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Susann Teoman

Döner für zwei

 

Saga

Mevlana Kebap

»Frollein! Sie da hinten, spreken Deutsch, hä?«

Ich sehe mich irritiert um. Wen meint der Typ? Aber außer ein paar weiteren Kunden und Raschid und Hasan, den beiden Kellnern, ist da kein »Frollein«.

»Frollein, he, ja, genau Sie da meine ich!« Er deutet mit seinem wurstartigen Zeigefinger auf mich. Zögernd trete ich auf seinen Tisch zu.

»Essen kalt. Brrrrr!« macht er und schüttelt sich. »Wein sein zu warm, bääääääh! Verstanden?«

Ich stelle mich abwartend vor seinen Tisch und verschränke die Arme vor der Brust. Raschid und Hasan gesellen sich neugierig zu mir.

»Neues Essen heeerbringe, heißßßßßßßßß, haste verstanden, Mädschen?«, blafft er unfreundlich.

Raschid und Hasan beobachten mich amüsiert.

Ich baue mich vor dem geschmacklos gekleideten Kerl auf, er trägt ein rot-weiß gemustertes Hawaiihemd und viel zu enge grellgrüne Shorts, die seine blassen, spärlich behaarten Beine hilflos umklammern. Glücklicherweise sitzt er, sodass ich größer wirke als er, während ich mein Kinn vorstrecke und zuckersüß lächele: »Ihr Kebap ist heiß, es wurde vor nicht einmal drei Minuten frisch vom Grill geholt, und Ihr Wein kam eben erst aus der Kühlzelle. Und wenn Ihr Deutsch wirklich so unter aller Sau ist, dann sollten Sie einen Besuch im Goethe-Institut in Erwägung ziehen. Wenn Sie denen genug zahlen, werden sie Ihnen bestimmt vernünftiges Deutsch beibringen. Guten Abend.« Ich wende mich ab und lasse meine kinnlangen Locken dabei hochnäsig herumwirbeln.

»Idiot«, denke ich wütend.

Die Kellner brechen in meckerndes Gelächter aus.

»ALEYNA!«, brüllt Baba quer durch das Restaurant.

Mist.

Er hat mich gehört. Würde sagen, ich stecke in Schwierigkeiten.

Er bedeutet mir mit einem Nicken in Richtung Küche, dass ich ihm dorthin folgen soll. Ich stöhne, tue aber wie geheißen.

»Aleyna, hemen buraya gel!«,brüllt er erneut, was so viel heißt wie: »Komm her, aber plötzlich!«

Baba war schon dreißig, als er auf der Suche nach einem großen Abenteuer nach Deutschland einreiste. Er stammt aus Istanbul, wo seine Familie größtenteils aus Handwerkern besteht. Er hatte sich angesehen, wie seine Verwandten lebten, und da Handwerker in der Türkei leider mehr schlecht als recht bezahlt werden, hatte er sich entschlossen gegen eine Fortsetzung der Familientradition gewehrt. Baba wollte Geld verdienen. Und man hatte ihm erzählt, dass die Straßen in Deutschland förmlich mit Geld gepflastert seien. Man müsse sich lediglich bücken und es aufheben.

Er hatte also ein paar Monate lang am Fließband einer Fabrik gestanden und dabei festgestellt, dass das Geld hier genauso schwer zu verdienen war wie zu Hause. Aber aufgeben kommt für uns Mevlanas auf gar keinen Fall infrage, also hat er sich nach einer Marktlücke umgesehen. In einem Land, in dem es für den türkischen Geschmack nur eine unzureichende Vielfalt an Lebensmitteln gab (es waren immerhin die Siebzigerjahre und so exotisches Gemüse und Obst wie Auberginen, Okrafrüchte, Wassermelonen, grüne Pflaumen und dergleichen gab es kaum), erkannte er schnell, dass seine Landsleute sich nach heimatlichem Essen sehnten, nach deftigen Kebaps und süßem Baklava.

Mit einem festen Ziel vor Augen hatte er in wenigen Jahren ein kleines Vermögen zusammengespart. Mit einem zusätzlichen Kredit, mit dem er sein neu erworbenes Restaurant umbaute, gründete er das »Mevlana Kebap«, ein florierendes Unternehmen, ganz im Sinne der türkischen Gaumenfreuden. Was er an Deutschkenntnissen benötigte, hat er irgendwo immer mal ein wenig aufgeschnappt und da er hier ja eigentlich fast immer nur Türkisch spricht, ist sein Deutsch grammatikalisch nicht immer perfekt, vor allem dann nicht, wenn er wütend ist. Für einen Kursbesuch reichte seine Zeit nie wirklich aus, ständig arbeitete er und gönnte sich selbst kaum einmal eine Pause. Auf meine sprachliche Erziehung hingegen hat er schon immer sehr viel Wert gelegt. Deshalb spricht er mit mir deutsch, na ja, sagen wir, er versucht es zumindest und meist klappt es auch, es sei denn, er ist gerade wütend oder müde oder ihm ist das entsprechende Wort auf Deutsch nicht geläufig.

Das »Mevlana Kebap« ist sein ganzer Stolz, sein kleines Imperium, sein Schloss, das er eigens für sein einziges Kind, mich, errichtet hat. Ob ich es nun will oder nicht: Eines Tages soll ich das Restaurant einmal übernehmen.

»Du wissen genau, dass der Kunde König ist, warum du meckerst ihn an?« Baba spricht nur selten, aber wenn er dann doch einmal den Mund aufmacht, dann tut er dies meistens mit der Dezibelzahl eines Presslufthammers.

»Aber Baba, der Kerl motzt schon, seit er hierhergekommen ist, und ...«

»Wie alt bist?«, fragt Baba unvermittelt.

»Achtzehn«, antworte ich verblüfft.

»Ah, also du sein erwachsen, nicht wahr?«

»Ja, schon ...«

»Erwachsene, INTELLIGENTE Menschen nix anbrüllen fette Kunden mit viel Appetit, verstanden?!« Baba hatte immer schon seine eigene Logik. Aber gut, irgendwo hat er ja auch recht. Der Kunde ist König.

»Meine Schicht ist jetzt sowieso vorbei. Ich gehe dann mal. Tanja wartet schon auf mich.«

»Ah, braves Mädchen! Du lernen mit Tanja für Abitur, das sein gut! Hier, nimmst du Irmik Helvasi mit, heute ist Kandil. Sevaptir, kizim.« Sevaptir, das ist eine der türkischen Redensarten, die man nur schwer übersetzen kann, aber es bedeutet, dass man Gutes tun soll, man teilt sein Essen und auch seine Getränke und, wenn es nötig ist, sogar sein Geld mit anderen Menschen, Menschen, die einem entweder nahestehen oder es nötig haben oder beides.

Die Familie meiner Freundin Tanja, die alle Ärzte sind, hat eine Mahlzeit sicher nicht nötig, aber Tanja liebt Helva und meine Eltern wissen das natürlich. Immerhin sind wir schon seit der fünften Klasse beste Freundinnen. Ich nehme den in Butter gewendeten und mit Zuckerwasser und Zimt abgelöschten Gries, auf dem geröstete Pinienkerne verstreut sind, entgegen. Er ist noch warm und duftet verheißungsvoll, sodass mir unwillkürlich das Wasser im Mund zusammenläuft.

Heute ist Miharc Kandili. Man sagt, wenn man sich heute etwas wünscht, dann geht es auch in Erfüllung. Ich habe nur einen einzigen Wunsch: Anwältin zu werden. So ein scheinbar einfacher Wunsch, der aber so schwer zu erfüllen ist.

Ich seufze, während ich meine blütenweiße Schürze abstreife und meinen bordeauxroten Rock und die weiße Bluse gegen Jeans, T-Shirt und lila Flipflops austausche. Das ist mein Leben.

Während die meisten Mädchen daheim mit ihren hübschen Barbiepuppen spielten und ihre Eltern sie zum Ballett- oder Klavierunterricht fuhren, habe ich Bowling mit leeren Rakiflaschen und Zwiebeln gespielt und mithilfe von fünfhundert Gramm Curry und Pfeffer und einem Ventilator einen fantasievollen Sandsturm in der riesigen Küche unseres Restaurants verursacht.

Wenn der Koch Adnan Kelle, einen im Ofen gebratenen Schafskopf, für einige wichtige türkische Kunden zubereitet und zum Abkühlen auf den Tresen gestellt hatte, schlich ich mich in die Küche und setzte dem armen Schafskopf Babas Brille auf. Adnan hat mich deshalb mehr als einmal mit einer riesigen Suppenkelle aus der Küche verjagt. Nicht, dass er mir tatsächlich etwas hätte antun wollen, dazu hatte er mich immer schon viel zu gerne. Aber so ein freches Eindringen in sein Hoheitsgebiet musste ja irgendwie bestraft werden.

Hier bin ich aufgewachsen, inmitten von riesigen Pfannen mit delikaten Soßen und Döner und Fleischbergen, so weit das Auge reicht. Fleischstückchen braten hier täglich auf langen Metallspießen, mit Pistazien und Auberginen, mit Tomaten und Zwiebeln oder in einer deftigen Knoblauchsoße.

Das »Mevlana«, das bekannteste türkische Dönerund Kebaprestaurant der Stadt, liegt in der Weidengasse, dem türkischen Viertel von Köln, in dem jeder Türkisch spricht, weil das hier nun mal so ist, wobei es gleichgültig ist, ob es sich beispielsweise um Frau Müller von der Bäckerei Kamps um die Ecke handelt oder um Hasan Özak, den hiesigen Metzger.

Alle, auch nicht-türkische Anwohner und Angestellte, sprechen hier Türkisch und sind demzufolge auch voll in die türkische Kommune integriert. Frau Müller kann ebenso gut beim Metzger um Fleisch feilschen wie meine Mutter, die darin wirklich nicht zu übertreffen ist. Und Gina und Giovanni vom italienischen Feinkostladen zwei Geschäfte weiter können auf Türkisch in unserem Restaurant Essen bestellen und sogar über das Wetter plaudern. Wir sind eine kleine, glückliche, außerordentlich temperamentvolle und bunte Gemeinschaft.

Obwohl es schon spät ist, wir haben schon acht Uhr, ist es draußen noch immer heiß und hell. Ein warmer Sommernachtswind fegt durch die Straßen im Bereich der Weidengasse, als ich mich auf mein Fahrrad schwinge und nach Lindenthal fahre, wo Tanja wohnt.

Ich genieße den Duft nach Blumen und frisch gemähtem Gras, der sich mit Autoabgasen und heißem Asphalt vermischt, mit dem Geruch von Fast-Food-Büdchen und den frischen Sommerparfums der Passanten, die lachend Arm in Arm spazieren gehen, und hier und da strömt mir das herbe Aroma der Biergärten entgegen, an denen ich vorbeifahre. So riecht nur ein Sommer in Köln.

Ich steige ab und schiebe mein Rad in die Einfahrt, in der ein Jeep und ein Austin Mini stehen. Die Autos gehören Tanja und ihrer Mutter. Herr Dr. Miezke, Tanjas Vater, arbeitet in der Uniklinik und kommt selten vor zehn Uhr abends nach Hause.

Ich klingele. Tanjas Mutter öffnet mir. Sie trägt eine Laufhose und ein passendes Top. »Hallo Aleyna! Tanja hängt oben in ihrem Zimmer rum, geh einfach hoch«, begrüßt sie mich.

»Aleyna? Bin ooooooben!«, ertönt es fast zeitgleich, während Tanjas Mutter mir freundlich zuzwinkert, sich die Hörer ihres iPods in die Ohren steckt und davontrabt.

Ich steige die alten Holztreppen der Villa hinauf. Tanjas Eltern lieben es klassisch. Alte Schwarz-Weiß-Fotos vergangener Generationen zieren die Treppenwand, Urgroßmütter und -tanten, Cousins und Cousinen ersten, zweiten und dritten Grades, Kinder und Kindeskinder entfernter Verwandten. Ich bezweifle, dass selbst Tanja alle ihre Familienmitglieder kennt, zumal sie sie doch nur auf Bildern gesehen hat.

Wir Türken sind da anders. Ich kenne alle acht Geschwister meiner Mutter, ihre Neffen und Nichten und deren Kinder mit Namen. Und auch die Familie meines Vaters kenne ich in- und auswendig. So ist das eben bei uns. Aber ich habe mir schon oft gewünscht, es wäre alles anders, nicht so kompliziert.

»Wo bleibst du denn, du lahme Ente?«, ruft Tanja.

»Ja ja, ich bin ja schon da!« Ich öffne die Tür zu Tanjas Zimmer und reiße erschrocken meinen Mund auf. Tanja hängt mit dem Kopf nach unten von der Decke herab.

Ironisch verschränke ich meine Arme vor der Brust. »Gratuliere!«, rufe ich herzlich.

Tanja sieht mich fragend an.

»Sieht ganz so aus, als wüsstest du endlich, was du nach dem Abi tun willst! Du strebst eine Karriere als Fledermaus an!«

Tanja schnaubt empört. »Das ist gut für meinen Teint. Habe gelesen, dass eine ordentliche Gesichtdurchblutung gegen Pickel hilft. Deshalb probiere ich das jetzt einfach mal für ein paar Wochen aus.«

»Aha. Na ja, Glaube versetzt ja bekanntlich Berge. Oh, hier, bevor ichʼs vergesse, meine Eltern haben euch Helva geschickt.« Ich setze die volle Schüssel auf ihrem Schreibtisch ab.

»Klasse!« Tanja vollführt einen halben Salto und landet sicher auf den Füßen, bevor sie sich wie ein neugieriges Hündchen der türkischen Süßigkeit nähert, die Zellophanfolie abnimmt und genüsslich daran schnuppert.

»Ich lieeeeebe dieses Zeugs!«, sagt sie entzückt, schnappt sich den Löffel, der aus einem halb leer gegessenen Joghurtbecher herausragt, leckt ihn gleichmütig ab und beginnt, das Helva zu verspeisen. »Weschen Todeschtag ischt denn?«, fragt sie schmatzend.

»Helva macht man nicht nur, wenn jemand gestorben ist. Heute ist Miharc Kandili, die Nacht, in der alle Gebete erhört und alle Sünden vergeben werden«, erkläre ich wichtigtuerisch.

»Ach, Maus, du klugscheißerst ja wieder mal mächtig herum!« Tanja, die sich mit der Schüssel auf ihr Bett gesetzt hat, steht auf und zerwuschelt mir mit einer Hand lachend die Haare.

Tanja ist so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Sie ist eine typische Deutsche, groß, sehr schlank und athletisch, mit langen blonden Haaren und großen blauen Kulleraugen, wohingegen ich klein und zart bin, mit großen, immer ein wenig erschrocken dreinblickenden Augen, die mehr grün als braun sind und deren Farbton man im Türkischen als »Ela« bezeichnet. Ich habe kinnlange, dunkelbraune Locken und finde eher selten Schuhe in der Erwachsenenabteilung, was ich natürlich nie zugeben würde. Meine übergroßen Augen und meine zierliche Figur finden viele irgendwie süß oder ich wecke den Beschützerinstinkt in den Menschen, was in der Schule wirklich vorteilhaft ist, da viele Lehrer mich aufgrund meines interessierten Blickes besser benoten als andere. In der Grundschule hat mich unsere Klassenlehrerin immer »Mäuschen« genannt, ein Spitzname, den ich eher ärgerlich fand und mit dem mich Tanja noch immer gerne aufzieht.

»Wie immer musst du die Streberin raushängen lassen. Du kannst es einfach nicht lassen, oder?«, neckt sie mich.

Verärgert plumpse ich auf die Bettkante. »Ich kann doch nichts dafür, wenn ich gute Noten bekomme. Ich kann mir Dinge eben gut merken, das ist alles. Das weißt du doch selbst«, verteidige ich mich verdrossen.

»Ja ja, schon gut! Aber trotzdem kann ich manchmal der Versuchung nicht widerstehen, dich ein bisschen zu ärgern!« Sie stupst mich lachend an und lässt sich neben mich fallen.

Ich lange nach einem Brocken Helva und schließe die Augen, während ich darauf herumkaue. »Ich will doch nur Anwältin werden. Ist denn das zu viel verlangt?«

»Gott hilft denen, die sich selber helfen!«, belehrt Tanja mich ihrerseits.

»Mir kann aber niemand helfen.« Missmutig schlucke ich das Helva herunter.

»Außer dir selbst.«

»Unsinn! Du weißt doch genau, dass meine Eltern mir nicht erlauben zu studieren!« Verärgert stehe ich auf und trete ans Fenster.

»Dann studierst du eben ohne ihre Erlaubnis.« Tanja streckt sich faul auf ihrem Bett aus.

»Aber das Jurastudium erfordert viel Zeit, Zeit, die ich mit Lernen verbringen müsste und nicht mit Arbeiten. Außerdem würde mir das Geld fehlen. Meine Eltern müssten mich selbst dann noch finanziell unterstützen, wenn ich in meiner Freizeit arbeite, erst recht, wenn ich außerhalb von Köln, hoffentlich in Heidelberg, studiere.«

»Was du nur immer mit Heidelberg hast!«, wundert sie sich.

»Ich weiß auch nicht. Als Kind war ich mal mit meinen Eltern dort, irgendeine Freundin meiner Mutter hat da gewohnt, und ich weiß noch ganz genau, dass ich dort und nirgendwo anders leben wollte. So eine kleine und doch lebendige Stadt, voll von jungen Menschen, überall sind Studenten, auf den Straßen, in den Cafés und selbst die Führer oben im Schloss waren fast alle Studenten.« Ich blicke verträumt in die Ferne. »Da will ich hin!«

Tanja schmunzelt. »Jedem das Seine, wennʼs dich glücklich macht, dann studierst du eben in Heidelberg, obwohl ich noch immer hoffe, dass du es dir wieder anders überlegst und dich für Köln oder Bonn entscheidest. Ich kann mir ein Leben ohne dich überhaupt nicht vorstellen.«

»Ich werde dich auch vermissen, aber das ist doch alles nur Träumerei. Wie gesagt, wenn meine Eltern mich nicht unterstützen, dann bleibt es auch beim Träumen.«

»Aleyna, jetzt komm mal wieder auf den Teppich! Viele Studenten, wenn nicht sogar die meisten, finanzieren sich ihr Studium selbst. Warum solltest du das nicht können?«

»Können schon, aber dann könnte ich mein Jurastudium nicht in so kurzer Zeit beenden, dass ich mir damit die Karriere aufbaue, von der ich träume. Außerdem kann ich meine Eltern nicht im Stich lassen; sie brauchen meine Hilfe im Restaurant.«

Tanja betrachtet interessiert ihre Fingernägel. »Wenigstens weißt du schon, was du gerne einmal werden willst. Du hast ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich dagegen habe noch immer keinen Schimmer, was ich nach dem Abi tun will.«

»Ich an deiner Stelle würde die Praxis deiner Mutter übernehmen«, schlage ich vor.

»Bäh! Du spinnst ja! Hast du eigentlich eine Ahnung, in welch widerliche Schlünder meine arme Mutter Tag für Tag schauen muss? Nee, die Zahnmedizin kann mir gestohlen bleiben!«

Ich lache. »Da unterscheiden sich die Jobs unserer Eltern wohl nicht allzu sehr. Wir hatten neulich so einen Gast, Junge, Junge, wenn der den Mund geöffnet hatte, rückten alle einen Meter nach hinten, solche schwarzbraunen Ruinen hatte der anstelle seiner Zähne im Mund.«

Tanja lacht nun auch, wird bald darauf aber wieder ernst. »Meine Eltern lassen mir im Gegensatz zu deinen so ziemlich alles offen, sie würden mich auch finanziell unterstützen, aber ich weiß wirklich nicht, was ich für den Rest meines Lebens tun soll. Ich meine, ›ein Leben lang‹ ist eine wirklich lange Zeit, nicht wahr? Was ist, wenn ich beispielsweise Neurochirurgie studiere oder einen anderen medizinischen Beruf, so, wie meine Eltern es sich wünschen, und dann, ein Semester bevor das Studium zu Ende ist, feststelle, dass mir beim Anblick von offenen Gehirnen übel wird? Dann ist der Zug für eine neue Karriere doch längst abgefahren!« Mit komischer Verzweiflung wirft sie sich mit dem Gesicht voran aufs Bett und schlägt in gespielter Trauer auf ihr Daunenkissen.

»Du hast ja noch ein wenig Zeit, um dir zu überlegen, was du tun willst. Aber ich, ich werde nach dem Abi in meinen goldenen Käfig gesperrt, in unser Restaurant, aus dem ich nie wieder herauskann. Ich werde meine Intelligenz an unfreundliche und ständig mosernde Kunden verschwenden und Döner und Pide für den folgenden Tag bestellen. Herrliche Vorstellung!« Ich stütze hoffnungslos meine Ellbogen auf die Fensterbank. Warum nur bin ich nicht wie so viele andere Mädchen? Wenn ich es doch so sehr möchte, warum übergehe ich die Wünsche meiner Eltern nicht einfach und studiere? Die Antwort liegt offen auf der Hand: Ich liebe meine Eltern, sie sind meine Familie. So hart Baba manchmal auch sein mag, im Grunde hat er ein Herz aus Gold und ich hoffe noch immer, ihn irgendwie erweichen zu können, damit er meinem Wunsch zu studieren nachgibt und sich bereit erklärt, mich finanziell zu unterstützen. Bisher leider vergeblich.

 

Tanjas Fenster bietet einen herrlichen Ausblick auf einen Park und das Nachbarhaus, eine rosafarbene Villa mit einem liebevoll gepflegten Garten, das ohne Weiteres das Titelblatt von »Schöner Wohnen« zieren könnte. Es sieht ein wenig aus wie ein kleines Schlösschen, außen ganz in puderzuckerrosa, die Marmorstufen, die zur Haustür führen, und die Fensterrahmen strahlen weiß im Licht der Sonne. Vor den Fenstern befinden sich Terracottakästen mit Blumen in allen Farben, die einen freundlichen Kontrast zu den hölzernen Fensterläden bilden. Ich habe dieses Haus immer schon gemocht. Es geht so eine angenehme, freundliche Atmosphäre davon aus. Gerade biegt ein Fahrrad in die mit weißem Kies bestreute Einfahrt.

Es ist ein silbernes Rennrad, dessen verchromte Speichen im Licht der untergehenden Sonne funkeln. Auf ihm sitzt der atemberaubendste Typ, den ich je gesehen habe.

»Tanja, schnell! Wer ist das?«, flüstere ich, als ob er mich hören könnte.

Sie erhebt sich träge und tritt zu mir ans offene Fenster.

»Ach, das ist nur Lukas, er ist auch auf unserer Schule, sogar in unserer Jahrgangsstufe. Aber ich kenne ihn kaum. Ist ja auch kein Wunder, er ist erst vor zwei Wochen hergezogen. Weiß nur, dass die Mädels alle ganz wild nach ihm sind.«

Ich lehne mich versonnen aus dem Fenster. Mein Gott, ich kann diese Mädchen vollauf verstehen. Lukas hat Haare wie Nutella mit einer Spur Honig darin, es ist braun mit dunkelblonden Strähnen. Das und seine tiefbraunen und muskulösen Arme und Beine weisen darauf hin, dass er oft im Freien Sport treibt.

Er sitzt ab und schiebt sein Fahrrad bis zu einem speziell dafür vorgesehenen Stellplatz. Mit einem Mal blickt er hoch zu Tanjas Fenster. Er hat die schönsten blauen Augen, die ich je an einem Menschen gesehen habe, und sie scheinen geradewegs in meine zu schauen. Für einen Sekundenbruchteil hängen unsere Augen aneinander, bevor ich registriere, dass ich ihn anstarre und mich schnell ducke.

Ich Idiot! Warum um alles in der Welt habe ich den Typen nur so angeglotzt! Wie peinlich!

Tanja grinst boshaft. »Oh, sieht ganz so aus, als hätte das Lukas-Virus dich auch erwischt! Aber ich muss dich leider enttäuschen. Sieht nett aus, unser Lukas, ist aber leider nicht besonders helle, weißt du. Er ist Fußballspieler in der ersten Mannschaft der A-Jugend des FC Köln, bei den Junioren. Er will später Profifußballer werden.«

»Oh.« Mein Herz schlägt noch immer wie verrückt. Atemlos sage ich: »Schade!«

»Schade?«

»Na ja.« Ich wende mich Tanja zu, die sich an den Schreibtisch gesetzt und begonnen hat, ihre Biologiebücher auszupacken. »Erstens ist er sicher so ein Handtaschencasanova, der denkt, er wäre der Tollste, der sexiest man alive, was ihm ein paar Dutzend weiblicher Fans vermutlich bestätigen würden, die geifernd auf der Zuschauertribüne hocken und ihrem Star zujubeln.« Ich fühle mich wieder ein wenig sicherer und füge hinzu: »Und zweitens denke ich nicht, dass so ein verkapptes Model sich mit mir über die Wirtschaftskrise in der Türkei oder die Auswirkungen der Ölknappheit auf die globale Marktwirtschaft oder einfach nur über die Zellteilung der Amöben unterhalten kann. Er ist nur eine schöne Hülle, weiter nichts. Ein leeres Markengefäß, eine Vase aus der Ming-Dynastie etwa, die man sich anschaut, die aber kein vernünftiger Mensch kauft, so einfach ist das«, erkläre ich energisch, als würde ich ihn mir selbst ausreden wollen, und schlage meine Bücher auf.

»Aha. So einfach ist das also«, wiederholt Tanja verschmitzt.

Ich drehe mich ihr zu. »Was meinst du damit?«

»Na, eben hatte ich doch glatt den Eindruck, dass du selbst auch liebend gerne eines dieser blökenden Mädels in seinen Fanreihen wärst.«

»Mach dich nicht lächerlich!«, weise ich sie hochnäsig zurecht. »Und nun lass uns lieber mit Bio anfangen. Wo waren wir gestern stehengeblieben?«

Tanja und ich haben weitestgehend dieselben Abiturfächer. Meine beiden Leistungsfächer, also die Fächer, die den Großteil meiner Noten ausmachen, sind Mathe und Deutsch, mein drittes, schriftliches Prüfungsfach ist Geschichte und mein mündliches Fach ist Biologie. Tanja hat dieselben Fächer in einer etwas anderen Kombination, sie hat Bio und Deutsch als Leistungskurse, Mathe als drittes Fach und Geschichte mündlich. Auf diese Weise können wir zusammen lernen und unser Wissen gegenseitig testen. Zusammen macht das außerdem viel mehr Spaß als allein. Normalerweise fällt es mir nicht sonderlich schwer, mich zu konzentrieren, aber heute ertappe ich mich selbst dabei, wie ich ständig aus dem Fenster schiele, in der Hoffnung, ihn noch einmal sehen zu können. Er zeigt sich nicht mehr und als ich mich gegen zehn von Tanja verabschiede und mich heimwärts auf mein Rad schwinge, bin ich insgeheim ein wenig enttäuscht.