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INHALT

Widmung

Zitat

12. April 1844

New York City

Kapitel 1 – Tess

Kapitel 2 – Theo

Kapitel 3 – Jaime

Kapitel 4 – Duke

Kapitel 5 – Tess

Kapitel 6 – Theo

Kapitel 7 – Jaime

Kapitel 8 – Karl

Kapitel 9 – Tess

Kapitel 10 – Theo

Kapitel 11 – Nine

Kapitel 12 – Jaime

Kapitel 13 – Tess

Kapitel 14 – Theo

Kapitel 15 – Jaime

Kapitel 16 – Duke

Kapitel 17 – Tess

Kapitel 18 – Theo

Kapitel 19 – Jaime

Kapitel 20 – Karl

Kapitel 21 – Tess

Kapitel 22 – Theo

Kapitel 23 – Jaime

Kapitel 24 – Tess

Kapitel 25 – Cricket

Kapitel 26 – Theo

Kapitel 27 – Jaime

Kapitel 28 – Candi/Ashli/Toni/Tammi/Lori/Laci/Lu

Kapitel 29 – Tess

Kapitel 30 – Theo

Kapitel 31 – Jaime

Kapitel 32 – Duke

Kapitel 33 – Tess

Kapitel 34 – Theo

Kapitel 35 – Jaime

1953/1972/1979/2005/2007/? – Grandpa Ben

Danksagung

Reihenhinweis

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

 

 

 

 

 

Für meinen Vater, Richard Ruby
1939–2018

 

 

 

 

 

Welch seltsame Dinge findet man nicht in einer großen
Stadt, wenn man herumzukommen und zu beobachten weiß!
Das Leben wimmelt von unschuldigen Ungeheuern!

Charles Baudelaire: Gedichte in Prosa

12. APRIL 1844

Wenn Geld glücklich machen würde, dann hätten die reichsten New Yorker zu den glücklichsten Menschen der Stadt gehören müssen. Oder sogar der ganzen Welt. Stattdessen waren sie häufig die unzufriedensten – diejenigen, die das Größte und Beste besaßen, schrien immer nach etwas Größerem und Besserem. Sie kämpften um Grundstücke mit dem besten Blick auf den Fluss, Eintrittskarten für die besten Vorstellungen, Reservierungen in den besten Restaurants und Einladungen bei den wichtigsten Menschen.

Und in ganz New York war niemand wichtiger als die Morningstar-Zwillinge: Ingenieure, Erfinder, Genies – mit dem Ruf, köstliches Essen zu servieren und die exzentrischsten Gäste an ihren Tisch zu laden. Bei den Morningstars wusste man nie, neben wem man sitzen würde: einem glühenden Gegner der Sklaverei, einem Wahrsager aus dem Zirkus, einer Schweizer Opernsängerin, einem chinesischen Würdenträger, einer Cellistin, einer Piratin. Man konnte vielleicht Theodore Morningstar dabei belauschen, wie er religiöse Glaubenslehren mit einem Bischof diskutierte, oder wie Theresa Morningstar im Gespräch mit einem Universitätspräsidenten für die Bildung der Frauen eintrat, während eine mechanische Ritterrüstung Kartoffelpüree auf die Teller schaufelte. Ganz egal, wer auf der Gästeliste stand oder was für den besagten Abend geplant war, eins war sicher: Jeder, der einmal eine der seltenen Dinnerpartys der Morningstars besucht hatte, konnte anschließend eine Geschichte erzählen.

Doch im Gegensatz zu den meisten Morningstar-Gästen dachte Miss Millicent »Millie« Munsterberg nicht an die Geschichten, die sie anschließend würde erzählen können. Nein, die Fünfzehnjährige schob Buttermöhren auf ihrem Teller herum und fragte sich, warum sie einen schönen Samstagabend mit einem Haufen Langweilern und Spinnern verbringen musste. Sogar die hübsche junge Frau, die ihr schräg gegenübersaß und ein schlichtes, aber teures Seidenkleid trug, schwafelte eine Stunde lang mit einem alten Mann namens Mr Cabbage über Mathematik und das Design irgendeiner Maschine.

Mathematik! Eine Maschine! Was war mit diesen Leuten bloß los?

»Millicent, meine Liebe«, sagte ihre Mutter von der anderen Tischseite. »Mrs Hamilton hat dir eine Frage gestellt.«

»Wer?«, fragte Miss Millie.

Ihre Mutter kniff die Lippen zusammen. Mit ihrem Messer deutete sie auf die faltige Dame rechts von Millie.

»Oh.« Miss Millie drehte sich zu dem traurigen alten Ding um. »Tut mir leid, Mrs Hammerston, ich habe mich gerade auf dieses köstliche Wurzelgemüse konzentriert. Was haben Sie gesagt?«

Die Frau öffnete den Mund, doch Millies Mutter kam ihr zuvor: »Mrs Hamilton wollte wissen, ob du daran interessiert bist, ihr Waisenhaus zu besuchen«, sagte sie in dem strengen Ton, den sie immer dann benutzte, wenn sie Millie am liebsten lebenslänglich ohne Abendbrot auf ihr Zimmer geschickt hätte.

»Ich? Waisen besuchen?«, rief Miss Millie entsetzt. Sie hatte pfirsichpinke Wangen und glänzende goldene Locken. Viele behaupteten, dass Miss Millicent Munsterberg aussähe wie ein Engel, aber die hatten auch niemals gesehen, wie sie beim Gedanken, Zeit mit Waisenkindern zu verbringen, das Gesicht verzog.

»Oh, ich bezweifle, dass die Waisen auch nur das geringste Interesse daran hätten, Ihre Gegenwart zu ertragen, junge Dame«, grummelte der Mann links von ihr. Er hatte blasse Haut, rastlose graue Augen, einen albernen schwarzen Schnurrbart und eine so hohe Stirn, dass er sich Miss Millies Meinung nach dafür hätte entschuldigen müssen.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Miss Millie.

»Nein, das tun Sie ganz sicher nicht«, erwiderte der Mann, dessen Namen Millie nach der Vorstellungsrunde praktisch sofort wieder vergessen hatte. Früher am Abend hatte er irgendwelchen Blödsinn über Raben gebrabbelt und wie er manchmal nachts vom Klopfen seines eigenen Herzens aufwachte. Miss Millie hielt ihn für ziemlich verrückt.

Aber das konnte man genauso gut über jeden anderen am Tisch sagen, einschließlich ihrer Gastgeber, der berüchtigten Morningstar-Zwillinge. Miss Millie konnte nicht begreifen, wie zwei tatterige alte Dummköpfe so viel Faszination hervorrufen konnten. Mr Theodore Morningstar ereiferte sich so sehr über die bevorstehende Präsidentenwahl, dass er heftig genug mit der Faust auf den Tisch schlug, um die gebratene Wachtel von seinem Teller in seinen Schoß hüpfen zu lassen. Und Miss Theresa Morningstar achtete ganz offensichtlich kein bisschen auf die aktuelle Mode. Ihr grauer Haarturm neigte sich gefährlich zur Seite und ihr Abendkleid hing formlos an ihrem großen, dünnen Körper herab. Hier war sie nun, eine der reichsten Frauen in Amerika, und trug als einziges Schmuckstück ein angelaufenes altes Medaillon an einer Kette um den Hals. Wo waren ihre Diamanten?

Wo waren ihre Rubine, ihre Smaragde und ihr Gold? Miss Millies Mutter war geradezu mit Schmuck behängt, aber niemand warf auch nur einen Blick auf Mrs Munsterbergs funkelnde Ringe oder Armreifen. Was nützte es schon, reich zu sein, wenn man es nicht zur Schau stellte? Was nützte es, reich zu sein, wenn die reichen Leute sich weigerten, jemanden dafür zu bewundern?

Doch vielleicht waren die Morningstars gar nicht so reich, wie sie taten. Miss Millie kannte viele Familien, auf die das zutraf. (Der größte Cocktailring, den ihre Mutter trug, war bloß aus Strass.)

»Millicent!«, zischte ihre Mutter.

»Oh, was ist denn jetzt schon wieder?« Ihre Mutter war so gereizt seit ihrem vierunddreißigsten Geburtstag in der Woche zuvor, als Millie ihr zum Scherz einen Gehstock geschenkt hatte.

»Ich habe gerade gesagt«, erklärte ihre Mutter durch zusammengepresste Zähne, »dass Miss Morningstar vielleicht so nett ist, dich vom Tisch zu entschuldigen, damit du ein wenig frische Luft schnappen kannst. Viel Appetit scheinst du ja nicht zu haben.« Mrs Munsterberg blickte in die Runde. »Sie hat sich in letzter Zeit unwohl gefühlt.«

»Ich habe mich nicht …«, begann Miss Millie, doch angesichts des warnenden Stirnrunzelns ihrer Mutter schloss sie den Mund wieder.

»Ein kluger Mensch weiß, wann er besser nicht sprechen sollte, nicht wahr, Mr Poe?«, sagte Mrs Hamilton.

»Das stimmt«, bestätigte der Mann mit der beleidigenden Stirn. Er und Mrs Hamilton stießen über Miss Millies Teller ihre Gläser aneinander, was diese äußerst unverschämt fand.

»Ich entschuldige Miss Millicent gern«, sagte Miss Theresa Morningstar und machte eine Geste mit ihrer knochigen Hand. »Durch diese Fenstertür gelangst du in einen Salon mit Balkon, meine Liebe. Bitte gönn dir so viel frische Luft, wie du magst.«

»Danke«, erwiderte Miss Millie so dankbar wie möglich, was kein bisschen dankbar war. Auf dem Weg aus dem Zimmer stieß sie beinahe mit der klirrenden Rüstung zusammen. »Lance«, wie das eingravierte Namensschild auf seiner Eisenbrust verriet, trat zur Seite und bedeutete ihr durch das Anheben seines quietschenden Arms, dass sie vorbeigehen sollte. Während sie das tat, hörte sie die junge hübsche Frau in dem schlichten Kleid fragen, ob sie nach dem Essen mal Lances Innenleben untersuchen dürfe.

Es war alles extrem irritierend.

Miss Millie fand den Salon, machte sich aber nicht die Mühe, die Tür zum Balkon zu öffnen. Stattdessen ließ sie sich schmollend in einen der dick gepolsterten Samtsessel fallen. Es war einfach nicht fair, dass ihre Mutter sie gegen ihren Willen hierher mitgeschleppt und gezwungen hatte, sich mit solch widerwärtigen Menschen über solch langweilige Dinge zu unterhalten. Dabei war es ja nicht einmal so, als ob ihrer Mutter deren Gesellschaft Spaß machte. Miss Millies Eltern hatten beide schon einmal vor vielen Jahren, vor Miss Millies Geburt, mit den Morningstars gegessen und laut ihrer Mutter war dieser Abend absolut schrecklich gewesen.

»Aber warum willst du denn dann noch einmal dorthin?«, hatte sich Miss Millie gewundert.

»Weil dein Vater ihre Unterstützung braucht«, hatte ihre Mutter erklärt. »Ein gutes Wort von ihnen und die Investoren werden in Scharen herbeiströmen.«

Dr. Munsterberg war ein großartiger Wissenschaftler, aber ein mittelmäßiger Geschäftsmann. »Er kommt ja nicht mal zum Essen mit!«

»Das ist noch ein Grund mehr, warum du dich von deiner allerbesten Seite zeigen musst.«

Miss Millie fand, dass sie sich angesichts der Umstände ziemlich gut benahm.

Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Der Salon war nicht übel, mit einem Marmorkamin, einem großen Kristallkronleuchter und einem kunstvoll gewebten Teppich. Auf einem Tischchen mit schmiedeeisernen Füßen lag neben ihr ein kleiner silberfarbener Würfel. Sie hob ihn hoch, um ihn genauer zu betrachten, und schnappte nach Luft. Hier waren also die Juwelen, die an Miss Theresa Morningstars Fingern und Handgelenken fehlten! Die Oberfläche des Würfels war mit funkelnden Rubinen und Saphiren besetzt, mit Smaragden und Diamanten, Perlen und Onyxen. Falls die Steine echt waren, war dieser Würfel ein Vermögen wert. Wer ließ denn so einen unbezahlbaren Gegenstand einfach so herumliegen, erst recht, wenn sich Fremde im Haus befanden? Am Dinnertisch im Nachbarraum saßen ein arabischer Scheich, ein Händler der Cherokee, ein indischer Teppichhersteller und ein Schauspieler! Sogar Miss Millie wusste, dass man Schauspielern nicht trauen konnte.

»Es ist ein Rätsel«, sagte eine Stimme hinter ihr.

Miss Millie sprang auf und ließ beinahe den Würfel fallen. »Was? Wer ist da?«

Ganz hinten in einer Ecke des Zimmers saß eine junge Frau, die ungefähr in Miss Millies Alter war, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, und hielt eine Feder in der Hand. Das Mädchen legte sie beiseite und fächerte dann ohne besonders große Eile das, was es geschrieben hatte, trocken, bevor es das Buch schloss. Sie stand auf und kam auf Miss Millie zu. Sie war klein und anmutig, mit braunen Augen und brauner Haut, und trug ein schlichtes graues Kleid, das ihr so gut stand, dass Miss Millie sogar noch gereizter war als zuvor.

»Sie hätten etwas sagen können, damit ich weiß, dass Sie hier sind«, blaffte Miss Millie sie an.

»Das habe ich doch gerade getan«, entgegnete das Mädchen.

»Dann machen Sie sich nützlich und holen Sie mir einen … einen … Sherry.« Miss Millie durfte noch gar keinen Sherry trinken, aber das konnte dieses Dienstmädchen ja nicht wissen.

»Sie wirken doch vollkommen gesund«, erwiderte das Mädchen und zog spöttisch einen Mundwinkel hoch. »Holen Sie sich ihn selbst.«

»Wie bitte! Ich habe niemals …«

»Sind Sie sich da sicher?«, fragte das Mädchen.

»Was? Ich …«

Das Mädchen legte ihr Buch auf einen Sessel und streckte die Hand aus. »Geben Sie mir den Würfel, dann zeige ich Ihnen, was es damit auf sich hat.«

Zögernd reichte Miss Millie ihr den Würfel. Das Mädchen begann, ihn zu drehen. »Dieser Würfel besteht aus sechsundzwanzig kleineren Würfeln, die in der Mitte befestigt sind. Ziel ist, die Würfel so zu rotieren, dass sich am Ende auf allen Seiten die Steine mit derselben Farbe befinden.« Sie drehte die Würfel schneller, nach links und nach rechts. Nach einigen Minuten gab sie Miss Millie den Würfel zurück.

»Die Steine auf den Seiten passen aber nicht zusammen«, beschwerte sich Miss Millie.

»Noch nicht. Aber der Großteil ist erledigt. Den Rest schaffen Sie problemlos allein, da bin ich sicher.«

Miss Millie knallte den Würfel zurück auf den Tisch. »Ich habe kein Interesse an albernen Spielen.«

»Nein?«, fragte das Mädchen. »Vor einigen Minuten haben Sie noch sehr interessiert an diesem hier gewirkt.«

»Wer sind Sie?«

»Wer sind Sie

»Miss Millicent Magdalena Mariah Munsterberg«, antwortete Miss Millie.

»Ach herrje«, erwiderte das Mädchen.

»Also wissen Sie, wer ich bin«, stellte Miss Millie fest und hob das spitze Kinn.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, widersprach das Mädchen. »Aber Ihr Name weist ziemlich viele Alliterationen auf.« Sie betastete eine große silberfarbene Anstecknadel an ihrem Kleid. Ein Schmetterling oder vielleicht eine Motte. Die Flügel bewegten sich sanft unter ihrer Berührung.

Plötzlich machte sich Miss Millie Sorgen, dass dieses Mädchen womöglich gar keine Dienstbotin war, dass sie jemand … Wichtigen beleidigt hatte. »Sind Sie ein Gast der Morningstars?«, fragte sie. »Beim Essen habe ich Sie nicht gesehen.«

»Ich mache mir nicht besonders viel aus Partys. Ich lese lieber ein gutes Buch.«

Ganz egal, wie wichtig dieses merkwürdige Mädchen auch sein mochte, Miss Millie platzte heraus: »Sie bevorzugen Lesen gegenüber Partys? Wie sonderbar!«

»So sagt man«, antwortete das Mädchen und hob ihr Buch auf. »Nun dann. Es ist an der Zeit, mich zurückzuziehen. Ich überlasse Sie jetzt wieder Ihren privaten Gedanken.«

Das Mädchen wandte sich zum Gehen, drehte sich dann jedoch noch einmal um. »Falls Sie sich doch entscheiden, den Würfel zu beenden, seien Sie vorsichtig. Er spielt gern Streiche.«

Und dann war sie fort.

Miss Millie betrachtete stirnrunzelnd das nun leere Zimmer und den silberfarbenen Würfel, erneut irritiert. Die Worte des Mädchens ergaben überhaupt keinen Sinn. Dieser ganze Abend ergab keinen Sinn. Es schien lediglich einen Weg zu geben, den Abend zu retten. Miss Millie schnappte sich den Würfel vom Tisch und steckte ihn in ihre Handtasche. Die Steine konnten unmöglich echt sein, daher würden die Morningstars ihn auch nicht vermissen. Und falls doch, trugen sie ganz allein die Schuld an seinem Verlust. Man sollte nicht einfach jeden in sein Haus einladen. Vielleicht würden sie glauben, dass das Mädchen im grauen Kleid ihn gestohlen hatte, wer auch immer sie war.

Das wäre doch mal ein lustiger Streich.

Mit besserer Laune gesellte sich Miss Millie gerade rechtzeitig zum Dessert wieder zu der Dinnerparty. Es gab einen herrlichen Schokoladenpudding. Sie vergaß darüber völlig den Würfel in ihrer Handtasche, bis sie sich viel später fürs Bett fertig machte. Während sie in die weichen Federkissen sank, drehte sie den Würfel und versuchte, die Steine auf jeder Seite farblich anzupassen. Nach einer Weile stand sie kurz davor, das nutzlose Ding gegen die Wand zu werfen, überzeugt, dass es sich überhaupt nicht um ein Rätselspiel handelte, als plötzlich jeder Stein seinen Platz fand. Sie wartete auf den Streich, den das Mädchen erwähnt hatte, aber nichts geschah. Sie legte den Würfel auf ihren Nachttisch und stellte sich all die Ringe, Armbänder und Broschen vor, die sie daraus anfertigen lassen würde, sobald der Würfel eingeschmolzen war. Dann schlief sie ein.

Mitten in der Nacht wurde sie durch merkwürdige Geräusche geweckt. Klickgeräusche. Krabbelgeräusche.

»Hallo«, sagte eine leise Stimme.

Miss Millie setzte sich auf, zog sich die Decke bis zum Hals und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Wer ist da?«, rief sie.

Kichern. »Hallo.«

Mit zitternden Fingern schaltete Miss Millie die Solarlampe auf ihrem Nachttisch ein.

Hunderte winziger Spinnen krochen über die Zimmerdecke, über die Möbel und den Fußboden. Eine kleine Spinne ließ sich an einem hauchzarten Faden vor Miss Millies schockiertem weißem Gesicht herunter. Sie hatte drei Smaragdaugen, was recht seltsam war.

»Hallo?«, sagte sie.

Miss Millie schrie. Die Spinne krabbelte zurück an die Decke. Die anderen Spinnen rasten wie wild geworden auf jeder Oberfläche im Raum im Kreis herum. Hallo, hallo, hallo.

Die Tür flog auf. Mit wilden Haaren stand Dr. Munsterberg darin, Mrs Munsterberg dicht hinter ihm. Beim Anblick der Spinnen fiel Mrs Munsterberg in das kreischende Geschrei ihrer Tochter mit ein, während Dr. Munsterberg nach den Spinnen griff. Er erwischte eine einen Cent große Kreatur mit Rubinaugen.

»Hallo«, sagte sie und sprang auf den Boden. Die Spinnenarmee rannte zum Fenster und verschwand durch die Risse in den Fugen, wobei sie unablässig kicherte.

Miss Millie hatte aufgehört zu schreien und schluchzte jetzt, weil sie wusste, woher die Spinnen gekommen waren. »Sie hat gesagt, er würde gern Streiche spielen, aber von Spinnen war nie die Rede!«

»Was? Wer?«, verlangte Dr. Munsterberg zu wissen. »Miss Theresa?«

»Nein«, jammerte Miss Millie. »Das Mädchen.«

»Welches Mädchen?«, fragte Mrs Munsterberg.

Doch Dr. Munsterberg hörte nicht mehr zu. Er war zum Fenster hinübergegangen und suchte in der Dunkelheit nach einem metallischen Glitzern. Jeder in New York City lebte bereits seit Jahren mit den Morningstar-Maschinen, aber Dr. Munsterberg hatte noch nie so kleine gesehen. Und jetzt fragte er sich, wie klein die Morningstars ihre Maschinen eigentlich bauen konnten.

Oder, dachte er, wie groß.

NEW YORK CITY

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KAPITEL 1

linie   Tess   linie

Es gibt Katzen und es gibt KATZEN.

Eine normale Katze ist schon faszinierend. Mal graziös und mal albern, mal biegsam und mal starr, hier und dann fort. Aber KATZEN, die sind eine Klasse für sich. Beweglicher und frecher, größer und geschmeidiger, eine Konzentration kätzischer Eigenschaften, eine Vielzahl von Katzen vereint in einem Körper. Eine KATZE ist jede Katze und keine Katze.

Laut Tess Biedermann war ihre Katze Nine so eine KATZE. Wobei Tess selbstverständlich nicht voreingenommen war oder so.

»Das ist Wissenschaft«, behauptete sie.

»Ich wünschte, die Wissenschaft hätte Nine mit Taschenlampenaugen ausgestattet«, sagte Tess’ Freund Jaime Cruz. »Hier drin ist es so dunkel wie im Weltall.«

Tess, Jaime und Tess’ Bruder Theo befanden sich in einem Gebäude an der West 73. Straße in Manhattan.

Das unscheinbare Haus hatte einst neben ihrem alten Apartmentgebäude gestanden, einem ursprünglichen Morningstar-Bauwerk, das von Jaimes Großmutter verwaltet worden war. Es war ihr Zuhause gewesen und sie hatten es geliebt. Bis zum Schluss hatten sie gehofft, das Haus retten zu können, und am Ende waren sie diejenigen gewesen, die es mit zerstört hatten. Sie versuchten angestrengt, diesen letzten Teil auszublenden.

Draußen war ein strahlender und heißer Augusttag. Doch hier, in der undurchdringlichen Dunkelheit hinter einer geschlossenen Tür, die mehr als anderthalb Jahrhunderte lang vor der Welt verborgen gewesen war, erfüllte Staub die kühle Luft. Es war das dritte Mal, dass sie diesen Ort erkundeten. Beim ersten Mal waren sie so enttäuscht gewesen, dass der gesuchte Schatz nicht unmittelbar hinter der Tür auf sie wartete, dass sie auf dem Absatz kehrtgemacht hatten und hinausmarschiert waren. Beim zweiten Mal waren sie draußen von einem übereifrigen Wachmann angehalten worden, der sie warnte, er würde sie verhaften lassen, sollte er sie jemals wieder hier herumstreunen sehen.

Jaime schniefte, Theo nieste. Tess rieb sich die Augen und versuchte angestrengt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie standen zusammengedrängt auf einer Art Absatz. Vor ihnen schien nichts weiter zu liegen als der Eingang zu einem steinernen Tunnel, der … ja, wohin würde er wohl führen? Nine zerrte an ihrem Geschirr und wollte sie nach vorne ziehen, doch Tess hielt sie zurück. Was einfacher gewesen wäre, wenn Nine nicht zwanzig Kilo wiegen würde.

Nine war definitiv eine KATZE.

»Nun ja«, begann Theo. »Ich entdecke hier nicht den größten Schatz, den die Menschheit je erblickt hat. Was ist mit euch?«

»Nine kann im Dunkeln sehen«, antwortete Tess. »Und sie möchte, dass wir weitergehen.«

»Klar, solange die Katze es für sicher hält, dass wir da reingehen«, kommentierte Theo.

»Du meinst die KATZE«, widersprach Tess.

»Das hab ich doch gesagt.«

»Nein, hast du nicht.«

»Ich glaube, der Code möchte auch, dass wir weitergehen«, warf Jaime ein. »Schaut mal nach unten.«

Tess tat ihm den Gefallen. Zu ihren Füßen war ein leuchtend grüner Pfeil auf den Steinboden gemalt, der direkt auf den Tunnel zeigte. Als ob jemand ihr Zögern vorausgeahnt hätte.

»Das ist aber nicht besonders mysteriös«, stellte Theo fest. »Man sollte meinen, der Code würde es uns schwerer machen.«

»War es denn bisher noch nicht schwer genug?«, wollte Tess wissen. Denn das war es gewesen.

Vor etwas mehr als einem Monat hatte ein Immobilienmogul namens Darnell Slant endlich die Stadt überredet, ihm alle fünf Morningstar-Gebäude zu verkaufen – darunter ihr Haus. Und vor etwas mehr als einem Monat hatten Tess, Theo und Jaime entschieden, dass der einzige Weg zur Rettung ihres Zuhauses darin bestand, das größte Geheimnis der Morningstars zu lüften: den Code, das Rätsel, das die mysteriösen Zwillinge vor mehr als einhundertfünfzig Jahren in die Straßen, Monumente und Artefakte von New York City eingebettet hatten. Ein Rätsel, das seither viele Menschen zu lösen versucht hatten – erfolglos, weil ihnen das Wichtigste entgangen war.

Es hatte nicht gelöst werden wollen. Bis jetzt.

Zumindest hofften sie das.

»Wer weiß, vielleicht lockt uns der Code geradewegs in eine Falle«, gab Jaime zu bedenken. »Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Erinnert ihr euch noch an den Hinweis zur Underway? Wir wären beinahe gestorben.«

»Was für ein tröstlicher Gedanke«, kommentierte Theo.

»Stets zu Diensten«, antwortete Jaime.

Tess merkte, dass Jaime sich um einen lockeren Ton bemühte, doch er klang gestresst. Aber das waren sie alle. Und verwirrt. Sie hatten geglaubt, das Rätsel gelöst zu haben, als die Hinweise sie zurück zu ihrem Zuhause geführt hatten. Sie waren der Meinung gewesen, die Morningstars besser zu verstehen als jeder andere. Die Erinnerung daran, wie ihr geliebtes Haus direkt vor ihren Augen in sich zusammengefallen war, verfolgte sie jedoch. Es hatte ihnen gezeigt, dass niemand, nicht mal sie, die Morningstars wirklich verstand und dass der Code auch weiterhin ein Mysterium blieb.

»Warum machen wir das hier gleich noch mal?«, wollte Theo wissen.

»Das weißt du genau.«

Was Tess nicht erwähnte, weil es nicht nötig war, waren Slants ständige Auftritte im Fernsehen und auf Social Media, wo er verkündete, wie er New York City zu einer »Stadt der Zukunft« umstrukturieren würde – was auch immer das bedeutete. Dass er davon sprach, eine eigene Schule zu gründen, um »die Generation der Zukunft mit den Werten der Zukunft« zu füllen – was auch immer das wieder bedeutete. Oder dass er sich hinter politische Kandidaten und Forschungsgruppen stellte, die laut ihrem Vater »so zwielichtig sind wie sonst was« – was auch immer das bedeutete. Dass Slant mächtiger zu sein schien als je zuvor. Dass sie es nicht geschafft hatten, ihr eigenes Zuhause zu retten, aber vielleicht konnten sie das von jemand anderem vor dem gleichen Schicksal bewahren. Dass die Zerstörung von 354 W. 73. Straße einfach nicht umsonst gewesen sein durfte. Doch wenn sie den Code nicht knacken konnten, wäre es genau das gewesen.

Einige Momente vergingen, bis Jaime sagte: »Wir dürfen ihn nicht gewinnen lassen.«

Sie wussten alle ganz genau, wen er mit »ihn« meinte. Langsam und vorsichtig setzten sie sich in Bewegung, während Nine sie ungeduldig vorwärtszog. Bei jedem Schritt erwachten flackernd kleine Lichter über ihren Köpfen zum Leben und warfen einen dämmrig grünen Schein auf alles, auch wenn das nicht viel nützte. Es gab nichts weiter zu sehen als endlose Steinwände. Sie schienen sich in einer Art Tunnel unterhalb des Gebäudes zu befinden.

»Spürt ihr das? Der Boden fällt leicht ab«, stellte Theo fest. »Dieser Weg führt uns nach unten.«

»Super«, antwortete Jaime. »Darüber müssen wir uns bestimmt keine Sorgen machen.«

Tess schwieg, obwohl ihr die Fragen geradezu auf der Zunge lagen. Nach unten wohin? Was, wenn der Tunnel über ihren Köpfen einstürzte? Was, wenn er sie direkt durch die Insel bis ins Meer führte? Was, wenn Armeen von Underway-Schaffnern oder Rollern oder Lances oder Motten auf sie lauerten?

Was, wenn sie wieder versagten?

Nine drehte sich um und zwickte Tess sanft in die Finger. Sie wusste immer genau, wann die Gedanken in Tess’ Kopf zu rattern begannen. Schließlich war sie eine KATZE. Doch trotz Nines beruhigender Gegenwart zitterte Tess. »Es ist kalt hier.«

»Ja«, stimmte Jaime ihr zu. »Und still. Ich höre keine Underway-Züge. Ihr?«

»Nein«, sagte Theo. »Die Wände und der Boden müssen sehr dick sein.«

Jaime berührte die Steine an der Wand. »Hier steht etwas geschrieben.« Mit den Fingern folgte er den verblassten Markierungen. »Ein Name. Sam.«

»Kein Nachname?«, erkundigte sich Tess.

»Nur Sam.«

Je weiter sie gingen, desto steiler fiel der Boden nach unten ab. Alle paar Meter blieb Jaime stehen und las einen weiteren in die Wand gekratzten Namen: Beulah. James. Sissy. Solomon. Patrick. Meistens war jedoch nur ein einfaches X in den Stein geritzt, als hätte jemand lediglich eine Markierung hinterlassen wollen.

»So viele«, kommentierte Tess. »Aber wenn die Tür, durch die wir den Tunnel betreten haben, der einzige Eingang ist und der bisher versteckt war, wie ist dann jemand hier hereingekommen?«

»Vielleicht haben die Erbauer des Tunnels hier ihre Namen hinterlassen«, vermutete Theo.

»Hm«, machte Jaime. »Was ist das?«

»Was?«, wollte Tess wissen.

»Das da.« Jaime deutete nach vorne.

Einige Schritte vor ihnen lag etwas im Tunnel. Sie hielten an, doch davon wollte Nine nichts wissen. Sie riss Tess die Leine aus der Hand.

»Nine! Warte!«

Aber Nine wartete nicht. Sie sprang vorwärts und wurde beinahe von der Dunkelheit verschluckt. Ihre Streifen und Punkte schienen in der Luft zu schweben und ihr Schnüffeln echote von den Steinwänden. Nach einigen Sekunden rief sie mit einem leisen Miauen nach ihnen.

»Warte«, bat Theo, doch Tess tastete sich an den Wänden entlang bis zu dem großen Etwas, das den Tunnel füllte.

Es entpuppte sich als eine Art Kutsche, wie Tess feststellte, während sie mit den Händen über die Räder und die Seiten fuhr. Von der Sorte, wie sie im Central Park von schläfrigen hufklappernden Pferden gezogen wurde. Doch als Tess zur Vorderseite der Kutsche spähte, erblickte sie dort keine Pferde. Es war überhaupt nichts dort befestigt. Es sei denn … Sie tastete sich an den Zügeln entlang, die bis zum Boden reichten, wo sie …

Tess sprang zurück.

»Was?«, wollte Theo wissen.

»Ameisen«, erklärte Tess.

»Ameisen?«

»Vier mechanische Ameisen. Sie sind jeweils ungefähr daumengroß«, beschrieb Tess.

»Bewegen sie sich?«

Tess kauerte sich hin und blinzelte in die Dunkelheit. Die Fühler einer der Ameisen drehten sich in ihre Richtung, als ob sie zuhörte.

»Vielleicht?«

Jaime hockte sich neben sie. »Ja. Ameisen. Warum auch nicht?«

»Echte Ameisen können mehr als das Hundertfache ihres Körpergewichts tragen«, verkündete Theo. »Wer weiß, wie viel die mechanischen schleppen können?«

»Eine voll beladene Kutsche, würde ich sagen«, antwortete Jaime. »Wollen wir?«

Sie stiegen ein. Sobald sie sich hingesetzt hatten, begannen die Ameisen vorwärtszumarschieren. Oder besser gesagt, vorwärtszukrabbeln. Trotz der ungewöhnlichen Fortbewegungsart und des kopfsteingepflasterten Bodens war die Fahrt überraschend angenehm. Nine, die KATZE, machte es sich im vorderen Teil der Kutsche gemütlich und ließ den leichten Wind ihre Schnurrbarthaare zerzausen wie ein Kapitän am Bug seines Schiffes.

Sie krabbelten nicht sehr weit mit ihrem Gefährt oder zumindest erschien ihnen die Fahrt nicht sehr lang. Doch sie fuhren an Abzweigungen links und rechts vorbei. Wer hatte diesen Tunnel gebaut? Woher wussten die Ameisen, wohin sie laufen mussten?

Die Ameisen verrieten es nicht.

Tess wünschte sich, sie könnte mit ihrem Grandpa Ben sprechen, dass er jetzt bei ihnen wäre. Aber Grandpa Ben war von seiner Wohnung in 354 W. 73. Straße zunächst nach Long Island und kurz darauf in eine noble Pflegeeinrichtung im Norden der Stadt verlegt worden. Grandpa Ben vergaß inzwischen mehr, als dass er sich erinnerte.

Und genauso plötzlich, wie sich die Ameisen in Bewegung gesetzt hatten, blieben sie stehen.

»Wir sind da«, sagte Tess.

»Hervorragend. Wo sind wir?«, fragte Theo. Die Fühler der Ameisen zuckten und deuteten auf eine grobe Steintreppe, die in die nahe gelegene Wand eingelassen war.

»Danke«, wandte sich Jaime an eine der Ameisen. Er streckte den Finger aus, als ob er ihren silbrigen Bauch tätscheln wollte, überlegte es sich dann jedoch anders. Stattdessen streichelte er Nine, die schnurrte.

Sie ließen die Ameisen zurück und gingen die schmale Steintreppe hinauf, die sich im Zickzack wand. Die ersten fünf Minuten stellte sie das nicht vor Probleme, doch die nächsten fünf waren schon schwieriger. Die darauffolgenden zehn waren eine Qual.

»Das sind übermäßig viele Stufen«, beschwerte sich Theo lautstark.

»Wirf das dieser Treppe vor«, sagte Jaime.

»Wirf das dem Code vor«, sagte Tess und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Nein, das tue ich nicht«, widersprach Theo.

»Ich manchmal aber schon«, gab Jaime zu. »Zum Beispiel, wenn ich mich in unserer neuen Wohnung umsehe und alles so weiß ist, dass mir die Augen brennen.«

»Und vielleicht, wenn man neunzig Quadrillionen Stufen ins Nirgendwo hochsteigen muss?«, fragte Tess.

»Dann auch.«

Aber der Code führte sie nicht ins Nirgendwo. Gerade als sie dachten, sie müssten ewig so weiterklettern, als sie glaubten, ihnen würde gleich das Herz zerspringen, erreichten sie die letzte Stufe. Und eine Tür ohne Knauf. Lediglich eine Metallschlaufe mit einem Kombinationsschloss hing daran. Das Schloss wirkte alt, wie aus einem anderen Jahrhundert. Es bestand aus drei merkwürdig geformten Messingzahlenscheiben. Auf jeder davon waren die Ziffern Eins bis Neun eingeprägt. Tess zog an dem Schloss, aber selbstverständlich war es verschlossen.

»Okay, wir brauchen die Kombination«, stellte sie fest. Nine miaute zustimmend.

Theo zog die Brauen zusammen. »Drei Zahlenscheiben bedeuten … siebenhundertneunundzwanzig Möglichkeiten.«

»Besser als eine Million Möglichkeiten«, hielt Jaime dagegen. »Aber schlechter als … eine, zum Beispiel.«

»Irgendwo muss es hier einen Hinweis geben«, vermutete Tess.«

Sie betrachteten alle Steine um den Türrahmen herum, suchten nach einer Art Zeichen oder Symbol, doch sie fanden nichts. Dann überprüften sie die Tür, aber auf der Oberfläche war keine Schrift erkennbar. Tess kniete sich hin und fuhr mit den Fingern über den Steinfußboden. Jaime und Theo taten es ihr gleich. Jaime ging sogar so weit, die letzten zehn Stufen zu untersuchen.

»Vielleicht war der Hinweis die Anzahl der Stufen?«, vermutete Jaime. »Hat sie jemand gezählt?«

»Ich nicht«, gab Tess zu.

»Ich auch nicht.« Theo klang sehr von sich enttäuscht.

»Aber wie sollen wir die Tür ohne jeglichen Hinweis öffnen?«, fragte Tess. Nine kratzte an der Tür und miaute erneut.

»Möglicherweise gibt es diesmal keinen Hinweis, sondern wir müssen uns die Lösung erarbeiten«, schlug Theo vor. »Wir fangen mit einer Kombination an und gehen alle durch, bis wir die richtige gefunden haben.«

Nine strich um ihre Beine herum und hielt lediglich inne, um Tess sanft gegen die Knöchel zu stupsen. Tess beugte sich hinunter, um sie zu streicheln.

»Wir hätten uns etwas zu essen mitbringen sollen«, stellte Jaime fest. »Und Wasser. Denn wir könnten damit bis nächsten Dienstag vollauf zu tun haben.«

Theo begann mit 1-1-1, dann 1-1-2, dann 1-1-3. Jaime schrieb in seinem Notizbuch mit. Tess saß auf der Steintreppe, die Hand auf Nines Rücken gelegt.

Sie hatte schon immer etwas besessen, das ihre Eltern eine »außerordentliche Fantasie« nannten, doch nicht mal sie hätte sich vorstellen können, was im Sommer passiert war. Dass alle fünf Morningstar-Gebäude an Darnell Slant verkauft worden waren, überraschte sie kein bisschen. Darüber hatte sie sich schon Sorgen gemacht, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Doch dass ein Hinweis zur Lösung des Morningstar-Codes, den noch nie zuvor jemand gesehen hatte, an ihren Großvater geschickt würde, hätte sie sich nicht träumen lassen. Oder dass dieser Brief zu einer ganzen Reihe weiterer Hinweise führen würde, einer Art Schattencode, der völlig unabhängig vom Original funktionierte. Einem Schattencode, von dem Tess überzeugt war, dass er den wahren Code darstellte. Oder dass die Lösung der Hinweise dieses Schattencodes zu einem schrecklichen Verrat durch einen der ältesten Freunde ihres Großvaters führen würde und zur Zerstörung des Morningstar-Gebäudes, für dessen Rettung sie so verzweifelt gekämpft hatten. Oder die Tatsache, dass Theo und Tess gezwungen sein würden, bei ihrer Großtante Esther in Queens zu wohnen, und Jaime mit seiner Großmutter in einem brandneuen Haus in Hoboken, New Jersey. Oder dass sie nicht die geringste Ahnung hatten, wohin der Code sie sonst noch lotsen würde oder wie weit. Oder dass die Hinweise etwas im Herzen der Stadt selbst geweckt zu haben schienen, etwas, dem Tess gern trauen wollte, aber …

Nine miaute noch einmal und rieb ihr Gesicht an Tess’ Bein.

»Mein Daumen wird schon taub«, beschwerte sich Theo.

»Ich übernehme«, bot Tess an.

Sie tauschte den Platz mit Jaime, sodass dieser die Kombinationen am Schloss ausprobieren konnte und Tess alles mitschrieb. Theo saß auf der Treppe und kraulte Nine hinter den Ohren, bis sich ihr Brummen in ein beruhigendes Schnurren verwandelt hatte. Als Jaimes Daumen taub wurde, übernahm Tess den Dienst am Schloss und Theo das Protokoll. Jaime setzte sich zum Ausruhen auf die Stufen und Nine leckte ihm über die Knie.

Sie wechselten die Positionen und dann noch einmal. Stunden vergingen oder sogar Tage. Tess war sich da nicht mehr sicher.

Jaime streckte die Finger aus und ließ die Handgelenke kreisen. »Vielleicht ist es eine Zahl, die wir bereits kennen?«

Ihre alte Adresse hatte 354 W. 73. Straße gelautet. Tess horchte auf. »Versuch es mit drei-fünf-vier!«

Das tat Jaime, allerdings erfolglos. Genauso erfolglos blieben andere Adressen, die Geburtstage der Morningstars oder das Datum, an dem sie verschwunden waren.

»Lasst uns einfach weitermachen«, schlug Theo vor. »Wir kriegen es schon raus.«

Seufzend hob Jaime wieder das Schloss an. Doch dann fuhr er stirnrunzelnd mit dem Daumen über den Verriegelungsmechanismus.

»Was ist?«, wollte Tess wissen.

»Das hier ist keine Schlaufe, aber wirklich gerade ist es auch nicht.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, bestätigte Tess.

»Es sieht wie Katzenohren aus.«

»Was?«

»So, wie ein kleines Kind Katzenohren zeichnen würde. Dreieck, gerade Linie, Dreieck. Seht ihr?« Nine miaute leise und strich um Jaimes Beine.

»Katzenohren«, wiederholte Theo. »Eine Katze.«

»Oder eine KATZE«, fügte Tess hinzu. »So wie Nine.«

Einen Moment lang schwiegen sie alle drei. Nine hörte auf, umherzustreichen, zu lecken und zu knabbern, und putzte stattdessen das Ende ihres langen Schwanzes.

»Aber Nine ist nur eine Nummer. Die Neun«, gab Jaime zu bedenken. Er versuchte es mit 9-9-9, doch das funktionierte auch nicht.

»Nine ist nicht ihr vollständiger Name«, sagte Tess.

»Was meinst du damit?«

Theo steckte sich Jaimes Bleistift in die dichten buschigen Haare. »Als Tante Esther sie uns geschenkt hat, hat sie gesagt: ›Ich habe euch ein Haustier mitgebracht. Es heißt Nine Eighty-Seven. Außerdem habe ich noch ein paar Feigenkekse dabei. Die sind aber nichts für das Tier.‹«

Jaime sah Theo an, den Bleistift in dessen Haaren und dann hinab zu Nine. Nine erwiderte seinen Blick, still und wachsam. Die Antwort auf ihr eigenes Rätsel.

»Falls das funktioniert, sollten wir uns mal mit eurer Tante Esther unterhalten«, empfahl Jaime, bevor er die erste Zahlenscheibe auf Neun stellte, die zweite auf Acht und die dritte auf Sieben.

Mit einem Klicken sprang das Schloss auf.

Etwas Kleines, Weißliches, so groß wie eine Schmerztablette, fiel zu Boden. Nine schlug danach.

Theo beugte sich hinab und hob es auf. »Das muss im Schloss gesteckt haben.«

Tess spähte ihm über die Schulter. »Was ist es?«

»Eine Schriftrolle, glaube ich.« Theo rollte sie sorgfältig auseinander.

Es handelte sich um einen kleinen Streifen vergilbtes Papier, auf dem stand:

TICKET NR. 3152–TLJ. 17. JUNI.

»Ticket Nr. 3152? TLJ? Ein Ticket wofür?«, fragte Tess.

»Vielleicht finden wir das heraus, wenn wir die Tür öffnen.«

Jaime zog seinen Bleistift aus Theos Haaren, wischte ihn an seinem Hosenbein ab und steckte ihn zusammen mit seinem Notizbuch in die Tasche. Dann nahm er das Schloss von der Tür und schob es in die andere Tasche. Mit beiden Händen packte er anschließend den einzig verfügbaren Griff – die kleine Metallschlinge, durch die das Schloss gefädelt gewesen war.

»Bereit?«, fragte er.

Nein, dachte Tess. »Ja«, sagte sie.

Jaime zog. Die schwere Tür öffnete sich nur einen Spalt. Tess und Theo packten zu und gemeinsam zerrten sie die Tür weit auf. Ein heller Lichtstrahl fiel auf sie, und bevor sie es verhindern konnten, war Nine durch die Öffnung geschlüpft.

Und in diesem Moment begann jemand zu schreien.

KAPITEL 2

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Die Frau war extrem groß, hatte braune Haut und blaue Haare und trug so riesige Ohrringe, dass sie Theos Meinung nach auch als Sitzstangen für Papageien hätten dienen können. Sie war in ein schwarzes Kleid mit Streifen in einem komplizierten Muster gehüllt. Dazu hatte sie einen Gürtel mit mindestens drei Schnallen umgelegt, die sie womöglich gleichzeitig als Waffen verwenden könnte. Sie hatte beide Hände in die Hüften gestützt und sah drohend wie eine Göttin auf sie herab.

Eine zweite Frau, etwas kleiner und von asiatischer Herkunft, die eher überrascht als wütend wirkte, stand auf einem Podest in der Mitte des Raumes und trug ein halb abgestecktes weißes Hochzeitskleid. Vielleicht war es jedoch auch ein Kaftan oder ein hawaiianisches Mu’umu’u oder ein Bettlaken – Theo kannte sich mit der neuesten Mode nicht so gut aus. Ihre Hände hatte sie links und rechts ans Gesicht gelegt, wie in Edvard Munchs Gemälde Der Schrei. Wenn Theo raten müsste (und das musste er), hätte er darauf getippt, dass die Tür aus dem Tunnel sie geradewegs in den hinteren Bereich eines schicken Ladens geführt hatte. Überall befanden sich Spiegel und luxuriöse Sessel. Er entdeckte auch einige große Umkleidekabinen. Neben einem der Sessel standen auf einem Marmortischchen mehrere Gläser und ein Krug mit Wasser, in dem Zitronenscheiben herumschwammen. Theo hätte gern um einen Schluck Wasser gebeten, aber er hatte das Gefühl, die große Frau würde ihm womöglich den ganzen Krug über den Kopf schütten.

»Was um alles in der Welt tut ihr Kinder hier?«, donnerte die große Frau.

»Entschuldigung, wir wollten nur …«, begann Jaime, doch sie fiel ihm ins Wort.

»Kind! Das hier ist ein Geschäft, kein öffentlicher Park! Kein Kino und auch keine Bibliothek! Keine Schule! Nicht euer Wohnzimmer!« Sie blickte auf Nine herab, die sich auf den Bauch gelegt hatte, wie um sich kleiner zu machen. »Und auch kein Zoo!«

»Es tut uns leid«, sagte Tess. »Wir wussten nicht, wohin …«

»Ihr habt gerade eine Tür in meiner wunderschönen Steinwand geöffnet. Eine Tür, von der ich nicht mal wusste, dass es sie gibt«, fuhr die Frau fort. »Wie habt ihr sie aufgemacht? Woher seid ihr gekommen?« Sie ging hinüber zu der Wand, durch die sie gerade gestürmt waren, und betrachtete die Treppe. »Was um alles in der Welt …?« Ihre Stimme hallte von den Steinen wider.

Die asiatische Frau stieg von dem Podest herunter, wobei sie vorsichtig den Saum des Kleides/Mu’umu’us/Kaftans anhob, damit sich die Stecknadeln darin nicht verschoben. »Was ist denn da unten, Janice?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete die andere Frau. »Vielleicht möchten die Kinder es uns erklären, bevor ich ihre Eltern anrufe?«

Theo machte sich nicht mal die Mühe zu antworten, weil er wusste, dass er sowieso das Falsche sagen würde. Wie die Frau zu fragen, ob sie Papageien besaß oder vorhatte, sich welche anzuschaffen, weil die seinem laienhaften Modeverständnis nach perfekt zu ihren Ohrringen passen würden. Tess öffnete und schloss den Mund, als ob sie sich eine Lüge nach der anderen überlegte und dann sofort wieder verwarf. Lügen, die eventuell andere Menschen überzeugt hätten, die ihnen diese große Göttin jedoch keine Sekunde lang abkaufen würde.

Jaime sagte: »Ich glaube, wir haben einen Teil der Underground-Railroad gefunden, dem Netzwerk zur Flucht von Sklaven.«

»Was?«, fragten die große und die kleine Frau gleichzeitig.

»Ach ja?«, hakten Theo und Tess gleichzeitig nach.

Jaime erklärte den Frauen, dass er mit seinen Freunden eine Baustelle erkundet und dabei einen Eingang in den Keller des Nachbargebäudes gefunden hatte. Dort hatten sie hinter einem Haufen Steinen die Öffnung zu einem sehr alten Tunnel entdeckt, der unter das Haus führte. Obwohl sie natürlich wussten, dass sie das nicht tun sollten, hatten sie ihn betreten. Sie waren dem langen Steintunnel gefolgt und hatten Namen in die Steinwände eingeritzt gesehen, zum Beispiel Sam und Beulah und Solomon, aber auch eine Menge Xe. Er konnte sich da nicht sicher sein, fuhr Jaime fort, doch irgendwie hatte er das merkwürdige Gefühl, dass dies die Namen und Zeichen der Menschen waren, die versucht hatten, etwas Schrecklichem zu entkommen. Sie hatten ihre Markierungen hinterlassen, falls sie es nicht schaffen würden.

Aus irgendeinem Grund klang die Geschichte weder vage noch merkwürdig, als Jaime sie erzählte. Sie klang richtig und wahr.

Die große Frau, Janice, musterte Jaime eine gefühlte Ewigkeit lang. Schließlich fragte sie ihn: »Wie heißt du, junger Mann?«

»Jaime Cruz, Ma’am.«

»Du würdest mich doch nicht anlügen, Jaime Cruz?«

»Nein, Ma’am.«

»Wenn ich jetzt diese Treppe hinab und in den Tunnel ginge, dann würde ich dort diese eingeritzten Namen und Xe finden?«

»Ja, Ma’am. Und vielleicht noch eine Menge anderer Dinge.«

Janice holte tief Luft und schob sich eine Strähne ihrer lockigen rauchblauen Haare aus dem Gesicht. An ihr wirkte die Farbe eher elegant anstatt albern. »Ein Teil der Underground-Linie, der geradewegs zu Jennings führt. Das sollte mich eigentlich nicht überraschen. Und ich hab mich immer gefragt, warum wir so weit östlich liegen, in der Nähe des Hafens.«

»Moment«, sagte Jaime. »Das hier ist Jennings

»Was sonst?«, erwiderte Janice, als wäre Jennings der einzig richtige Ort, an den der Tunnel sie gebracht haben konnte.

Allerdings hatte Theo nicht die geringste Ahnung, was Jennings war, obwohl ihm der Name bekannt vorkam.

»Meine Großmutter hat dieses Geschäft mal erwähnt«, erklärte Jaime. »Sie hat gesagt, dass sie auf direktem Weg hierherkommt und sich ein Kleid nähen lässt, wenn ich heirate.« Jaimes braune Wangen bekamen einen leichten Rotschimmer.

Janice lachte. »Heiratest du denn demnächst?«

»Ich bin zwölf, Ma’am. Im September werde ich dreizehn.«

»Also nein«, stellte Janice fest.

Jennings, Jennings, dachte Theo und wendete den Namen in Gedanken hin und her. »Jennings wie in Thomas Jennings? Dem Mann, der die chemische Reinigung erfunden hat?«

»Thomas L. Jennings, der Schneider, Geschäftsmann und Sklavereigegner, der die chemische Reinigung erfunden hat«, korrigierte ihn Janice in scharfem Ton.

»Der erste Afroamerikaner, der ein Patent erhielt«, bestätigte Theo. »Im Jahr 1821.«

Die großen braunen Augen der Frau weiteten sich und ihre Miene wurde weicher. »Sieh an«, sagte sie und musterte Theo eindringlich. »Du kennst dich mit Geschichte gut aus.«

Theo hätte beinahe genickt, denn er kannte sich tatsächlich gut mit Geschichte aus, zumindest hatte er das immer geglaubt. Doch dann fiel ihm ein, wie oft er während der vergangenen Wochen überrascht worden war. Stattdessen sagte er: »Ich kenne mich ein bisschen mit Geschichte aus. Sie haben immer noch überall in der Stadt Reinigungen. Meine Mom ist Kundin bei einer.«

»Dann weißt du ja, dass sich der Firmensitz von TLJ direkt nebenan befindet, im selben Gebäude. Er wurde 1837 gegründet.«

Ticket Nummer 3152, TLJ, 17. Juni, dachte Theo. Wäre das möglich?

»Auf jeden Fall tut es uns leid, dass wir hier so hereingeplatzt sind«, meldete sich Jaime zu Wort.

»Ist ja nichts passiert«, wehrte Janice ab. Die kleinere Frau in dem weißen Mu’umu’u saß auf dem Boden und streichelte Nine. »Abgesehen von den Katzenhaaren, die du auf dem ganzen Kleid verteilst, Bibi.«

»Was?«, fragte Bibi. »Das ist ein braves Kätzchen.«

Janice verdrehte die Augen. »Das ist kein Kätzchen, das ist ein Säbelzahntiger.«

»Dann eben ein braver Säbelzahntiger.« Bibi zuckte mit den Schultern. Nine leckte ihr die Hand.

»Sie gehört in den Bronx Naturpark zu den anderen Schimären.«

»Sie ist keine Schimäre«, widersprach Tess. »Sie ist eine KATZE.«

»Soso«, entgegnete Janice und zog eine ihrer dünnen Brauen so hoch, dass sie beinahe unter dem blauen Haaransatz verschwand. »Sie würde all die Hamsterigel und Natterhasen und Pandaquokkas erschrecken. Oder sie fressen. Die sollten einige von denen etwas größer machen.«

»Die großen Schimären sind illegal«, warf Theo ein.

»Als ob das Menschen von etwas abhalten würde«, antwortete Janice.

»Das Einzige, was Nine frisst, ist ihr Trockenfutter«, beendete Tess die Diskussion. »Sie rufen doch nicht wirklich unsere Eltern an, oder?«

Janice stützte wieder die Hände in die Hüften. »Sind unter euren Eltern professionelle Historiker, die das Alter dieses Tunnels bestimmen könnten? Oder vielleicht Journalisten, die darüber berichten würden? Mächtige Anwälte oder Ex-Präsidenten, die dafür sorgen könnten, dass dieses Gebäude nicht vor unseren Augen an irgendeinen reichen Mann verkauft wird, der sich nicht um die Vergangenheit und lediglich um seine eigene Zukunft schert?«

Tess blieb einen Moment lang still. »Nein. Nichts in der Art.«

»Dann rufe ich sie auch nicht an.« Janice ließ ihre Zähne aufblitzen. Ein Lächeln oder eine Grimasse. Oder möglicherweise beides.

»Falls Sie doch einen Anwalt oder Historiker anrufen, könnten Sie vielleicht sagen, dass Sie den Tunnel gefunden haben?«, fragte Jaime.

»Aber was ist, falls ihr eine unglaubliche Entdeckung gemacht habt?«, wollte Bibi wissen. »Wollt ihr denn gar keine Anerkennung dafür?«

»Wichtiger als jede Anerkennung ist mir, dass meine Großmutter nicht herausfindet, dass ich etwas getan habe, was sie nicht gutheißen würde«, erklärte Jaime. Tess und Theo nickten.

»So eine Großmutter habe ich auch«, gab Janice zu. »In Ordnung. Wir werden niemandem von euch erzählen, nicht wahr, Bibi?«

»Ich bin dreiunddreißig Jahre alt und meine Eltern sind immer noch sauer, dass ich damals nicht mit John Park zum Schulabschlussball gegangen bin«, erwiderte Bibi. »Ich werde schweigen wie ein Grab.« Sie drückte Nine einen dicken Schmatzer auf den Kopf und Nine empfing ihn, als stünde er ihr zu.

Janice spähte wieder die Steintreppe hinab. »Bis ich mich entschieden habe, was ich mache, werde ich diese Tür schließen. Kann ich bitte ein wenig Hilfe bekommen?«

Gemeinsam schoben Theo, Tess, Jaime und die beiden Frauen die »Tür« zu. Sobald sie geschlossen war, fügten sich die Steine so nahtlos aneinander, dass man kaum glauben konnte, dass sich dort überhaupt jemals eine Öffnung befunden hatte. Was vermutlich der Sinn der Sache war, dachte Theo.

»Also, Kinder, es war interessant, euch kennenzulernen«, sagte Janice, die Göttin. »Aber ich bin für heute Nachmittag komplett ausgebucht und glaube, es ist besser, wenn ihr euch mit eurem Säbelzahntiger jetzt auf den Weg nach Hause macht.«

»Vielen Dank, Ma’am«, erwiderte Jaime. »Wir wissen das zu schätzen.«

»Da bin ich mir sicher.« Janice deutete auf die andere Seite des großen Raumes, wo sich eine Tür mit der Aufschrift »Ausgang« befand. »Zum Laden geht es dort entlang. Wenn ihr geradeaus weitergeht, kommt ihr direkt auf die Straße. Ich bin überzeugt, ihr findet allein hinaus. Aber fasst ja nichts an!«

Sie wandten sich bereits zum Gehen, als Janice hinzufügte: »Und treibt euch vielleicht ab jetzt nicht mehr auf Baustellen herum. Ihr wollt doch nicht in Schwierigkeiten geraten, oder?«

»Zu«, sagte Tess.

»Spät«, ergänzte Theo.

Theo, Tess, Jaime und Nine erreichten die Eingangstür zu Jennings’s Fine Designs, ohne irgendeins der handgenähten Kleidungsstücke zu zerstören, Regale umzustoßen, irgendetwas explodieren zu lassen oder Katzenhaare auf den Kundinnen zu verteilen. (Sofern die Kundinnen nicht Katzenhaare auf sich selbst verteilten.) Einige von ihnen hatten Angst vor Nine, andere konnten die Hände nicht von ihr lassen. Natürlich nur, wenn Nine das zuließ. Es war ihre Superkraft. Eine von vielen.

Sobald sie sich auf der Straße befanden, deutete Theo auf die Reinigung nebenan. Er flüsterte: »Auf dem Papier, das wir gefunden haben, stand …«