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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Prolog

Frühstück nach Mitternacht

Hexenjagd im Finsterwald

Ein rätselhafter Spielzeugladen

Trübe Aussichten

Geschichten einer Rätselrübe

Die alte Bibliothek

Ein seltsamer Fund

Fässer, Nüsse und eine Fotografie

Das Bildnis der Nebelfee

Geflüster im Dunkeln

Die Grotte

Eine überraschende Lieferung

Prolog

 

 

So stand es geschrieben – auf den letzten Seiten eines kleinen vergilbten Buches:

 

 

 

Weit zurück liegt eine Zeit

in dunkelster Vergessenheit.

Und weit zurück die tiefen Nächte,

voll Zauber und geheimer Mächte.

 

Einst schnitt der Mond, kaum sichtbar fein,

ein Leuchten in die Nacht hinein.

Als dünne Sichel, scharf und schmal,

bestrahlte er das weite Tal.

Der dunkle Wald ganz leise schlief,

zum Lied der Grillen, fest und tief.

 

Doch plötzlich und gar wundersam

hielt Tier und Land den Atem an.

Als langsam aus dem Wald hervor

ein dünner Nebel stieg empor,

der sanft das hohe Gras durchzog

und lautlos einen Schleier wob.

 

In dieser Nacht, zu jener Zeit,

erhob sich sacht das weiße Kleid.

Und Schwaden formten ein Gesicht,

den Mund, das Haar im Sternenlicht,

zu einer Fee, so wunderschön,

wie nie zuvor jemals geseh’n.

 

Die Fee, gar fein wie zarter Hauch,

in Tränen sah zum Mond hinauf.

Zum Mond, den sie um alles liebte,

obwohl sein Licht ihr Leid zufügte.

Es brannte heiß wie tausend Kerzen,

bewirkte allzu große Schmerzen.

 

Weshalb sie nur konnt’ zu ihm geh’n,

wenn seine schmalste Sichel schien.

Dann war’n die Strahlen so gering,

den kleinen Schmerz, den nahm sie hin.

So tanzte sie in seinem Schein,

in ihrem Glück, bei ihm zu sein.

 

Doch noch ein and’rer bei ihr war,

mit scharfem Blick, den sie nicht sah,

der teuflisch böse Pläne heckte,

sich in der Finsternis versteckte.

Und nur der Südwind warnte leis’

vor der Gestalt, mit Krone aus Eis.

 

Da färbte sich jedoch das Licht,

worauf die Nacht dem Morgen wich,

und sacht der Nebelschleier schwand,

zu feinem Tau über dem Land.

Und leise, fern, zum letzten Mal,

ging tiefes Schluchzen durch das Tal.

____

 

Die nächste Nacht schien sonderbar,

da Neumond zu erwarten war,

und dennoch über'm dunklen Wald

des Mondes Sichel strahlte kalt.

Die Fee, sie freute sich so sehr,

das Licht, es brannte nimmer mehr.

 

Von Süden heftig schrie der Wind:

»Oh, sieh dich vor! Flieg weg geschwind!«

Zu spät! Ein Donner brach durch’s Land –

schon griff nach ihr die eis’ge Hand.

Er sperrte sie ein und brachte sie fort,

mit schallendem Lachen zu fernem Ort.

 

Doch dann, mit einem lauten Schlag,

vom Himmel fiel der Mond herab.

Zersprang, zerbrach mit Blitz und Sturm,

die Erde riss, der Wald fiel um.

Es taumelten die hohen Berge

und stürzten nieder auf die Erde.

 

Hagel, Schnee, wie nie gekannt’,

erschlugen nun das arme Land.

Die Krone fiel, es kam Dunkelheit

mit Eiseskälte für eine Ewigkeit.

Und erst nach Jahren voller Weh

wurde es still, es schmolz der Schnee.

 

So mussten tausend Jahre geh’n,

bevor das Land konnt’ neu entsteh’n.

Doch nie mehr gab es den Bericht

von der Nebelfee im Mondenlicht.

____

 

Und nicht einmal der Wind kann sagen,

was irgendwo noch liegt begraben.

Frühstück nach Mitternacht

 

 

Der Distelpfad war ein holpriger Weg. Verwildert, überwuchert und stellenweise vollständig zugewachsen grub er sich durch das Gehölz. Wahrlich, es war alles andere als leicht, diesem kleinen Pfad zu folgen, da man im Finsterwald für gewöhnlich kaum etwas sehen konnte. Vielerorts standen die alten Bäume so eng, dass es nicht einmal mehr der kleinste Lichtstrahl schaffte, durch das dichte Blattwerk zu dringen. Ganz ohne Zweifel, der Finsterwald trug seinen Namen zu Recht. Schritt für Schritt musste man sich zwischen den Bäumen hindurchtasten, wobei man ständig irgendwo hängen blieb. Man stolperte über Wurzeln, verhedderte sich in störrischen Ranken oder stieß mit dem Kopf gegen einen der knorrigen Äste. Mit einem gemütlichen Waldspaziergang hatten diese Strapazen daher wenig zu tun. Und dennoch – trotz der vielen Unannehmlichkeiten hatte der Distelpfad einen großen Vorteil:

Denn dieser gewundene Waldweg war der einzige, der sich ohne Unterbrechung von Norden nach Süden durch den gesamten Finsterwald schlängelte. Eine kürzere Strecke, den mächtigen Wald zu durchqueren, gab es nicht. Diejenigen also, die möglichst schnell von den besiedelten Gebieten im Norden zu den südlich gelegenen Nebelfeldern oder gar weiter bis zu den Bleibergen wollten, mussten wohl oder übel jenen Weg einschlagen. Doch darauf ließen sich nur die wenigsten ein.

Der Wald sei verhext, so hieß es, verflucht und voller Gefahren. Zahllose Geschichten wurden um ihn gesponnen, von Geistern, Spuk und schaurigen Orten. Orte, von denen angeblich so mancher Wanderer nie mehr zurückgekehrt war. Die abergläubischen Bauern siedelten sich deshalb allesamt in sicherer Entfernung vom Wald an und mieden ihn, so weit es nur ging. Lediglich zum Sammeln von Feuerholz wagten sie sich hin und wieder an seinen Rand. So kam es auch, dass nur ganz selten einmal jemand die Nebelfelder erreichte und von dem krummen Turm berichtete, der hoch oben auf einem Hügel stand. Und eben auf jenem Hügel, vor dem Gartentor des alten Turms, endete schließlich auch der Distelpfad.

Es war ein wackeliges Gemäuer, das schief und verdreht in den Himmel ragte. Beinahe sah es so aus, als hätte es der Wind über die Jahrhunderte hinweg in sich verbogen. Unmittelbar an die Ostwand des Turms schmiegte sich ein kleines Fachwerkhäuschen mit leeren Fenstern. Verwunschen stand es da inmitten des ummauerten Gartens, in dem sich das Gestrüpp genauso verbreitet hatte wie die Berge alten Laubs. Wann dieses Anwesen über den Nebelfeldern erbaut worden war und besonders von wem, war weithin unbekannt. Selbst in den Archiven der Stadt Hohenweis, ihres Zeichens die Hauptstadt des Unkrautlands, war kein Erbauer oder Eigentümer mehr verzeichnet. Doch in Hohenweis kümmerte sich ohnehin schon lange niemand mehr um irgendwelche verfallenen Bauten, die außerhalb der hohen Stadtmauern lagen. Erst recht nicht um den alten Turm jenseits des Waldes, dessen Eingangstür mit Brettern vernagelt war und dessen Fensterläden krumm und schief in den Angeln hingen. Das Gebäude sei verlassen, so dachten die Stadtväter, und schon seit mehreren Jahrhunderten unbewohnt.

Doch dieser Meinung war man nicht überall. Gerade in den Dörfern der näheren Umgebung war man, was das betraf, einer völlig anderen Auffassung.

Umherirrende Wanderer wollten in dunklen Nächten flackerndes Licht hinter einem der Fenster gesehen haben. Andere Quellen berichteten von schrillem Gelächter und gar entsetzlichen Schreien. Die abenteuerlichsten Geschichten gingen um, und jedes der Dörfer hatte hierbei offenbar seine eigenen.

Man hätte jemanden im Turm beobachtet, flüsterten die Leute … eine dünne schattenhafte Gestalt, die hinter einem der Fenster gekauert habe. Rabenschwarz soll sie gekleidet gewesen sein, mit Weste, Frack und einem zerknautschten Zylinderhut auf dem Kopf. Mancherorts tuschelte man auch von einem Vampir mit blitzenden Zähnen und einem Umhang. Anderswo von einer Nebelkrähe mit Gehrock. Die Gerüchte nahmen kein Ende. In Klettenheim, einem verschlafenen Dörfchen am Nordrand des Finsterwalds, beschrieb man diese Gestalt als fliegenden Schatten mit Hut und Fledermausflügeln. Und das war längst noch nicht alles. Denn die verschreckten Klettenheimer behaupteten obendrein, dass jener Schatten nicht nur dort im Turm sein Unwesen treiben würde, sondern bereits seit mehreren Jahrhunderten ihr Dorf heimsuche. Böse war er angeblich, ein blutrünstiger Vampir, der nachts um ihren Kirchturm flatterte, ihr Essen stahl und alle Einwohner in Angst und Schrecken versetzte.

Aberglaube, möchte man meinen. Ammenmärchen und alberne Schreckgeschichten. Doch einen wahren Kern schienen sie trotz alledem zu bergen. Denn auch in dieser Frühlingsnacht, als der Mond hoch über den Nebelfeldern stand, brannte hinter einem der Dachfenster Licht und lautes Gepolter drang aus dem Turm.

»… ich bekomme sie nicht auf …«, schallte es durch die Nacht. »Tut mir leid, aber das Ding klemmt.«

»Das kann doch nicht so schwer sein«, krächzte eine andere Stimme. »Hast du denn kein Werkzeug?«

Daraufhin wurde es still. Doch schon wenig später setzte ein ohrenbetäubendes Gerassel ein, wie von Ketten, Blechschüsseln oder Topfdeckeln. Es krachte über die Hügel, dass gewiss ein jeder Wanderer Hals über Kopf Reißaus genommen hätte. Doch wie schon so oft war auch in dieser Nacht niemand in der Gegend, und daher konnte auch niemand die schwarze Gestalt beobachten, die hinter einem der erleuchteten Dachfenster stand.

Das Innere des alten Gemäuers war keineswegs so verfallen, wie es der äußere Eindruck vielleicht hätte vermuten lassen. Es war nur sehr staubig und ausgesprochen unordentlich. Egal, welches der Zimmer man auch betrat, überall lagen Bücher, Pergamente und Schriftrollen herum. Es gab Glasampullen, Winkelmesser, Zirkel und zahllose andere wissenschaftliche Geräte. Spinnweben spannten sich quer durch die Räume und in dicken Fäden hing der Staub von der Decke. Ein klein wenig aufgeräumter war es nur in der Dachkammer, wo ein riesiges Eichenbett mit rot-weiß kariertem Bettzeug fast den ganzen Raum ausfüllte. Hier oben war es gemütlich. Im Boden befand sich eine Luke, durch die man über eine Leiter zur Küche hinabsteigen konnte. Der Dachboden erstreckte sich jedoch nicht über die ganze Fläche des Hauses, sondern nur bis zur Hälfte. Dort war er mit einem Geländer abgetrennt und bot einen luftigen Blick in das herrschaftliche Kaminzimmer.

Der Mond schien zu den Fenstern herein und tauchte den Raum in ein milchiges bläuliches Licht. Direkt neben dem Bett flackerte eine Kerze. Diese warf ihren Schein auf eine seltsame schwarze Gestalt, die mit ratlos ausgestreckten Armen daneben stand. Die Gestalt war mittelgroß und überaus dünn. Sie trug einen altmodischen Frack, weiße Gamaschen über den Schuhen und – genau, wie die Leute aus den Dörfern erzählten – einen hohen, zerknautschten Zylinderhut auf dem Kopf.

Den schwarzen Schatten gab es also wirklich, wenngleich er aus Fleisch und Blut war. Unschlüssig stand er vor einer rustikalen Pendeluhr und blickte zum Ziffernblatt. Es schien, als würde er sich mit der Uhr unterhalten, da er eindringlich und lautstark auf sie einredete.

»Nein, ich habe kein Werkzeug«, bemerkte er und zuckte mit den Schultern.

»Das kann doch nicht sein«, kam es dumpf hinter einer Klappe am Uhrenkasten hervor. »Hast du schon in der Kiste nachgesehen? Da liegt doch bestimmt eine Zange drin, oder etwa nicht?!«

Der Schatten sah zur Seite, wobei man deutlich seine spitze Nase erkennen konnte. Er blickte nachdenklich auf eine Truhe, die neben dem Bett in der Ecke stand. Dann wandte er sich wieder der Klappe am Uhrenkasten zu.

»Da ist keine Zange drin, das weiß ich genau. Ich brauche gar nicht erst nachzusehen.« Er winkte ab und wippte nachdenklich mit dem Fuß.

»Du hör mal, Primus«, hallte es aus der Uhr. »Ich habe jetzt schon 9 Minuten und 27 Sekunden Verspätung. Das bringt mir noch den ganzen Tagesplan durcheinander. Eine Blamage ist das. So etwas ist mir in den letzten hundert Jahren nicht passiert.«

Der Schatten, der offensichtlich Primus hieß, drehte sich um und schob den Zylinder zurück. Ein scharf geschnittenes Gesicht kam zum Vorschein, mit hohen Wangen und tief liegenden Augen. Die schwarzen Haare waren streng gescheitelt und klemmten hinter den Ohren. Er kratzte sich kurz mit dem Finger an der Stirn und setzte den Hut wieder auf. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen. Neugierig drückte er sich gegen den Uhrenkasten und lugte durch einen Schlitz bei der Klappe ins Innere.

»Huhu!«

»Pah«, tönte es in einem schmollenden Tonfall aus dem Kasten.

»Also gut, Bucklewhee«, sagte Primus, »ich weiß schon, wie wir das anstellen. Halte dich jetzt gut fest. Es könnte vielleicht ein bisschen schwanken.«

Mit diesen Worten packte er die Standuhr und fing an, sie umzukippen. Die Gewichte dröhnten in der Uhr, als sich diese nach vorne neigte.

»DAS NENNST DU EIN WENIG SCHWANKEN?!!!«, kreischte die Stimme aus dem Inneren. »Ich möchte wissen, was du sagen würdest, wenn das jemand mit deinem Haus machen würde.«

Primus, der genug damit zu tun hatte, die schwere Standuhr zu stützen, verdrehte die Augen. Dann fuhr er mit dem Fingernagel in den schmalen Schlitz, um die Klappe aufzuziehen.

»Jetzt pass gut auf«, rief er. »Du drückst mit aller Kraft gegen das Türchen, während ich …« Doch weiter kam er nicht. Primus blieben die Worte im Halse stecken, als schlagartig die kleine Klappe aufging.

Er schnappte nach Luft. Schnell zog er den Kopf ein und ging in die Knie. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte vor Schreck die Uhr fallen gelassen. Denn schon im nächsten Moment kam ein metallenes Scherengitter aus dem Uhrenkasten geschossen, das sich quietschend über seinen Kopf hinwegbog. Eine Vogelstange klemmte an dessen Ende, worauf ein schmächtiges Hühnergerippe mit einem Hahnenkamm saß. Dem Gockel stand vor Schreck der Schnabel offen. Gackernd ruderte er mit seinen Flügelknochen, während das Scherengitter geradewegs mit ihm in Richtung Bettpfosten sauste. Primus biss die Zähne zusammen. Er stemmte sich gegen die Uhr und wuchtete sie mit aller Kraft wieder gegen die Wand. Krachend und donnernd landete sie auf ihrem Platz, während der Dachboden unter einer Staubwolke erzitterte.

Just in diesem Moment klappte das Scherengitter wieder ein. Wie der Blitz schnellte es zurück und sauste in den Uhrenkasten. Der kleine Vogel wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Ruckartig wurde er nach hinten mitgerissen. Eigentlich hätte er die Stange, auf der er saß, bloß loslassen müssen, aber in seiner Aufregung hielt er sich ausgerechnet an dieser fest. Er wedelte mit den Flügelknochen, setzte zu einem lauten Hahnenschrei an und polterte mit Schwung in seine Behausung. Einen Augenblick war es still.

Dann kam ein mitleiderregendes Stöhnen aus der kleinen Öffnung, deren Klappe nun glücklicherweise offen geblieben war. Primus lehnte an der Uhr. Erschöpft ließ er die Arme hängen und atmete durch.

Dann hob er den Kopf und blickte zum Uhrenkasten hinauf. »He«, rief er, »lebst du noch?«

Es dauerte ein wenig, bis ein Glucksen ertönte, das sich fast wie ein verzweifeltes Lachen anhörte. Primus nahm den Hut ab, warf ihn über einen der Bettpfosten und ließ sich auf die Matratze fallen.

Zumindest eine Sache war nun bewiesen: Der Turm war definitiv nicht unbewohnt.

Primus lebte schon, so lange er sich entsinnen konnte, in diesem alten Turm. Er schlich durch die Räume, stöberte in allen nur erdenklichen Winkeln und vergrub seine Nase in jeglichem Buch, das ihm dabei zwischen die Finger kam. Wie lange das bereits so ging, daran konnte er sich nicht erinnern. Aber ehrlich gesagt, er dachte auch nicht weiter darüber nach. Primus konnte seit jeher tun und lassen, was er wollte, und wurde von niemandem dabei gestört. Warum sollte er sich also den Kopf zerbrechen?

Wie alt Primus war, das ließ sich nur schwer einschätzen. Seine Gesichtszüge wirkten bemerkenswert jung, ja beinahe jugendlich. Hingegen die bleiche Haut und die tief liegenden Augen ließen wiederum auf ein viel, viel höheres Alter schließen. Und noch etwas deutete darauf hin, dass Primus älter war, als er aussah: Die ersten Berichte über den geheimnisvollen dunklen Schatten waren bereits vor mehr als 200 Jahren aufgetaucht.

Nun gähnte er und rekelte sich genüsslich auf dem Bett. »Bucklewhee«, rief er grinsend, »wie steht es denn jetzt mit deiner Verspätung?«

»Ach du meine Güte«, kam es aus der Uhr, »das hätte ich ja beinahe vergessen.«

Ein Räuspern ertönte und schon sauste das Scherengitter heraus. Am seinem Ende saß Sir Bucklewhee auf der Stange und nahm Haltung an. Man hätte auch sagen können, das kleine Gerippe thronte darauf. Sir Bucklewhee war ein intellektueller, pünktlicher und in allen Maßen korrekter Präzi-sionsweckvogel … staatlich geprüft, wohlgemerkt. Darauf legte er allergrößten Wert.

Mit erhobenem Schnabel, kerzengerader Haltung und respektvollem Blick setzte er zu einem ordnungsgemäßen Mitternachtsweckruf an, der sich hören lassen konnte:

»KICKERIKIIIIIIIIIII!!!«

Perfekt ausgeführt folgte ein weiterer Hahnenschrei und noch einer und wieder einer. Bucklewhee war ja schon immer der Meinung gewesen, dass er viel zu talentiert für diese wurmstichige Uhr sei, und behauptete ständig, nur durch eine Fehllieferung in diesen krummen Turm geraten zu sein. Tagsüber und in genau eingehaltenen Trainingszeiten übte er seine Weckbewegungen immer wieder vor der spiegelnden Fensterscheibe und hielt sich in Form. Da er keine Federn mehr besaß, musste er schließlich jeden Knochen einzeln trainieren. Bucklewhee nannte es Flugübungen und hasste es, dabei gestört zu werden.

Nach dem zwölften Hahnenschrei fuhr er voller Stolz zurück in seinen Kasten. Die Klappe ging zu.

Wartend schaute Primus zur Uhr. Es dauerte nicht lange, bis die Klappe wieder aufging und Bucklewhee vorwurfsvoll seinen Kopf herausstreckte.

»Ich hatte beinahe eine Viertelstunde Verspätung«, grummelte er. »Nicht zu fassen. Schlimmer könnte ein Sonntag gar nicht anfangen.« Er spitzte den Schnabel und reckte seinen Kopf. »Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, dass ich in meiner gesamten Zeit als staatlich geprüfter Präzisionsweckvogel …«

Primus horchte auf. »Moment mal«, unterbrach er ihn mit strahlender Miene, »soll das etwa heißen, dass wir heute schon wieder Sonntag haben?«

Welch Ignoranz! Bucklewhee war sichtlich erschüttert von so viel Unwissenheit. »Um präzise zu sein, seit 15 Minuten und 52 Sekunden«, sagte er.

»Na, das ist ja wunderbar.« Primus sprang aus dem Bett. Er sauste zum Dachfenster, wo er schnüffelnd seine Nase ins Freie hielt. Dann schnippte er mit dem Finger. »Kirschtorte!«, jubelte er. »Da bin ich mir diesmal ganz sicher.« Ohne Zeit zu verlieren, schnappte er sich seinen Zylinder und eilte durchs Zimmer. »Was soll ich dir mitbringen?«, rief er Bucklewhee zu.

Der Gockel kam herausgefahren und zappelte aufgeregt auf der Stange. »Auf jeden Fall Sonnenblumenkerne, die sind ganz wichtig. Und sollten in der Backstube auch noch Johannisbeeren herumliegen, dann nimm mir bitte davon auch welche mit, ja?«

»Alles klar«, entgegnete Primus. »Sonnenblumenkerne und Johannisbeeren. Ich bin gleich wieder da.«

Nach diesen Worten war von Primus nichts mehr zu sehen. Er verpuffte in einer weißen Rauchwolke, aus der Sekunden später eine kleine Fledermaus geflattert kam. Das hohe Alter war demnach nicht das einzige, was an ihm außergewöhnlich war: Primus konnte sich verwandeln – zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann immer er wollte. Und da er in seiner zweiten Gestalt eine Fledermaus war, konnte er zudem auch noch fliegen.

Auf dem Haupt trug er immer noch seinen Zylinder, der natürlich jetzt um einiges kleiner war. Er besaß ein dichtes schwarzes Fell, große Augen und zwei lange Eckzähne, die im Mondlicht funkelten. Mit diesen sah er aus wie eine typische Vampirfledermaus … eine Vampirfledermaus mit Hut, wohlgemerkt. Sonderlich Furcht einflößend wirkte Primus zwar nicht, aber für die ängstlichen Dorfbewohner aus Klettenheim reichte es allemal. Entweder liefen sie schreiend vor ihm davon oder sie rannten mit Schaufeln und Mistgabeln bewaffnet hinter ihm her. Eines von beidem war sicher. Doch ganz egal, was sie auch taten, für Primus war es immer wieder ein Riesenspaß.

Ein Vampir war er trotz alledem nicht, ganz im Gegenteil. Primus wäre nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, Blut zu saugen, da er normalerweise überhaupt keine Nahrung zu sich nehmen musste. Er brauchte weder zu essen noch zu trinken. Und Hunger verspürte er auch nicht. Allerdings schien das eine Eigenschaft zu sein, die ihm selbst gar nicht richtig bewusst war. Stattdessen verspeiste er alles, worauf er gerade Appetit hatte, und das waren vor allem Süßigkeiten, Plätzchen und leckere Torten.

Die besten Torten gab es seit jeher in der Klettenheimer Dorfkonditorei. Ein ausgezeichneter Laden, wo er längst zu den Stammkunden zählte – wenngleich auch zu jenen der ungebetenen Sorte.

Nun flatterte er zur gegenüberliegenden Seite der Dachkammer und segelte freudig über das Geländer zum Kaminzimmer hinunter. Dieser Raum war wohl der Ort, an dem sich Primus, von seinem Bett einmal abgesehen, am allerhäufigsten aufhielt. Ein mächtiger Eichensessel befand sich darin, durchgesessen und mit abgewetzten Polstern. Der kleine Bucklewhee wartete immer darauf, dass irgendwann einmal die Sprungfedern durch das Leder stießen und er vielleicht eine von ihnen bekommen könnte. Damit wollte er dann seine Uhr wieder auf Vordermann bringen. Direkt neben dem Sessel befand sich ein Tisch, auf dem sich ein Stapel staubiger Bücher türmte. Aber Bücher gab es im Kaminzimmer ohnehin in Hülle und Fülle. Kreuz und quer waren sie über den Boden verteilt oder entlang der Wände aufgereiht. Der Raum verfügte nur über eine Tür, die geradewegs zur Küche führte. Von dort gelangte man weiter zur Wendeltreppe des Turms und anschließend, mit einigen Windungen, zum Eingang hinunter.

Primus aber bevorzugte seit jeher einen anderen Weg, um den Turm zu verlassen. Er zog den Kopf ein und steuerte auf ein Loch in der Fensterscheibe zu. Zielsicher schoss er hindurch, bevor es im Sturzflug in den Garten ging.

»Heda!«, ertönte es aus der Dunkelheit. »Darf man vielleicht erfahren, warum ihr zwei da oben solch einen Krach gemacht habt? Bei diesem Lärm kann man ja kein Auge zutun.«

Primus blickte nach unten. Auf einem Komposthaufen dicht neben der Gartenmauer saß ein kugelrunder orangefarbener Kürbis. Sein Name war Snigg.

Snigg war so groß wie ein Medizinball, hatte leuchtende Augen und ein riesiges Maul. Von Beruf war er Gärtner oder so etwas Ähnliches. Genau konnte er es nicht sagen. Auf jeden Fall hatte er den Komposthaufen selbst zusammengetragen und war mächtig stolz darauf. Immerhin stellte dieser Haufen sowohl sein Bett als auch seine Vorratskammer dar. Er wühlte ständig darin in der Hoffnung, unter den Blättern etwas Essbares zu finden. Frühstück im Bett nannte er diese Buddelei, was mit Abstand zu einer seiner allerliebsten Beschäftigungen zählte.

Nur wenige Ellen neben dem Komposthaufen ragte eine hohle Eiche in die Höhe, deren Äste fast bis zum Boden reichten. Sobald dieser Baum einmal Blätter tragen würde, so hoffte Snigg, bekäme seine Traumwohnung sogar ein eigenes Dach. Allerdings vergaß er dabei, dass sein Komposthaufen zum Großteil aus jenen Blättern bestand, welche die Eiche einst getragen hatte, bevor sie vor langer Zeit abgestorben war.

Mit vollen Backen kaute er auf einem Apfel und spuckte die Kerne ins Gras. Dann hüpfte er gewandt auf die Gartenmauer. Eines musste man ihm lassen: Snigg war trotz seiner Leibesfülle erstaunlich beweglich.

»Ich habe jetzt leider keine Zeit«, rief Primus im Vorbeifliegen. »Ich muss schnell noch zur Konditorei. Hast du irgendwelche Sonderwünsche?«

Snigg riss die Augen auf. Etwas Schöneres hätte man ihn gar nicht fragen können. »Ist doch egal«, jubelte er. »Nimm einfach so viel mit, wie du tragen kannst. Bisher hat alles gut geschmeckt.«

Der Kürbis wollte noch etwas zum Besten geben, doch da war Primus auch schon in der Dunkelheit verschwunden. Besorgt schrie Snigg ihm aus vollem Halse nach: »Pass aber auf! Ich habe gehört, im Norden soll es Nebel geben.« Und er fügte hinzu: »Nicht, dass am Ende dem Kuchen noch etwas passiert!«

 

Wie der Wind sauste Primus durch die Nacht, vorbei an ein paar Bienenstöcken und anschließend pfeilgerade den Hügel hinunter. Unten angekommen ging es über eine kleine Holzbrücke, bevor er schnurstracks zum Finsterwald flatterte. Der Schneckenbach, der von den fernen Bleibergen kam, floss hier nur wenige Schritte neben dem Distelpfad her. Primus blickte nach vorne. Rabenschwarz ragten die mächtigen Bäume gen Himmel und stellten sich ihm in den Weg. An jener Stelle aber, wo der Distelpfad in den Wald eintauchte, verbogen sich die Bäume wie zu einem Schlund, der in die nächtliche Finsternis des Waldes führte. Ohne zu zögern schoss Primus hinein.

Es war eine Dunkelheit, wie sie undurchdringlicher nicht hätte sein können. Doch nach all den Jahren hätte Primus den Weg nach Klettenheim auch mit geschlossenen Augen gefunden. Geradeaus an der Eiche vorbei, dann ein kurzer Schwenk nach rechts, den Kopf einziehen und anschließend immer weiter geradeaus. Mitten im Wald kam er an eine Kreuzung. Es war die einzige weit und breit und diese hatte sogar einen Wegweiser. Rechts ging es nach Hohenweis, geradeaus nach Klettenheim und links zu den Westlichen Sümpfen. Dieser letzte Pfad führte allerdings nicht sehr weit, da bereits nach wenigen Schritten eine Absperrung kam. Todesgefahr stand dort auf einem Schild. Die Westlichen Sümpfe waren weitgehend unerforscht und überaus gefährlich. Doch gab es Gerüchte, dass mit der Warnung auf dem Schild keineswegs die blubbernden Sümpfe gemeint waren, sondern etwas völlig anderes. Irgendwo in jenem Gebiet sollte eine schwarze Hütte stehen. Eine Hütte, in der angeblich der Teufel hauste.

Primus war allerdings schon immer der Meinung gewesen, dass die Leute damit ihn und den alten Turm meinten, und er verdrehte den Wegweiser jedes Mal in eine andere Richtung. Letztendlich war es auch völlig egal, wohin man hier ging. Geheuer war es nirgendwo.

Häufig hatte man kleine Lichter beobachtet, die nächtens durch die Bäume schimmerten. Lichter, die genau wie die hell erleuchteten Fenster einer Wirtsstube aussahen. Mehrfach schon waren müde Wanderer diesen Irrlichtern gefolgt, hatten den Weg verlassen und wurden daraufhin tief ins Unterholz gelockt. Dort verschwanden die Lichter dann schlagartig und guter Rat war teuer. Außerdem gab es überall magische Quellen, Nebelschleier und geheimnisvolle Pflanzen. Dornenranken verknoteten sich in Windeseile zu gefährlichen Netzen, die ihre Beute einwickelten und nie wieder freigaben. Auch gab es kleine Grasbüschel, die sich bewegten oder wie von Geisterhand geführt über den Waldboden sausten. Das Schlimmste aber waren eindeutig die stinkenden Staubpilze! Reihenweise wuchsen sie am Wegesrand und platzten auf, sobald man sie auch nur hauchzart antippte. Die faustgroßen Knollen waren gefüllt mit einem Pulver, das so extrem nach Kuhstall und faulen Eiern stank, dass man sich anschließend nirgendwo mehr hätte blicken lassen können. Primus beeindruckte das alles herzlich wenig. Im Vorbeifliegen verdrehte er schnell noch den Wegweiser und flatterte weiter.

Als er sich schließlich dem nördlichen Waldrand näherte, musste er an Sniggs letzte Worte denken. Im Norden soll es Nebel geben, hatte der Kürbis gerufen, womit er offensichtlich recht gehabt hatte. Denn mit jedem Flügelschlag wurde es jetzt dunstiger und dunstiger. Doch der Nebel im Wald war nichts im Vergleich zu dem, was Primus erwartete, als er hinter den letzten Bäumen das Feld erreichte. Vor ihm lag eine weiße Wand. Mit so einer Nebelsuppe hatte er wirklich nicht gerechnet und schon gar nicht zu dieser Jahreszeit. Von Klettenheim war nicht die geringste Spur zu sehen. So etwas wie Straßenbeleuchtung gab es dort ohnehin nicht, wenn man von einer einzigen Laterne, die auf dem Marktplatz stand, einmal absah.

Unter größten Mühen spähte er aus. Die dunklen Flecken unter ihm waren mit Sicherheit Hausdächer. Aber wo war die Konditorei? Wie es schien, würde sein Ausflug heute ein wenig länger dauern. Er flatterte über die Schindeldächer und beschloss, sich zunächst am Kirchturm zu orientieren. Nur leider konnte er diesen nirgendwo entdecken.

»Der muss doch hier irgendwo sein«, knurrte er. »Ich bin bestimmt schon mehr als hundert Mal um ihn herumgeflogen.«

Dann aber fiel ihm etwas auf. Ein Schatten im Nebel, viel größer als er. Aus kurzer Distanz schien dieser direkt auf ihn zuzusteuern. Primus erschrak. Im nächsten Moment erkannte er, was da auf ihn zugeflogen kam. Es war ein dicker Kauz, der offenbar auch nicht mehr wusste, wo er sich befand. Ein Eulenschrei ertönte und Primus wich aus. Um ein Haar wären die beiden in der Luft zusammengestoßen.

»Verflixt«, rief er, als der Kauz vorbeizog. »Will mir denn heute Nacht jedes nur erdenkliche Federvieh die Nerven rauben?«

Er blickte sich um, wobei er dem Kauz lauthals hinterher schimpfte. Anschließend zog er noch ein paar Grimassen, streckte die Zunge heraus und schaute dann wieder nach vorne. Zu spät! Es gab einen Schlag und Primus wurde schwarz vor Augen. Den Kirchturm hatte er nun doch noch gefunden.

Mit voller Wucht war Primus dagegen geprallt. Für einige Momente blieb er an der Turmuhr kleben, bevor er knirschend am Ziffernblatt herunterrutschte. Bäuchlings klatschte er auf das Sims des Kirchturmfensters. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder zu sich kam.

»Ooooh, was für eine Nacht«, keuchte er. »Zuerst zerquetscht mich fast Bucklewhees Standuhr und jetzt auch noch das.« Er hielt sich den Kopf. »Steht heute vielleicht in meinem Horoskop, dass ich um alles in der Welt von einer Uhr erschlagen werden soll?« Er blickte zum Himmel und schrie aus voller Kehle: »STEHT DAS VIELLEICHT IRGENDWO DA OBEN IN DEN STERNEN??? WENN JA, DANN KANN ICH ES LEIDER NICHT SEHEN BEI DIESEM LÄSTIGEN NEBEL!!!«

Schmollend klopfte Primus sich den Schmutz von den Flügeln. »Da wäre ich wohl besser im Bett geblieben.« Er setzte sich auf das Fenstersims und ließ die Flügel baumeln. »Aber was soll’s«, murmelte er, »dann komme ich eben morgen wieder. Ich hoffe nur, dass keiner der Klettenheimer diese Blamage gesehen hat. Ansonsten werden sie in Zukunft alle laut klatschen, wenn ich daherkomme, anstatt vor mir davonzulaufen.«

Er atmete tief durch und bewegte seine Gelenke. Doch als er seinen Kopf in den Nacken legte, um ihn von einer Seite zur anderen zu drehen, hielt er mit großen Augen plötzlich inne.

»Was soll denn das bedeuten?«, staunte er. »Das habe ich ja noch nie gesehen.«

Gleich neben dem Fenster steckte ein Haken in der Mauer, an den das Ende eines Stricks geknotet war. Wortlos starrte Primus auf das Seil, das straff gespannt an der Kirchturmmauer nach oben führte. Diese seltsame Konstruktion erschien ihm doch aufs Äußerste verdächtig. Sofort war er wieder bei Kräften und sah sich den Haken mit kritischem Blick an.

»Kein Rost«, stellte er fest. »Der Haken ist nagelneu. Die Klettenheimer werden doch wohl nicht ...?! Na, das will ich mir gleich mal ansehen.«

Mit diesen Worten stieß er sich vom Fenstersims ab, bevor er schnüffelnd und mit einem diebischen Grinsen, dem Seil entlang, nach oben flatterte.

Je höher Primus nun kam, desto breiter wurde sein Grinsen. Das Seil roch ebenso neu, wie der Haken gefunkelt hatte. Ein kurzes Stück weiter über der Turmuhr entdeckte er ein kleines Metallrädchen, das an der Mauer befestigt war. Das Seil wurde über das Rädchen geführt und verlief horizontal an der Turmwand entlang. Primus traute seinen Augen nicht, als er sah, was sich die Klettenheimer hatten einfallen lassen. Hier oben, wo er üblicherweise seine Kreise zog, hing eine riesige Schneeschaufel. Der Schaufelstiel war um die Ecke an der benachbarten Turmseite befestigt, während das Seil die Schaufel wie ein Katapult um die Kirchturmmauer bog. Primus wusste sofort, gegen wen diese Abwehrmaßnahme gerichtet war.

»Potz Blitz noch mal«, flüsterte er. »So viel Einfallsreichtum hätte ich diesen verschreckten Klettenheimern gar nicht zugetraut. Jetzt entwickeln sie sogar schon Waffen gegen mich.«

Wäre heute Nacht der Nebel nicht gewesen, dann hätte Primus bestimmt wieder lauthals rufend seine Flugbahnen um den Kirchturm gezogen. Schließlich machte er das immer so. Irgendjemand hätte dann nur im richtigen Moment das Seil losbinden müssen, woraufhin ihm die Schaufel einen Schlag verpasst hätte, der mit dem Aufprall von gerade eben nicht zu vergleichen gewesen wäre.

»Mit dieser Klatsche werden mich die Klettenheimer bestimmt nicht los«, kicherte Primus. »Wahrscheinlich hängt die Schneeschaufel noch das ganze Jahr hier oben und keiner denkt mehr daran. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn dann im Winter das ganze Dorf anfängt, danach zu suchen.«

Er blickte sich um. Der Nebel hatte sich inzwischen ein wenig gelichtet. In einiger Entfernung konnte er sogar schon das Dach der Konditorei erkennen. Na wunderbar. Sogleich ging es den Kirchturm hinunter und zwischen den engen Gassen hindurch. Die Fensterläden an den Häusern waren alle verschlossen. Lediglich am Marktplatz brannte die alte Straßenlaterne, und hinter der Tür des Gasthauses kamen heitere Trinkgeräusche hervor.

Primus flatterte durch Wäscheleinen voller Unterröcke und näherte sich der Konditorei. Schon von Weitem konnte er das frische Backwerk riechen. Beim Eingang angekommen fand er die Tür verriegelt. Das aber störte ihn nicht sonderlich, da die Klappe der Katzentür wie immer offenstand. Er schlüpfte hindurch, flatterte ein wenig durch den Laden und nahm dann seine menschliche Gestalt an.

Es war stockfinster, wenn man von dem schwachen Mondlicht, das durch die Fenster fiel, einmal absah. Doch Primus hatte sich schnell orientiert. Er wusste, wo die Ladentheke mit der Kurbelkasse stand und auch, wo sich die Regale mit den Torten befanden. Auf Zehenspitzen schlich er nun durch den Raum, wobei sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten. Endlich erblickte er die Regale. Primus lief das Wasser im Mund zusammen. So viele Torten hatte er wirklich nicht erwartet. Die Fächer waren geradezu zum Bersten voll.

Hingerissen schloss er die Augen und atmete den süßen Duft ein. »Himbeertorte«, jauchzte er. »Die mag ich ja noch lieber als Kirschtorte.«

Die Nacht war nun doch noch gerettet. Sofort griff er ins nächstbeste Regal, schwang sich auf die Ladentheke und fing genüsslich an, sich den Bauch vollzuschlagen. Es war wie immer ein Festmahl.

»Die ist lecker«, brabbelte er mit vollem Mund. »Das ist eine der besten, die ich je gegessen habe.« Er biss in ein weiteres Stück und verdrehte dabei seine Augen. »Nein, das ist mit Abstand die allerbeste. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel.«

Es war immer das Gleiche. Jedes Mal, wenn Primus Torten stahl, dann war er der Meinung, gerade die beste seines Lebens gegessen zu haben.

Nach einiger Zeit hatte er schließlich genug. Jetzt musste er sich nur noch um die Bestellungen seiner Freunde kümmern. Er öffnete eine Schublade hinter der Theke, holte Sonnenblumenkerne hervor und stopfte sich seine Taschen voll. Johannisbeeren fand er leider keine, aber dafür steckte er noch ein paar Sesamkörner ein. So wie er Bucklewhee kannte, mochte dieser Sesam ebenso gerne.

Anschließend griff er sich ein großes Blatt Kuchenpapier, in das er zwei Stücke Himbeertorte wickelte. Diese waren für Snigg. Der dicke Kürbis hätte zwar bestimmt auch eine ganze Torte verdrückt, aber Primus konnte als Fledermaus nicht so viel schleppen. Als er mit dem Einpacken fertig war, stellte er das Paket auf den Boden und schob es durch die Katzentür nach draußen.

Gerade wollte Primus hinterherschlüpfen, da fiel sein Blick auf ein paar Flaschen, die auf einem Regal neben der Eingangstür standen.

»Kirschsaft«, las er das Etikett. »Frisch gepresst.«

Er grübelte. Dann griff er mit spitzen Fingern nach einer der Flaschen, zog den Korken ab und nahm einen tiefen Schluck.

»Nicht schlecht«, urteilte er. »Habe auch nichts anderes erwartet.« Entschlossen nickte er mit dem Kopf. »So, liebe Klettenheimer. Ihr denkt also, ich sei ein Vampir? Na, dann will ich euch nicht enttäuschen.«

Er setzte die Flasche ein zweites Mal an, wobei er den Saft nun für einige Momente im Mund behielt. Wäre in diesem Augenblick die Konditorsfrau hereingekommen, sie wäre sicherlich in Ohnmacht gefallen. Mit einem teuflischen Blick und leicht gesenktem Kopf stand Primus im Mondschein vor dem Fenster, während er sich langsam den roten Saft aus dem Mund über das Kinn laufen ließ.

»HIHIHIII!« Ein schrilles Lachen folgte und schon war Primus, in seiner Gestalt als Fledermaus, nach draußen gehuscht.

Er packte das Tortenbündel, flog damit zum Marktplatz und legte es in einer sicheren Ecke nieder.

»Jetzt kommt der spaßige Teil der Nacht. Zeit zum Aufstehen!«

Mit lauten Rufen flog er über den Marktplatz, woraufhin schon nach kurzer Zeit die ersten Lichter angingen. Bevor die Leute aber aus den Häusern stolpern konnten, klatschte er einmal laut mit den Flügeln und legte sich dann regungslos unter die Laterne – die Flügel ausgestreckt, wie nach einem Sturz.

»Wo ist er? Wo ist der Schatten?«, riefen die Leute. »Haben wir ihn endlich erwischt?« Die Menge schaute sich um. »Da drüben liegt er«, schrie jemand. »Seht ihr?! Die Schleuder am Kirchturm hat funktioniert!«

Ein Raunen ging durch das Dorf.

Überall strömten die Leute in Nachthemden und Pantoffeln auf die Straße. Die Tür des Gasthauses öffnete sich und eine Schar Betrunkener kam herausgetorkelt. Einige Frauen mit rüschenbesetzten Schlafhauben blickten ihre Männer streng an. Dann schauten sie wieder auf Primus, der immer noch platt auf dem Boden lag.

»Ist er tot?«, fragte ein Mann. »Was machen wir jetzt?«

»Vollkommen egal«, meinte ein anderer, »zumindest sind wir diese Landplage los.«

Die Menge verstummte und alle starrten auf die Fledermaus.

Eine dicke Frau mit puterroten Pausbacken beugte sich vor. »Ich glaube nicht, dass er tot ist«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Der ist bestimmt nur ohnmächtig.«

»Wir sollten ihn vielleicht untersuchen«, kam es aus der Menge. »Man kann ja nie wissen.«

Ein nervöses Getuschel machte sich breit. Vorsichtig nahm ein Mann einen Ast, um die Fledermaus damit anzustupsen. Die Dorfbewohner hielten den Atem an. Es herrschte Totenstille, als der Ast die Fledermaus berührte.

Darauf hatte Primus gewartet.

Mit einem Schrei und einer Rauchwolke verwandelte er sich zurück und sprang auf die Beine. Er riss die Augen auf, wobei er die Menge mit blutrotem kirschsaftverschmiertem Gebiss anbrüllte.

Das hatte gesessen.

Die Leute stürmten davon, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Ein jeder wollte nach irgendetwas greifen, wollte Anweisungen geben, aber keiner konnte auch nur ansatzweise einen klaren Satz hervorbringen. Alle kreischten in Panik durcheinander und ruderten mit den Armen, während Primus laut schreiend hinter ihnen herlief.

»DER SCHATTEN LEBT!«, riefen die Leute. »ER LEBT! Dieses Ungeheuer ist lebendig. Und er hat auch noch Blut gesaugt!!!«

Der Aufruhr nahm zu.

Dann aber kam die Szene der Vorstellung, die Primus jedes Mal am liebsten hatte. Denn als die Ersten wieder zur Besinnung kamen, holten sie wie immer ihre Waffen und gingen zum Gegenangriff über. Schnell verwandelte sich Primus und segelte durch die aufgebrachte Menge auf sein Bündel zu. Er schnappte es sich mit den Krallen, bevor er zur Laterne steuerte. In großen Kreisen flog er um die Straßenlaterne herum, während ihm die Leute wieder einmal mit Schaufeln, Mistgabeln und Fackeln bewaffnet hinterherliefen … immer im Kreis und immer im Kreis …

Schließlich verlor er die Lust. Er schlug die Richtung zum Finsterwald ein und flatterte lachend zum Turm. Der Heimweg dauerte nun ein wenig länger, da er mit den Tortenstücken nicht gar so flink war. Außerdem musste er gut aufpassen, dass er mit dem Bündel nicht gegen einen der Äste schlug. Snigg hatte ihn doch ausdrücklich zur Vorsicht ermahnt. Als er endlich zu Hause ankam, saß Snigg noch immer auf der Gartenmauer und blickte ihm entgegen.

»So, mein dicker Freund«, rief Primus ihm zu. »Hier kommt dein Frühstück.«

Sniggs Augen leuchteten, als Primus das Paket auf der Gartenmauer auspackte. Mit einem einzigen Happen verschlang er das erste Stück.

»Prima«, kam es mit einigen Bröseln aus seinem vollen Mund. »Himbeertorte, frisch vom Bäcker.«

Primus lachte und setzte sich zu ihm auf die Mauer. Er nahm den Zylinder ab und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Du hattest recht«, sagte er. »Es gab Nebel. Aber auch wie immer einen Riesenspaß.«

Hexenjagd im Finsterwald

 

 

Ein paar Wochen später brach der Sommer aus und es wurde heiß. Endlich. Nach dem viel zu langen und trüben Frühling war es für alle eine willkommene Abwechslung. Zunächst jedenfalls. Denn die Heiterkeit fand schon bald ein Ende, als die Hitze ständig zunahm. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer. Wie eine Glocke lag die heiße Luft über dem Land, ohne dass auch nur die kleinste Wolke am Horizont zu sehen war. Der Finsterwald war zu einem stickigen Backofen geworden, in dem man fast nicht mehr atmen konnte. Die Bäume ächzten vor Trockenheit und die laufenden Grasbüschel trotteten nur noch langsam über den Waldboden dahin. Aber neben der Hitze gab es noch eine weitere Plage: Die stinkenden Staubpilze platzten bei diesen Temperaturen von ganz alleine auf und verbreiteten ihre übelriechenden Wolken mit Pilzsporen an allen nur erdenklichen Stellen im Wald. Folglich vermehrten sie sich auch mit galoppierender Geschwindigkeit, sodass manche Waldteile fluchtartig von jedem verlassen wurden, der auch nur ansatzweise eine Nase besaß.

Mit knackenden und knarrenden Holzbalken stöhnte auch der alte Turm unter der Hitze und das rund um die Uhr. Am Tag brannte die Sonne so lange auf die Mauern hernieder, dass sich diese immer weiter aufheizten. Wenn es dann draußen am Abend ein wenig abkühlte, gaben die Steine die gespeicherte Wärme an alle Räume ab. Im Turm herrschte praktisch 24 Stunden Mittagshitze, mit sagenhaften Höchstwerten im Dachgeschoss. Bucklewhee hielt es in seinem Uhrenkasten überhaupt nicht mehr aus. Die ganze Zeit hockte er auf dem ausgeklappten Scherengitter und wippte völlig außer Atem auf und ab, um wenigstens für ein bisschen Wind zu sorgen.

Primus hingegen schlich die ganze Zeit über mit einer mürrischen Laune durchs Haus und wusste überhaupt nicht, was er mit sich und dem lieben langen Tag anfangen sollte. Zwar bereitete ihm helles Tageslicht keine Schwierigkeiten, wie man es bei einer Gestalt wie Primus vielleicht vermuten würde, aber alles hat irgendwo seine Grenzen. Ein derartig grelles Sonnenlicht, verbunden mit einer so unerträglichen Hitze, konnte er ganz und gar nicht gebrauchen. Stundenlang ging er mit rücklings verschränkten Armen im Kaminzimmer hin und her, wobei er immer wieder aus dem Fenster schielte. Prüfend blickte er zum Himmel, ob er nicht irgendwo eine kleine erlösende Wolke oder vielleicht auch nur einen Dunstschleier sehen konnte. Aber nichts der-gleichen war in Sicht. Dafür wehte ihm jedes Mal ein heißer Luftstoß ins Gesicht, wenn er seine Nase aus dem Fenster hielt. Mit einem lauten Pusten zog er dann den Kopf wieder ein, machte auf dem Absatz kehrt und wanderte weiter durchs Haus. Die Hitze war schlicht und einfach zum Verzweifeln.

Der einzige Raum, der nicht von diesen Temperaturen heimgesucht wurde, war der kleine Keller tief unterm Turm. Primus hätte sich natürlich einen gemütlicheren Ort vorstellen können, aber immerhin war es dort unten kühl. Außerdem ging ihm das Quietschen von Bucklewhees wippendem Scherengitter mit der Zeit gehörig auf die Nerven, weshalb er oft noch vor der Mittagsstunde die Flucht ergriff. Im Schneckentempo schlurfte er dann kopfschüttelnd aus dem Kaminzimmer, schlenderte durch die staubige Küche bis zur Wendeltreppe und stieg hinab. Schritt für Schritt ging es die engen Stufen hinunter, da er zum Fliegen mittlerweile viel zu erledigt war. Er passierte die große Eingangshalle, kam an der vernagelten Haustür vorbei und erreichte dann endlich den Keller. Erleichtert öffnete er jedes Mal das eiserne Gitter und genoss die kühle Luft, die ihm hier unten entgegenströmte.

Da saß er dann zwischen den mächtigen Weinfässern auf dem Boden und grummelte vor sich hin. Eine Laterne baumelte von der Decke und beleuchtete die riesigen Eichenfässer, auf denen fingerdick der Staub lag. Dunkeltropfen Spätlese stand in schwer lesbarer Schrift auf den Fässern, die in zwei gegenüberliegenden Reihen vor den Kellerwänden lagerten. Der Dunkeltropfen war mit Abstand der älteste, teuerste und beste Wein, den man im ganzen Land bekommen konnte. Doch Primus war das völlig egal. Wein hatte er noch nie leiden können, ganz egal, wie er auch heißen mochte. Schmeckt wie Suppenwürze oder das saure Zeug aus dem Gurkenglas, hatte er einmal gesagt. Daher empfand er diesen Raum auch schon seit jeher als ausgesprochen langweilig und unsagbar uninteressant.

Uninteressant, bis auf eine kleine Ausnahme. Denn hier unten wurde im Licht der Laterne noch etwas anderes sichtbar als Weinfässer und Staubfäden.

Am ersten Tag seiner hitzebedingten Kelleraufenthalte saß Primus mit angezogenen Beinen auf dem Boden und lehnte an einem der großen Holzfässer. Gelangweilt blickte er an die gewölbte Backsteindecke, folgte mit den Augen den Spinnweben von einem Fass zum nächsten und ließ seinen Blick über die Wände bis runter zum Boden wandern. Dort stockte er. Denn mitten auf dem Boden dieses qua-dratischen Raums fiel ihm, unter dem flackernden Schattenwurf der Laterne, ein großes Zeichen auf, das exakt und messerscharf in die Steinplatten gehauen war. Er hob den Kopf und blickte das Zeichen nachdenklich an. Natürlich war es ihm schon vor Jahren einmal aufgefallen, schließlich wohnte er in diesem Turm. Aber er hatte nie herausgefunden, was es damit auf sich haben könnte. Irgendwann hatte er es dann einfach vergessen.

Jetzt aber rutschte er langsam auf den Knien vorwärts und blies den Staub aus den Rillen. Anschließend stand er auf und schlich in Gedanken versunken um das Zeichen herum. Es war ein großer Kreis von etwa zwei Schrittlängen Durchmesser. Im Inneren befand sich ein verwirrendes Muster, das aussah wie ein Geflecht aus Algen oder Schlingpflanzen. Um den Kreis herum war in einem geringen Abstand ein weiterer, aber wesentlich stärkerer Halbkreis gezogen, dessen Enden spitz zuliefen. Es schien, als umklammere eine dünne Sichel die seltsame Kreiskonstruktion, die von einem verworrenen Tragwerk ausgesteift wurde. Nachdem er das Zeichen lange von allen Seiten betrachtet hatte, ging er in die Hocke. Gedankenlos fuhr er mit dem Finger die Rillen entlang. So vergingen die Stunden.

In den kommenden Tagen kletterte er auch ab und zu auf eines der Fässer, um das Zeichen von oben zu begutachten. Meistens dauerte es nicht sehr lange, bis Primus dabei müde wurde, sich bäuchlings auf dem Fass ausstreckte und irgendwann einschlief.

Sobald aber der Abend kam, flog er schleunigst die Treppe zum Kaminzimmer hinauf, segelte mit einem JUHUU aus dem Fenster und schnappte flatternd im Garten nach frischer Luft. Auch Snigg hatte offensichtlich unter der Hitze zu leiden und sah furchtbar zermatscht aus. Primus machte ihm ab und zu im Vorbeifliegen Komplimente wie: »Schön braun bist du geworden« ... und brauste davon.