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Werner Vogd

Der ermächtigte Meister

Eine systemische Rekonstruktion
am Beispiel des Skandals
um Sogyal Rinpoche

eBook 2020

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

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Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

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Jakob R. Schneider (München)

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Umschlaggestaltung: Uwe Göbel mit Nicole Lorenz

Umschlagfoto: Uwe Göbel

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0282-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8173-6 (ePUB)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

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Inhalt

Vorwort

1Einleitung

Nicht Partei ergreifen, sondern Beziehungen verstehen

Spiritualität, Verliebtsein und das Risiko der Liebe

Die Grenze zwischen Illusion und berechtigter Blindheit

Richtiges und falsches Schweigen hören sich gleich an

Unterschiede, die den Unterschied machen …

2Die Lehren des tibetischen Buddhismus

Der tantrische Buddhismus – Sich selbst als erleuchtetes Wesen projizieren

Crazy Wisdom und die Samaya-Verpflichtungen

Gegenbalance der Macht

3Eine kurze Chronologie Rigpas und der Skandal um Sogyal Rinpoche

Tibetischer Buddhismus für den westlichen Geist

Die Krise

Böse Dämonen

4Gelebte Spiritualität – Missbrauch hebt den Gebrauch nicht auf

Ein charismatischer Lehrer

Diese grundlegende Zufriedenheit

Mit Welten ohne Grund vertraut werden

5Eine systemische Methodologie – Netzwerke von Positionen und ihre wechselseitige Konditionierung

Mehrdeutigkeit und Polyvalenz der Alltagskommunikation

5.1Polykontexturalität – Arrangements divergierender Perspektiven

Das Tetralemma: ja, nein, sowohl als auch, weder noch – und selbst das nicht

Subjektives Erleben, doch kein inneres Seelenwesen – Günthers Leerstellengrammatik

Leiblichkeit polykontextural – Worte schnappen in den Körper hinein

5.2Von der Sprache zum Text zum polykontexturalen Arrangement

Polyphonie – Stimmen und Standorte in Beziehung

Modalitäten – Distanzierungen und Identifizierungen

Einfache und komplexe Negationen – Es kommt (nicht) darauf an

Auf zu einer mehrwertigen Hermeneutik – Welche Beziehungsräume werden eröffnet (und welche Türen schließen sich)?

6Ambivalenzen in der Lehrer-Schüler-Beziehung

6.1Hoffnungen und Zweifel – Frau Klinge, die Novizin

Die einfache Sehnsucht eines komplexen Menschen

Die Leerstellengrammatik – Pendeln zwischen Hoffnung und Angst vor Manipulation

6.2Den Zweifel beiseiteschieben – Herr Martini, Kursleiter im lokalen Rigpa-Zentrum

Analogien und Verwechslungen – Eine Beziehung oder ein Rollenverhältnis?

Das Paradoxon von des Kaisers neuen Kleidern

6.3Das Kippen des Arrangements – Herrn Klemmers Ausstieg

Nicht die Fakten, sondern die Werte in den Positionen bestimmen das Arrangement

6.4Faktoren, die bestimmte Weltverhältnisse stabilisieren

Induktion meditativer Erfahrungen – Die Einführung in die Natur des Geistes

Zweifel als Frevel – Verwirrungen, die entstehen, wenn Form und Inhalt verwechselt werden

Plausibilisierung magischer Kausalitäten – Die Konstruktion des allmächtigen Lama

Schwarze Magie – Konstruktionen der Angst

Die Gemeinschaft der Praktizierenden – Eine neue Familie

Keine gescheiterten, sondern oftmals auch im weltlichen Leben erfolgreiche Menschen

6.5Auf die Sicht kommt es an?!

Den Boden unter den Füßen verlieren

Jenseits von Traumatisierung und kritikloser Affirmierung – Alternative Arrangements

Objektivierung – Ein Mensch kann in Ungnade fallen, doch als Lehrer steht er nicht infrage

Subjektivierung – Es kommt nicht darauf an, was der Lama ist, sondern wie du ihn siehst

Die Unvollkommenheit annehmen – Kritik und Liebe schließen sich nicht aus

Arrangements des Glaubens oder Spiritualität des Nichtwissens

7Verwirrte Spiritualität – Drei fundamentale Verwechslungen

7.1Immanente Transzendenz oder magisch aufgeladene Immanenz

Erleuchtung ist nichts, das man wirklich wünschen würde

Die Ambivalenz der tibetischen Lehren

Wohlwollendes Patronat oder illegitime Verklärung von Macht

Der trügerische Trick objektivierter Transzendenz

Der Wille zum Glauben und die Gruppe, welche den Glauben bestätigt

Performative Akte der Selbstbestätigung erfolgreicher Institutionen

7.2Richtiges und falsches Schweigen

Ontologische Verwirrung – Tatsachen werden mit Beziehungen verwechselt

Kultivierung von Unwissenheit

7.3Illegitime und berechtigte Blindheit

Nachwort

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Eine von vielen Menschen geschätzte und verehrte öffentliche Person – der spirituelle Leiter eines weltweiten Netzwerkes des tibetischen Buddhismus – ist in Ungnade gefallen.

Was nicht sein kann, darf nicht sein, und wenn sich die Vorwürfe nicht mehr überhören lassen, ist die Enttäuschung kaum aushaltbar. Die einen können und wollen es immer noch nicht glauben. Andere wenden sich empört ab. Dritte versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Hilfe von außen wird gesucht.

So unglaublich das Vorgeworfene zu sein scheint – der spirituelle Meister war doch so großartig, und so viele Menschen haben von ihm profitiert –, so schnell sind Erklärungen bei der Hand, und auch moralische Urteile lassen nicht lange auf sich warten. Was vorher undenkbar schien, scheint jetzt so einfach und offensichtlich zu sein. Man ist enttäuscht worden, und damit scheinen auch die Rollen von Opfer und Täter klar zu sein.

Aber stellt sich das Verhältnis von Täuschung und Enttäuschung wirklich so einfach dar? Hat man nicht selbst auch getäuscht – sich selbst und andere? Wollte man nicht auch getäuscht werden? Und wie sieht es mit den eigenen Projektionen auf den Lehrer aus? Vielleicht war man sogar froh, einen Lehrer der »verrückten Weisheit« zu haben, der es mit der Moral nicht so genau nimmt?

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier ein komplexes Geflecht aus Beziehungen. Entsprechend bedarf es eines systemischen Blicks, um es aufschließen und verstehen zu können. Hiermit landen wir bei dem Kernanliegen dieses Buches.

Anhand von Gesprächen, die mit Schülern und Schülerinnen Sogyal Rinpoches und aktiven Mitgliedern der von ihm gegründeten Rigpa-Gemeinschaft geführt wurden, werden wir versuchen zu rekonstruieren, wie sich Sichtweisen und unterschiedliche Positionen wechselseitig stabilisieren. Dabei wird sichtbar, dass auch das vermeintlich individuelle spirituelle Erleben eine Systemeigenschaft darstellt, also erst innerhalb einer spezifischen Relation in einem übergreifenden Rollengefüge möglich wird. Spiritualität wird gemeinsam hergestellt, ebenso wie die hiermit möglicherweise einhergehenden Täuschungen und Enttäuschungen.

Aber auch die Täuschung stellt eine Systemeigenschaft dar, die nicht von einem Einzelnen gemacht werden kann. Erwartungen treffen auf Erwartungen und bestätigen sich in zirkulärer Resonanz, sodass die mit den Erwartungen verbundenen Hoffnungen wirklicher erscheinen als die weiterhin mitschwingenden Zweifel.

Was dies bedeutet, möchte ich an einem Beispiel darstellen, das ich im Rahmen einer Feldforschung in einem städtischen Krankenhaus erleben durfte.

Ein 60 Jahre alter Mann kam mit einem schweren Tumorleiden erneut ins Krankenhaus. Die Chirurgen gelangten aufgrund der Krankenakte und aktueller Röntgenbilder schnell zu dem Schluss, dass man nicht mehr operieren könne, da die Krankheit zu weit fortgeschritten sei. Im Arztzimmer erklärte mir die Fachärztin die Entscheidung. Ich fragte sie noch, ob jetzt allein die Ärzte dies entscheiden würden. Sie antwortete mir entrüstet: »Ja klar, wir entscheiden, denn Patienten können ja die medizinische Sachlage nicht korrekt einschätzen.« Am Nachmittag begleitete ich die Ärztin und die Oberärztin zu einer Visite. Im Patientenzimmer schaute der Patient die Ärztinnen mit großen, leiden- und hoffnungausdrückenden Augen an. An die ältere Chirurgin richtete er die flehende Bitte: »Bitte helfen Sie mir, bitte operieren sie mich noch einmal.« Die Chirurgin antwortete: »Ja, wir operieren Sie morgen.« Am nächsten Tag wurde der Patient in den OP-Saal gefahren. Der chirurgische Eingriff konnte jedoch, wie von den Ärzten vorhergesagt, sein Leiden nicht mehr lindern.

In dieser Situation habe ich verstanden, dass die Ärzte, auch wenn sie es glauben mögen, nicht »Kapitän des Schiffes« sind. Die Erwartungen, welche ihnen die Patienten entgegenbringen, lassen sie als »Halbgott in Weiß« erscheinen. Und die Akteure, denen diese erhabenen Qualitäten zugeschrieben werden, möchten dies glauben, denn die hiermit einhergehenden Gefühle der Macht, der Bestätigung des Helfenwollens und des eigenen Gutseins sind so intensiv, dass sie jeden vernünftigen Einwand zu überschreiben drohen. All dies macht es nachvollziehbar, dass Menschen in entsprechenden Rollen dazu neigen, die damit verbundenen Erwartungen nicht zu enttäuschen – wenngleich hierdurch alle Beteiligten auf einer tieferen Ebene getäuscht und verletzt werden.

Im Sinne der alten Frage – was zuerst war, die Henne oder das Ei – lässt sich auch in diesem Fall kein Anfang ausmachen. Alle Beteiligten sind Opfer einer Systemdynamik. Auch wenn dies nicht die Verantwortung derjenigen Menschen aufhebt, die an den entscheidenden Positionen dieses Rollengefüges sitzen, wird doch klar, was sie gerade auch auf emotionaler Ebene leisten müssten, um nicht den Versuchungen der ihnen zugeschriebenen Macht und Kompetenz nachzugeben.

Gleiches gilt selbstredend für den spirituellen Meister, dem die Fähigkeit zugeschrieben wird, seine Schülerinnen und Schüler zur Erleuchtung zu führen. Auch er steht vor der immensen Herausforderung, im Angesicht dieser Erwartungen mit den ebenso schmeichelnden wie trügerischen Gefühlen, die ein »Halbgott« verspüren mag, umzugehen.

Ich hoffe, dass dieses Buch – jenseits moralischer Urteile – dazu beitragen kann, in einer solchen Weise Licht auf die Problematik zu werfen, dass Menschen – egal, wo sie stehen – in Zukunft etwas besser mit derartigen Rollenverhältnissen umgehen können.

An dieser Stelle ist zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung des dieser Monografie zugrunde liegenden Forschungsprojektes zu danken. In diesem Rahmen konnten wir in den Jahren 2013 bis 2018 in Deutschland mehr als 100 Interviews mit Praktizierenden aus sechs buddhistischen Schulen (darunter auch RIGPA) führen und auswerten. Es wurden Gespräche mit Anfängern, Fortgeschrittenen und Lehrern geführt sowie mit Drop-outs, welche die Gruppe bzw. Schule verlassen haben. Die Namen der Gesprächspartner wurden verfremdet, damit sie nicht von Außenstehenden identifiziert werden können. Aus diesem Grund werden auch keine näheren Informationen zum genauen Kontext der Interviews gegeben.

Darüber hinaus gebührt Selma Ulrike Ofner und Jonathan Harth mein nachdrücklicher Dank. Sie haben viele der Interviewgespräche geführt, bei der Auswertung geholfen sowie eine Vielzahl von wertvollen Hinweisen zu den einzelnen Kapiteln dieses Buches gegeben.

Vor allem ist jedoch den vielen Interviewpartnern zu danken, die uns allesamt wichtige Einblicke in ihr spirituelles Leben und die hiermit einhergehenden Krisen gegeben haben.

Werner Vogd
Witten, im Mai 2018

1Einleitung

»Wir sind auf eine Weise durch die Anrede anderer verletzlich, die wir so wenig kontrollieren können, wie wir die Sphäre der Sprache kontrollieren können, aber heißt das, dass wir nicht handlungsfähig und nicht verantwortlich sind? Für Lévinas, der Verantwortung und Handlungsfähigkeit voneinander trennt, entsteht Verantwortung dadurch, dass wir der ungewollten Anrede durch den anderen ausgesetzt sind. […] Vor dem Ich, das eine Entscheidung trifft, bedarf es des Außerhalb des Seins, wo das Ich sich in der Anklage abzeichnet. […] Ich [bin] nicht primär aufgrund meiner Handlungen verantwortlich, sondern aufgrund meiner Beziehung zum anderen, die sich auf der Ebene meiner primären und irreversiblen Empfänglichkeit bildet, meiner Passivität, die jeder Möglichkeit zu handeln oder zu entscheiden vorausgeht. […] Vielmehr ist es mein Vermögen, dass auf mich eingewirkt werden kann, das mich in eine Verantwortungsbeziehung einbindet« (Judith Butler).1

»Im Angesicht des Zweifels zu leben, die Augen glücklich geschlossen, hieße, sich in die Welt zu verlieben. Denn sollte es eine berechtigte Blindheit geben, dann besitzt nur die Liebe sie. Und entdeckt man, dass man sich in die Welt verliebt hat, dann wäre man schlecht beraten, ihren Wert durch den Hinweis auf ihr System der Endursachen lobend zu unterstreichen. Denn damit schwände wohl die Verliebtheit, und man könnte dadurch vergessen, dass die Welt, so wie sie ist, Wunder genug ist« (Stanley Cavell).2

»Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist« (Ludwig Wittgenstein).3

Der Gegenstand dieses Buches bringt es mit sich, dass die Reise durch die folgenden Kapitel einer Achterbahnfahrt gleicht. Zunächst fühlen wir – das heißt der Autor sowie die Mitglieder des Forschungsprojekts, welche das diesem Text zugrunde liegende Material erhoben und ausgewertet haben – uns verpflichtet, die Spiritualität der Menschen, mit denen wir gesprochen haben, ernst zu nehmen und um nichts in der Welt der Lächerlichkeit preiszugeben. Zugleich sind im Verlauf unserer Untersuchung sehr schwere Missbrauchsvorwürfe gegenüber Sogyal Rinpoche, dem ehemaligen spirituellen Leiter von Rigpa, öffentlich geworden, die keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden können. Im Zusammenhang mit unseren Recherchen sind wir vielen Menschen begegnet, die ihrem Lehrer unendlich dankbar sind und weiterhin große Hingabe an ihn empfinden, andere Menschen haben nur noch Wut auf ihren ehemaligen Lehrer, wieder andere sind krank geworden und suchen therapeutische Hilfe.

Die erste Runde unserer Interviewgespräche haben wir in den Jahren 2014 und 2015 durchgeführt, also noch bevor der Skandal durch den Brief von acht ehemaligen Schülern aus dem inneren Kreis von Sogyal Rinpoche öffentlich wurde (siehe ausführlich Kap. 3). Aus diesem Grunde sind wir in der Lage, zunächst ein Bild von Rigpa, der von ihm gegründeten Gemeinschaft des tibetischen Buddhismus und seinen Schülern4 zu zeichnen aus der Zeit, als scheinbar noch alles in Ordnung war.

In der zweiten Runde unserer Gespräche, die wir überwiegend 2017 durchgeführt haben, wurde die Krise in allen Gesprächen zum Thema. Bei einigen Gesprächspartnern standen jedoch nicht nur Kritik, Zweifel und Enttäuschung im Vordergrund. Insbesondere bei den Schülern, welche 20 Jahre oder länger dabei waren, zeigte sich weiterhin Liebe, bei einigen wenigen gar Loyalität gegenüber dem ehemaligen Lehrer.

Ein Außenstehender mag hier zunächst sehr schnell Erklärungen und Urteile bei der Hand haben. Die Mittäter (der Haupttäter sowieso) scheinen festzustehen, ebenso die Opfer. Auch mag man geneigt sein, religiöse und spirituelle Bewegungen per se abzulehnen, um diesen Fall dann nur als einen weiteren Beleg für seine Vorurteile zu nehmen. Umgekehrt mögen einige weiterhin Partei für den tibetischen Buddhismus ergreifen wollen, um dann darauf hinzuweisen, dass viele der westlichen Schüler auch in diesem Falle immer noch nicht verstanden hätten, worum es in der spirituellen Praxis des tibetischen Buddhismus – auch als tantrischer Buddhismus bekannt – eigentlich gehe. Die Verantwortung für das Problem wird dann entweder Sogyal Rinpoche zugewiesen, dem mangelnde Kompetenzen als Lehrer zugeschrieben werden, oder seinen Schülern, die doch vorher hätten wissen müssen, worauf sie sich bei einem Meister dieses Formates einlassen.

Nicht Partei ergreifen, sondern Beziehungen verstehen

In diesem Buch geht es weder darum, Partei zu ergreifen, noch darum, einzelne Menschen zu verurteilen. Auch beschäftigen wir uns nicht mit der Frage, ob Sogyal Rinpoche ein guter oder schlechter Lehrer gewesen ist.

Vielmehr möchten wir versuchen zu rekonstruieren, wie die unterschiedlichen Perspektiven sich wechselseitig konditionieren, sodass es letztendlich zu einem für alle Beteiligten problematischen Arrangement gekommen ist. Im Vordergrund steht ein systemischer Blick, der die unterschiedlichen Standortabhängigkeiten ebenso ernst nimmt wie das berechtigte Bedürfnis westlicher Schüler nach spiritueller Entwicklung. Die Perspektive beschränkt sich dabei nicht nur auf das Verhältnis zwischen einzelnen Menschen, sondern berücksichtigt auch ihre Einbindung in Gruppen- und Organisationszusammenhänge. Zudem wird der Blick auf die systemischen Besonderheiten des Lehrer-Schüler-Verhältnisses im tibetischen Buddhismus gelenkt.

Unsere Perspektive wird entsprechend eine überpersonale sein, welche das Handeln und Erleben von Menschen primär aus dem Blickwinkel der Beziehungen zu verstehen sucht, in die sie eingebettet sind.

»Zuerst muss man zu zweit sein«,5 um für sich eine Wirklichkeit aufbauen zu können, formuliert Ernst von Glasersfeld. Der Soziologe wird hier zudem noch ergänzen, dass es weiterer Positionen bedarf, etwa der des Dritten, der schweigend beobachtet, was geschieht, und der prominenter signifikanter anderer, die den Sinn des Ganzen bestätigen, wenngleich wiederum andere Beteiligte noch nicht so recht verstehen mögen, was geschieht.

Aus dem von uns gewählten Blickwinkel stellen dann auch Liebe, Hingabe und Vertrauen – und ihre Kehrseite, nämlich Hass, Enttäuschung und Misstrauen – Systemeigenschaften dar, die über den individuellen Akteur hinausgehen. Ebenso erscheinen die Erfahrungsbereiche der menschlichen Spiritualität – und zwar im Guten (man denke an die mystische Erfahrung von Einheit und Verbundenheit) wie im Schlechten (etwa in Form religiöser Verblendung) – nicht alleine möglich. Auch hier bedarf es anderer Menschen, die im sozialen Raum unterschiedliche, teils komplementäre Positionen einnehmen.

Spiritualität, Verliebtsein und das Risiko der Liebe

Außer diesen allgemeinen Bemerkungen zu der systemischen Haltung, welche diese Untersuchung anleiten wird, werden noch einige spezielle Bemerkungen zum Thema »Spiritualität« benötigt. Wir unterscheiden im Folgenden Spiritualität von Religion in der Weise, dass Erstere nicht an die Vorstellung von übermenschlichen Wesen, Gottheiten oder einer wie auch immer aussehenden magischen Kausalität gebunden ist. Gemeinsam ist jedoch beiden, dass es – um mit Niklas Luhmann zu sprechen6 – darum geht, Transzendenz in die Immanenz zu holen, also der menschlichen Sphäre einen Sinn oder Wert zu geben, der die Profanität des menschlichen Lebens überschreiten lässt. Im Lichte spiritueller Bezogenheit wird die latent immer mitschwingende Bedeutungslosigkeit unseres eigenen Lebens in ein Selbst- und Weltverhältnis transformiert, das nun lebendiger und bedeutsamer erscheint. Der hiermit aufscheinende Sinn ist kein abstrakter, sondern ein sinnlicher Sinn. Menschen erleben diese Sinnlichkeit insbesondere, wenn sie sich verlieben.

Doch Liebe ist riskant. Denn nur wer vertraut und sich einlässt, kann die mit ihr verbundenen Freuden und den Segen erfahren. Die Augen zu schließen und sich hinzugeben heißt aber auch, verletzlich zu sein. Wenn Erwartungen an Menschen, denen man lange vertraut hat, später auf einer tiefen Ebene enttäuscht werden, entstehen Brüche und Verletzungen, denn im Inneren spürt man die Liebe immer noch, auch wenn sie nun in Hass und Verzweiflung umzuschlagen beginnt.

Zudem stellen sich die Betroffenen die Frage, wie dies geschehen konnte und warum man die Wirklichkeit nicht sehen konnte, wenngleich die Zeichen doch schon lange zu erkennen waren.

Doch genau hierin besteht das, was im guten Sinne die Liebe ausmacht. Sie verschließt die Augen vor den Unvollkommenheiten des anderen, um durch Liebe etwas anderes möglich werden zu lassen – eine Beziehung, welche die eigenen Unzulänglichkeiten und diejenigen des anderen vergessen lässt mit der Aussicht darauf, gemeinsam etwas Neues zu wagen, in einen Raum zu gehen, wo all dies nicht zählt und gerade deshalb lebendiges Glück möglich wird. Zu lieben und zu vertrauen lässt andere Menschen Liebe und Vertrauen erfahren, damit sie dann ihrerseits lieben und vertrauen können.

Sich einem spirituellen Pfad hinzuwenden ähnelt somit in vielerlei Hinsicht einer Liebesbeziehung. Wer sich einer diesbezüglichen Gruppe zuwendet, beginnt, Vertrauen und Hingabe zu entwickeln, schaut über Dinge hinweg und fängt an, den immer mitschwingenden Zweifel an einen Ort zu schieben, wo das, was man »in seinem Herzen« spürt, nicht gestört wird. Auf diese Weise wird es möglich, die Lehrer wie auch die Lehren der spirituellen Schule als heilig und gut zu sehen. Erst hierdurch kann das, was die Lehrer zu den Schülern sagen, für sie zu einem Segen werden. Dass die Lehrer wie die anderen Mitglieder der spirituellen Gemeinschaft auch nur Menschen sind und entsprechend Schwächen und Fehler haben, ist kein Hindernis, solange dies zwar wahrgenommen, aber zugleich mit einem grundlegenden Vertrauen darüber hinweggesehen werden kann. Vielmehr wird erst auf diese Weise ein Raum möglich, in dem Menschen sich selbst und andere so annehmen können, wie sie sind. Wie in der Liebesbeziehung entsteht auch hier ein Selbst- und Weltverhältnis, das uns dazu bringt, uns selbst zu transzendieren. Doch wie in der Liebe kann auch hierbei das Engagement auf tiefe Weise in Enttäuschung umschlagen.

Es hieße jedoch gleichsam das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man diese Art der Beziehungen per se als Täuschung und Illusion betrachten würde. Vielmehr sind gerade Beziehungen im Modus der Liebe und wechselseitigen Akzeptanz das, was uns Menschen als Menschen ausmacht.

Denn wir Menschen sind in dem Sinne soziale Wesen, dass unsere Beziehungen – und das, was wir in ihnen miteinander tun – unsere Innerlichkeit formt. Aufgrund der uns typischen Empfindsamkeit können wir die Haltungen der uns umgebenden Menschen wahrnehmen, die Worte, die wir einander sagen, im eigenen Leibe spüren und soziale Exklusion als körperlichen Schmerz erfahren. Gerade weil wir buchstäblich das werden, was wir leben, macht es für uns einen entscheidenden Unterschied, ob wir uns in einem sozialen Raum der Liebe, des Vertrauens und der Hingabe befinden oder in einem Raum, der durch Zweifel, Misstrauen und wechselseitige Instrumentalisierung geprägt ist. Um es mit den Worten Humberto R. Maturanas auszudrücken: Die

»menschliche Existenz ist eine kontinuierliche Transzendenz, nicht im Sinne vom Hinausgehen in einen fremden Raum, sondern im Sinne dieser Dynamik, in welcher unsere Körperlichkeit sich in dem Maße wie unsere Beziehungen verändert und umgekehrt«.7

Die Grenze zwischen Illusion und berechtigter Blindheit

Selbstredend stellt sich in den oben benannten Beziehungen die Frage nach dem Unterschied zwischen berechtigter und unberechtigter Blindheit. Selbstlose Hingabe und spirituelles Vertrauen gehören zu den erhabensten Gefühlszuständen, die wir Menschen erfahren können. Zugleich gibt es aber kaum ein Leiden oder Schrecken, das sich Menschen nicht bereits im Namen religiöser und spiritueller Ziele zugefügt haben. Man muss sogar vermuten, dass Grausamkeiten besonders dann begangen werden, wenn sie der »guten Sache« dienen. Auch die Liebe kann dann als Katalysator für Gewalt erscheinen – entweder weil die Liebe als höheres Ziel sie rechtfertigt oder weil das Entschwinden der Liebe gerade aufgrund ihrer ekstatischen Intensität umso bedrohlicher erscheint, ja einem Angriff auf das innere Selbst vor dem Hintergrund seiner potenziellen Bedeutungslosigkeit gleichkommt. Das Verwischen der Grenze zwischen illusionären Projektionen und erfüllten spirituellen Beziehungen kann mit schwerwiegenden Konsequenzen – einschließlich individueller und kollektiver Traumatisierung – einhergehen.