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© der Originalausgabe 2011 by mvg Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag
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Fax: 089 652096

Manuskriptbearbeitung und Redaktion: Susanne Van Volxem
Umschlagabbildung: FotoWerk Büdingen, Katrin Knaf
Umschlaggestaltung: Pamela Günther, München
Satz: HJR, M. Zech, Landsberg am Lech
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

 

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Dieses Buch ist Ayla gewidmet, der Kinderbraut, deren Unglück ich nicht verhindern konnte.

Und allen Frauen, die der Gewalt ihrer Männer ausgesetzt sind, gleich welcher Religion oder Kultur sie angehören.

»Die vollkommensten Gläubigen im Glauben sind die, die am sittsamsten sind. Und die besten unter ihnen sind jene, die ihre Frauen am besten behandeln.«

(Sunna)

Alle Namen in diesem Buch sind abgeändert worden. Meine Geschichte jedoch entspricht den Tatsachen – so wie ich sie erlebt habe.

VORWORT

Fuad Hemidi ist der Nachbar meiner Freundin Andrea, ein hochgewachsener etwa vierzigjähriger Syrer mit dunklen mandelförmigen Augen, der schon lange in Deutschland lebt. Er hat hier Informatik studiert und direkt nach dem Examen eine gut dotierte Stelle in einer Softwarefirma bekommen, in der er schon als Student gejobbt hat. Sein Kleidungsstil ist elegant, er fährt einen dunkelblauen 2er-BMW und seine Deutschkenntnisse sind exzellent. Ich bin ihm schon ein paarmal flüchtig begegnet, denn ich besuche Andrea regelmäßig.

»Hat er denn gar keine Frau?«, will ich eines Abends von ihr wissen, als ich noch auf ein Glas Wein bei ihr vorbeischaue und Fuad auf dem Weg zu ihrer Wohnung getroffen habe. »Einem so netten, gut aussehenden Typen müssten die Mädchen doch in Scharen hinterherlaufen!«

»Tun sie auch!«, kichert Andrea. »Vor allem die späten Mädchen – frag mal die alte Frau Schulze! Sie himmelt ihn geradezu an. Er hilft ihr aber auch immer wieder – Schnee schippen, Rasen mähen und so weiter. Ich glaube, er bringt ihr sogar manchmal Blumen mit. Nein, im Ernst, Fuad hat, soweit ich weiß, keine Frau. Wahrscheinlich ist er einfach gern allein. Er arbeitet ja auch extrem viel. Und wenn er nach Hause kommt, liest er stundenlang. Ich kann das von hier aus sehen, schließlich hat er keine Vorhänge vor den Fenstern.«

Ich werfe einen Blick aus Andreas weit geöffnetem Küchenfenster. Die Neubauanlage, in der sie wohnt, ist U-förmig angelegt, mit einem schönen Innenhof, auf den breite Fensterfronten hinausgehen, sodass die Bewohner vor allem der beiden höher gelegenen Stockwerke einen guten Einblick in die Apartments ihrer Nachbarn haben – einmal mehr, wenn diese keine Vorhänge besitzen. So wie Fuad Hemidi, der eine der kleineren Erdgeschosswohnungen mit Balkon angemietet hat und gerade mit einem Buch in der Hand in mein Blickfeld getreten ist.

Ein paar Wochen denke ich nicht mehr über den Nachbarn von Andrea nach, weil ich zu beschäftigt bin, sie zu besuchen. Irgendwann packt mich dann aber doch die Sehnsucht nach meiner Freundin und ich greife zum Telefonhörer. Nachdem wir die neuesten Neuigkeiten ausgetauscht haben, sagt Andrea beiläufig:

»Ach, übrigens: Unser smarter Nachbar hat neuerdings seine Fenster verhängt. Wahrscheinlich hat er jetzt doch eine Freundin und will nicht mehr, dass man ihm bei allem zugucken kann.«

»Wie – euer Nachbar hat seine Fenster verhängt? Welcher Nachbar denn überhaupt?«, tue ich begriffsstutzig. In Wirklichkeit schwant mir natürlich, um wen es sich handelt.

»Na, Fuad natürlich! Der Syrer, du weißt doch! Die komplette Glasfront ist dicht. Mit einem dunklen Vorhang verhängt. Komisch, oder? Wo er sich doch all die Monate nichts daraus zu machen schien, dass ihn die ganze Nachbarschaft beobachten konnte!«

»Nein, das ist nicht komisch, nicht wirklich«, erwidere ich langsam und verspreche, sie am nächsten Tag endlich wieder einmal zu besuchen.

Gesagt, getan. Weil wir uns ewig nicht gesehen haben, gibt es viel zu erzählen, sodass Andrea und ich das Thema Fuad und seine Vorhänge völlig vergessen. Ich bin schon halb wieder auf dem Sprung nach Hause, als wir plötzlich Kindergeschrei im Hof hören. Dies ist insofern höchst ungewöhnlich, als in dem Wohnkomplex kein einziges Kind wohnt. Neugierig treten wir also ans Fenster.

»Das gibt’s doch nicht!«, entfährt es Andrea.

Auch ich bin verwirrt beim Anblick der tief verschleierten Frau und der vier kleinen Kinder im Alter von eins bis sechs Jahren, die – bis auf das Kleinste auf ihrem Arm – munter um sie herumtollten. Denn dass es sich um Fuads Frau und Fuads Kinder handeln muss, daran besteht kein Zweifel: Zwei große Koffer in beiden Händen, scheucht Andreas Nachbar den kleinen Trupp mit brüsken Worten rasch ins Haus hinein. Die Kinder spuren auch sofort, nur die Frau lässt ihre Blicke noch einmal verstohlen durch den Innenhof schweifen, bevor sie der Aufforderung ihres Mannes Folge leistet. Als sie ihr Gesicht in Richtung von Andreas Küchenfenster hebt, sehe ich, wie jung sie ist – noch keine zwanzig, vermute ich. Und schon vier Kinder, von denen das Älteste sicher bald in die Schule gehen wird!

Doch so weit kommt es nicht, jedenfalls nicht in unserem Ort. Die junge Mutter und ihre Kinder bleiben drei Monate in dem kleinen Apartment in Andreas Wohnanlage. Insgesamt bekommt meine Freundin die Frau in dem Vierteljahr ganze zwei Mal zu Gesicht: ein Mal mit Fuad zusammen auf dem Balkon und das zweite Mal an dem Tag, als die Familie wieder in ihr Heimatland abreist. Die Kinder spielen oft stundenlang allein auf der winzigen Terrasse, während ihre Mutter sich hinter den blickdichten Vorhängen verborgen hält. Nur weinen kann man sie immer wieder in dem schlecht isolierten Neubau hören, und zwar besonders dann, wenn Fuad zu Hause ist.

Einmal bin ich bei Andrea zu Besuch, als es geschieht: Durch das auf Kipp stehende Küchenfenster ist erst das Brüllen einer aufgebrachten Männerstimme zu hören, dann ein dumpfes Poltern und schließlich laute Schreie von einer Frau, die in ein wildes Schluchzen münden. Kurze Zeit später können wir auch die Kinder weinen hören. Es ist klar, was passiert ist. Auf mein Betreiben hin informiert Andrea sofort die Vermieterin, die sich dem Problem glücklicherweise umgehend annimmt und ein ernstes Wort mit dem Familienvater spricht. Danach beruhigt sich die Situation einigermaßen, aber sowohl Andrea als auch ich sind heilfroh, als die junge Frau – offenbar nach Ablauf ihres Reisevisums – schließlich wieder verschwunden ist.

Die Erleichterung meiner Freundin ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass endlich wieder Ruhe in ihrem Haus eingekehrt ist, wenngleich ihr netter Nachbar nun kein Wort mehr mit ihr spricht. Und ich selbst bin glücklich zu wissen, dass die drei Monate Isolationshaft auf vierzig Quadratmetern mit sechs Personen für die junge Syrerin vorbei sind. Ich kann nur hoffen, dass sie es in ihrer Heimat, ohne die ständige Anwesenheit ihres tyrannischen Ehemannes, besser hat als bei uns in Deutschland.

Wie kann so etwas passieren?, werden Sie sich vielleicht fragen, wenn Sie diese Zeilen gelesen haben. Wie kann es sein, dass mitten in Deutschland zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein anscheinend aufgeklärter, moderner und bestens in die hiesige Gesellschaft integrierter Mann muslimischer Herkunft seine blutjunge Ehefrau derart barbarisch behandelt? Wie kann es sein, dass er sie drei Monate lang mit ihren vier kleinen Kindern auf engstem Raum einsperrt? Ihr jeglichen Kontakt zu anderen Menschen untersagt? Sie als seine Leibeigene betrachtet, die er beim geringsten Anlass meint, verprügeln zu dürfen? Es kann sein – und es ist leider ziemlich häufig so. Fuad Hemidi ist keine Ausnahmeerscheinung. Männer von seiner Sorte gibt es in Deutschland zuhauf: nach außen hin der charmante, bestens eingegliederte Mitbürger, dem man seine fremde Herkunft kaum mehr anmerkt, im Rahmen der familiären Strukturen jedoch ein brutaler Tyrann, der so tut, als hätte er von gleichen Rechten für alle und der Selbstbestimmung der Frau noch nie etwas gehört. Wir alle wissen im Prinzip auch, dass Männer, die ein ähnliches moralisches Doppelleben führen wie Fuad, keine Einzelfälle darstellen. Schließlich kursiert der Begriff »Parallelgesellschaft« schon seit ein paar Jahren in den Medien und wurde 2004 beinah zum »Wort des Jahres« gewählt. Laut Duden beschreibt er »eine [von einer] Minderheit gebildete, in einem Land neben der Gesellschaft der Mehrheit existierende Gesellschaft«; im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte ist damit die »muslimische Parallelgesellschaft« gemeint. Wie es in dieser oftmals von außen, also von der Mehrheitsgesellschaft nicht einzusehenden Welt vor sich gehen kann, haben eine Reihe hier ansässiger couragierter muslimischer Publizistinnen wie Necla Kelek, Seyran Ateş oder Serap Çileli ausführlich beschrieben, die alle selbst massiv unter der Unterdrückung ihrer Männer, Väter, Brüder zu leiden hatten, teilweise mit dem Tod bedroht wurden oder noch immer werden. Doch erst seit Erscheinen des aufsehenerregenden Buchs Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin, der sich teilweise auf die Berichte dieser Autorinnen stützt und von ihnen und anderen aufgeklärten Muslimen Unterstützung für seine Thesen zur misslungenen Integration erfährt, scheint wirklich ein wenig Bewegung in die Debatte gekommen zu sein.

Was mich bei all dem dennoch wundert, ist die Realitätsferne vieler Menschen – auch Politiker –, die sich anmaßen, zu dem Thema fundierte Beiträge liefern zu können. Der Islam als rückständige, frauenfeindliche und zur Gewalt aufrufende Religion wird für die Spaltung der hiesigen Gesellschaft in Muslime und Nicht-Muslime als genauso ursächlich angesehen wie die mangelnde Bildung oder die fehlenden Sprachkenntnisse vieler in Deutschland lebender Türken und Araber. Diese Begründungen sind schnell bei der Hand und entbinden uns und die Politik in gewisser Weise von jeglicher Verantwortung. Doch so einfach ist die Sachlage nicht. Wer den Koran kennt, weiß, dass dieser die Unterdrückung der Frau, ihre seelische und körperliche Misshandlung, die Zwangsheirat oder gar den Ehrenmord nicht propagiert. Er stellt gewiss Grundsätze und Richtlinien auf, nach denen der Mann als höherstehend als die Frau zu betrachten sei, ja die ihm sogar gestatten, sie bei Vergehen zu strafen oder – je nach Übersetzung – körperlich zu züchtigen.1› Hinweis

Es gibt unzählige Koran-Übersetzungen aus dem Arabischen in andere Sprachen, so ebenfalls ins Deutsche. Wie jede Übersetzung beruhen auch die Koran-Übersetzungen letztlich auf Interpretation, sodass die verschiedenen Versionen teils große inhaltliche Unterschiede aufweisen können. Unter folgendem Link ist im Internet eine deutsche Koran-Übersetzung zu finden, die von islamischen Gelehrten in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut herausgegeben wurde: http://www.ahmadiyya.at/Islam%20Sites/ Der% 20Heilige% 20Q% C3% BCr- % C3% A2n. htm. Interessanterweise heißt es dort in Sure 4, die sich mit dem Thema »Frauen« auseinandersetzt, nicht wie in anderen Übersetzungen, dass der Mann seine Frau bei Ungehorsam zu »schlagen« oder zu »züchtigen« habe, sondern dass er sie nur »strafen« solle.

Aber auf der anderen Seite hat die Frau zahlreiche explizit benannte Rechte wie etwa das auf Bildung, und der Mann ist verpflichtet, für ihr Wohlergehen zu sorgen. In wirklich islamisch geprägten Partnerschaften kommt es vergleichsweise selten zu Konflikten, da die Eheleute unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Geschlechter als gleichberechtigte Partner zusammenleben. Im Übrigen heißt es auch in der Bibel mehrfach, dass die Frau dem Manne untertan sei. Und der Mann hatte auch bei uns bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein das gesetzlich verankerte »Züchtigungsrecht« der Ehefrau gegenüber. Das Entscheidende ist jedoch, dass sich im letzten Jahrtausend im Denken der Christen ein viel größerer Wandel als im Denken vieler Muslime vollzogen hat, vorzugsweise der ungebildeten ländlichen Bevölkerungsschichten. In Mitteleuropa hat es die Aufklärung, die verschiedenen Emanzipationswellen gegeben, und es wird eben nicht mehr »ein Weltbild [proklamiert], das seine Ideale aus dem tiefsten Mittelalter schöpft«2› Hinweis, wie es die Soziologin Necla Kelek denjenigen attestiert, die jede Kritik an einer falsch verstandenen praktischen Umsetzung des Islam empört ablehnen.

Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, München 132006, S. 15; s. dazu auch: Ayaan Hirsi Ali, »Der Jungfrauenkäfig«, in: dies., Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, München 102009, S. 101 ff.

Und genau in diesem Festhalten an überkommenen Traditionen liegt das riesige Problem, weshalb viele Muslime in Deutschland nicht Fuß fassen können und sich in der Folge hauptsächlich oder ausschließlich in ihrer eigenen rückständigen Parallelgesellschaft bewegen. Die Motivation für die sorgsame Pflege der jahrhundertealten Konventionen, die der Frau das Tragen eines Schleiers aufzwingen, Gewalt gegen sie legitimieren, die Erhaltung des Jungfernhäutchens zum obersten Gebot machen, Zwangsheiraten befördern und Mehrehen akzeptieren, resultiert letztlich aus dem Bestreben, um jeden Preis die Familienehre zu bewahren. Diese hängt maßgeblich vom Betragen der Töchter ab. Leben die Mädchen nicht sittsam und halten sie sich nicht an die strengen Regeln der Familie bzw. der Umma, der islamischen Gemeinschaft, so wird dies als persönliches Versagen der Eltern angesehen und die Chancen auf einen guten Ehemann als wichtigstes Lebensziel der Frau sinken drastisch. Folglich lassen die Eltern nichts unversucht, aus ihren Töchtern von klein auf fremdbestimmte Wesen zu machen, die aufs Wort gehorchen und sich statt für Jungen, Mode und Kosmetik eher für Haushalt, Kochen und Kinderpflege interessieren. Was in der (ländlichen) Heimat noch halbwegs funktionieren mag, weil die Mädchen nichts anderes kennen und somit keinen Versuchungen ausgesetzt sind, ändert sich jedoch oft schlagartig mit einer Übersiedlung der Familie nach Deutschland. Plötzlich scheinen an jeder Ecke Gefahren zu lauern. Die offene Mentalität und manchmal sehr freizügige Lebensweise der Deutschen macht vielen muslimischen Eltern Angst; sie fürchten, dass auch ihre Töchter lockeren Umgang mit Jungen und Männern pflegen wollen, bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren einen Freund haben, den sie auf offener Straße küssen, Miniröcke tragen und sich schminken. Mit aller Macht versuchen diese Eltern die heranwachsenden Mädchen vor dem vermeintlichen »Lotterleben« zu schützen und wachen noch strenger über die Einhaltung der Familienregeln und Traditionen. Um sich so wenig wie möglich mit dem unvermeidlichen Fremden abgeben zu müssen, wurden seit der ersten Einwanderungswelle Anfang der Sechzigerjahre zunehmend eigene Lebensmittelgeschäfte, Friseursalons, Arztpraxen, Teestuben und Restaurants eröffnet und der Kontakt auf die eigenen Landsleute beschränkt. Ganze Stadtteile entstanden auf diese Weise in Deutschland, in denen ausschließlich Muslime leben, die ihr Viertel kaum verlassen. Kein Wunder also, dass manche Frauen, die seit zehn oder mehr Jahren hier leben, außer »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen« kein Wort Deutsch beherrschen – im Gegensatz zu ihren Männern, die durch ihre Berufstätigkeit zwangsläufig mit Deutschen in Berührung kamen und somit die Sprache zumindest ansatzweise lernten.

Warum bleiben diese Menschen dann nicht in ihrem Ursprungsland wohnen, wenn in Deutschland alles so furchtbar verkommen und ehrlos ist?, wird sich manch einer fragen. Dies hat in der Regel schlicht wirtschaftliche Gründe. Gehalt und soziale Absicherung sind bei uns nun einmal deutlich besser als in der Türkei oder in den arabischen Ländern. Viele Migranten kommen mit der Absicht hierher, bis zur Rente in Deutschland zu arbeiten und in dieser Zeit monatlich einen festen Betrag zu sparen. Von dem Geld wird dann in der Heimat ein Haus gekauft oder gebaut und somit die Grundlage für eine spätere Rückkehr geschaffen. Der Wunsch nach einem Alterssitz im eigenen Land ist verständlich, tut aber sein Übriges dazu, eine erfolgreiche Integration im Gastland zu verhindern.

Wenn in den Medien von Gewaltopfern innerhalb muslimischer Familien die Rede ist, handelt es sich fast immer um Frauen aus demselben Kulturkreis. Doch proportional zur steigenden Anzahl muslimischer Migranten in Deutschland – Thilo Sarrazin hat in seinem Buch hochgerechnet, dass es sich 2010 bereits um sechs bis sieben Millionen Menschen gehandelt haben könnte3› Hinweis –, wächst auch die Anzahl der bikulturellen Partnerschaften zwischen Muslimen und Christen, die hier geschlossen werden.

Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, S. 262

Meist sind es junge deutsche Frauen, die sich in türkisch- oder arabischstämmige Männer verlieben und mit diesen eine feste Partnerschaft bzw. Ehe eingehen. (Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall – deutscher Mann heiratet muslimische Frau –, aber diese Kombination kommt deutlich seltener vor, nicht zuletzt weil Muslimas nur wenig Möglichkeiten haben, deutsche Männer kennenzulernen.) Von den deutschen Frauen, die über ihre Partnerschaft Teil einer traditionellen orientalischen Familie werden, weiß die breite Öffentlichkeit relativ wenig. Manchmal begegnen wir einer Kopftuchträgerin im bodenlangen, sackartigen Kleid, die fließend den örtlichen Dialekt spricht, und wundern uns kurz, bis wir erkennen, dass ja auch ihre Gesichtszüge ganz und gar nicht fremdländisch wirken, weil es sich nämlich um eine Deutsche handelt. Vielleicht fragen wir uns kurz, was die Frau wohl dazu getrieben hat, ihre eigene Identität aufzugeben und sich ganz dem Umfeld ihres Mannes anzupassen, aber dann gehen wir auch schon weiter und vergessen die Begegnung schnell wieder. Ob die Frau womöglich dazu gezwungen wurde, ihren Körper zu verhüllen, ob sie vielleicht tagtäglich Prügel einstecken muss, weil sie versucht aufzubegehren, ob sie sich am Ende brennend nach ihrem alten Leben sehnt und nur keinen Weg mehr zurück findet – so weit denkt fast niemand.

Ich weiß, wovon ich rede: Fast vier Jahre war ich mit meinem Freund Mahmud zusammen und somit Teil einer traditionell lebenden türkischen Großfamilie in einer mitteldeutschen Kleinstadt. Ich bekam dadurch tiefe Einblicke in eine Welt, die den meisten Deutschen verschlossen bleibt. Ich lernte und spürte am eigenen Leib, was Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen bedeutet, wie ein tradiertes Rollenmuster und uralte Machtpositionen notfalls auch mit Drohungen und Fausthieben durchgesetzt werden. Ich sah und erlebte Dinge, die ich in unserem modernen, fortschrittlichen Deutschland niemals für möglich gehalten hätte. Sehr oft kam ich in dieser Zeit an meine seelischen und körperlichen Grenzen.

Ich habe lange überlegt, ob ich meine Geschichte, die Schilderung meiner Erlebnisse aus jenen Jahren, öffentlich machen soll. Die stetig wachsende Anzahl bikultureller Paare in Deutschland – in manchen Städten mit hohem Ausländeranteil wird bereits jede dritte Ehe zwischen unterschiedlichen Nationen geschlossen4› Hinweis – und die damit zwangsläufig immer öfter auftretenden Probleme, die aus einer solchen Beziehung resultieren können, haben sicherlich mit zu meiner Entscheidung für die Niederschrift meiner Geschichte beigetragen, zumal ich in all den Jahren nur sehr selten eine gut funktionierende Partnerschaft zwischen einer deutschen Frau und einem muslimischen Mann erleben durfte.

Birgit Sitorus/Hiltrud Stöcker-Zafari, Trennung und Scheidung bi nationaler Paare. Ein Ratgeber, hrsg. vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V., Frankfurt 2002, S. 11

Meist war es so, dass nach außen hin alles in Ordnung schien, doch kaum hatte ich die Möglichkeit, auch einmal hinter die Fassade zu blicken, musste ich feststellen, dass die unterschiedliche Auffassung vom gemeinsamen Leben fast immer zu großen Differenzen und leider auch oft zu Misshandlungen führte. Und so gut wie nie wagten die betroffenen Frauen über das erlittene Unrecht zu sprechen, sei es innerhalb der Familie, sei es der Polizei oder Ärzten gegenüber – zu sehr schämten sie sich für ihre Situation, zu groß waren ihre Schuldgefühle. Einmal ganz zu schweigen von der Angst vor dem (einst) geliebten Mann.

Ich möchte mit meinem Buch dazu beitragen, all diesen seelisch und/oder körperlich misshandelten Frauen Mut zu machen, aus ihrem Schattendasein herauszutreten, ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen und zu erkennen, dass es auch ein Leben nach einer solchen Beziehung geben kann. Auch ich wurde jahrelang mit den schlimmsten Drohungen und unter Anwendung massiver Gewalt dazu gebracht, in meinem Gefängnis auszuharren, und habe dabei völlig den Blick für eine positive Zukunft verloren. Darüber hinaus musste ich feststellen, dass die Polizei absolut machtlos war und mir nicht helfen konnte. Letztlich habe ich mich dann aus eigener Kraft aus meiner Hölle befreit – doch diese Kraft musste ich erst einmal wieder aufbringen lernen, so gebrochen war meine Persönlichkeit.

Mein Buch richtet sich aber nicht nur an die Opfer, sondern es möchte alle Bürger dieses Landes – Frauen wie Männer, Christen wie Muslime – dazu aufrufen, künftig etwas genauer auf das zu achten, was in ihrer unmittelbaren Umgebung vor sich geht. Dass ich noch am Leben bin, habe ich gewissermaßen einer Frau zu verdanken, die eben nicht weggeschaut hat und mir auf diese Weise rechtzeitig Hilfe zukommen lassen konnte. Solche Menschen waren in meiner Zeit mit Mahmud eher die Ausnahme. Ich bin sicher, dass viele Nachbarn meine Schreie gehört haben, wenn er wieder einmal unbarmherzig auf mich einprügelte, und auch die sichtbaren äußeren Anzeichen von Gewalt dürften ihnen nicht entgangen sein. Doch Hilfe angeboten hat mir niemand. Im Gegenteil: Im Nachhinein erfuhr ich, dass sich einige deutsche Mitmieter aus unserem Haus lustig gemacht haben über mein Kopftuch und die langärmeligen Blusen und bodenlangen Röcke, die ich selbst im Hochsommer trug. Als wäre dies aus freien Stücken geschehen!

Nach meiner geglückten Flucht habe ich oft zu hören bekommen, ich sei an meiner Situation selbst schuld gewesen, da man ja schließlich wisse, worauf man sich einlässt, wenn man sich einen muslimischen Partner sucht. Dieser Satz hat mich stets geärgert, denn er entbehrt wirklich jeder Grundlage. Um noch einmal Necla Kelek zu zitieren: »Genauso wenig, wie es ›den‹ Islam gibt, kann es ›den‹ Muslim geben.«5› Hinweis

Sämtliche Angaben entsprechen den (gekürzten) Inhalten auf den genannten Websites und erfolgen ohne Gewähr.

Mit anderen Worten: Wahrlich nicht jeder muslimische Mann unterdrückt seine Frau! Nach meiner Beobachtung tun dies vor allem diejenigen nicht, die tatsächlich religiös sind und entsprechend den Vorgaben des Korans leben. Im Übrigen leiden auch viele türkisch- und arabischstämmige Männer in Deutschland unter dem harten Regiment ihrer rückwärtsgewandten Familien. Sie werden schließlich genauso zwangsverheiratet wie ihre (Import-)Bräute oder müssen ertragen, dass die deutschen Mädchen, in die sie sich verliebt haben, partout nicht von ihren Eltern und Verwandten akzeptiert werden. Im Zweifelsfall bleibt auch den Männern nur der völlige Bruch mit der Familie, wenn sie sich nicht regelkonform verhalten wollen oder können.

Oft werde ich noch heute darauf angesprochen, ob ich aufgrund meiner traumatischen Erlebnisse mit einem Türken nun generell ausländerfeindlich eingestellt sei. Dies kann ich ganz klar verneinen! Ich habe nach meiner »türkischen« Zeit viele Jahre als Au-pair-Gastmutter mit Mädchen aus verschiedenen Ländern unter einem Dach gelebt und pflege zu einigen von ihnen noch heute intensiven Kontakt. Auch besteht mein Freundeskreis aus den verschiedensten Nationen, eine erfrischende und bereichernde Vielfalt, auf die ich nicht verzichten wollen würde. Das Einzige, was mich vielleicht von den Menschen unterscheidet, die nicht meinen Erfahrungsschatz haben, ist die Tatsache, dass ich allem Multikulti-Zauber mit Argwohn begegne und insgesamt eine größere Wachsamkeit an den Tag lege, wenn ich mich in einem muslimisch geprägten Umfeld bewege. Dadurch, dass ich für die dort möglicherweise auftretenden Probleme nun einmal sensibilisiert bin, fallen mir Dinge und Lebensumstände auf, die anderen eher verborgen bleiben. Ich weiß nicht, ob meine Freundin Andrea von sich aus ihre Vermieterin angerufen hätte, als sie die Schreie von Fuad Hemidis Ehefrau hörte. Vielleicht hätte sie nicht einmal bemerkt, dass in der Wohnung schräg unter ihr drei Monate lang jemand komplett eingesperrt lebte, wäre sie nicht durch den ständigen Austausch mit mir hellhörig geworden.

Wenn ich mit der Schilderung meiner Geschichte erreichen kann, dass auch Sie in Zukunft genauer hinschauen und registrieren, wenn in Ihrer – muslimischen oder nicht-muslimischen – Nachbarschaft jemand dringend Ihre Hilfe benötigt, weil ein anderer ihn seiner Freiheit und persönlichen Grundrechte beraubt, dann wäre ein wichtiger Zweck dieses Buches erfüllt.

Katja Schneidt im Januar 2011

1. KAPITEL

Liebe auf den zweiten Blick

Derselbe aufmerksame Blick, der mich schon an den letzten Abenden begleitet hatte, verfolgte auch an diesem Tag wieder jeden meiner Handgriffe. Jede Bewegung, jedes herzhafte Lachen mit einem Gast und jedes Gespräch, das ich führte, schien das Interesse des jungen Türken auf sich zu ziehen. Seit einer Woche kam er Abend für Abend in die kleine Gaststätte, in der ich mir neben meiner Ausbildung ein bisschen Geld verdiente. Meist bestellte er sich eine Cola und nahm am äußersten Ende der Theke Platz. Obwohl hier sehr viele Türken verkehrten, schien er kaum jemanden zu kennen. Nur selten unterhielt er sich mit einem anderen Gast. Seine Augen blickten beinah ein wenig böse, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihm irgendetwas fürchterlich missfiel. Fast löste seine Anwesenheit Unbehagen in mir aus.

Ich war bereits mit siebzehn Jahren von zu Hause ausgezogen, um etwa hundert Kilometer von meinem Heimatort entfernt eine Ausbildung zur Berufskraftfahrerin zu beginnen, und so konnte ich das Geld, das ich bei meinem Thekenjob verdiente, gut gebrauchen. Meine Mutter war nicht in der Lage, mich finanziell zu unterstützen, da mein Vater früh verstorben war und sie genug damit zu tun hatte, für sich selbst zu sorgen. Die Ausbildung war mir sehr wichtig und erfüllte mich auch mit Stolz, denn ich war eine der ersten Frauen, die es geschafft hatten, eine Lehrstelle in diesem Beruf zu bekommen. Viele Tests und Untersuchungen waren nötig gewesen, um die dafür erforderliche Ausnahmegenehmigung zu erlangen, da man als Berufskraftfahrer den Pkw- und Lkw-Führerschein früher erhält als im Normalfall. Um mir diesen Traum verwirklichen zu können, nahm ich den Nebenjob gern in Kauf.

Ich servierte einem Gast gerade sein zweites Bier, als ich wieder spürte, wie mich die Blicke des Fremden verfolgten. Unwillkürlich drehte ich mich zu ihm um und sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Ich musste einfach zurücklächeln. Dann widmete ich mich wieder meinen Gästen.

Gegen dreiundzwanzig Uhr erschien mein Chef, um mich abzulösen. Giorgio wusste, dass ich am nächsten Morgen wieder fit und ausgeschlafen bei meiner Ausbildungsstelle sein musste und deshalb fast nie bis zur Schließung des Brückenwirts bleiben konnte.

Während ich die Abrechnung machte, bezahlte mein geheimnisvoller Beobachter und verließ grußlos das Lokal. Ich nahm mir vor, ihn an einem der nächsten Abende auf jeden Fall einmal anzusprechen. Irgendwie hatte er doch meine Neugier erregt.

So weit sollte es allerdings nicht kommen, denn als ich kurze Zeit später ebenfalls nach draußen ging, sah ich ihn lässig an der Hauswand lehnen. Ehe ich mir Gedanken darüber machen konnte, ob er wohl auf mich warten würde, sprach er mich auch schon an.

»Hallo, ich bin Mahmud! Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich der Meinung bin, diese Scheißkneipe hier ist nicht der richtige Ort für eine Frau wie dich.«

Der ging aber ran! Unwillkürlich musste ich grinsen. Etwas provokanter, als ich eigentlich beabsichtigt hatte …

»So? Dann kannst du mir ja bestimmt auch sagen, wo denn der richtige Ort für Frauen wie mich ist!«, entgegnete ich ironisch.

»Ja, klar, zu Hause! Wo denn sonst um diese Uhrzeit?«, sagte er, als handelte es sich um die größte Selbstverständlichkeit.

Nun konnte ich ein herzhaftes Lachen nicht mehr zurückhalten. Irritiert schaute er mich an.

»Komm, um die Ecke steht mein Auto! Ich fahre dich nach Hause«, bot Mahmud mir großzügig an.

»Wie käme ich denn dazu? Ich kenne dich doch gar nicht! Sehe ich etwa so aus, als würde ich mit jedem Dahergelaufenen einfach mitfahren?«

Was bildete sich dieser Typ ein? Ich war ehrlich entrüstet über seine Unverfrorenheit.

»Wir haben uns nun schon seit über einer Woche jeden Tag gesehen. Also kennen wir uns doch! Ich fahre dich jetzt nach Hause. Ich kann nicht verantworten, dass eine hübsche junge Frau wie du um die Uhrzeit noch allein unterwegs ist.«

Mahmud sprach so bestimmt und überzeugend, dass mir sofort klar wurde, dass er es nicht gewohnt war, Widerspruch gegen seine Vorschläge oder Anweisungen zu ernten.

»Wenn du Angst vor mir hast, kannst du gern noch mal zurück zu deinem Chef gehen und ihn nach mir fragen. Er kennt mich und kann dir bestätigen, dass ich ein anständiger Typ bin«, fügte er noch hinzu.

Sein Angebot war in der Tat verlockend. Ich war schließlich seit über siebzehn Stunden auf den Beinen und hatte noch einen etwa zwanzigminütigen Fußmarsch bis zu meiner kleinen Wohnung am Stadtrand vor mir. Konnte ich ihm wirklich vertrauen?

Bevor ich noch weiter hin und her überlegen konnte, nahm Mahmud mich einfach an der Hand und zog mich langsam, aber bestimmt zu seinem Auto. Schweigend lief ich neben ihm her und versuchte ihn unauffällig von der Seite zu mustern. Was ich sah, gefiel mir: Er hatte glänzende schwarze Haare, große dunkle Augen und eine sehr markante Nase.

Er spürte wohl, dass ich ihn betrachtete, denn unvermittelt blieb er stehen.

»Was guckst du mich so an?«

Ich fühlte, wie sich eine leichte Röte in mein Gesicht schlich.

»Wenn ich mich schon von einem fast fremden Mann nach Hause fahren lasse, will ich doch wenigstens genau wissen, wie er aussieht«, gab ich unsicher zurück.

Er seufzte hörbar und zog mich schweigend weiter. Kurz darauf erreichten wir den Parkplatz, auf dem er sein Auto abgestellt hatte. Er öffnete mir die Wagentür und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Nachdem er den Motor gestartet hatte, ertönte leise orientalische Musik aus den Lautsprechern.

Ich nannte ihm meine Adresse und schloss die Augen, um einen Moment zu entspannen.

»Erzähl mir was von dir!«, forderte Mahmud mich auf.

»Ach, von mir gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich bin gerade achtzehn geworden, bin in der Nähe von München geboren, mein Vater starb, als ich zwölf war, meine Mutter lebt mit meinem älteren Bruder Ralf in meiner Heimatstadt, und ich mache nun hier eine Ausbildung zur Berufskraftfahrerin«, ratterte ich das Wichtigste in Kurzform herunter.

»Hast du einen Freund?«

Mahmud trommelte mit den Fingern den Rhythmus der Musik aufs Lenkrad, während er gespannt auf meine Antwort wartete.

»Nein, nicht mehr«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich in Erwägung gezogen, ihn anzulügen. Wenn er davon ausgehen musste, dass ich in festen Händen war, hätte er mich bestimmt zum ersten und letzten Mal nach Hause gefahren. Dass Mahmud mehr von mir wollte, als mich in der Gaststätte beim Kellnern zu beobachten und Small Talk mit mir zu halten, hatte ich schon gespürt. Aber irgendwie gefiel er mir. Es war wohl seine Andersartigkeit, die mich so anzog, und in mir erwachte der Wunsch, ihn näher kennenzulernen. Darum freute ich mich, als er mir anbot, mich auch am nächsten Tag wieder nach der Arbeit heimzufahren.

Beschwingt schloss ich die Haustür auf und warf meine Tasche auf einen Sessel. Ich war sehr stolz auf meine gemütliche kleine Wohnung. Sie hatte zwar nur zwei winzige Zimmer und die meisten Möbel hatte ich gebraucht gekauft, aber sie konnte sich sehen lassen. Eigentlich war ich zusammen mit meinem Freund hier eingezogen, doch schon kurze Zeit später war die Beziehung in die Brüche gegangen und ich allein in dem Apartment zurückgeblieben. Das Geld, das ich im Brückenwirt verdiente, reichte gerade für die Miete. Mein auch nicht gerade üppiges Ausbildungsgehalt deckte die sonstigen Unkosten ab. Große Sprünge konnte ich zwar keine machen, aber ich kam über die Runden. Ich hätte es sehr bedauert, aus der Wohnung wieder ausziehen zu müssen, da ich wunderbare Nachbarn hatte, mit denen ich mich gut verstand.

Ich ging ins Badezimmer, um Wasser für eine heiße Wanne einlaufen zu lassen. Normalerweise verzichtete ich zu so später Stunde auf dieses Vergnügen, denn das Apartmenthaus war ziemlich hellhörig. Wenn meine Nachbarin Maria niesen musste, konnte ich ihr durch die Wand Gesundheit wünschen und musste nicht einmal meine Stimme erheben, damit sie es auch hörte. Aber an diesem Abend konnte ich Maria die kleine Ruhestörung nicht ersparen: Ich hatte das dringende Bedürfnis, in dem duftenden warmen Wasser wieder Ruhe in meine aufgewühlten Gedanken zu bringen. Die kurze Begegnung mit Mahmud hatte mich wirklich sehr berührt.

Warum hatte ich mich neben ihm im Auto so geborgen gefühlt? Ich kannte ihn doch kaum! Geborgenheit – dieses Gefühl war für mich immer ein Fremdwort geblieben. Nachdem mein Vater gestorben war, hatte meine Mutter zu trinken angefangen. Meine Kindheit war mit einem Schlag zu Ende gewesen, weil ich mich ab dem Moment um sie hatte kümmern müssen statt umgekehrt. Auch sonst hatte es niemanden in meiner näheren Umgebung gegeben, keine Verwandten, Freunde meiner Eltern oder gar Lehrer, die sich für meine Belange interessiert, ein offenes Ohr für meine Sorgen und Nöte gehabt oder mich unterstützt hätten, wenn ich Hilfe brauchte. Mein Bruder Ralf, der das ganze Familiendrama natürlich aus nächster Nähe mitbekommen hatte, fiel aus – er hatte genug mit sich selbst zu tun. Er war zwar vier Jahre älter als ich, also beim Tod unseres Vaters bereits sechzehn, aber aus heutiger Sicht weiß ich, dass ein Junge, der mitten in der Pubertät steckt, einfach schlichtweg damit überfordert ist, sich um seine kranke Mutter und kleine Schwester zu kümmern. Und tatsächlich funktionierte ich ja auch immer bestens! Ich schien alles im Griff zu haben und die Umsicht und Verantwortung in Person zu sein. Was mich das jedoch an Kraft gekostet hatte, sollte mir erst viel später bewusst werden. Umso froher war ich jedenfalls jetzt, auf eigenen Füßen zu stehen und abends in meiner eigenen Badewanne entspannen zu können. Ja, ich war eigentlich sehr glücklich mit meiner Situation, aber hin und wieder bemerkte ich doch, dass mir eine Schulter zum Anlehnen fehlte. Wie gern hätte ich auch mal die Verantwortung für den Alltag geteilt und mich von einer Welle der Geborgenheit und Fürsorge tragen lassen …

Am nächsten Morgen fiel mir das Aufstehen viel leichter als sonst. Ich freute mich schon unbändig darauf, Mahmud am Abend wiederzusehen, und mehr als sonst achtete ich auf mein Make-up und meine Kleiderwahl. Katja, du hast dich verliebt!, schoss es mir durch den Kopf. Na und?

Als Mahmud am Abend den Brückenwirt betrat, schauten seine Augen nicht ein bisschen böse. Und als sich unsere Blicke trafen, wurde mir für einen Moment schwindelig.

Er bestellte wieder eine Cola und nahm an der Theke Platz. Aufmerksam verfolgten seine Augen jeden meiner Handgriffe. Ich war besser gelaunt denn je, und das bekamen auch meine Gäste zu spüren. Ich scherzte mit dem einen oder anderen und pfiff beim Fertigmachen der Getränke vor mich hin. Ich konnte es kaum erwarten, dass endlich Giorgio kam, um mich abzulösen. Dass das Lächeln aus Mahmuds Gesicht längst wieder einer finsteren Miene gewichen war, bemerkte ich in meinem Anfall guter Laune nicht.

An diesem Abend verließen wir das Lokal zum ersten Mal gemeinsam – was sicher zu heftigen Spekulationen unter den Gästen führte. Kaum waren wir draußen vor der Tür, prasselten auch schon die heftigsten Vorwürfe auf mich nieder.

»Findest du das toll, mich so zu provozieren? Du machst die Gäste an und flirtest, was das Zeug hält! Willst du mich damit ärgern oder dich interessant machen?«, schleuderte Mahmud mir entgegen.

Ich war so überrascht, dass mir die Luft wegblieb. Den ganzen Tag hatte ich mich auf unser Wiedersehen gefreut – und nun das!

»Aber, Mahmud, warum sollte ich dich denn provozieren oder verärgern wollen?«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

»Warum benimmst du dich dann ausgerechnet heute so, wo du mit mir verabredet bist? Du hast dich die ganze Woche nicht so verhalten. So benehmen sich nur Flittchen!«, ließ er mich wissen.

Ich war kurz davor, ihn einfach stehen zu lassen. Aber so leicht wollte ich dann doch nicht aufgeben. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich mich auf das Treffen mit ihm gefreut hätte und deshalb so gut gelaunt gewesen sei. Erst eine gute Viertelstunde später waren wir so weit, dass wir gemeinsam in seinem Auto saßen.

Als wir diesmal vor meiner Wohnungstür ankamen, bat ich Mahmud noch auf ein Getränk in meine Wohnung. Trotz der Auseinandersetzung, die wir gehabt hatten, fühlte ich mich in seiner Gegenwart wieder total wohl. Ich wollte einfach mehr über ihn erfahren.

»Nimmst du jeden Mann, den du kennenlernst, gleich mit in deine Wohnung?«, nörgelte Mahmud sofort wieder los.

»Nein, natürlich nicht! Aber für mich bist du eben nicht jeder«, konterte ich.

Dies schien ihm zu schmeicheln. Jedenfalls entspannten sich seine Gesichtszüge, und er gab mir einen liebevollen Stups auf die Nase. Ich genoss die zärtliche Geste und nahm seine Hand. Wie ein Liebespaar stiegen wir in die zweite Etage hinauf.

Kaum hatte Mahmud meine Wohnung betreten, unterzog er auch schon jeden einzelnen Einrichtungsgegenstand einem prüfenden Blick. Also ging ich in die Küche, kochte uns einen Tee und kehrte schließlich mit den beiden Tassen zurück ins Wohnzimmer.

Mahmud hatte es sich inzwischen auf dem Sofa bequem gemacht und deutete auf den freien Platz neben sich. Lieber wäre ich auf den Sessel ausgewichen, denn plötzlich bekam ich Angst vor meiner eigenen Courage. Schließlich kannten wir uns ja kaum, und es war wirklich das erste Mal, dass ich einen Mann so schnell mit zu mir nach Hause genommen hatte. Da ich aber nicht schon wieder einen Streit entzünden wollte, setzte ich mich folgsam neben ihn.

»Jetzt erzähl du mir mal was von dir!«, forderte ich ihn auf.

Mahmud lächelte.

»Was möchtest du denn wissen?«

»Alles!«, gab ich zurück.

Er zog mich nah an sich heran und legte vorsichtig den Arm um mich. Dann begann er zu erzählen.

Ich erfuhr, dass er im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus einem kleinen Dorf in Südostanatolien nach Deutschland gekommen war, dass er hier nun seit zweiundzwanzig Jahren lebte und seine Eltern ein Obst- und Gemüsegeschäft in der Stadt besaßen. Wenn er Zeit hatte, half er dort aus. Ansonsten verdiente er sein Geld als Vorarbeiter in einer großen Werkzeugfabrik. Außer seinen Eltern und Geschwistern lebten noch unzählige Onkels, Tanten, Vettern und Cousinen von ihm in der Nähe, sodass seine Familie zu den größten türkischen Clans der Stadt zählte. Einmal im Jahr fuhr er für drei Wochen in die Türkei, um seine Großeltern und den Rest der Familie zu besuchen.

Als er von seiner Heimat erzählte, leuchteten seine Augen auf und ich konnte erahnen, wie gern er dort war. Die Zeit verging wie im Flug und ich spürte, wie sich allmählich die Müdigkeit in meinem Körper breitmachte. Sacht streichelte Mahmud meinen Rücken. Ich fühlte mich einfach nur wohl.

Irgendwann verstummte er, hob vorsichtig mein Gesicht und schaute mir tief in die Augen. Mein Herz schlug mit einem Mal viel schneller und ich merkte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, begann Mahmud auch schon, mich zärtlich und doch fordernd zu küssen. Ich warf meine letzten Bedenken über Bord und erwiderte vertrauensvoll seine Liebkosungen.

An diesem Abend verstieß ich wirklich gegen alle meine Prinzipien, indem ich ihn gleich nach dem ersten Kuss auch direkt bei mir übernachten ließ.

2. KAPITEL

Auf Wolke sieben

Der Mai verging wie im Flug. Es war wirklich ein Wonnemonat! Die Sonne lachte vom Himmel herunter, und Mahmud und ich sahen uns jeden Tag. Meist holte er mich von meiner Arbeit im Brückenwirt ab und kam danach mit zu mir. An meinen freien Abenden gingen wir zusammen ins Kino oder schlenderten Arm in Arm durch die Stadt und guckten uns die Schaufenster an. An den Wochenenden unternahmen wir kleinere Ausflüge ins Umland. Oft blieben wir auch einfach zu Hause und ließen es uns dort gut gehen. Jeden Morgen nach dem Wachwerden sah Mahmud mir lange in die Augen und flüsterte mir »Seni seviyorum« ins Ohr – »Ich liebe dich«. Auch sonst schaute er mich oft mit einem Blick an, der so voller Wärme und Liebe war, dass mein Herz kleine Sprünge machte vor Glück. Von Anfang an nahm er die Beziehung zu mir sehr ernst. Ich war Teil seines Lebens, und er fühlte sich für mich voll verantwortlich.