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Louise und das Trollerbe


Mira Lindorm

Schönheit liegt im Auge des Betrachters

(Thukydides, ca. 455-396 v. Chr.)


Konstantinos


Machandel Verlag

Haselünne

Charlotte Erpenbeck

Cover: Elena Münscher

Cover-Bildquellen: Alexandra Petruk/ Christine Lander-Pueschel / shutterstock.com

zuerst erschienen unter dem Titel "Das Trollerbe" im bookshouse-Verlag

Neuausgabe 2019

ISBN 978-3-95959-158-4

Über das Verlagsprogramm

www.machandel-verlag.de

Der Machandel Verlag bietet Ihnen ungewöhnliche Fantasy aus verschiedenen Teil-Genres: Romantik-Fantasy, humorvolle Fantasy, klassische Fantasy, Urban Fantasy, Dark Fantasy. Unsere besondere Spezialität sind Kurz-Romane für Jugendliche und Erwachsene sowie moderne Märchen. Zusätzlich bieten wir Ihnen interessante Krimis, Anthologien, Kinderbücher und Sachbücher.

Besuchen Sie auch unseren Webseiten-Lesesaal! Dort finden Sie ein wenig interessanten Gratis-Lesestoff.




Über die Autorin


Mira Lindorm schreibt, und das seit geschätzten fünfzehn Jahren. Seit rund fünf Jahren schreibt sie auch Urban-Fantasy, bevorzugt solche mit Humor.

Warum? Weil es das ist, was sie selbst begeistert liest.

Außerdem gehört sie zu der Selfpublisherinnen-Gruppe der Märchenspinnerei. Da deren bevorzugte Themen Umarbeitungen von Märchen sind, ist es kein Wunder, dass das Märchenhafte auch bei Mira Lindorm immer wieder durchschlägt.

Und sie schreibt nachts. Vorzugsweise. Denn dann ist es still, dann stört niemand, kein Telefon klingelt.

Dann kann sie so richtig in ihre Geschichten eintauchen.


Weitere Informationen finden Sie auf ihrer Webseite:

www.mira-lindorm.de






Weitere Bücher der Autorin im Machandel Verlag


Herzenswünsche kommen teuer


als Taschenbuch (leichte Übergröße) und ebook erschienen

Märchen- Novelle

Band 10 der Märchenspinnerei

erschienen Januar 2018

104 Seiten


Neugierig, wie Prinzessin Suleika nun einmal ist, findet sie beim Stöbern in der Schatzkammer ihrer Mutter Sheherezade ausgerechnet die Wunderlampe. Und natürlich setzt sie auch prompt den Dschinn darin frei. Der erklärt, dass er ihr zwar jede Menge gewöhnliche Wünsche erfüllen kann, aber nur drei Herzenswünsche für die Dauer ihres ganzen Lebens.

Nach Kinderart äußert Suleika ihren ersten Herzenswunsch spontan – ohne zu ahnen, was sie damit anrichtet.
Für eine Weile schwört Suleika darauf der Wunderlampe ab, doch als sie zur Frau heranwächst, bringt das Leben neue Sehnsüchte mit sich, für die der Dschinn der ideale Ausweg scheint. Bleibt nur die Frage, ob Suleika inzwischen gelernt hat, ihre Wünsche mit mehr Weitsicht zu äußern.
1001 Nacht lang erzählte die todgeweihte Sheherezade ihre Geschichten, bis der Sultan sie verschonte. Mira Lindorm spinnt das Garn nun weiter und beschreibt in "Herzenswünsche kommen teuer" die möglichen Folgen der 1002 Nacht. Ein Thema so zeitlos aktuell wie der Zauber der arabischen Sagenwelt: Egoistische Wünsche, kurzsichtig verwirklicht - ein prima Rezept für Schwierigkeiten.




Der Neue mit der Harley


als Minitaschenbuch (Zigarettenschachtelgröße) und ebook erschienen

Kurzgeschichten

erschienen Februar 2019

74 Seiten (entsprechen ca. 15 Normseiten)


Mann trifft Frau, Frau trifft Mann – Beziehungen sind das halbe Leben. Und nicht immer laufen sie glatt. Diese vier Kurzgeschichten gehen einmal querdurch:

Ein Mann, der die Frauen verführt, eine Frau, die Rache schwört, ein Damentrupp auf Abwegen, und eine sehr freundliche Nachtarbeiterin der speziellen Art.




Kapitel 4



Louise fiel. Anstelle einer lauschigen Waldlichtung mit Fliegenpilzen umgab sie ein luftiges Nichts. Blau und grüngelb schwappte etwas Farbiges darin herum. Louises Gehirn hatte gerade eben Zeit genug, diese Wahrnehmung zu einer sonnenverbrannten Ebene zusammenzusetzen, der sie entgegenstürzte, und ihrem Mund den Befehl zu einem lauten Aufschrei zu geben, da war der Boden auch schon unter ihr.

Dort bleib er, denn zwei braun gebrannte, muskulöse Arme fingen ihren Sturz ab und hielten sie sicher und fest. Besagte Arme gehörten zu einer breiten, ebenso muskulösen Brust mit kleinen braunbeige melierten Löckchen. Über dieser Brust sah sie in das überaus überraschte Gesicht eines braun gebrannten, gut aussehenden Mannes mit dunkelbraunen Augen und braunbeige gelocktem Vollbart und ebenso braunbeiger Lockenpracht. Aus der wiederum zwei dunkelbraune kleine Hörnchen hervorsahen.

Über das Gesicht des Mannes breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. „Heureka“, jubelte er. „Es geschieht heute nicht mehr so häufig, dass die Götter unsereinem ein solches Geschenk aus dem Himmel werfen. Ein Prachtexemplar von einer Frau, und noch dazu gebrauchsbereit!“

Louise folgte seiner Blickrichtung. Offenbar hatte der Sturz dafür gesorgt, dass der Stoff ihres Schlafanzug-Oberteils sich unter ihren Achseln knäulte, denn von der Brust abwärts prangte ihr Körper so nackt wie am Tag ihrer Geburt. Oje! Louise zappelte energisch mit Armen und Beinen, was zugegebenermaßen etwas würdelos ausfiel.

„Stell mich sofort runter.“

„Warum stellen? Sollten wir uns nicht lieber ins Gras legen? Es wäre so viel bequemer für dich.“

„Dummkopf! Vergiss diese dumme Idee mit dem Göttergeschenk. Ich komme von keinem Gott, und schon gar nicht von deinem.“

„Nicht?“ Das Gesicht verzog sich bestürzt. „Wie schade.“

„Nun lass mich schon endlich runter!“, befahl Louise noch einmal, diesmal deutlich lauter und erboster. Ihr unbekannter Retter folgte dem Befehl, nicht ohne Louise noch schnell genussvoll den Hintern zu tätscheln. Louise legte vorsichtshalber sofort einen Meter Sicherheitsabstand zwischen sich und den Mann und musterte ihn. ‚Mann‘ war offenbar nicht ganz die korrekte Bezeichnung. Bis zu den Hüften runter schon, so weit war er eindeutig männlich, aber darunter hatte er behaarte, krumme Beine, die in Ziegenhufen endeten. Vor seinen Beinen hing ein Geschlechtsteil, das einem Pferd Ehre gemacht hätte. Groß, dick und offensichtlich in Habachtstellung. Louise zog hastig an dem Schlafanzug-Oberteil. Leider half alles Ziehen nicht, es über ihre Pobacken zu verlängern.

Der Fremde musterte sie seinerseits und leckte sich verlangend über die Lippen. „So eine schöne Frau“, murmelte er. „Wie schade. Bist du sicher, dass du kein Göttergeschenk bist?“

„Bin ich.“

Sie sah sich um. Nirgendwo war ein Pilz zu sehen.

„Wo bin ich?“

„In meinem Land.“ Der Fremde stellte das Offensichtliche fest.

„Aha. Und welches Land ist das?“

„Neu-Arkadien.“

„Arkadien? Liegt das nicht in Italien?“

„Da lag es mal. Irgendwann vor etlichen Jahrhunderten hatte Zeus die Nase so voll von den Menschen, dass er ein Stück der Welt abspaltete und eine neue daraus machte. Eben Neu-Arkadien. Meinesgleichen hat er zu seiner Unterhaltung mitgenommen. Ich muss sagen, ich bin auch ganz froh darüber, nach allem, was Durchreisende mir so von der Menschenwelt erzählt haben. Hier ist es doch sehr viel schöner. Kein Krach, kein Dreck, keine Städte. Leider hat er sich geweigert, auch nur einen einzigen Menschen mit hierherzunehmen. All die Jahrhunderte hatte ich deshalb nur die Auswahl zwischen spindeldürren Nymphen und noch dürreren Dryaden.“

Ah ja. Das Schema kam Louise allmählich bekannt vor. Noch jemand, der sich auf der Stelle in sie verliebt hatte. Ja zum Kuckuck, hatten denn diese merkwürdigen Geschöpfe alle keinen normalen Schönheitssinn? Das war doch vollkommen abgedreht.

„Wer und was bist du überhaupt?“, fragte sie.

„Konstantinos Kanzantzakis. Ich bin ein Satyr.“

„Ein Satyr? Was ist ein Satyr?“

Als Antwort patschte der merkwürdige Halbmann auf sein fellbedecktes Hinterteil.

„Also …“ Louise zögerte. „Ihr habt alle solche Ziegenbeine?“

„Zeus hat uns so gewollt“, gab der Satyr unbekümmert zurück.

„Zeus, das ist doch so ein heidnischer Gott. Aber du heißt Konstantinos, wie der Grieche in dem Bistro bei mir im Viertel. Der ist ganz sicher getauft, und er ist ein Mensch. Wie kommst du zu so einem Namen?“

Der Satyr blickte ein wenig unbehaglich drein. „Na ja, den Namen habe ich von meiner menschlichen Mutter.“

„Menschliche Mutter?“, echote Louise verblüfft.

„Alle Satyre werden von Nicht-Satyr-Frauen geboren“, erklärte ihr Konstantinos. „Es gibt keine Satyrinnen. Dafür werden alle Kinder, die wir mit Frauen anderer Arten zeugen, Satyre, egal, welcher Art die Frauen angehören.“ Das Thema schien ihm nicht zu behagen. Er lächelte scheu. „Und wer bist du?“

„Louise Hellpichler.“

Automatisch wollte Louise in den gerade so gründlich eingeübten Hofknicks verfallen, musste aber feststellen, dass ihr Schlafanzugoberteil für eine derartige Geste nicht taugte.

„Ich komme aus München. Aus der Menschenwelt.“ Dass sie Käseverkäuferin sei, hatte sie gerade sagen wollen, besserte es aber schnell zu Lebensmittelhändlerin auf. „Und ich bin eine Gräfin“, fügte sie stolz hinzu. „In der Anderwelt, auf Burg Morgenrot.“

Konstantinos trat zwei zierliche Trippelschrittchen zurück und musterte sie erneut. „Wie eine Untertanin von König Oberon siehst du aber nicht gerade aus.“

Louise zerrte mürrisch an ihrem Schlafanzugoberteil. „Keine Angst, dort habe ich bessere Sachen anzuziehen.“

„Nein, nein“, unterbrach Konstantinos sie. „Das meine ich nicht. Deine Haut ist nicht grün.“

„Na und? Deine doch auch nicht.“

„Ich bin ja auch kein Untertan von Oberon.“

„Heißt das, dass Oberon nur grünhäutige Untertanen hat?“

„Na klar. Jeder, der ihm den Treueschwur spricht, wird augenblicklich von oben bis unten grün.“

„Oh!“ Louise stand vor Verblüffung der Mund offen. Noch eine Information, die ihr die Elfen unterschlagen hatten. Was das bedeutete, konnte sie sich leicht ausmalen. Sobald sie den Treueschwur leistete, hatte sie jede Chance verspielt, jemals in die Menschenwelt zurückzukehren. Eine Käseverkäuferin auf dem Viktualienmarkt mit grüner Haut und grünem Haar? Damit würde sie eher in einer Freakshow landen. So etwas Gemeines von diesen Elfen. Andererseits – beim augenblicklichen Stand der Dinge war selbst ein grünhäutiges Dasein am Elfenhof besser als näherer Kontakt mit der Münchner Polizei. Was sie wieder zu ihrem ersten Problem führe.

„Ich sollte gar nicht hier sein“, sagte sie. „Ich wollte zu Graf Oneidas Schloss. Keine Ahnung, warum ich hier gelandet bin. Irgendwie hat der Portalschlüssel wohl eine Fehlfunktion.“

„Darf ich mir das mal ansehen?“

„Gern.“

Sie reichte Konstantinos den Stein. Er wog ihn abwechselnd in beiden Händen, ließ seine Zunge darüber spielen und berührte ihn zum Schluss mit seinem linken Horn. Ein leichtes Summen ertönte.

„Ganz klar“, sagte er zufrieden. „Die Frequenz hat sich verschoben. Kein großes Problem, das habe ich im Handumdrehen wieder gerichtet.“

Er hockte sich hin, malte einen fünfzackigen Stern auf den Boden, legte das Amulett hinein und wedelte unter unverständlich klingenden Beschwörungen mit den Händen. Als das Ganze kein Ende nehmen wollte, hockte Louise sich ebenfalls auf die Erde und sah ihm zu. Eine verschobene Frequenz? Das konnte nur von der Hochspannungsleitung kommen, die hinter ihrem Haus entlangführte. Na ja, offenbar hatte es das Glück gut mit ihr gemeint, dass sie in Konstantinos Arme gefallen war, statt sich auf dem harten Boden alle Knochen zu brechen. Er musste ganz schon stark sein, wenn er jemanden halten konnte, der aus dem zweiten Stock herabgestürzt kam, noch dazu jemanden mit ihrem Gewicht. Beim nächsten Mal würde sie aufpassen, dass sie ein Portal zu ebener Erde wählte.

Wohin war eigentlich ihre Erkältung verschwunden? Seit sie in Neu-Arkadien war, hatte sie weder gehustet noch geniest. Nicht das kleinste Kribbeln in der Nase. Konnte es sein, dass dieses Portal zwar sie, aber nicht ihre Erkältung durchgelassen hatte? Na, wenn das die Pharma-Firmen wüssten. Eine echte Kur für Erkältungen. Louise konnte sich den Slogan im Reisebüro ausmalen: Reisen Sie ins Märchenland, reisen Sie sich gesund! Als Nebeneffekt Kontakte mit ein paar attraktiven Einheimischen …

Konstantinos sah gut aus, wie er da so konzentriert werkelte. Ein intelligenter, wohlerzogener Mann, wie sie bereits nach dieser kurzen Unterhaltung feststellen konnte, und sein Körper … der war durchtrainiert und wohlgeformt. Er erinnerte sie an die griechischen Statuen im Museum. Jede einzelne Haarlocke schien sorgsam an ihren Platz gebürstet. Die Hörner glänzten, die Hufe waren zwar staubig, zeigten aber alle Anzeichen guter Pflege. Ein angenehmer Geruch nach wildem Salbei ging von ihm aus, unterlegt mit etwas Moschus. Wenn Rüdiger doch nur halb diese Qualitäten gehabt hätte. Von dem, was zwischen den Beinen dieses Vorzugsexemplars hing, hätte Rüdiger nur ein Viertel gebraucht und wäre immer noch gut bedient gewesen. Unwillkürlich spürte Louise ein Kribbeln zwischen ihren Lenden. Nein, rief sie sich zur Ordnung, das auf keinen Fall. So ging das nicht, sie konnte doch nicht mit jedem dahergelaufenen Mann ins Bett steigen, oder ins Heu, oder worin Satyre eben so zu schlafen pflegten. Obwohl das zweifelsohne gerade sehr verlockend war. Nein, nein. Louise rief sich erneut zur Ordnung. Sie hatte ihre Verpflichtungen. Ihrer Libido konnte sie ein andermal nachgeben.

Gerade hatte sie angefangen, frustriert die Ameisen vor ihren Füßen zu zählen, als Konstantinos endlich seine Beschwörungen einstellte. Erneut berührte er das Amulett mit seinem linken Horn. Diesmal summte es nicht, sondern gab ein klares, helles Klingen von sich.

„Ausgezeichnet“, sagte er. „Damit müsste es wieder einwandfrei funktionieren.“

„Schön und gut“, sagte Louise. „Bloß, wo ist hier ein Portal?“ Im gleichen Moment hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Es war sonst nicht ihre Art, so unhöflich zu sein. „Also, natürlich, ich finde das erst mal ganz prima, dass du den Portalschlüssel wieder hergerichtet hast. Ganz prima, und ich danke dir dafür.“

Insgeheim rechnete sie damit, dass Konstantinos ihr jetzt seine Rechnung präsentieren würde. In wie auch immer gearteten Naturalien. Aber der Satyr reichte ihr nur mit einem strahlenden Lächeln das Amulett, half ihr auf die Beine und erklärte: „Ich kenne ein nahe gelegenes Portal an der Artemis-Quelle. Von dort aus müsstest du ohne Probleme in Oberons Reich gelangen.“

Wo Graf Oneida auf sie wartete. Louise fiel ein weiteres Problem auf. Verlegen zupfte sie an dem Schlafanzugoberteil. „Das hier“, sagte sie, „ist wohl leider keine adäquate Bekleidung für die Anderwelt. Wüsstest du … hättest du … ich meine, gibt es hier irgendwo die Möglichkeit, an eine vernünftige Bekleidung zu kommen?“

Konstantinos nickte eifrig. „Wie es sich trifft, wohnt Aglaia an der Artemisquelle. Sie hat bestimmt etwas Passendes für dich.“

„Wer ist Aglaia?“

„Eine Quellnymphe.“

„Moment mal, hast du nicht vorhin mal gesagt, die Nymphen seien alle sehr dünn?“

„Leider, ja.“ Konstantinos bekam leicht glasige Augen und sah sie wieder mit verzücktem Rehbockblick an. „Keine von ihnen kommt auch nur entfernt an deine Schönheit heran.“

„Ja ja, schon gut. Lassen wir das Thema. Aber, wenn die Nymphe so dünn ist, ich bin es nicht. Wie sollen mir ihre Kleider passen?“

„Oh, das wird ganz sicher kein Problem sein.“


Es war auch kein Problem.

Die Quelle war wenig mehr als eine Viertelstunde entfernt, einen gemütlichen Spaziergang. Die Nymphe saß gelangweilt neben der Quelle und warf missmutig kleine Steinchen vom Ufer ins Wasser. Als Louise und Konstantinos auftauchten, erhellte sich ihr Gesicht schlagartig.

„Gesellschaft! Wie schön. Endlich mal eine Abwechslung.“

Die Nymphe hatte hellblaue Haut, trug ein leuchtend gelbes Fähnchen von einem Gewand und war gertenschlank und schön genug, um bei Dior als Topmodel durchzugehen.

„Einen wunderschönen guten Tag wünsche ich Euch, verehrteste Aglaia“, grüßte Konstantinos artig und machte einen Kratzfuß. „Darf ich Euch meine Begleiterin vorstellen: Louise Hellpichler von der Menschenwelt, Lebensmittelhändlerin aus der Menschenstadt München und Gräfin von Burg Morgenrot in der Anderwelt.“

Louise schloss sich umgehend den Höflichkeiten an, knickste artig und verkündete sotto voce: „Verehrte Aglaia, es ist mir eine Ehre und eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen.“

Sie brauchten gut eine Viertelstunde, um allen Höflichkeiten Genüge zu tun und zum Grund ihres Besuches zu kommen.

„Ein angemessenes Kleid?“ Aglaia legte den Kopf schräg und musterte Louise eingehend. „Das sollte nicht allzu schwierig sein. Allerdings hat es seinen Preis.“

„Ich habe aber nicht …“, begann Louise, nur um von Konstantinos mit einem Knuff zwischen die Rippen unterbrochen zu werden.

„Liebste Aglaia“, flötete er, „ich bin sicher, Ihr werdet keinen unvernünftig hohen Preis setzen. Bedenkt doch, dass Gräfin Louise unter Zeitdruck steht, es sind nur noch zwei Tage bis zum Vollmond.“

„Nun denn, dann setze ich Folgendes fest: Frau Louise wird mir die ganze Geschichte erzählen, die dazu geführt hat, dass sie hier heute auftaucht. Hat sie mir alles erzählt, bekommt sie von mir ihr Kleid.“

„Meine Geschichte erzählen?“

„Aber natürlich. Für eine gute Geschichte könnte ich sterben. Wenn ich nicht unsterblich wäre, heißt das. Ihr glaubt gar nicht, wie langweilig es ist, wenn man mehrere Tausend Jahre alt und an einen Ort gefesselt ist wie ich und immer nur die gleiche Quelle sehen kann. Wenn ich etwas von der Welt wissen will, müssen es mir meine Besucher erzählen, aber die Besucher sind in den letzten Jahrhunderten sehr viel seltener geworden.“

Louise sah unwillkürlich zu Konstantinos herüber. Der senkte beschämt seinen Lockenkopf.

„Es stimmt. Ich bin in den letzten Jahren auch nicht sehr häufig hier gewesen. Es passiert aber ja auch nicht wirklich viel. Arkadien ist ohne die Menschen langweilig geworden. Zeus hätte euch wohl doch besser nicht ausgeschlossen.“

„Nein, nein“, warf Aglaia hastig ein. „Zeus hat schon völlig richtig gehandelt. Alle meine Schwestern, die in der Menschenwelt zurückblieben, sind an vergiftetem Wasser gestorben.“

Louise revidierte ihre Meinung zum göttlichen Handeln. An die Umweltverschmutzung hatte sie nicht gedacht.

Das Thema wurde zu ungemütlich. Sie wechselte schnell zu ihrer Geschichte. Einer recht ausführlichen Geschichte, da sie immer wieder Erklärungen einflechten musste. Aglaias Wissen über die Menschen endete ungefähr beim römischen Imperium. Deutschland war ihr fremder als der Mond, und München eine exotische, unbekannte Welt. Louise erzählte und erzählte, bis die Sonne den Zenit deutlich überschritten hatte. Konstantinos und Aglaia hingen förmlich an ihren Lippen. Bei Herrn Groddner zuckte Konstantinos irritiert mit den Ohren, und Aglaia machte „Tsk, tsk“. Offenbar kannten sie ihn beide. Den Nachtmahr und Graf Oneida nahmen sie ungerührt zur Kenntnis. Als Louise allerdings beim königlichen Hof angekommen war, stellte Aglaia erneut viele Fragen. Wie sah die aktuelle Mode aus, was war der neuste Klatsch bei Hofe, wer war mit wem liiert und wer nicht mehr … Louise antwortete, so gut es ging. Bei ihrem Stelldichein mit Oberon wurden sowohl Konstantinos als auch Aglaia hellwach, um nicht zu sagen deutlich erregt, und wollten jedes noch so winzige Detail wissen. Louise wusste nicht, ob sie lachen oder sich schämen sollte. Aber sie erzählte erst einmal weiter. „Verräter“, zischte Aglaia, als sie bei dem Moment ankam, an dem Rüdiger der Polizei zu ihrem Schlüssel verholfen hatte, und Konstantinos machte eine eindeutige Handbewegung über seine Kehle. „Ja, und dann bin ich durch den fehljustierten Portalschlüssel hier gelandet.“

„Direkt in meinen Armen“, fügte Konstantinos genüsslich hinzu.

Aglaias Augen glänzten mittlerweile in allen Regenbogenfarben. Sie fiel Louise um den Hals und drückte ihr links und rechts ein Dutzend feuchtkalte Küsse auf die Wangen. „Herrlich“, jubelte sie, „einfach herrlich. Was habt Ihr doch alles erlebt. Wie wunderbar. Mit diesen Erinnerungen werde ich mich manch langen Tag unterhalten können.“

„Das Kleid …?“ Konstantinos sie erinnerte an den Grund ihres Besuchs.

„Moment.“

Aglaia tauchte ab in ihre Quelle. Kurz darauf kam sie wieder zum Vorschein, in den Armen ein hauchzartes Stoffgebilde, das auf blauem Grund so dicht mit grünen Ranken bestickt war, dass man den Grund kaum noch sah. Sie hauchte darauf. Wasser perlte zurück in die Quelle. Dann hielt sie das jetzt vollkommen trockene Kleid hoch. „Das müsste Euch passen, und grün genug ist es auch.“

Louise zog das Schlafanzugoberteil aus und das Kleid an. Tatsächlich, es passte wie angegossen. „Woher habt Ihr das Kleid? Das ist doch ganz sicher nicht Eure Größe.“

„Nein.“ Aglaia lachte. Es klang wie ein plätschernder Bach. „Das Kleid hat meiner Cousine dritten Grades gehört. Sie war eine der Rheintöchter, die den Nibelungenschatz zu bewachen hatten.“

„Die kenn ich.“ Louise war begeistert. „Die hab ich schon einmal in einer Wagner-Oper gesehen. Denen hat doch der Alberich den Schatz geklaut.“

„Genau. Dann sind sie zur Strafe in die Spree versetzt worden, so einen schäbigen kleinen Fluss im Norden, wo sie jetzt nur noch Aale hüten dürfen, und ihr Eigentum wurde unter uns Cousinen verteilt.“

Was für eine harte Strafe, zu den Preußen versetzt zu werden. Louise hätte glatt Mitgefühl für die Rheintöchter gezeigt, wenn ihr dieses Kleid nicht gerade so herrlich passend gekommen wäre. So nickte sie nur, dankte Aglaia noch einmal artig und bat Konstantinos, sie doch jetzt bitte ganz schnell zu dem Portal zu bringen.

Konstantinos nickte, trabte zu einem sandigen Platz unweit der Quelle und führte eine Art Tanz auf. Klapperdiklapperdiklapp trappelten seine kleinen Hufe im Kreis, und der Sand stieg in einer rötlichen Wolke auf. Louise sah perplex zu. Schließlich beendete Konstantinos seine Turnübung. Interessante Schweißperlen verzierten seine prächtigen Muskeln. Louise zuckte es förmlich in den Fingern, einmal sanft darüberzustreichen. Mit Mühe und Not besann sie sich auf ihre eigentliche Aufgabe und fragte noch einmal, ob sie nun endlich zum Portal gehen könnten.

„Dies hier ist das Portal.“ Konstantinos wies auf die sandige Fläche, in die seine Hufe einen deutlich sichtbaren Ring getreten hatten.“

„Das da?“ Louise staunte nicht schlecht. „Ich dachte, ein Portal braucht einen Pilzring.“

„In der Anderwelt vielleicht.“ Konstantinos klang rechtschaffen stolz. „Hier schaffe ich das mit eigener Magie.“

„Wow!“

Konstantinos lächelte wie eine Katze, die gerade den Sahnetopf entdeckt hat. „Ach, ist ja nur eine Kleinigkeit. Sowieso, für eine so schöne Frau tue ich alles.“ Er trat einen Schritt zurück, verbeugte sich noch einmal vor Louise, machte eine weit ausholende Handbewegung und erklärte mit Pathos: „Für dich, schönste aller Frauen, ein Portal an das Ziel deiner Wünsche.“

Er schien ja nicht einmal an eine Gegenleistung zu denken. Kurz entschlossen trat Louise zu ihm, umarmte ihn fest und drückte ihm einen Kuss auf beide bärtigen Wangen, und nach kurzem Überlegen auch noch einen auf den Mund. Bei diesem letzten Kuss wachte Konstantinos aus der Trance auf, in die ihn ihre Aktivitäten versetzt hatten, umarmte sie seinerseits und küsste zurück. Er konnte küssen! Himmelherrgottsakra, der Satyr küsste so hervorragend … so süß … so … Louise fiel kein besserer Ausdruck ein als himmlisch. Mit Mühe und Not konnte sie sich von dieser umwerfenden Erfahrung losreißen und in den Kreis flüchten.

Konstantinos leckte sich genießerisch die Lippen. „Du willst wirklich nicht bei mir bleiben?“ Er sah sie mit schmachtendem Blick an. „Nein, natürlich nicht“, beantwortete er seine Frage gleich selbst. „Du hast eine Aufgabe zu erfüllen. Ach, es wäre doch zu schön gewesen …“

Louise ging in die Hocke und griff nach dem Amulett. Sie bekam gerade noch mit, wie Konstantinos sich vorbeugte „Was immer auch geschieht, wenn du zu mir zurückkommen willst, bist du jederzeit herzlich willkommen!“, rief er. Dann berührte das Amulett den Boden, und Neu-Arkadien verschwand im Nebel des Portals.



Kapitel 5



Es hatte funktioniert. Besser sogar, als erwartet. Louise fand sich nicht in pilzduftendem Urwaldmoder wieder, sondern vor Graf Oneidas Schloss. Offensichtlich war Konstantinos Methode fast genauso komfortabel wie die von Herrn Groddner. Das Amulett allerdings zerkrümelte unter ihren Fingern. Louise war sich nicht sicher, ob das eventuell an Konstantinos Transportmethode lag. Egal. Sie war wieder hier. Energischen Schrittes ging sie auf das Burgtor zu. Verdutzte Gesichter sahen zu ihr herüber. Dann erkannt sie der Torwächter und geleitete Louise zum Eingang, begleitet von erstaunten Rufen und lautem Getuschel.

Oben auf den Stufen wartete der Graf bereits. Seine Augenbrauen zuckten steil in die Höhe, als er Louise ansah, aber er neigte den Kopf mit seinem aristokratisch höflichen Lächeln und begrüßte sie artig.

„Habt Ihr Eure Geschäfte in der Menschenwelt erledigen können, verehrte Louise?“

„Noch nicht ganz.“ Louise war daran gelegen, schnellstens das Thema zu wechseln. „Herr Graf, zunächst einmal muss ich Euch etwas Unangenehmes berichten.“

Die gräflichen Ohren neigten sich interessiert.

„Euer Amulett hat sich bei meiner Ankunft hier zu Staub aufgelöst.“

„Oh“, versicherte Ihr Graf Oneida mit einem süffisanten Lächeln, „das ist normal. Es war ja nur ein Einweg-Schlüssel.“

Dieses Aas. Wenn Louise vorher nicht schon Zweifel an den lauteren Absichten des Grafen gehabt hatte, so bekam sie sie spätestens jetzt. Offensichtlich hatte der Schlawiner seine Hilfe so geplant, dass sie jedes Mal erneut bei ihm als Bittstellerin vorstellig werden musste. Ein Punkt mehr, den sie diskutieren sollte. Aber nicht jetzt, andere Dinge waren momentan wichtiger. Louise verabschiedete sich, so schnell es die Höflichkeit erlaubte, und zog sich betont diskret in ihre Gemächer zurück, um ihr Make-up wieder in Ordnung zu bringen. Nicht ohne vorher rein zufällig bei Kiai zu landen.

Kiai saß stickend im Kräutergarten hinter dem Küchenanbau. Als Louise auf sie zueilte, ließ sie den Stickrahmen sinken und blähte die Nüstern.

„Oh, lá, lá, Ihr wart in Arkadien?“

„Woher wisst Ihr das?“

„Ihr riecht nach Satyr.“

„Wirklich?“ Louise schnupperte an ihren Armen. „Ich rieche nichts.“

Kiai schnaubte verächtlich. „Na klar, Ihr habt ja auch kein Trollblut. Die Einzigen, die noch schlechter riechen können als Menschen, sind meine Elfen-Verwandten.“

Gut so. Dann hatte Graf Oneida keine Ahnung von ihrem kleinen Umweg. „Ihr werdet mich doch nicht an Euren Vater verraten?“

Kiai wieherte vor Lachen. „Verraten? An meinen Vater? Ganz bestimmt nicht, niemals, so gut müsstet Ihr mich doch wohl kennen. Aber Ihr werdet mir Eure neusten Abenteuer erzählen, haarklein.“

Louise dachte daran, dass sie sich bereits an der Quelle den Mund fusselig geredet hatte, seufzte und setzte sich auf die Bank neben Kiai. Heute war wohl ihr Erzähltag.

Kiai hörte andächtig zu. Bei Louises Bericht über Rüdigers Rausschmiss klopfte sie sich lachend auf die breiten Oberschenkel. Bei den Besuchen des Gerichtsvollziehers legte sich ihre Stirn in mitleidige Falten. Beim Zusammentreffen mit der Polizei und Rüdigers Verrat zischte sie wie ein Dampfkessel. „Na warte, der Mistkerl soll mir mal in die Finger geraten!“

„Stellt Euch bitte hinten an“, knurrte Louise, „zuerst zermalme ich ihn.“

Was aber Kiai am meisten interessierte, war der Satyr. Besonders seine männlichen Attribute hatten es ihr angetan. Sie forderte eine detaillierte Beschreibung. Louise gehorchte, mit hochrotem Gesicht und brennenden Ohren.

„Für einen Satyr ist er relativ klein ausgestattet“, sagte Kiai.

„Woher wisst Ihr das?“

„So vor zweihundert Jahren kam einmal einer von ihnen hierher“, hauchte Kiai mit verträumtem Blick. „Er war so wunderschön. Dunkelbraune Haare überall auf der Brust, sogar auf dem Bauch, und ein fast schwarzer Bart. Sein Gemächt – das hättet ihr sehen müssen. Louise, das war dicker als der Oberarm meines Vaters, und mindestens genauso lang.“

Sieh an, sieh an, Kiai hatte es ja faustdick hinter den Ohren. „Offenbar hat er Euch gefallen.“

„Sehr.“ Kiai seufzte erneut. „Leider konnte ich mich ihm nicht nähern, weil er die ganze Zeit bei meinem Vater war.“

Jetzt wollte Louise es genau wissen. „Warum hättet Ihr ihn gern näher kennengelernt?“

„Eine Frau hat Bedürfnisse. Glaubt nicht, dass irgendeiner von diesen zwergwüchsigen Elfenmännern auch nur entfernt fähig wäre, meine Bedürfnisse zu befriedigen, und ein anständiger Trollmann wird sich wohl kaum auf ein Elfenschloss verirren. Nicht, wenn er seinen Kopf behalten will. Dieser Satyr damals, das war der einzige richtige Mann, den ich je gesehen habe.“ Kiai sah mit verträumtem Blick einer Amsel zu, die sich hinter dem Oregano in einem kleinen Wasserbecken badete. „Allerdings sagt man, Oberon sei auch ganz anständig ausgestattet – was Ihr sicher zu bestätigen wisst.“

Louise nickte mit erneut hochrotem Kopf.

„Nur, dass ich ihn noch nie zu sehen bekommen habe, und ihn auch wohl nie sehen werde, solange ich bei meinem Vater lebe.“

„Warum nicht?“, fragte Louise erstaunt.

„Als unverheiratete Erbin darf ich sein Schloss nur verlassen, wenn er es mir erlaubt, und er erlaubt es mir nicht eher, als bis ich ihm mein Bild gewähre. Apropos Bild …“ Kiai beugte sich mit funkelnden Augen vor. „Ich habe es so gemacht, wie wir es vorgestern besprochen hatten. Ich habe mein Bild malen lassen, und es steht in meinem Schlafzimmer. Als er das merkte, soll er vor Wut geschäumt haben. Aber er konnte nichts machen, ich hatte nur eingewilligt, mich malen zu lassen, nicht, ihm das Bild auch zu geben. Hach, war das schön. Selbst Mutter hat gelacht, als sie das hörte.“

Louise zog den Kopf ein. „Jetzt ist er bestimmt sauer auf mich.“

„Ach woher. Gemessen an dem, was er sonst hier an Intrigen gewohnt ist, war das doch nur ein kleiner Fisch. Er wird natürlich versuchen, die Scharte wieder auszuwetzen. Ihr solltet vorsichtig sein bei allem, was er Euch in nächster Zeit vorschlägt. Insbesondere, weil Ihr ihn ja wieder braucht, um bei der königlichen Audienz morgen standesgemäß aufzutreten.“

„Bei Hofe?“ Louise war entsetzt. Irgendwie hatte sie beim gemütlichen Schwatz mit Kiai vollkommen verdrängt, dass der Vollmond unmittelbar bevorstand.

„Ja doch“, sagte Kiai, „morgen Abend ist Euer Schwur fällig.“ Ein kritischer Blick traf Louise. „Ihr solltet Euch schleunigst mit Dame Irnin beraten. Dieses Kleid ist ja ganz schön, aber seit mindestens dreihundert Jahren aus der Mode.“

Louise sprang auf. „Dann entschuldigt mich bitte, Kiai, so wie es aussieht, habe ich heute Abend eine Menge zu tun.“ Louise trabte los.

„Und seht zu, dass Ihr endlich wieder eine normale Hautfarbe kriegt!“, rief Kiai ihr noch hinterher.


Dame Irnin wartete bereits in Louises Gemach. Sie sagte nichts, aber das ungläubige Heben ihrer Augenbrauen sprach Bände. Louise wusste augenblicklich, hier waren Taten angesagt. „Ja ja“, seufzte sie, „ich weiß, wie ich aussehe. Macht Euch bitte an die Arbeit.“

Es war wie beim ersten Mal. Heerscharen von Zofen, Schneiderinnen und anderen Damen scharwenzelten um sie herum und verpassten ihr grünes Make-up und ein neues, deutlich durchsichtigeres hellgrünes Kleid mit dunkelgrünen Blättern. Ihre Haare wurden zu einem kunstvollen grünen Gebilde aufgetürmt, das sie an ein Vogelnest erinnerte. Währenddessen paukte Dame Irnin mit ihr Hofetikette und den Wortlaut des großen Treueschwurs. Kurz nach Sonnenuntergang hatte Dame Irnin ihr Ziel erreicht. Louise war wieder präsentabel grün, und sie konnte den Treueschwur ohne Stocken aufsagen:

„Hiermit gelobe ich, Louise Hellpichler aus dem Reich Deutschland in der Menschenwelt, Gräfin von Burg Morgenrot, meine Treue und Ergebenheit seiner Majestät König Oberon, Beherrscher der Anderwelt, Anführer der Wilden Jagd, Zerschmetterer der Bewohner der dunklen Tiefen, mächtiger Befruchter der elfischen Rasse (typisch Elfen, Oberons Potenz in so einen Schwur mit einzubringen), Gatte der unvergleichlichen Titania und Geliebter der Göttin. Ich werde ihm mit meinem Schwert, meinem Wissen und meinem Körper dienen (schon wieder so eine zweideutige Formulierung), im Krieg wie im Frieden, und jeden seiner Befehle befolgen, als sei es mein eigener Gedanke. Wenn ich mich jemals diesem Schwur entziehe und mich gegen König Oberon und sein Reich wende, soll meine Hand mir verdorren und mein Körper in den tiefsten Tiefen der königlichen Verliese verfaulen bis an das Ende aller Zeiten.“

Das setzte natürlich voraus, dass Oberon sie erst einmal erwischen musste – aber irgendwie hatte Louise den Eindruck, dass er durchaus die nötigen Mittel dazu besaß. Nun ja, sie hatte die Erbschaft nun einmal angenommen, und da hieß es mitgefangen, mitgehangen.

„Dann“, sagte Dame Irnin, „nehmt Ihr das Schwert Miramar und präsentiert es zu Oberons Füßen.“

Das Schwert? Siedend heiß wurde Louise bewusst, dass sie das Schwert nicht mitgebracht hatte. Es steckte immer noch da, wo sie es deponiert hatte: zu Hause in ihrem Schirmständer. Trotz der Schminke wurde sie leichenblass.

„Was ist los, verehrte Louise?“, fragte Dame Irnin augenblicklich besorgt und half ihr zu einem Stuhl. Louise sackte darauf zusammen wie ein Häufchen Elend.

„Ich habe das Schwert vergessen.“

„Vergessen? Wie meint Ihr das?“

„Es ist zu Hause geblieben.“

„Auf Burg Morgenrot? Das ist doch kein Problem. Euer Nachtmahr wird es in kürzester Zeit hierher holen.“

„Nein, nicht auf Burg Morgenrot. Zu Hause. In meinem menschlichen Zuhause.“

Dame Irnin zeigte höchstes Entsetzen. „Doch nicht etwa in der Menschenwelt?“

„Doch. Genau da.“

Dame Irnin sprang mit einem Satz zurück und zeigte zischend ihre perlweißen spitzen Zähne. „Bei der Göttin, Louise, wie konntet Ihr nur! Ihr braucht das Schwert, für die Zeremonie, unbedingt.“

„Geht es nicht vielleicht doch ohne?“

„Auf keinen Fall. Ohne das Schwert ist Euer Schwur hinfällig, und Euer Titel auf Burg Morgenrot nichtig.“

„Aber vielleicht könnte ich es Oberon erklären?“, fragte Louise mit einem Aufflackern von Hoffnung. „Ich meine, ich könnte doch einfach den Schwur beim nächsten Vollmond ablegen.“

„Auf keinen Fall.“ Dame Irnins Augen zeigten nun ein rötliches Glühen. „Auf keinen Fall könnt Ihr Oberon das Schwert vorenthalten. Das ist nicht nur ein Fauxpas, das ist Rebellion. Und Rebellion …“

„Lasst mich raten“, murmelte Louise düster. „Rebellion wird damit bestraft, dass er mich an die Wilde Jagd verfüttert.“

„Genau.“

„Was, wenn ich einfach abhaue?“

Dame Irnins Augen glühten noch roter. „Abhauen? Vor der Wilden Jagd? Vor den Spürhunden der Hölle?“ Ihre Stimme klang jetzt höhnisch. „Glaubt Ihr wirklich, die Wilde Jagd wäre nur auf die Anderwelt beschränkt?“

Louise sackte noch tiefer zusammen. „Dann muss ich das verdammte Ding eben holen“, murmelte sie. „Bloß, wie komme ich dahin?“

Dame Irnin ersparte sich weitere Kommentare und zischte nur verächtlich.

„Ja ja, schon gut. Ich weiß ja. Graf Oneida.“ Louise sah vorsichtig zu Dame Irnin herüber. Deren Augen waren schon fast wieder grün. „Glaubt Ihr, der Graf könnte mich noch einmal kurzfristig in die Menschenwelt bringen?“

Dame Irnin neigte ihr hübsches Köpfchen in kühler Zustimmung.

Ächzend hievte Louise sich hoch. „Dann, meine liebe Dame Irnin, bringt mich doch bitte zu ihm.“


Graf Oneida genehmigte sich ein erlesenes Kristallglas, gefüllt mit giftgrünem Wein, während er dem elfischen Äquivalent eines Kammerorchesters lauschte. Es klang ein bisschen wie ein Rudel jaulender Katzen, die sich auf quietschenden Sofafedern balgten, begleitet von einem monotonen, dumpfen Rhythmus, den ein sehr schwachbrüstiger hellgrüner Elf auf einem hohlen Stück Baumstamm erzeugte. Louise wartete höflich, bis das Gejaule ein Ende hatte und Graf Oneida sie zu bemerken geruhte.

„Herrlich, verehrte Louise“, rief er mit einem Lächeln, das seine Spitzzähne neckisch entblößte.

Louise fühlte sich an die Ballade von Mackie Messer erinnert.

„Diese Kadenzen, das ist gekonnt, so komponiert nur ein wahrer Meister.“ Er stand auf, bot Louise seine Hand und geleitete sie zu dem schwachbrüstigen hellgrünen Elfen. „Darf ich Euch den Komponisten vorstellen, Verehrteste: dies ist Alweon, Barde von Burg Meisenschwinge.“

Besagter Alweon hechelte Louise an wie ein brünstiger Kater. Er schnappte sich ihre Hand, küsste sie (ein wenig zu lange), und säuselte mit Falsettstimme: „Welch ein Anblick. Erlauchter Graf Oneida, warum haben Sie mir diese Kostbarkeit vorenthalten? Welche Formen, welche Fülle! Oh, wie mich das inspiriert. Seien Sie meine Muse, Teuerste, ich werde ein unvergleichliches Lied zu Euren Ehren verfassen.“

Louises Hand schnappte zurück. Sie als Muse? Auf keinen Fall. Am Ende wollte er noch mit ihr vögeln. Wusste doch jeder, was Künstler so mit ihren Musen trieben. Nicht mit ihr. Der Kerl hatte eine Meise, wenn er glaubte, dass sie auf schwachbrüstige Jünglinge stand. Aber trotzdem, höflich musste sie sein, wer wusste schon, was Graf Oneida an diesem Bürschchen so Besonderes fand. Sie durfte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Also heuchelte sie Begeisterung. „Meister Alweon, es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen.“

Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Wie fanden Sie meine neuste Komposition, erlauchte Frau Gräfin?“

Oje. Bei allem, was über die Wildecker Herzbuben hinausging, waren Louises Musikkenntnisse überfordert. Aber auf dem Markt lernte man auch, Konversation ohne Inhalt zu treiben. Small Talk halt. Die Kunden mussten schließlich bei Kauflaune gehalten werden. „Ein interessantes Stück. Ich bin sicher, dass Ihr hart daran gearbeitet habt. So etwas hört man nicht alle Tage“, säuselte sie.

„Ah!“ Das Honigkuchenpferd strahlte wieder. „Eine Kennerin der hohen Künste, wie ich sehe. Wir müssen uns unbedingt einmal näher darüber unterhalten. Vielleicht, wenn Eure Burg Morgenrot wieder belebt ist und Ihr dort Hof haltet. Ich würde mit Freuden als Euer persönlicher Hofkomponist arbeiten.“

Eher fror die Hölle zu. Ein Blick zu Graf Oneida zeigte ihr eine leicht säuerliche gräfliche Miene. Na umso besser. Freundlich flötete sie: „So gern ich Euer Angebot annehmen würde, Maestro, es wird mir leider nicht möglich sein. Zum einen wird es einige Jahre anstrengender Aufbauarbeit brauchen, um Burg Morgenrot auch nur einigermaßen wieder bewohnbar zu machen, zum anderen werde ich bedauerlicherweise für den Luxus Eurer erlesenen Musik auf unbestimmte Zeit keine Finanzen erübrigen können. Ihr würdet mir einen persönlichen Gefallen tun, wenn Ihr bei Graf Oneida bleibt, immerhin werde ich dann Eure Musik bei meinen Besuchen hier genießen können.“ Ein schneller Blick zur Seite, die gräflichen Gesichtsmuskeln hatten sich wieder geglättet. Auch der Künstler, dessen Gesicht bei der Erwähnung ihrer Finanzmisere in Kummerfalten gelegen hatte, strahlte wieder.

„Ihr seid so weise wie schön“, bemerkte Alweon mit einer erneuten tiefen Verbeugung und einem sehr langen, intensiven Handkuss. Louise konnte seine spitzen Zähne schmerzhaft auf ihrem Handrücken spüren. Sobald er ihre Hand wieder losließ, trat sie hastig einen weiteren Schritt zurück und wandte sich erneut an Graf Oneida.

„Verehrter Herr Graf, ich hasse es, Euch bei Eurem hinreißenden Kulturgenuss zu stören, aber ich muss unbedingt unter vier Augen mit Euch reden.“

Oneida gewährte ihr huldvoll ihr Anliegen. Ein Schnipsen seiner langen Finger und die Musiker katzbuckelten aus dem Raum. Ein beinahe unmerkliches Schwenken seines Kopfes, und die gesamte Dienerschaft folgte dem Beispiel der Künstler. Der Graf trat an seinen Tisch, zauberte mit einer eleganten Handbewegung aus dem Nichts ein weiteres Glas hervor und schenkte Louise von dem giftgrünen Wein ein. Louise testete zögernd. Grün möchte er ja aussehen, aber an Geschmack konnte er mit dem italienischen Rotwein aus dem Aldi jederzeit mithalten. Sie prostete dem Grafen zu und nahm einen herzhaften Schluck, nicht zuletzt, um sich Mut anzutrinken.

„Nun, meine liebe Louise, was ist Euer Anliegen?“

„Ahem …“ Louise druckste herum und nahm gleich noch einen Schluck. „Also … ich muss noch einmal nach Hause. Ich meine, zu meinem alten Zuhause. In die Menschenwelt. Ich habe da etwas vergessen.“

„Jetzt?“ Die gräflichen Augenbrauen rutschten hoch. „Morgen müsst Ihr bei Hofe Euren Treueschwur ablegen. Da könnt Ihr unmöglich noch einmal zurückwollen in die Menschenwelt.“

„Das ist es ja gerade. Ich brauche noch etwas für morgen.“

„Was sollte das wohl sein?“

„Mein Schwert“, gestand Louise kleinlaut. „Ich habe es noch zu Hause in meiner Wohnung.“

Der Graf war so überrascht, dass ihm das Weinglas aus der Hand fiel. Es zerbarst auf dem marmornen Fußboden zu tausend nassen Scherben. „Ihr habt was …?“

Louise sah betreten zu Boden.

„Ihr habt …“, der Graf holte hörbar tief Luft, „Ihr habt … Euer SCHWERT zurückgelassen?“

„Ja“, hauchte Louise.

Erdrückende Stille. Die Hände des Grafen zuckten rhythmisch, kleine Krallen fuhren aus den Fingern heraus und wieder hinein. Als Louise hochsah, schillerten auch seine Augen rot, wie vorher die von Dame Irnin. Offenbar ein Anzeichen höchster Erregung.

Schließlich drang ein leichtes Fauchen aus seinem halb offenen Mund, und seine Augen wurden wieder dunkler. Abschätzend musterte er Louise von oben bis unten. „Wisst Ihr eigentlich, was passiert, wenn Ihr das Schwert morgen nicht mitbringen könnt?“, fragte er mit samtweicher Stimme.

So wie er sich anhörte, war das bestimmt nichts Gutes. „Nein“, murmelte sie.

„Ohne das Schwert verfällt Euer Titel.“

„Na ja, das könnte ich überleben.“

„Ich glaube nicht.“

„Wie bitte?“

„Ich glaube nicht, dass Ihr ohne das Schwert den morgigen Tag überleben könnt.“ Graf Oneidas Stimme klang leicht spöttisch.

„Warum nicht?“

„Ohne Euren Titel seid Ihr Freiwild. Eine Menschenfrau in der Anderwelt, allein, ohne Beschützer. Jeder Mann, der Euch trifft, könnte mit Euch nach seinem Gutdünken verfahren. Was das betrifft, nicht nur jeder Mann, sondern auch jede Frau. Glaubt mir, was unsere Frauen mit Euch anstellen würden, würde Euch ganz sicher nicht gefallen.“ Louise schauderte. Alle diese dürren Elfendamen, deren Männer für füllige Frauen schwärmten … Sie konnte sich nur zu lebhaft vorstellen, was den Damen alles einfallen mochte.

„Aber würde König Oberon mich nicht beschützen können?“, fragte sie mit kleiner Stimme.

„Warum sollte er? Ohne Euren Titel wärt Ihr nichts als eine vorübergehende Bettgefährtin für ihn. Ohne Treueschwur seid Ihr nicht seine Untertanin, damit hätte er keinerlei Verpflichtung Euch gegenüber. Er würde es vermutlich als interessante Unterhaltung ansehen, und sich damit vergnügen, seinen treuen Untertanen dabei zuzusehen, wenn sie mit Euch spielen. Falls er Euch nicht gleich für die Wilde Jagd reklamiert.“

Louise troff mittlerweile der Angstschweiß vom Gesicht. Mit zitternden Fingern hob sie ihr Glas noch einmal und nippte daran. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Was sollte sie tun? Sie brauchte unbedingt das Schwert.

„Herr Graf, Ihr müsst mir helfen. Bitte. Ich muss unbedingt nach München zurück, um das Schwert zu holen. Ich brauche Eure Hilfe bei dem Portal.“

Der Graf wies mit einer knappen Handbewegung zum Fenster, wo es bereits stockdunkel war. „Die Nacht ist angebrochen“, stellte er mit ausdrucksloser Stimme fest. „Ihr werdet niemanden finden, der Euch während der Nacht zum Portal geleitet. Dies ist die Zeit der Wilden Jagd. Kein Elf, der seine acht Sinne beisammen hat, würde freiwillig einen Fuß in die Nacht setzen.“

Louise fühlte sich, als ob der Boden unter ihren Füßen verschwand. Sie schwankte. Etwas presste sich gegen ihre Kniekehlen, dann drückte die gräfliche Hand ihre Schulter hinab. Dankbar fand Louise sich auf eben jenem Sessel wieder, in dem Graf Oneida bei ihrem Eintreten in den Raum gesessen hatte.

Sie schloss einen Moment die Augen. „Gibt es keine andere Möglichkeit?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Dieser Gnom, der mich hierher gebracht hat, Herr Groddner, der hat doch auch kein Portal benötigt.“

„Ich könnte natürlich einen Gnomentransport für Euch arrangieren“, sagte der Graf. Seine Stimme war jetzt so neutral wie die eines Bankiers, der die Börsenkurse durchgibt. „Allerdings sind Gnomentransporte teuer. Sehr teuer.“

Ja. So viel wusste Louise selbst. Ohne diese kleine Tatsache wäre sie ja niemals in dieser Situation gelandet. Dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als Herrn Groddners unanständiges Angebot anzunehmen. Sie hatte keine Wahl.

„… eine Möglichkeit.“

Moment mal, was sagte der Graf da gerade? Louise schaltete rapide ihre Ohren wieder auf Zuhören. „Was für eine Möglichkeit?“

Der Graf musterte sie abschätzend von oben bis unten. Oh, lá, lá, wollte der sie etwa auch vernaschen? Aber nein, seine gräflichen Gnaden hatten etwas anderes vor. „Ich habe gehört, dass Ihr bei Eurer Ankunft meiner Tochter Kiai einen Besuch abgestattet habt.“

„Ja.“ Louise gab sich wortkarg. Wollte er ihr jetzt etwa doch eine Moralpredigt halten, weil sie ihm das Bild nicht verschafft hatte?

„Ich hätte damit rechnen sollen, dass auch Ihr nicht im ersten Anlauf schafft, was ich seit zweihundert Jahren vergeblich versuche. Kiai ist schlau, das hat sie von mir.“ Väterlicher Stolz klang durch diese Worte.