Über Edda Ziegler

Edda Ziegler, Autorin zahlreicher Publikationen, darunter Biographien über Heinrich Heine und Theodor Fontane. Zuletzt erschienen: »›Verboten – verfemt – vertrieben‹. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus« (2010) sowie die Studie »Buchfrauen. Frauen in der Geschichte des deutschen Buchhandels« (2014).

Gotthard Erler, Autor und Herausgeber. Seine jahrzehntelangen Forschungen und vielseitigen Editionen haben an der Verbreitung des Fontane’schen Werks einen hervorragenden Anteil. Zuletzt gab er eine Auswahl aus dem dreibändigen Fontane’schen Ehebriefwechsel heraus, erschienen unter dem Titel »Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Eine Ehe in Briefen« (2018).

Informationen zum Buch

»Nirgends der Denkmal-Ton.« Süddeutsche Zeitung.

Diese Biographie rückt neben Fontane selbst die Frauen, die realen seines Lebenskreises und die Sehnsuchtsgestalten seiner künstlerischen Phantasie, ins Zentrum der Betrachtung. Eine umfangreiche wie ungewöhnliche Bildauswahl gibt dem Band optischen Reiz und atmosphärische Dichte.

Eine gefährdete Kindheit in unsicheren Familienverhältnissen ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Biographie. Eindringlich schildert Edda Ziegler die Grunderfahrungen des jungen Fontane: die Gegensätzlichkeit der Eltern, die Zerrüttung der Ehe durch die Spielleidenschaft des Vaters, soziale Deklassierung und materielle Not am Rande der Armut. Die Sehnsucht nach Glück und Geborgenheit erfüllt sich dem Kind nur im Freiraum des Spiels und dem Romancier in der Gegenwelt seiner künstlerischen Phantasie. Diese biographische Konstellation verbindet die Autorin mit Thematik und Personal der Fontane'schen Romane. Die oft an wesentlich ältere Männer gebundenen attraktiven, vom Zauber des »Evatums« beseelten Kindfrauen stehen im Zentrum dieses erzählerischen Kosmos.

Von Gotthard Erler stammen die Kapitel über Fontanes Ehe, über den märkischen Wanderer, den Theaterkritiker und den Plauderer und Briefschreiber.

Aus den unterschiedlichen Perspektiven beider Autoren entsteht ein facettenreiches Bild von Leben und Werk des meistgelesenen deutschen Romanciers des 19. Jahrhunderts.

»Eine höchst verführerische ›Psychographie‹ eines Künstlerlebens. Verführerisch, weil man am Ende wirklich glaubt, Fontane besser zu verstehen.« Die Zeit

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Edda Ziegler
unter Mitarbeit von
Gotthard Erler

Theodor Fontane

Lebensraum und Phantasiewelt

Eine Biographie

Inhaltsübersicht

Über Edda Ziegler

Informationen zum Buch

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Prolog
To begin with the beginning

Kinderjahre
Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte

Das Bild der Eltern

Swinemünde: Poesie und Wirklichkeit

Panoptikumsbildung: Fontanes Schulzeit

Vom »Weißen Schwan« zum »Schwarzen Adler«
Fontane als Apotheker

In der Kleindichterbewahranstalt

Literarische Cafés

Kleindichterbewahranstalt: Die literarischen Vereine

Poet und Balladier: Fontanes literarische Anfänge

1848: Zwischen Tunnel und Barrikade

»Sicherheit ›is nich‹«
Von der Stabilität einer Schriftsteller-Ehe

Vom »Ciocciaren-Kind aus den Abruzzen« zum »Typus einer jungen Berlinerin«

Sieben Kinder in dreizehn Jahren

Psychogramm einer Ehe

Geistige Partnerin oder literarische Hilfskraft?

Journalist in preußischen Diensten

Im Literarischen Kabinett

Lehrjahre in England

Kreuzzeitungs-Zeit

»Der Herr hat heut Kritik«
Zwanzig Jahre Theaterkritik für die »Vossische Zeitung«

Hoftheater

Theater-Fremdling?

Parkettplatz

Fontanopolis
Fontanes literarisches Berlin

Berlin wird Weltstadt

Fontanopolis

»Man sieht nur, was man weiß«
»Wanderungen durch die Mark Brandenburg« – eine Legende

Ein Reiseverführer

Die Poesie der »Streusandbüchse«

»Ich und Mark-Bewunderung!«

Der Wanderer, der am liebsten fährt

Nur Schriftsteller

Rückzug nach vorn: Die Entscheidung zum freien Schriftstellertum

»Tüchtig gelobt und mäßig gekauft«: Als freier Schriftsteller auf dem Buchmarkt des Kaiserreichs

Sicherheitskommissarius: Die Verbindung zu Wilhelm Hertz

Naturalistisches Intermezzo: Der Verleger Wilhelm Friedrich

Friedrich Fontane & Co.: Der Familienverlag

Familienblätter

Literaturbettel: Fontanes finanzielle Situation

Romancier

»Vor dem Sturm«: Vom Wanderer zum Romancier

Herztöne: Die Gesellschaftsromane

Vaters Tochter
oder Zwischen Goldprinzessin und Linchen in der Fliederlaube 

Vaters Tochter

Nervenleiden: Metes Krankheit und Tod

Mete, Melusine und Mathilde

Frauengeschichten

»Übrigens alles Tatsache«: Frauenleben im Wilhelminischen Preußen

Mythus und Psychologie: Fontanes Frauenbilder

Literarische Tagträume

»Soupçon-Othello« und »Plaudertasche«
Der Causeur und Briefschwärmer und sein engerer Freundeskreis

»Das ewige Mistrauen«

»Gute Nummern« und »matte Pilger«

Plaudertasche und Epistolograph

Wie er ganz zuletzt war
Der alte Fontane

Lebensmusik: Der Stechlin

Herzschlag: Fontanes Tod

Fontane für Liebhaber

Familienzensur

Unter dem Hammer

Fontane-Liebhaber

Chronik

Quellennachweis

Bildnachweis

Impressum

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Wohlbewahrte Kindheit: Das Manuskript seines autobiographischen Romans »Meine Kinderjahre« hob Fontane in einem Exemplar der »Vossischen Zeitung« vom 28. März 1893 auf.
»Zu Weihnachten erschienen meine ›Kinderjahre‹ mit dem bekannten Erfolg meiner Bücher: tüchtig gelobt und mäßig gekauft.« (Tagebuch 1893)

Prolog
To begin with the beginning

»Meine Kinderjahre«, das Erinnerungsbuch des alten Fontane, entsteht in einer krisenhaften Lebenssituation. Die Arbeit an »Effi Briest« löst im Schreiber eine lebensbedrohliche Depression aus, in der altes Konfliktpotential noch einmal aufbricht. Er überwindet Schreibhemmung und Krise, indem er seine Kindheit aus dem Dunkel des Unbewußten hebt und sich mit ihr aussöhnt. An der Erinnerung hat Fontane sich gesund geschrieben. In ihrem Mittelpunkt steht die Zeit in Swinemünde, wohin die Familie zog, als Theodor, der Älteste, sieben Jahre alt war. Die Spiele des Kindes in Haus und Hof, an Strand und Strom werden zu Kernszenen seiner Autobiographie:

»Das Haus, zumal die eigentlichen Wohnräume, waren, das mindeste zu sagen, anfechtbar, entzückend aber waren Hof und Garten. […] Da spielten wir halbe Tage lang und legten Burgen an oder turnten am Reck oder brachen Planken aus dem Zaun und zogen auf Raub in die Nachbargärten. Schöner aber als alles das war, für mich wenigstens, eine zwischen zwei Holzpfeilern angebrachte, ziemlich baufällige Schaukel. Der quer überliegende Balken fing schon an, morsch zu werden, und die Haken, an denen das Gestell hing, saßen nicht allzu fest mehr. Und doch konnt ich gerade von dieser Stelle nicht los und setzte meine Ehre darin, durch abwechselnd tiefes Kniebeugen und elastisches Wiederemporschnellen die Schaukel derartig in Gang zu bringen, daß sie mit ihren senkrechten Seitenbalken zuletzt in eine fast horizontale Lage kam. Dabei quietschten die rostigen Haken, und alles drohte zusammenzubrechen. Aber das gerade war die Lust, denn es erfüllte mich mit dem wonnigen und allein das Leben bedeutenden Gefühle: Dich trägt dein Glück.«

Fontane-Leser kennen die Szene. Garten und Schaukel aus dem Swinemünder Elternhaus erscheinen – poetisiert und aristokratisiert – im Eingangskapitel von »Effi Briest«. Dort kündigt die kindhafte Heldin, ganz »Tochter der Luft«, noch in derselben Szene eine »Liebesgeschichte mit Entsagung« an, ihre eigene Geschichte. Hier, im Erinnerungsbuch, scheint der kindliche Held, der die lustvolle Gefahr des Steigens und Fallens auf schwankendem Grund ebenso sucht wie Effi, sein weibliches alter ego, noch geborgen im Urvertrauen »Dich trägt dein Glück«.

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Die Adler-Apotheke in Swinemünde, Hauptschauplatz der »Kinderjahre«. Foto, um 1870.

Die Frage: Was ist Leben, was ist Glück? beschäftigt Fontane ein Leben lang. »Gott, was ist Glück? Eine Grießsuppe, eine Schlafstelle und keine körperlichen Schmerzen – das ist schon viel!« So einfach wie im Romanfragment »Allerlei Glück« nimmt sich die Sache für die Gestalten der Fontaneschen Romane in der Regel nicht aus. Für sie mischt sich ins Glück meist störend die Notwendigkeit des Verzichts. Und schon das Kinderglück des kleinen Theodor steht auf brüchigem Fundament, denn die familiäre Realität läßt ihn Geborgenheit und Vertrauen oft schmerzlich vermissen. Das sorglos schaukelnde Kind aus der Autobiographie ist mehr Bild ungestillter Sehnsucht als erlebte Wirklichkeit. Dieser näher kommt die Unsicherheit, die das Auf und Ab der Schaukel auch vergegenwärtigt, ängstigend und anziehend zugleich. Der kleine Held der »Kinderjahre« ist diesem ambivalenten Spiel verfallen wie sein Vater, dessen Spielsucht die Familie zugrunde richtete. Doch des Kindes Spiele heißen nicht L’hombre, Whist, Boston und Pharao, sondern Schaukeln und Verstecken.

»[…] eigentliches Versteckspiel nach meiner damaligen Anschauung war etwas viel Großartigeres, Poetisch-Phantastischeres und jedenfalls gleichbedeutend mit einem völligen stundenlangen Verschwinden, wozu der riesige Heuboden, den wir auf unserem Hofe hatten, eine nicht zu übertreffende Gelegenheit bot. Bis unter den First eines langen Stallgebäudes lag das Heu dicht aufgeschichtet, und in die tiefen und engen Löcher, die sich hier und da zwischen den Dachbalken und der Heumasse befanden, ließ ich mich leise hinabgleiten. Da saß ich dann endlos, unter beständigem Herzklopfen, vor Enge und Schwüle beinahe erstickend und immer nur durch die glückselige Vorstellung aufrechterhalten: »Und wenn sie dich suchen bis an den Jüngsten Tag, sie finden dich nicht.« Und sie fanden mich auch wirklich nicht, gaben zuletzt alles Suchen auf, brachen das Spiel ab und gingen in die Küche, wo sie, Schemel und Fußbänke an den Herd rückend, unter Verwünschungen gegen mich ihr Vesperbrot verzehrten. Ich aber, wenn ich an dem Stillwerden in Hof und Garten merkte, daß man die Jagd auf mich aufgegeben hatte, wand mich aus meinem Heuloche wieder heraus und erschien nun unter ihnen mit dem Ausdruck höchster Geringschätzung. Ich tue wieder die Frage, worin wurzelt da das Glück?«

Wie beim Schaukeln so beim Verstecken: das Spiel ist Leidenschaft, ist Passion. Der Freiraum, den das Kind sich damit zu gewinnen sucht, hat seinen Preis. Der Wunsch nach Ungebundenheit, versinnbildlicht in der hochfliegenden Schaukel, wird mit Absturzgefahr erkauft; die scheinbare Geborgenheit in der Heuhöhle mit körperlicher Bedrängnis und sozialer Isolation. Doch die Lust am »völligen Verschwinden« verschafft dem Kind ein Gefühl von Macht über die, vor denen es sich verbirgt. Der Autor selbst sieht in diesen Erinnerungen Schlüsselszenen seiner Autobiographie:

»Ein verstorbener Freund von mir (noch dazu Schulrat) pflegte jungverheirateten Damen seiner Bekanntschaft den Rat zu geben, Aufzeichnungen über das erste Lebensjahr ihrer Kinder zu machen, in diesem ersten Lebensjahre ›stecke der ganze Mensch‹. Ich habe diesen Satz bestätigt gefunden, und wenn er mehr oder weniger auf Allgemeingültigkeit Anspruch hat, so darf vielleicht auch diese meine Kindheitsgeschichte als eine Lebensgeschichte gelten.«

Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte, Kinderspiel als Urszene literarischen Schaffens: Wie sich das Kind auf dem Dachboden des Elternhauses versteckt, um sich zumindest für ein paar Stunden aus einer problematischen Realität zu befreien, so verbirgt sich später der Schriftsteller in seiner fiktiven literarischen Welt, bereit, für diesen Ort innerer Geborgenheit eine unsichere Existenz mit materieller Not und sozialer Ausgrenzung auf sich zu nehmen. Wie das spielende Kind aus der Gemeinschaft der Gefährten und der Familie verschwindet in die Welt seiner Phantasie, so später der Romancier in das Versteck-Sprachspiel seiner Texte mit all ihren Anspielungen und untergründigen Beziehungen, Vieldeutigkeiten und offenen Stellen.

Der Ausbruch in einen Freiraum der Phantasie gibt schon dem Kind das Gefühl machtvoller Überlegenheit. In den wilden Seeräuberspielen und waghalsigen Verfolgungsjagden der »Kinderjahre« erscheint der kleine Theodor stets als unangefochtener, siegreich strahlender Held – ein Glück, das allerdings nur in der Einsamkeit dieser fiktiven Gegenwelten Bestand hat. Daß hinter dieser Lust am »völligen Verschwinden« aus der Realität auch ein Fluchtimpuls steckt, die Angst, erkannt zu werden in all den Fährnissen des eigenen Selbst, das bleibt unausgesprochen. Konfrontiert mit der Wirklichkeit, gerät dies illusionäre, dem Erzähler im Rückblick selbst fragwürdige Glück immer wieder in Gefahr. Es in die Realität hinüberzuretten erweist sich als schwierig. Aus der konflikthaften Ambivalenz beider Welten resultiert letztlich die Krisenhaftigkeit von Fontanes Existenz. Briefe und Tagebücher bezeugen immer wieder seine Selbstzweifel, denen er mit Spott, Ironie und Sarkasmus zu begegnen sucht und mit nüchterner Mitleidslosigkeit gegen sich selbst.

Die Versöhnung mit dem Kinder-Ich erst erlaubt ihm, dem Auf und Ab seiner Phantasiewelten nachzugeben. Erst damit ist das kreative Potential des Schriftstellers endgültig gesichert. Daß er fähig ist, es in den Mühen der täglichen Schreibarbeit mit unendlichem Fleiß umzusetzen ins literarische Werk, dazu hat wohl auch das an Ordnung, Leistung und sozialem Aufstieg orientierte Vorbild der Mutter beigetragen. Ihr steht Fontane allerdings bis zuletzt ziemlich reserviert gegenüber.

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»Meine Kinderjahre«, Blatt 2 des Manuskripts.

Nicht zufällig gelingt erst dem Fünfundsiebzigjährigen nach der späten Krise, in der die Absturzgefahr noch einmal bedrohlich nahe rückt, mit den »Kinderjahren« der erste Verkaufserfolg und mit »Effi Briest« das Meisterwerk, das ihn zum größten deutschen Romancier seines Jahrhunderts macht. Die Identität des Schriftstellers Fontane ist mit den Spielen des Kindes aufs engste verbunden.

»Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung, im Lichte zurechtgerückt«, schreibt er zu »Irrungen, Wirrungen«. Fügt man dem seine Deutung der eigenen Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte hinzu und sieht das Erinnern der Kindheit in eins mit der Entstehung von »Effi Briest«, so zeigt sich etwas vom inneren Zusammenhang zwischen Biographie und literarischem Werk. »Psychographie und Kritik«, Unbewußtes, geformt mit den Kräften des beobachtenden, ordnenden und wertenden Intellekts: so sieht Fontane, in einem für das Ende des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich modernen Verständnis des Schreibens, das Wesen seines Schriftstellertums, ja allen zeitgemäßen Erzählens. Der Zusammenhang mit der eigenen Biographie ist allerdings im Gefüge der Wörter, in geheimnisvollen Andeutungen und falschen Fährten, in Sackgassen und Irrwegen so gut verborgen wie das Kind im Dachgebälk des Elternhauses. Dort, wo es gelingt, ihn aufzudecken, wird sichtbar, daß, wie Franz Fühmann über Trakl sagt, »ein Dichter auch ein Mensch ist und nicht nur ein Mund«.

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Eintrag des Malers und Graphikers Theodor Hosemann in Fontanes Stammbuch. Hosemann und Fontane kannten sich aus dem »Tunnel über der Spree«.

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Das berühmte Schreibtisch-Foto des Berliner Ateliers Zander & Labisch von 1896.

Kinderjahre
Kindheitsgeschichte als Lebensgeschichte

»›Ich weiß schon. Du bist deines Vaters Sohn.‹

›Da hat er ganz gut gewählt‹, sagte mein Vater.

›Meinst du das wirklich, Louis?‹

›Nicht so ganz. Es war nur eine façon de parler.‹ ›Wie immer.‹«

»Meine Kinderjahre«, Gespräch der Eltern

»Es war […] eine glückliche Zeit gewesen; später – den Spätabend meines Lebens ausgenommen – hatt ich immer nur vereinzelte glückliche Stunden. Damals aber, als ich in Haus und Hof umherspielte und draußen meine Schlachten schlug, damals war ich unschuldigen Herzens und geweckten Geistes gewesen, voll Anlauf und Aufschwung, ein richtiger Junge, guter Leute Kind. Alles war Poesie. Die Prosa kam bald nach, in allen möglichen Gestalten, oft auch durch eigene Schuld.«

Wie, das hat Fontane im zweiten Band seiner Lebenserinnerungen, »Von Zwanzig bis Dreißig«, resümiert:

»Ich war unter Verhältnissen großgezogen, in denen überhaupt nie was stimmte. Sonderbare Geschäftsführungen und dementsprechende Geldverhältnisse waren an der Tagesordnung. In der Stadt, in der ich meine Knabenjahre verbracht hatte – Swinemünde –, trank man fleißig Rotwein und fiel aus einem Bankrott in den anderen, und in unsrem eignen Hause, wiewohl uns Katastrophen erspart blieben, wurde die Sache gemütlich mitgemacht, und mein Vater, um seinen eigenen Lieblingsausdruck zu gebrauchen, kam aus der ›Bredouille‹ nicht heraus. […] Alles in allem hatte ich, wenn ich von meiner Mutter – die aber ganz als Ausnahme dastand – absehe, […] wenig geordnete Zustände gesehn […]«

Dieser Gegensatz zwischen Poesie und Prosa, zwischen ersehnter Harmonie und problematischer Wirklichkeit enthält die innere Wahrheit von Fontanes Lebenserinnerungen.

Henri Théodore Fontane, getauft auf die Namensformen in der Tradition seiner französischen Vorfahren, kommt am 30. Dezember 1819 im Haus der Löwen-Apotheke zu Neuruppin zur Welt, als erstes der fünf Kinder Louis Henri Fontanes und seiner Frau Emilie, geb. Labry. In dem verschlafenen Nest Neuruppin, Zentrum der Grafschaft Ruppin in einem abgelegenen Nordzipfel Brandenburgs, einer der rückständigsten Gegenden Preußens, ja ganz Deutschlands, hat Fontane seine frühe Kindheit verbracht.

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Theodor Fontane. Kreidezeichnung von Georg Friedrich Kersting. Das früheste erhaltene Porträt entstand 1842/43 in Dresden, als Fontane Gehilfe in der Salomonis-Apotheke von Dr. Gustav Struve war.

Er selbst teilt wenig mit aus jenen ersten sechs Jahren. Doch dies wenige schon benennt den Konflikt, der seine Kindheit überschattet. Trotz anfänglich glücklicher Umstände zeigt sich bald, »was dieses Glück früher oder später gefährden mußte«, nämlich die wachsende Diskrepanz zwischen Temperament, Lebensauffassung und Lebenszielen der Eltern. Die Folgen dieses Zwiespalts haben letztlich nicht nur in den wirtschaftlichen Ruin geführt und die Kinder um Ausbildungsmöglichkeiten und Chancen für eine solide Existenzgründung gebracht, sondern die Ehe der Eltern und damit auch die Familie von innen her zerstört.

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Fontanes Geburtshaus, die Löwen-Apotheke in Neuruppin.

Das Bild der Eltern

Fontanes Eltern entstammen der Berliner französischen Kolonie, den »Refugiés«, hugenottischen Flüchtlingen, die Ende des 17. Jahrhunderts ihre Heimat verlassen hatten, weil ihnen ein Edikt Ludwigs XIV. die Religionsfreiheit und bürgerliche Gleichberechtigung wieder entzog, die den französischen Calvinisten, den sogenannten Reformierten, seit 1598 zugesichert waren. Die »Refugiés« waren im Ausland allgemein gern aufgenommen worden; weniger aus religiöser Toleranz als ihrer Tüchtigkeit und ihres hohen wirtschaftlichen, handwerklichen und kulturellen Niveaus wegen – Fähigkeiten, die überall in den verwüsteten Ländern Mitteleuropas nach dem Dreißigjährigen Krieg gebraucht wurden. So auch in Brandenburg-Preußen unter Friedrich Wilhelm, dem »Großen Kurfürsten«.

Die französische Kolonie, die sich, geschützt durch das Potsdamer Edikt von 1685, vor allem in Berlin gebildet hatte, gedieh, ausgestattet mit speziellen Rechten, wie ein Staat im Staate und entwickelte nicht nur ein starkes Gemeinschaftsgefühl, sondern auch ein hohes Selbstbewußtsein. Dieser soziale Sonderstatus der Berliner »Kolonie« (um 1700 soll jeder fünfte Berliner ein »Refugié« gewesen sein) besteht weiter bis in Fontanes Zeit, auch als die politischen Privilegien durch Napoleon bereits aufgehoben sind. Man pflegt die französische Sprache, ein eigenes gesellschaftliches Leben – vor allem aber das Bewußtsein, »Refugié« zu sein.

Auch die Fontanes berufen sich gern auf solch stolze Tradition, obwohl diese zur Familienrealität in demselben Mißverhältnis steht wie das spezifisch Romanische des Familienerbes zu den tatsächlichen Kenntnissen französischer Sprache, Literatur und Kultur. Man hält zwar darauf – so pointiert Fontanes Sohn Friedrich die Haltung –, den ursprünglichen Familiennamen Fontaine, der seit vier Generationen eingedeutscht ist, nach wie vor mit französischem Anklang, d. h. mit Nasallaut und stummem e auszusprechen – jedoch mit Betonung auf der ersten Silbe und nur »an Sonn- und Feiertagen«.

Fontane ist zwar in der Französischen Reformierten Gemeinde Berlins getauft, getraut und auf deren Friedhof begraben, dem Gesellschaftsleben der »Kolonie« aber steht er eher distanziert gegenüber. Seine südfranzösische Abstammung jedoch hält er, bis hin zur Vorliebe für die Nixengestalt der Melusine aus südfranzösischem Geschlecht, stets als besonderes, ihn auszeichnendes Erbe in Ehren.

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Lebende Bilder am Festabend des 29. Oktober 1885 in der Berliner Philharmonie. Für die Feier des 200. Jahrestages des Edikts von Potsdam schrieb Fontane den Prolog und die verbindenden Texte zu den sechs Bildern.

Die Vorfahren der Fontanes kamen aus dem südwestlichen Frankreich: die Fontaines aus der Saintogne, die Labrys aus dem Languedoc. Jacques François Fontaine, ein Strumpfwirker aus Nîmes, ließ sich zunächst in Eberswalde, dann in Berlin nieder. Einer seiner Söhne war Zinngießer, ebenso sein Enkel Pierre Barthélemy, auf den die Eindeutschung des Familiennamens zurückgeht. Dessen Sohn, Pierre Barthélemy Fontane jun., avancierte, offenbar seiner guten Französischkenntnisse wegen, vom Zeichenlehrer der Kinder König Friedrich Wilhelms II. zum Privatsekretär der Königin Luise. Dieser vielseitig begabte, agile, wenn auch – einer süffisanten Bemerkung Schadows nach – »schlecht malende« Mann war Fontanes Großvater. Durch ein nervöses Augenleiden berufsunfähig geworden, erhielt er, als eine Art »Austrag«, die Stelle des Kastellans von Schloß Niederschönhausen. Drei Ehen hatten ihm zu Vermögen und Grundbesitz in Berlin verholfen. Er starb als wohlhabender und angesehener Rentier.

Der ersten dieser Ehen, der mit Louise Sophie Deubel, Tochter aus gutsituierter westfälischer Familie, entstammte Louis Henri, Fontanes Vater. Er wurde 1796 in eine politisch und wirtschaftlich unruhige Zeit hineingeboren und hat, wie sein Halbbruder August, mit dem künstlerischen Familientalent auch einen Zug ins Unrealistische, hin zu Phantasterei und Hochstapelei, übernommen. Schon früh scheint er ein Draufgänger und Leichtfuß gewesen zu sein, dessen Lebensneugier und Abenteuerlust den Sinn für Schul- und Berufsausbildung weit überwogen. Das berühmte Berliner Gymnasium »Zum Grauen Kloster« verließ er nach drei Jahren ohne Abschluß. Die Ausbildung zum Apotheker, einem Beruf, für den es weder familiäre Vorbilder noch Anzeichen eigenen Interesses gab, war wohl eher eine Verlegenheitslösung. Der junge Mann hat seine Lehrzeit denn auch gern unterbrochen, um an den Befreiungskämpfen von 1813/14 als Freiwilliger teilzunehmen – seiner eigenen Einschätzung nach mehr aus dem Bedürfnis nach Abwechslung denn aus Patriotismus, zumal er sein Leben lang Napoleonschwärmer war.

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Der Vater Louis Henri Fontane, 63jährig, neun Jahre nachdem seine Frau sich von ihm getrennt hatte. Bleistiftzeichnung des Oderbruchmalers Helmuth Raetzer, 1859.

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Die Mutter Emilie Fontane im Alter von 20 Jahren, kurz nachdem sie Louis Henri Fontane kennengelernt hatte. Pastellporträt von Pierre Barthélemy Fontane, dem Großvater des Dichters, 1817.

1819 legte Louis Henri nach Lehr- und Gehilfenzeit das Staatsexamen II. Klasse ab, damals eine reine Formsache, kaufte die Löwen-Apotheke in Neuruppin, heiratete nach kurzer Verlobungszeit und fand sich, eben dreiundzwanzigjährig, als selbständiger Geschäftsmann und Familienvater wieder, in Aufgaben und Verantwortung, für die er nicht ausreichend vorbereitet war. Er selbst hat sein späteres berufliches und mehr noch sein privates Scheitern auf diese zu frühe, überstürzte Familien- und Existenzgründung zurückgeführt: »Schuld war […] meine Jugend und […] neben meiner Jugend meine Unschuld. Ich war wie das Lämmlein auf der Weide, das rumsprang, bis es die Beine brach.«

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Ansicht von Neuruppin. Stahlstich von Johann Poppel und Georg Kurz nach einer Zeichnung von Julius Gottheil.

Auch die Vorfahren Emilie Labrys hatten es – durch Gründung einer Seidenspinnerei – zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Emilie verlor früh den Vater und wurde von der Mutter, die aus einer märkischen Beamtenfamilie kam, ganz im Geist der »Kolonie« erzogen, wobei Repräsentation, Reputation und Besitz als oberste Werte rangierten. Auch die Mutter starb früh, und Emilie lebte einige Jahre in einem angesehenen Pensionat der »Kolonie« von den Zinsen des ererbten Vermögens, bevor sie Louis Henri nach kurzer Bekanntschaft als Einundzwanzigjährige heiratete.

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Das Haus in Schiffmühle, wo der Vater von 1855 bis zu seinem Tod am 5. Oktober 1867 lebte.
»Er wohnte damals, schon zehn oder zwölf Jahre lang, in Nähe von Freienwalde, und zwar in einer an der alten Oder gelegenen Schifferkolonie, die den Namen ›Schiffmühle‹ führte und ein Anhängsel des Dorfes Neu-Tornow war.« (»Meine Kinderjahre«)

Jung zu heiraten war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen nichts Ungewöhnliches, lebten die jungen Paare doch in der Regel weiter in Schutz und Verbund von Großfamilie und Verwandtschaft. Mit Fontanes Eltern jedoch hatten zwei junge Leute zusammengefunden, die ohne solch familiäre Geborgenheit aufgewachsen waren: Emilie als Waise, Louis Henri wegen des frühen Tods seiner Mutter und der beiden weiteren Ehen seines Vaters. Dies mag die beiden füreinander attraktiv gemacht haben aus der Sehnsucht heraus, in einer eigenen Familie den entbehrten Schutz und Halt finden und geben zu können. Wie sehr sie danach suchten, zeigt das Verlangen, sich, legitimiert durch echten »Kolonistenstolz«, auf die Herkunft aus bedeutenden Familien zu berufen, und zwar nicht nur der ohnehin zum Phantastischen neigende Louis Henri, sondern – zu Fontanes nachdrücklicher Verwunderung – auch die »ganz auf Verständigkeit und beinah Nüchternheit gestellte Mutter«.

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Blick vom Vaterhaus in Schiffmühle auf Freienwalde. Stahlstich von Johann Poppel und Georg Kurz nach einer Zeichnung von Julius Gottheil, 1858.
»Genau da, wo eine prächtige alte Holzbrücke den von Freienwalde her heranführenden Dammweg auf die Neu-Tornowsche Flußseite fortsetzte, stand das Haus meines Vaters.« (»Meine Kinderjahre«)

Dieses vergebliche Bemühen um ideellen Halt in einer berühmten Ahnenreihe macht deutlich, wie weit Wunsch und Wirklichkeit in dieser Ehe, in den Lebensvorstellungen der Eltern und ihren wechselseitigen Erwartungen auseinanderklaffen – eine Grundkonstellation, die sich in Fontanes eigener Ehe bis hin zu Aussehen, Charakter und Psyche der Partner wiederholt. Auf der einen Seite der Vater, »ein großer stattlicher Gascogner voll Bonhomie, dabei Phantast und Humorist, Plauderer und Geschichtenerzähler, und als solcher, wenn ihm am wohlsten war, kleinen Gasconaden nicht abhold«. Auf der anderen Seite die Mutter, »ein Kind der südlichen Cevennen, eine schlanke, zierliche Frau von schwarzem Haar, mit Augen wie Kohlen, energisch, selbstsuchtslos und ganz Charakter, aber […] von so großer Leidenschaftlichkeit, daß mein Vater halb ernst-, halb scherzhaft von ihr zu sagen liebte: ›Wäre sie im Lande geblieben, so tobten die Cevennenkriege noch.‹«

Diese Gegensätze in Typus und Wesen, die anfangs als ersehnte Ergänzung des eigenen Ich besonders attraktiv gewirkt haben mögen, werden im Ehealltag mehr und mehr zur Ursache von Enttäuschung, Streit und Entfremdung. Fontane, der selbst viel darauf hält, »guter Leute Kind« zu sein, hat die »vorbildliche Gesinnung« beider Eltern vielmals betont: die Rechtschaffenheit und Vernunft der Mutter, die »Humanität« des Vaters. Und doch gelingt es beiden trotz besten Willens nicht, sich und ihren Kindern eine gesicherte bürgerliche, geschweige denn eine glückliche Existenz zu schaffen.

Die Hauptursache dafür liegt in Louis Henri Fontanes mangelndem Realitätssinn, seiner geschäftlichen Unfähigkeit, seiner Spiel- und Vergnügungssucht, Eigenschaften, die dazu führen, daß er jede der vier Apotheken, die er in immer entlegeneren Orten – nach Neuruppin in Swinemünde, dann in Mühlberg an der Elbe und schließlich in Letschin im Oderbruch – erwirbt, seiner Schulden wegen wieder verkaufen muß und daß seine Frau sich schließlich 1847 auf immer von ihm trennt.

Emilie Fontane geht mit der jüngsten Tochter zurück nach Neuruppin, dem Ausgangsort ihrer Ehe und ihrer Hoffnungen. Hier versucht sie, nun ihrerseits am Rande dessen, was der Anstandskodex der Zeit einer Dame jenseits der Fünfzig zubilligt, im gesellschaftlichen Umgang mit der dortigen Garnison etwas von dem nachzuholen, was zu leben ihr versagt geblieben ist in der Ehe mit einem Mann, der die kindlichen, auf Lust und Vergnügen gestellten Seiten des Daseins ganz für sich in Anspruch genommen hat. Sie stirbt 1869 im Alter von 72 Jahren.

Louis Henri Fontane findet, nachdem er das verschuldete Geschäft 1850 an den Schwiegersohn übergeben hat, seine letzte Bleibe in einem Häuschen, das er in Schiffmühle am nordwestlichen Rand des Oderbruchs, einer gottverlassenen Gegend, erworben hat. »Von welchen Erträgen […]«, schreibt Fontane, »weiß ich bis diesen Tag nicht, denn als er es kaufte, war er nicht eigentlich mehr ein Mann der Häuserkaufmöglichkeiten.« Dort stirbt der Vater 1867, ebenfalls 72jährig, in der Einsamkeit und Langeweile, die zu vertreiben er seine ganze Existenz aufs Spiel gesetzt hat.

Private Lebensdokumente Fontanes, vor allem seine Briefe, bezeugen, daß er die Verhältnisse im Elternhaus seiner Kinderzeit als Erwachsener klar erkannt und kritisch-distanziert gewertet hat. Er sieht die Schuld des Vaters an Verwirrung und Zusammenbruch durchaus geordneter Ausgangsbedingungen und die tiefgreifenden Folgen für sein eigenes Leben ebenso deutlich wie die bei aller Härte und Strenge berechtigten Versuche der Mutter, dem korrigierend entgegenzuwirken. Doch obwohl er ihren positiven Einfluß wahrnimmt und ihr in späteren Jahren herzlich verbunden ist, zeigen die Kindheitserinnerungen für die Mutter kaum mehr als Respekt: Achtung vor ihrer »Superiorität« und vernünftige Einsicht darein, »daß sie recht hatte«. Die Liebe des Kindes wie des alten Fontane aber gehört dem Vater. In seinen Gefährdungen wie in seinen guten Seiten bleibt er ihm zeitlebens Vorbild und Bezugspunkt. Das Abschiedskapitel aus den »Kinderjahren«, in dem Fontane seinen letzten Besuch beim Vater und sein letztes, die vergangenen Zeiten reflektierendes Gespräch mit ihm schildert, ist dafür der überzeugendste und anrührendste Beweis. »Väter werden fast immer vergessen«; diese nicht ohne Koketterie formulierte Schlußsentenz aus den »Poggenpuhls« hat niemand eindrucks- und liebevoller widerlegt als Fontane selbst.

Swinemünde: Poesie und Wirklichkeit

Die glücklichste Zeit seiner Kindheit sieht Fontane, auch hierin ganz der Perspektive des Vaters folgend, mit dem Verkauf der Löwen-Apotheke in Neuruppin Ostern 1826 anbrechen. Daß der Vater das, was er nur sieben Jahre zuvor unter günstigsten finanziellen Bedingungen zur Gründung einer selbständigen Existenz erworben hatte, so schnell wieder aufgibt, ohne ein neues, konkretes Ziel vor Augen, ist nur aus dem Wesen Louis Henri Fontanes zu verstehen. Zum einen kann er mit dem hohen Verkaufspreis seine mittlerweile aufgelaufenen Schulden tilgen; zum anderen wähnt er endlich die große Freiheit nahen, die er in der nun beginnenden »Interimszeit« während der Suche nach der nächsten Apotheke auch weidlich genießt. Seiner Frau Emilie aber, die diese Zwischenzeit mit vier kleinen Kindern, bangend vor einer ungewissen Zukunft, in der Mietwohnung eines Schlächterhauses überstehen muß, gilt der Auszug aus der Löwen-Apotheke – zumindest im Rückblick – als Anfang allen familiären Verhängnisses.

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Das obre Bollwerk in Swinemünde, Lieblingsspielplatz des kleinen Theodor »an Strom und Strand«. Stich von Rosmäsler, 1834.

Zu Johanni 1827 zieht die Familie nach Swinemünde, wo der Vater mittlerweile die Adler-Apotheke erworben hat. In seiner optimistischen Sicht gerät das Ostseestädtchen zum reinen Glücksort, und Pommern, nach gängigem Berliner Vorurteil der Inbegriff für provinzielle Enge und Langeweile, erscheint ihm als »eigentlich eine Prachtprovinz und viel reicher als die Mark. Und wo die Leute reich sind, lebt es sich auch am besten. Swinemünde selbst ist zwar ungepflastert« – und damit hinlänglich der Rückständigkeit überführt –, »aber Sand ist besser als schlechtes Pflaster […]«

Emilie Fontane teilte die optimistische Sicht ihres Mannes schon damals nicht mehr. Eine »Nervenkur« zur Behandlung psychosomatischer Beschwerden, aus der man sie mit dem so wohlfeilen wie unrealistischen Rat entläßt, »sich unangenehmen Eindrücken möglichst zu entziehen«, hält sie zunächst in Berlin zurück. Die vier Kinder mit dem siebenjährigen Theodor als Ältestem kommen mit dem Vater allein in der neuen, vorerst fremden Heimat an. Das dem Kind unwirtlich, ja unheimlich erscheinende Haus, vom Vater wie »die Katze im Sack« gekauft, wird bis zur Ankunft der Mutter im Herbst gründlich renoviert und so wohnlich wie möglich gemacht. Dem kleinen Theodor wird dieses Haus mit seinem niedrigen First und seinem riesigen, fünfstöckigen Dach zum unerschöpflichen Spielplatz seiner Phantasie.

Die fünf Knabenjahre im weltoffenen, malerischen Swinemünde verdichten und verklären sich im Rückblick – scharf kontrastiert gegen das prosaisch-preußische Ruppin – zum poetischen Mittelpunkt dieser Kindheit. Viele Szenen und Personen, Orte und Bilder finden sich später, literarisch verwandelt, in Fontanes Romanwelt wieder. Swinemünde selbst und die Adler-Apotheke erscheinen in Effi Briests Kessin mit dem landrätlichen Spukhaus und der angstauslösenden Diskrepanz zwischen Sein und Schein seiner Bewohner, vor allem aber in der berühmten Eingangs- und Schaukelszene. Die Abenteuerspiele gehen in den »Likedeeler«-Plan ein, das gefahrvolle Springen des Kindes auf den Eisschollen der winterlichen Oder in die Schlittschuhfahrt auf brüchigem Eis, zu der Ebba von Rosenberg in »Unwiederbringlich« den ihr verfallenen Holk verführt. Die unvergeßliche nächtliche Wagenfahrt, zu der Louis Fontane seinen Ältesten ohne jede Vorbereitung und Sicherung in den Fußsack steckte, der vorn auf dem Wagen lag – »Ich bin nie wieder so gefahren; mir war, als reisten wir in den Himmel« –, mag die Urszene sein für die ungezählten Wagen- und Schlittenfahrten in Fontanes Romanen. Seien es so hoffnungsvoll geborgene wie die Heimfahrt des jungen Lewin von Vitzewitz unter weihnachtlichem Sternenhimmel oder so existentiell bedrohliche wie die nächtliche Schlittenfahrt Effi Briests mit ihrem Verführer.

Gefährdetes Glück, schwierige Ehen, zerbrechliche Liebesbeziehungen, im Mittelpunkt stets Frauenfiguren, oft geheimnisvoller Herkunft oder früh verwaist, häufiger noch mutterlos, Frauen, die in Konflikt geraten mit dem gesellschaftlichen Moralkodex; dazu einsame, auffallend oft verwitwete, väterliche Männer: Die Thematik des Romanwerks kreist stets von neuem um den Grundkonflikt von Fontanes Kindheit und die aus ihr geborene Grundkonstellation seiner Ehe und Familie.

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Im Weihnachtsurlaub.
Farbholzstich nach einem Gemälde von Ludwig Blume-Siebert, 1894.

Fontanes Geschwister, der um zwei Jahre jüngere Rudolf, die drei Jahre jüngere Jenny und der 1826 geborene Max, spielen in den Lebenserinnerungen eine untergeordnete Rolle. Das Nesthäkchen Elise, 1838 geboren, als Theodor schon alt genug ist, ihr Taufpate zu sein, macht dabei die Ausnahme. Für die drei anderen aber scheint zu gelten, was Fontane später seinem Grafen Petöfy in den Mund legt: »Geschwister kennen sich eigentlich überhaupt nicht.« In den »Kinderjahren« jedenfalls werden sie nahezu völlig ignoriert. Keines von ihnen gewinnt individuelle Züge; zu keinem zeigt sich Fontane in einer persönlichen Beziehung. Auch diese Konstellation wiederholt sich in den Romanen. Kinder, sofern überhaupt vorhanden, bleiben meist am Rande des Geschehens. Die selbst oft noch kindhaften Heldinnen zeigen an ihren eigenen Kindern, fast ausschließlich Mädchen, auffallend wenig Interesse. Und wie im literarischen Kosmos so in der Autobiographie: Kinder bzw. Geschwister erscheinen bestenfalls als Statisten für den strahlenden Helden, der Mutter blondlockiges Vorzeigekind Theodor.

In der familiären Wirklichkeit fehlt es oft an der ersehnten Geborgenheit. Schon der Siebenjährige wird häufig Zeuge elterlicher Auseinandersetzungen von existentieller Bedrohlichkeit. Er hat die verzweiflungsvolle Härte der Mutter ebenso auszuhalten wie die Schwäche des weinenden Vaters.

»Er lag dann […] ausgestreckt auf dem Sofa, aber auf seinen Arm gestützt und sah, durch das Gezweig eines vor dem Fenster stehenden schönen Nußbaumes, in das über den Nachbarhäusern liegende Abendrot. Ein paar Fliegen summten um ihn her, sonst war alles still, vorausgesetzt, daß nicht gerade der Kohlenprovisor an seinem Mörser stand und stampfte. Wenn ich dann an das Sofa herantrat und seine Hand streichelte, sah ich, daß er geweint hatte. Dann wußte ich, daß wieder eine ›große Szene‹ gewesen war, immer in Folge von phantastischen Rechnereien und geschäftlichen Unglaublichkeiten, um derentwillen man ihm doch nie böse sein konnte. Denn er wußte das alles und gab seine Schwächen mit dem ihm eignen Freimut zu. Wenigstens später, wenn wir über alte Zeiten mit ihm redeten. Aber damals war das anders, und ich armes Kind stand, an der Tischdecke zupfend, verlegen neben ihm und sah, tief erschüttert, auf den großen, starken Mann, der seiner Bewegung nicht Herr werden konnte. Manches war Bitterkeit, noch mehr war Selbstanklage. Denn bis zu seiner letzten Lebensstunde verharrte er in Liebe und Verehrung zu der Frau, die unglücklich zu machen sein Schicksal war.«

Panoptikumsbildung: Fontanes Schulzeit

Von konsequenter Erziehung und Bildung kann in derart konflikthaften Verhältnissen und in einer Zeit, die es mit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht vielerorts noch nicht so genau nimmt, kaum die Rede sein. Nicht nur weil die Eltern Fontane auch in Erziehungsfragen kontroverse Auffassungen vertreten, sondern vor allem weil ein gewisses »laissez faire« gegenüber dem Wert schulischer Ausbildung familiäre Tradition hat. Als Fontanes eigener Sohn Theodor 1875 als Jahrgangsbester sein Abitur ablegt, kommentiert der stolze Vater dies als singuläres Ereignis:

»Mein lieber alter Theo. Ich glaube nicht nur, daß Du der erste ›primus omnium‹ in der Familie bist, ich bin dessen gewiß. Nach meiner nun durch 4 Generationen gehenden Kenntnis zählt es zu den fragwürdigen Vorzügen unsres Geschlechts, daß nie ein Fontane das Abiturientenexamen gemacht, geschweige vorher die Stelle des primus omnium bekleidet hat. Der Durchschnitts-Fontane […] ist immer aus Oberquarta abgegangen und hat sich dann weitergeschwindelt, das beste Teil seiner Bildung aus Journalen 3. Ranges zusammenlesend.« (27. März 1875)

Auch Fontanes Mutter kommt es, »ihrer aufrichtigsten Überzeugung nach, im Leben auf ganz andere Dinge an als auf Wissen oder gar Gelehrsamkeit, und diese anderen Dinge hießen: gutes Aussehen und gute Manieren. […] Ernste Studien erschienen ihr nicht als Mittel, sondern umgekehrt als Hindernis zum Glück, zu wirklichem Glück, das sie von Besitz und Vermögen als unzertrennlich ansah.« Dem Vater fehlt es neben der Achtung vor regelrechter Bildung vor allem auch an der Konsequenz, eine solche für seine Kinder zu planen und durchzusetzen. Und so bleibt deren Schulbildung »Stückwerk«, »Panoptikumsbildung«.

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Gymnasium in Neuruppin, das Fontane 1832/33 besuchte. Foto um 1880.

Schon die erste Bekanntschaft Fontanes mit der Institution Schule in Gestalt der Stadtschule von Swinemünde hat episodenhaften Charakter, weil sie der Mutter als zu wenig standesgemäß erscheint. Da sich um einen angemessenen Privatunterricht niemand kümmert, treten anstelle der öffentlichen Schule sporadische Lehrstunden bei den Eltern: »täglich eine Stunde bei meiner Mutter lesen« und »einige lateinische und französische Vokabeln […], dazu Geographie und Geschichte« beim Vater. Später nimmt der junge Fontane am Privatunterricht in einer befreundeten Honoratiorenfamilie mit häufig wechselnden Hauslehrern teil. Sein eigentlicher Lehrer jedoch, das hat Fontane vielfach betont, bleibt der Vater. An dessen »sokratischer«, d. h. durch Fragen assoziativ aufs Anekdotische zielender »Methode« hat sich, bei aller Kritik an der »Examensfähigkeit« des dabei erworbenen Wissens, sein eigenes historisches Interesse und sein Erzähltalent entzündet und gebildet:

»[…] wenn ich gefragt würde, welchem Lehrer ich mich so recht eigentlich zu Dank verpflichtet fühle, so würde ich antworten müssen: meinem Vater, meinem Vater, der sozusagen gar nichts wußte, mich aber mit dem aus Zeitungen und Journalen aufgepickten und über alle möglichen Themata sich verbreitenden Anekdotenreichtum unendlich viel mehr unterstützt hat als alle meine Gymnasial- und Realschullehrer zusammengenommen.«

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Letzte Seite eines Schulhefts des zehnjährigen Fontane mit einem Abriß europäischer Geschichte, 1830.

Zu Ostern 1832 ist es mit diesem freien Lernen endgültig vorbei. Fontane tritt als Pensionär des Superintendentenhauses in die Quarta des Neuruppiner Gymnasiums ein. Schon anderthalb Jahre später, im Oktober 1833, wechselt der Vater die Ausbildungsrichtung. Die Gewerbeschule des angesehenen Geographen und Heimatforschers Karl Friedrich von Klöden in Berlin, in die er seinen Ältesten nun schickt, war eine damals sehr moderne, wegen ihrer realitätsbezogenen naturwissenschaftlichen Ausrichtung nicht unumstrittene Neugründung. Sie bereitete auf den Beruf, nicht auf ein Studium vor, war also explizit konzipiert als Alternative zum humanistischen Gymnasium. Mit dieser Wahl war der Gedanke an ein Studium faktisch aufgegeben und der Grund für Fontanes lebenslang beklagte Bildungsmisere und seinen mehr als schwierigen beruflichen Start gelegt, zumal da auch dieser zweite Bildungsweg nach drei Jahren zugunsten einer Apothekerlehre vorzeitig abgebrochen wird. Im März 1836 verläßt Fontane die Schule mit dem »Einjährigen«, vergleichbar der heutigen »mittleren Reife«.

»Was ich […] mitbrachte, war etwa das Folgende: Lesen, Schreiben, Rechnen; biblische Geschichte, römische und deutsche Kaiser; Entdeckung von Amerika, Cortez, Pizarro; Napoleon und seine Marschälle; die Schlacht bei Navarino, Bombardement von Algier, Grochow und Ostrolenka; Pfeffels ›Tabakspfeife‹, ›Nachts um die zwölfte Stunde‹, Holteis Mantellied und beinah sämtliche Schillersche Balladen. Das war, einschließlich einiger lateinischer Brocken, so ziemlich alles, und im Grunde bin ich nicht recht darüber hinausgekommen. Einige Lücken wurden wohl zugestopft, aber alles blieb zufällig und ungeordnet, und das berühmte Wort vom ›Stückwerk‹ traf auf Lebenszeit buchstäblich und in besonderer Hochgradigkeit bei mir zu.«

Mit dieser ironisch-ernüchterten Bilanz endet der Bericht einer poetisch-verklärten Kindheit. Es beginnt die Prosa eines Alltagslebens im preußischen Vormärz. In »Halbheit, Zerfahrenheit und Verwirrung« sieht Fontane später den Charakter dieser Zeit. Deutlicher noch als die allgemeine gesellschaftliche Situation der zwanziger und dreißiger Jahre kennzeichnet er damit seine individuelle. Der abrupte Wechsel aus phantasievoller Kinderwelt in eine dürre Fremde um einer in sich fragwürdigen und wenig konsequenten Schulbildung willen muß den Vierzehnjährigen verwirren; zumal wenn er dabei in Verhältnisse gerät wie die bei seinem Onkel August.

August Fontane, bei dem Theodor während der beiden Jahre auf der Gewerbeschule wohnt, ist schon damals eine zwielichtige Existenz, gescheitert als Maler und Schauspieler, scheiternd auch als Kaufmann mit einem Geschäft für Malereibedarf. Mit ihm und seiner Frau, »Tante Pinchen«, einer ehemaligen Schauspielerin, erlebt der junge Fontane einen zweiten gesellschaftlichen Absturz, den aus der Burgstraße 18, einer Adresse in bester Umgebung, in eine schäbige Mietskaserne in der Großen Hamburger Straße, in die Nachbarschaft von Bankrotteuren, dubiosen »Künstlern« und Prostituierten, lauter gescheiterten Existenzen. Er macht gezwungenermaßen Bekanntschaft mit Verhältnissen auf der Kehrseite des Biedermeier, denen man einen Vierzehnjährigen nicht ohne Not ausgesetzt sehen möchte.

Unbeaufsichtigt, ohne hilfreiches Vorbild ganz auf sich selbst angewiesen, beginnt der Junge denn auch, die Schule zu schwänzen und sich herumzutreiben – voller Neugier auf das Leben der großen, fremden Stadt und mit ganz gezieltem Interesse für alle Neuigkeiten, vor allem für die ihm fremde neueste Literatur, die er in den Journalen der Caféhäuser verschlingt. Emotionale Zuwendung findet er bei einer Spielgefährtin aus der Nachbarschaft, einem fremdartig wirkenden Mädchen geheimnisvoller Herkunft und unwiderstehlicher Anziehungskraft, das als Pflegekind unter ähnlichen Umständen aufwächst wie er selbst: Emilie Rouanet, seiner späteren Frau.

Kurz bevor Fontane die Schule verläßt, endet Onkel Augusts Berliner Leben in einer Katastrophe. Er hat ihm anvertraute Mündelgelder veruntreut und setzt sich, um der Justiz zu entgehen, Hals über Kopf nach Amerika ab.