzeichnen heute Kreativität und Interpretativität als Schlüssel zum Verständnis sozialer Welten den soziologischen Neopragmatismus, Norman Denzins’ postmodern gewendeten Interpretativen Interaktionismus sowie Hans Joas’ Theorie der Kreativität des Handelns (Kap. 5).

Pragmatismus
Charles Sanders Peirce (1839-1914)
William James (1842-1910)

Chicago School of Philosophy
John Dewey (1859-1952)
George Herbert Mead (1863-1931)

Chicago School of Sociology
William I. Thomas (1863-1947)
Robert E. Park (1864-1944)

Symbolischer Interaktionismus
Herbert Blumer (1900-1987)
Anselm L. Strauss (1916-1996)
Erving Goffman (1922-1982)

Interpretativer Interaktionismus
Norman Denzin

Neopragmatismus
Hans Joas

Tab. 1 Historische Entwicklung pragmatistischer Ansätze in den Sozialwissenschaften

1.Charles Sanders Peirce – Philosophie der Kreativität

von Hans-Joachim Schubert

1.1Der Pragmatismus – die Philosophie der Handlung

Die soziologische Forschungstradition der Chicago School und des Symbolischen Interaktionismus haben ihre ideengeschichtlichen Wurzeln in der Philosophie des Pragmatismus (Joas 1999a). In Auseinandersetzung mit der europäischen Bewusstseinsphilosophie entwickelte der amerikanische Pragmatismus neue Antworten auf die alten philosophischen Grundfragen: Wie ist Erkenntnis möglich? Wie entstehen Bedeutungen? Was ist Wahrheit? Die Hauptaussage des Pragmatismus ist, dass Erkenntnisse durch die kreative Lösung von Handlungsproblemen gewonnen werden. Bewusstsein und Verstandeskräfte sind nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis des Handlungsprozesses. Auch die Bedeutung von Objekten und Sachverhalten wird von den Handelnden in Verwendungszusammenhängen oder Gebrauchssituationen definiert. Der Wert von Dingen und Ideen lässt sich aus der Sicht des Pragmatismus deshalb weder aus dem »Reich des Geistes« (res cogitans) noch aus der »Welt der Dinge« (res extensa) ableiten. Die Objektivität oder Wahrheit von Aussagen ist schließlich Ergebnis des Diskurses der Kommunikationsgemeinschaft. Der Pragmatismus setzt also weder das Bewusstsein des Menschen noch den Wert von Objekten als gegeben voraus, sondern untersucht, wie Bewusstsein und Bedeutungen im Handlungsprozess entstehen. Ausgangspunkt dafür, dass sich Erkenntnisse, Bedeutungen und Wahrheiten entwickeln, ist weder das Bewusstsein Einzelner noch die materielle Umwelt, sondern das soziale Handeln, der Prozess symbolischer Interaktion.

Begründet wurde der amerikanische Pragmatismus in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts an der Harvard University. Dort initiierten Charles Sanders Peirce und William James einen Diskussionskreis junger Wissenschaftler – den »Metaphysical Club« –, in dem zuerst Peirce die Grundideen des Pragmatismus zur Diskussion stellte. Wirkung entfalteten diese aber erst seit 1907 mit der Veröffentlichung von William James’ Vorlesungen Was ist Pragmatismus? (James 1994). Seither ist der Pragmatismus ein umstrittenes Projekt. Schon Peirce wollte die Interpretation der pragmatistischen Grundideen durch James und andere Pragmatisten nicht akzeptieren und nannte seine Philosophie deshalb seit 1905 nicht mehr »Pragmatismus«, sondern »Pragmatizismus«. Tatsächlich wurde der Pragmatismus lange Zeit vor allem mit dem Werk von James identifiziert, während die Schriften von Peirce kaum wahrgenommen wurden. Besonders in Deutschland wurde der Pragmatismus nicht sorgfältig rezipiert und vorschnell als »Philosophie des Geldes« oder als bloße »Nützlichkeitstheorie« verkannt (Joas 1999b). Die deutschen Kritiker behaupteten, der Pragmatismus würde schlicht das Nützliche zum Wahren erklären. Es könne einfach das als wahr gelten, was für die handelnden Menschen nützlich sei oder ihre Bedürfnisse befriedige. Diese Kritik ist heute verstummt. Allerdings wurde die Bedeutung des Pragmatismus erst in den 1960er Jahren neu bestimmt; als nämlich die vorherrschende analytische Philosophie aufgrund interner Problemstellungen einen »linguistic turn« (Rorty 1967) oder eine »pragmatische Wende« vollzog und dabei Einsichten entwickelte, die in den Schriften des Pragmatismus schon entfaltet worden waren, bislang aber nicht erkannt wurden (Apel 1973). Diese Rezeptionsgeschichte erklärt die Aktualität von Peirce. Sein Werk wird heute innerhalb der Philosophie und in den Kultur- und Sozialwissenschaften extensiv diskutiert.

1.2Der »Geist des Cartesianismus«

Was sind nun die Grundgedanken des Pragmatismus? Peirce beginnt seine Philosophie mit einer Kritik am »Geist des Cartesianismus« – und das, obwohl er René Descartes (1596-1650) als »Vater der modernen Philosophie« hoch schätzte. Für Peirce war es Descartes’ großes Verdienst, den »Skeptizismus (in der Theorie) zuzulassen und die Praxis der Scholastiker, die Autorität als letzte Quelle der Wahrheit zu betrachten, aufzugeben«. Die Philosophen des Mittelalters – die Scholastiker – konnten keinen anderen Maßstab für die Geltung von Aussagen finden als die Autorität der Bibel und Gottes. Sie stellten sich vor, dass die Ordnung der Welt nur von einer außerweltlichen Instanz garantiert sein könne. Einen Zweifel an Gott betrachteten sie als sinnlos, denn seine Existenz sahen sie durch die Existenz der Welt bewiesen. Der Glaube an Gott wurde damit zur Bedingung für die Objektivität von Erkenntnissen. In Anselm von Canterburys (1033-1109) »Credo ut intelligam« (»Ich glaube, damit ich verstehe«) kommt diese Ansicht zum Ausdruck. Descartes gilt als Begründer der modernen Philosophie, weil er, so Peirce, erstens – anders als die Scholastiker – lehrte, dass die Philosophie mit einem »universalen Zweifel beginnen muss« und sich nicht dogmatisch auf die Methode der Autorität berufen dürfe, und weil er zweitens »eine natürliche Quelle für wahre Prinzipien« suchte und nicht Gott oder die Bibel als endgültigen Maßstab der Wahrheit akzeptierte.

Das neue Fundament für wahre Erkenntnis fand Descartes, so Peirce, nicht im Sein der empirischen Dinge der Welt, denn die äußere Welt kann nur vermittelt über unsere Erkenntniskräfte (das Denken) wahrgenommen werden. Durch diesen radikalen erkenntnistheoretischen Zweifel wurde Descartes auf das Bewusstsein des Individuums verwiesen. Einzig der Geist des Individuums bietet die unveränderliche Grundlage für wahre Erkenntnis. »Cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«) heißt das bekannte Diktum Descartes’. Das wahre Sein der Dinge – also auch die eigene Existenz (das Ich) – kann nur über das Bewusstsein erfahren werden. Das Denken konstituiert das Sein. Damit vollzog Descartes eine radikale Abkehr von der Philosophie des Mittelalters. Er glaubte, so Peirce, »dass der letzte Prüfstein der Gewissheit im individuellen Bewusstsein zu finden ist« (ich denke) und nicht im Sein, in der Existenz der Dinge (»also bin ich«). Wahrheit liegt für Descartes deshalb im menschlichen Verstand, »so vollzog er auf dem direktesten Wege den Übergang von der Methode der Autorität zu derjenigen der Apriorität« (Peirce 1976: 183). Wahrheit wird vor der Erfahrung (a priori) der intuitiv gegebenen Außenwelt durch unser Bewusstsein garantiert, welches wir durch die Methode der Introspektion ergründen können.

Aus der Sicht von Peirce lässt sich der Cartesianismus durch vier Hauptmerkmale charakterisieren. Erstens: Descartes stellte die Maxime auf, dass die Philosophie damit beginnen muss, alle Bedeutungen radikal in Zweifel zu ziehen, und keine Gewissheiten oder Autoritäten als wahr und gegeben akzeptieren darf. Das kennzeichnet die Abkehr des Cartesianismus von der »Methode der Autorität« und damit die Öffnung des philosophischen Diskurses für einen radikalen erkenntnistheoretischen Zweifel (Skeptizismus). Zweitens: Überwunden werden kann dieser Zweifel nach Descartes nur durch den Rekurs auf das individuelle Bewusstsein und den subjektiven Verstand als Garant für Erkenntnis und Wahrheit. Das begründet zugleich den Individualismus (Solipsismus) und die Bewusstseinsphilosophie Descartes’. Das Fundament der Erfahrung ist demnach das individuelle Bewusstsein, das die Erfahrung der empirischen Welt – der Körper – strukturiert. Descartes trennt das Denken und Bewusstsein strikt von der Sphäre der Dinge und Körper. Damit etabliert Descartes drittens den Dualismus von Körper und Geist. Der Geist (Bewusstsein, Verstand) ist die Voraussetzung und der Maßstab für die Erkenntnis der empirischen Welt (Körper, Dinge). Das Reich der empirischen Außenwelt (res extensa) ist damit klar vom Reich des Geistes (res cogitans) unterschieden. Viertens: Sichere Erkenntnisse können wir deshalb nicht durch Assoziation der Außenwelt gewinnen, sondern nur durch Introspektion des individuellen Bewusstseins jenseits aller empirischen Erfahrung (a priori). Descartes’ Apriorismus hat als Ausgangspunkt von Erkenntnissen nicht die Erfahrung, sondern den Geist.

Peirce war mit diesem Erklärungszusammenhang nicht einverstanden. Vor allem in seinen beiden Aufsätzen »Die Festlegung einer Überzeugung« und »Wie unsere Ideen zu klären sind« (Peirce 1976), die häufig als Gründungsdokumente des Pragmatismus bezeichnet werden, opponierte er gegen jede dieser vier Annahmen des Cartesianismus, der nach Peirce die gesamte moderne Philosophie kennzeichnet und im Idealismus Immanuel Kants seinen Höhepunkt fand.

1.2.1 Vom Skeptizismus zum sinnkritischen Realismus

Selbstverständlich wollte Peirce hinter das Motiv der aufgeklärten Philosophie Descartes – die Ablehnung der Autorität als letzter Prüfstein – nicht zurückgehen. Allerdings kann nach Peirce die Philosophie – auch wenn keine Autorität mehr zur Verfügung steht, die Wahrheit garantieren könnte – nicht, wie Descartes meinte, »mit völligem Zweifel beginnen«. Wir müssen hingegen, forderte Peirce, »mit all den Vorurteilen beginnen, die wir wirklich haben […]. Diese Vorurteile sind nicht durch eine Maxime zu beseitigen, denn es handelt sich bei ihnen um Dinge, bei denen wir gar nicht auf den Gedanken kommen, dass wir sie in Frage stellen könnten. Also wird dieser Von-vornherein-Skeptizismus eine bloße Selbsttäuschung sein und kein wirklicher Zweifel.« (Peirce 1976: 40) Peirce bezeichnet den radikalen Zweifel Descartes’ als eine »nutzlose Vorbereitung« des Erkenntnisprozesses, denn es macht doch erst dann Sinn, Gewissheiten zu bezweifeln, wenn wir einen Grund dafür haben: »Zwar kann jemand im Laufe seiner Studien Grund dazu finden, das zu bezweifeln, von dem er anfangs überzeugt war, aber in diesem Fall zweifelt er, weil er einen positiven Grund dafür hat und nicht aufgrund der cartesianischen Maxime.« (Peirce 1976: 41) Zweifel entsteht, wenn unsere Überzeugungen, unsere Verhaltensgewohnheiten fragwürdig werden. Trotzdem halten wir manchmal an unseren alten Überzeugungen und Gewohnheiten fest: »Die Macht der Verhaltensgewohnheiten wird manchmal jemanden veranlassen, an alten Überzeugungen festzuhalten, selbst nachdem er in der Lage ist zu sehen, dass sie keine feste Basis haben. Aber die Reflexion über die faktische Situation wird diese Verhaltensgewohnheiten besiegen, und man sollte der Reflexion ihr volles Gewicht zugestehen. Man schrickt oft davor zurück, weil man der Auffassung ist, dass Überzeugungen gesund seien, selbst wenn man genau fühlt, dass sie auf nichts gegründet sind.« (Peirce 1976: 171) Zweifel, Handlungshemmungen, Probleme und Konflikte im Handlungsablauf sind für Peirce der sinnvolle Auslöser des Forschungsprozesses und kein »Von-vornherein-Skeptizismus«. Der radikale Skeptizismus von Descartes wird von Peirce zugunsten eines sinnkritischen Realismus (Apel 1975: 57) aufgegeben.

1.2.2 Vom individuellen Bewusstsein zur intersubjektiven Handlung

Ausgangspunkt des Erkenntnis- und Handlungsprozesses ist nach Peirce nicht mehr der Zweifel an allen Überzeugungen, sondern Überzeugungen oder Handlungsgewohnheiten, die aufgrund von Zweifeln fragwürdig geworden sind. Nicht jeder Zweifel ist sinnvoll. Realistisch ist nur ein »lebendiger« Zweifel, der tatsächlich in der Denkbewegung oder im Handlungsablauf als Folge von Widersprüchen oder Handlungshemmungen entsteht. Zweifel können dabei entweder aufgrund realer oder auch nur gedachter Handlungsprobleme oder -hemmungen auftreten. Im letzten Fall spricht Peirce von einem »bloß gedachten Zögern«. Als Beispiel dafür beschreibt er, wie er als wartender Zugreisender auf dem Bahnhof aus purer Langeweile den Fahrplan studiert: »Ich vergleiche die Vorteile der verschiedenen Züge, die ich vermutlich niemals benutze, indem ich mir bloß vormache, ich sei in einem solchen Zustand des Zögerns, weil es mich langweilt, dass es nichts gibt, das mir ernsthaft derartige Sorgen bereitet.« (Peirce 1976: 188). Durch den Vergleich verschiedener Reiserouten in Bezug auf ein imaginäres Reiseziel (Handlungsentwurf) entsteht dann ein Zweifel an dem entworfenen Reiseplan, wenn Inkonsistenten oder Unklarheiten des Fahrplans auftauchen (Handlungshemmung), die den fantasierenden Reisenden dazu nötigen, weitere Recherchen zu unternehmen (Experimentierphase), bis er zu einer überzeugenden Reiseroute gekommen ist (neuer Handlungsentwurf) oder bis er seine eigentliche Reise fortführen muss, will er seinen Zug nicht verpassen. Das Bewusstsein ist nicht die erste Voraussetzung für die Gewinnung von neuen Erkenntnissen, sondern die Handlungshemmung, die uns dazu motiviert, nachzudenken. Der Verstand wird nur aktiv, wenn unsere Handlungs- und Denkgewohnheiten gestört werden – erst dann entsteht Bewusstsein. Nicht das »Ich denke« Descartes’ ist der Ausgangspunkt für die Erforschung der empirischen Welt, sondern die wirkliche oder gedachte Handlung. Im Handlungsprozess stoßen wir auf Hemmnisse, die das Denken aktivieren und die Suche nach neuen Erkenntnissen initiieren. Damit vollzieht Peirce den Übergang von der Bewusstseinsphilosophie zu einer Philosophie der Handlung.

1.2.3 Vom Körper-Geist-Dualismus zur praktischen Intersubjektivität

Wir wissen jetzt, dass Bewusstsein durch die Störung von Denk- oder Handlungsroutinen entsteht, aber wir wissen noch nicht, wie wir den Zweifel – die Handlungshemmung – überwinden können. Wie gewinnen wir neue Überzeugungen, neue Gewissheiten oder neue Handlungsgewohnheiten? Wie verschaffen wir uns Klarheit über unsere Gedanken? Zunächst erklärt Peirce sehr scharfsinnig, dass wir Erkenntnisse nicht durch sinnliche intuitive Eindrücke gewinnen. »Wir haben kein Vermögen der Intuition, sondern jede Erkenntnis wird von vorhergehenden Erkenntnissen logisch bestimmt.« (Peirce 1976: 42) Wie wir sehen werden, hat die Ablehnung der Intuition als Vermögen der Erkenntnis für Peirce einen ganz wichtigen Stellenwert für seine Semiotik, Bedeutungs- und Wahrheitstheorie. Erkenntnisse können nur vermittelt über Interpretations- und Handlungsprozesse gewonnen werden. Selbst sinnliche Eindrücke und körperliche Erfahrungen gehen als Erkenntnisse nicht unvermittelt in unser Bewusstsein über – sind nicht intuitiv gegeben. Zunächst erscheint die Annahme einer Erkenntnis aus unmittelbaren Sinneseindrücken aber nicht unrealistisch. Wenn wir zum Beispiel ein Stück Gewebe ertasten, scheint es doch so zu sein, als ob diese Erfahrung ganz unmittelbar ist und durch keine andere Erfahrung vermittelt werden muss. Das bestreitet Peirce, denn »man kann die verschiedene Beschaffenheit eines Gewebes durch Fühlen unterscheiden, aber nicht unmittelbar, denn man muss seine Finger über das Gewebe führen. Dies zeigt, dass man genötigt ist, die Sinnesempfindung eines Augenblicks mit denen eines anderen zu vergleichen.« (Peirce 1976: 18) Erkenntnisse über die Beschaffenheit eines bestimmten Gewebes können wir nur im Vergleich unterschiedlicher Erfahrungen gewinnen. Selbst die flüchtigsten sinnlichen Eindrücke werden nur durch die Relation zwischen Eindrücken zu Erkenntnissen. Peirce verdeutlicht das an unseren sinnlichen Erfahrungen, d.h. an allen über Nervenpunkte gemachten Wahrnehmungen. Er sagt, dass immer »Bedingungen für die Erkenntnis einer Relation zwischen […] Eindrücken vorhanden« sind. Relationierungen, Vergleiche – die Zweifel motivieren können, wenn dabei Unstimmigkeiten auftauchen – finden selbst bei dem geringsten Kontakt unserer Sinne mit äußeren Dingen statt, auch wenn wir den Vergleichscharakter der Wahrnehmung in der alltäglichen Erfahrung meist nicht realisieren. »Da es jedoch eine große Zahl von Nervenpunkten gibt, auf die durch eine sehr große Zahl aufeinanderfolgender Reizungen eingewirkt wird, werden die Relationen der daraus resultierenden Sinneseindrücke fast unfassbar kompliziert sein.« (Peirce 1976: 20) Wir erkennen die Dinge der äußeren Welt nicht als fragmentarische intuitive Eindrücke, sondern nur aufgrund der geistigen Vermittlung mit anderen sinnlichen Eindrücken. Die Welt der Dinge und die des Geistes sind deshalb im Erkenntnisprozess aufeinander bezogen. Die sinnliche Wahrnehmung wird immer durch die vergleichende und Schlüsse ziehende Tätigkeit des Verstandes strukturiert. Der Verstand andererseits würde ohne sinnliche Eindrücke nicht nur leer bleiben, sondern tatsächlich entwickelt er sich erst aufgrund der Auseinandersetzung mit Widerständen der Außenwelt. Wie wir schon gesehen haben, entsteht das Bewusstsein ja erst in Folge von Handlungsproblemen, die unser Handeln stören. Peirce löst den cartesianischen Körper-Geist-Dualismus handlungstheoretisch auf. Unser Bewusstsein über die Bedeutung der Dinge entsteht im tätigen oder denkerischen Gebrauch mit diesen Dingen – im Rahmen von »praktischer Intersubjektivität« (Joas 1980). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Erkenntniskritik von Peirce »in erster Linie gegen einen Intuitionismus (richtet), der behauptet, dass sich unsere Urteile aus Elementen unmittelbar gegebener und schlechthin gewisser Ideen oder Sinnesdaten aufbauen. Tatsächlich berührt sich kein noch so elementares Erlebnis ohne semiotische Vermittlung mit seinem Objekt.« (Habermas 1991: 17)

1.2.4 Von der Apriori-Methode zur wissenschaftlichen Methode

Mit der Ablehnung des Intuitionismus als Vermögen der Erkenntnis hängt auch Peirces Kritik an der cartesianischen Methode der Erkenntnis, der Introspektion, zusammen. Unter Introspektion versteht Peirce die »direkte Wahrnehmung der inneren Welt« (Peirce 1976: 29), der subjektiven Gefühls- oder Erfahrungswelt ohne Vermittlung mit der äußeren, objektiven oder sozialen Welt. Können wir Erfahrungen machen, die sich nur auf die Innenwelt stützen und überhaupt nicht in Relation zur Außenwelt stehen? Peirce nennt hier zum Beispiel Gemütsbewegungen, die nicht als »Prädikate von Dingen der Außenwelt« entstehen und »auf das Gemüt allein zu beziehen sind«. Aber selbst ganz subjektive Gefühle – wie das von einem unverwechselbaren »Ich« – sind nicht als innere Tatsachen gegeben, sondern entstehen erst in Auseinandersetzung mit der Außenwelt, auch wenn diese Außenwelt zum Beispiel als schlechtes Gewissen nach innen verlagert wird. Selbst moralische und scheinbar ganz subjektive Vorstellungen von »Gut und Böse sind Weisen des Fühlens, die zuerst als Prädikate entstehen, sie sind daher entweder Prädikate des Nicht-Ich oder von vorhergehenden Erkenntnissen bestimmt« (Peirce 1976: 30). Erkenntnisse entstehen durch die symbolische Vermittlung von Objekten der Außenwelt, sie können deshalb nicht vor der Erfahrung der Außenwelt durch die Introspektion des Bewusstseins gewonnen werden. Peirce überwindet also auch den cartesianischen Apriorismus:

»In einem grundsätzlich diskursiven Erfahrungsprozess gibt es keinen absoluten Anfang. Alle Kognitionen sind, ob bewusst oder nicht, logisch durch vorangehende Kognitionen bestimmt […]. Die methodische Kritik von Peirce am Cartesianismus richtet sich gegen eine Introspektion, die sich auf private Evidenzen von sogenannten Bewusstseinstatsachen stützen muss, ohne anhand nachprüfbarer Kriterien Schein und Wirklichkeit sicher unterscheiden zu können. Demgegenüber sind symbolische Ausdrücke und Zeichenkomplexe allgemein zugängliche Tatsachen, deren Interpretation öffentlicher Kritik ausgesetzt ist, so dass nicht ein Einzelner anstelle der Gemeinschaft der Forscher […] als letzte Instanz der Beurteilung angerufen werden muss.« (Habermas 1991: 17)

Erkenntnisse können nur im Rahmen praktischer Intersubjektivität gewonnen werden und nicht durch individuelle und apriorische Bewusstseinsakte, denn selbst logische Schlüsse gründen, wie wir sehen werden, auf einem sozialen Prinzip. »Wir haben kein Vermögen der Introspektion, sondern alle Erkenntnis der inneren Welt ist durch hypothetisches Schlussfolgern aus unserer Erkenntnis äußerer Fakten abgeleitet.« (Peirce 1976: 42) Gewissheiten entstehen nicht durch die »Methode der Autorität« (indem wir glauben, um zu verstehen) – und auch nicht durch die »Methode der Apriorität«, indem wir vor aller Erfahrung introspektiv unser Bewusstsein ergründen –, sondern durch die »Methode der Wissenschaft«, durch »hypothetisches Schlussfolgern aus unserer Erkenntnis äußerer Fakten« im Hinblick auf die Zustimmung einer »unendlichen Kommunikationsgemeinschaft«.

1.3Wissenschaftstheorie: Deduktion, Induktion und Abduktion

In diesem Teilkapitel werden wir Peirces »Methode der Wissenschaft« beschreiben. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen, wie Schlüsse aus äußeren Fakten gezogen werden – wie empirische Beobachtung mit abstraktem Wissen vermittelt ist. Peirce beschreibt drei Formen des Schließens: Deduktion, Induktion und Abduktion oder Hypothese. Alle drei Schlüsse sind »Formen der Klassifizierung von Argumenten«, die die logische Anwendung von Argumenten – den Zusammenhang von Regel und Fall – beschreiben. Im deduktiven Schluss schließen wir vom Allgemeinen auf das Besondere. Die Deduktion ist die »Anwendung allgemeiner Regeln auf besondere Fälle. Der sogenannte Obersatz wie z.B. Alle Menschen sind sterblich legt diese Regel nieder. Die andere Prämisse oder der Untersatz stellt einen Fall zu dieser Regel fest; wie Henoch war ein Mensch. Die Konklusion wendet die Regel auf den Fall an und stellt das Resultat fest: Henoch ist sterblich.« (Peirce 1976: 230)

Deduktion

Regel: Alle Menschen sind sterblich.

Fall: Henoch und Elias waren Menschen.

Resultat: Henoch und Elias waren sterblich.

Im induktiven Schluss wird umgekehrt vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen. Die Induktion ist »der Schluss von Fall und Resultat auf die Regel« (Peirce 1976: 231). Wenn Henoch und Elias Menschen waren (Fall) und beide gestorben sind (Resultat), dann kann die allgemeine Regel gelten, dass Menschen sterblich sind. Der induktive Schluss legt nahe, dass etwas, was für einige gilt, für alle gelten kann. Die Induktion ist nur ein wahrscheinlicher Schluss, da nicht mit unbedingter Sicherheit festgestellt werden kann, dass das, was für den Einzelfall gilt, auch für alle weiteren Fälle gelten muss.

Induktion

Fall: Henoch und Elias waren Menschen.

Resultat: Henoch und Elias sind gestorben.

Regel: Menschen sind sterblich.

Peirce interessiert sich vor allem für die Abduktion, die er auch Hypothese oder Retrodiktion nennt. In seinen Pragmatismus-Vorlesungen von 1903 erklärt er sogar, dass »die Frage des Pragmatismus« nichts anderes ist »als die Frage nach der Logik der Abduktion« (Peirce 1976: 407). Einen abduktiven oder hypothetischen Schluss wagen wir, wenn wir »eine Induktion völlig über die Grenzen unserer Erfahrung hinaus ausweiten« (Peirce 1976: 245). Wenn wir nicht nur das, was wir für einige Fälle wissen, für alle annehmen wie bei der Induktion, sondern wenn wir auf einen neuen Fall schließen, der zu einer neuen Regel führt. Im abduktiven Schluss wird ein Fall neu konstruiert und in einen bisher unbekannten Erklärungszusammenhang gestellt, so dass die Entwicklung einer neuen Regel initiiert werden kann. Die Abduktion oder Hypothese »ist der Schluss von Regel und Resultat auf einen Fall« (Peirce 1976: 231). In dem von Peirce verwendeten Musterbeispiel erscheint die Abduktion zunächst überhaupt nicht spektakulär: Wenn alle Menschen sterblich sind und Henoch und Elias gestorben sind, waren beide Menschen.

Abduktion

Regel: Alle Menschen sind sterblich.

Resultat: Henoch und Elias sind gestorben.

Fall: Henoch und Elias sind Menschen.

Wenn wir den Zusammenhang so darstellen, ist der Schluss auf einen unbekannten Fall nicht möglich, aber erst dann gewinnt die Überlegung von Peirce an Brisanz. Erst wenn wir, wie in einem Experiment, eine Variable des logischen Zusammenhangs verändern, können wir auf neue Erkenntnisse stoßen. Wie ist in unserem Beispiel der Fall zu beurteilen, wenn das Resultat die Regel nicht bestätigt, wenn wir also das Resultat negieren, aber die Regel beibehalten: Henoch und Elias waren nicht sterblich, aber alle Menschen sind sterblich, dann waren Henoch und Elias …? Der logische Schuss auf diesen Fall würde eine neue Einsicht eröffnen: Wer oder was waren Henoch und Elias? Sie sehen aus und verhielten sich wie Menschen, waren aber nicht sterblich, obwohl alle Menschen sterblich sind. Die einfachste Möglichkeit, diesen Fall zu lösen, wäre der Schluss: Henoch und Elias waren keine Menschen. Das ist nach Peirce aber noch keine kreative Abduktion. Dafür müssen wir »einen kühneren und gefährlicheren Schritt machen«, indem wir zum Beispiel annehmen, »dass sie Götter oder irgendetwas dieser Art seien« (Peirce 1976: 236f.). Beim abduktiven Schließen entdecken wir etwas bisher Unbekanntes an einem bestimmten Fall und wenden nicht nur eine gegebene Regel an oder bestätigen bzw. negieren Fälle durch eine Regel. Die Bildung einer Hypothese findet im »context of discovery« statt und nicht nur im »context of justification«. Es wird dabei etwas entdeckt und nicht gerechtfertigt oder überprüft.

Abduktion

Negation des Resultats: Henoch und Elias waren nicht sterblich.