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Über dieses Buch

In diesem Buch ist eine große Bandbreite von weltweit gesammelten Märchen und Geschichten zu lesen mit alldem, was sich Menschen über Raben und ihre Eigenarten vorstellten und erzählten. Der schöpferische Rabe, der das Licht bringt, der sich vom Rabenvogel in einen Menschen verwandeln kann und wieder zurück, der sich als Kulturbringer erweist – so finden wir den schwarzglänzenden Vogel in vielen nordischen Erzählungen. Dem hilfreichen, weisen und machtvollen Raben können wir auch in Geschichten aus anderen Ländern begegnen. Durch Fluch und Verwünschung werden Menschen in Raben verwandelt und es bedarf einer mutigen, liebenden Heldin oder eines ebensolchen Helden, um sie zu erlösen. In Sagen und weiteren Berichten wird einzelnen Raben ein Loblied gesungen. Mit dieser Sammlung erhalten Sie eine spannende Zusammenstellung von unterschiedlichen Texten über dieses faszinierende Geschöpf, welches den Menschen seit Anbeginn begleitet und in vielen Kulturen Respekt genießt.

Über die Herausgeber

Christel Bücksteeg ist seit vielen Jahren als Märchenerzählerin und Seminarleiterin im Märchenbereich tätig. Sie studierte Germanistik, Geschichte, Latein und Pädagogik in Bochum und Münster und absolvierte eine zweijährige Ausbildung zur Theaterpädagogin. 2002-2006 war sie Mitarbeiterin in der Evangelischen Familienbildungsstätte Münster und dort viele Jahre für Programmgestaltung und Organisation der Münster’schen Märchenwochen zuständig (1997-2006). Seit 2009 ist sie Studienrätin an einem Gymnasium.

Thomas Bücksteeg studierte katholische Theologie in Bochum. Seit 1990 ist er tätig in der Geschäftsführung und der Bibliothek der Europäischen Märchengesellschaft e. V. im Kloster/Schloss Bentlage in Rheine; außerdem ist er Vorstandsmitglied der Stiftung Europäische Märchenbibliothek.

Beide zusammen haben im Königsfurt-Urania Verlag neben einigen Kongressbänden die Märchensammlungen »Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. …« (2005) und »Aller Anfang ist Sehnsucht …« (2014) herausgegeben.

Märchen von Raben

Herausgegeben von
Christel und Thomas Bücksteeg

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
.

E-Book-Ausgabe

© 2019 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH

Lektorat: Claudia Lazar, Kiel

eISBN 978-3-86826-432-6

Inhalt

Vorwort

Nachtbild

I. Aitologisches – oder: Wie manches begann

Vom Ursprung allen Lebens

(Inuit)

Die Schöpfung – Geschichten vom Raben Tu-lu-Kau-guk

(Eskimo)

Der schneeweiße Rabe

(Sibirien)

Von Abels Bestattung und des Raben Belohnung

(Naher Osten)

Die Aussendung der Vögel

(Naher Osten)

Der Rabe und die Fischgräten

(Indianer)

Der Rabe Welwymtilyn

(Sibirien)

Wie der Rabe das Licht brachte

(Eskimo)

Eine Schamanengeburt

(Indianer)

II. Von helfenden, machtvollen und weisen Raben

Der Rabe und die Schüssel

(Eskimo)

Die drei Raben I

(Irland)

Die dankbaren Tiere

(Brüder Grimm)

Die Prinzessin auf dem Baum

(Pommern und Rügen)

Der Salbyer Rabe

(Dänemark)

Mond und Sonne

(Armenien)

Die Prinzessin in der Drachenburg

(Norddeutschland)

Der arme Mann und der Rabenkönig

(Ukraine)

Der einäugige Rabe

(Turkmenistan)

III. Von Verwandlungen

Der König der Raben

(Frankreich)

Die sieben Raben

(Brüder Grimm)

Die drei Raben II

(Schweiz)

Die Rabe

(Brüder Grimm)

Die Rabenbraut mit dem Tränenkrug

(Schweiz)

Der Faule und der Fleißige

(Brüder Grimm)

Von den zwölf Brüdern, die in Raben verwandelt wurden

(Litauen)

Der Teufel und die hundert Raben

(Wallis)

Der Mann ohne Leib

(Harz)

Der Hund und der Stock

(Indianer)

IV. Verschiedenes mit Raben und Krähen

Die Krähen-Peri

(Türkei)

Dschahis und seine schöne Stiefmutter

(Arabien)

Der ewiglebende Rabe

(Sachsen)

Der Rabe auf Stolzeneck

(Baden)

Von treuer Freundschaft

(Deutschland)

Wie der Rabe die Meise freien wollte

(Estland)

Der Soldat und der Rabe

(Tessin)

Vom Zusammenhalt der Vögel

(Nordost-Afrika)

Die Seele des Wals und das brennende Herz

(Eskimo)

Von einem feierlichen Leichenzug für einen beliebten Raben

(Caius Plinius Secundus)

Die Rache einer Krähe

(Indien)

Friedrich Rotbart auf dem Kyffhäuser

(Brüder Grimm)

Zu Ende bringen

Quellenverzeichnis

Vorwort

Wer sich die Vor- bzw. Nachworte der in den letzten Jahren in dieser Reihe erschienenen Märchenbände anschaut, findet bei den Sammlungen, die ein bestimmtes Tier oder eine Tiergruppe zum Thema haben, Kernsätze wie: »… ist eins der interessantesten Tiere des Volksmärchens, ja der gesamten erzählenden Literatur – weltweit.« 1

»Zu allen Zeiten hat … für die Menschen eine besondere Rolle gespielt.« 2

»… – ein ganz besonderes Tier! Die meisten Lesenden aus unserem Sprachraum werden wohl zuerst an seine Listigkeit und Schläue denken, eine seiner Eigenschaften, für die … in den Märchen der Welt bekannt ist.« 3

Diese drei Beispiele lassen sich zu großen Teilen auf den faszinierenden Handlungsträger dieser vorliegenden Sammlung übertragen – den Raben!

Er gehört mit zu den interessantesten Tieren der Märchen- und Sagenwelt, er hat zu allen Zeiten für die Menschen eine besondere – oft ambivalente – Rolle gespielt. Und natürlich ist er ein ganz besonderes Tier, das unter anderem für seine Schlauheit und List bekannt ist, auch wenn man ihn im hier abgedruckten Märchen von »Die Seele des Wals …« betroffen und spontan einmal kräftig durchschütteln könnte!

Wohl deshalb findet sich die Ambivalenz des Raben in vielen negativen Ausdrücken wieder, die heute noch in unserem Sprachgebrauch zu finden sind: Unglücksrabe, rabenschwarzer Tag, Rabeneltern, klauen wie die Raben, Galgenvogel.

Aber schon der nordische Gott Odin umgab sich neben seinem Pferd Sleipnir und seinen Wölfen Geri und Freki mit zwei Raben, die Hugin (»Gedanke«) und Munin (»Erinnerung«) genannt wurden und auf je einer seiner Schultern saßen. Odin wusste um ihre Klugheit und Erfahrung und sie berichteten ihm täglich, was sie frühmorgens bei ihren Rundflügen an Neuigkeiten in der Welt erfahren hatten. Gerne hätte man mehr über diese speziellen Raben und ihre Kunde erfahren, doch wie schon bei den – den nordischen Gott begleitenden – Pferden und Wölfen berichtet das Grimnirlied der Edda nur kryptisch:

»Hugin und Munin müßen jeden Tag

Über die Erde fliegen.

Ich fürchte, daß Hugin nicht nach Hause kehrt;

Doch sorg ich mehr um Munin.« 4

Nicht immer einfach und für unsere heutigen Ohren eher sperrig und ungewohnt erscheinen auch andere Berichte über die Beteiligung der Raben an Schöpfungsprozessen und an anderen mythologischen Ereignissen über die Entstehung und frühe Zeit der Welt. Doch ist ihr Wirken hier oft positiv: Sie erschufen die Erde und füllten sie mit Menschen und Tieren, sie brachten das Licht und behüteten und beschützten deren Kultur. Von ihnen wird im ersten Kapitel dieses Bandes berichtet.

Im zweiten Kapitel finden sich Texte, bei denen der Rabe hilfreich, machtvoll und weise in Erscheinung tritt, Eigenschaften, die ihm in vielen Ländern der Welt zugeschrieben werden.

Die Texte im dritten Kapitel handeln von dem sehr bekannten Märchenmotiv der Verwandlung oder Verwünschung, hier »natürlich« in einen Raben. Sofort denkt man an das Grimm’sche Märchen von den sieben Raben, Varianten dazu – sowohl bei der Anzahl der Raben als auch im Verlauf der Handlung – sind dort versammelt. Da findet sich beispielsweise das Motiv, den verwandelten Freund oder Geliebten unter vielen von verzauberten Raben wiederzuerkennen, wie es Otfried Preußler in seinem »Krabat« 5 meisterhaft gestaltet hat. Und gleichfalls in den Märchenvarianten bringt dieses Motiv etwas in uns zum Klingen.

Im vierten Kapitel finden sich letztendlich recht unterschiedliche Texte, in denen der Rabe eine Rolle spielt, so gibt es unter anderem einen Abstecher in die Welt der Sagen und in die Welt eines engen Verwandten des Raben – der Krähe.

Die Verwandtschaft zwischen Rabe und Krähe (beide gehören zur Familie der Rabenvögel, lateinisch: Corvidae) ist so eng, dass die Volkserzählungen zwischen Raben und Krähen oft nicht unterscheiden, was durchaus an umgangssprachlichen Eigenarten liegen mag. 6 Da auch wir beim Blick aus dem Fenster oder bei Wanderungen durch die Natur oft nicht genau wissen, ob wir nun eine Rabenkrähe, eine Saatkrähe oder gar einen Kolkraben vor uns haben, sind zwei interessante Texte mit Krähen als Handlungsträgern dort eingefügt.

In dieser Sammlung wurde auf Fabeln bewusst verzichtet. Die Fabel mit dem Raben, dem Käse und dem Fuchs ist beispielsweise immer noch recht bekannt und kann außerdem in Fabelsammlungen gut nachgelesen werden oder findet sich häufig noch in den Lesebüchern der Schulen.

Gerne hätten wir weitere spannende Stellen aus der Literatur abgebildet: Von Plinius’ Betrachtungen über den Raben bis hin zum fesselnd geheimnisvollen Gedicht »The Raven« von Edgar Allan Poe, das unter anderem in »The Tales of Mystery and Imagination« von The Alan Parsons Project textlich-musikalisch eine äußerst beeindruckende Umsetzung fand. Doch das hätte den Rahmen dieser Sammlung gesprengt.

Anfang und Ende des Textkorpus bilden je ein zum Thema passendes Gedicht des Gelsenkirchener Künstlers Heinz-Albert Heindrichs, der als Dichter, Zeichner und Komponist schon früh einen ganz eigenen Zugang zu den Raben der Märchenwelt fand.

Wir laden Sie herzlich ein, den Spuren der unterschiedlichen Rabenerzählungen zu folgen und »Ihren« Raben für sich zu entdecken.

Christel und Thomas Bücksteeg

Anmerkungen

1Jacobsen, Ingrid: Märchen von Wölfen. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania Verlag 2016, S. 8.

2Früh, Sigrid/Schultze, Wolfgang: Pferdemärchen. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania Verlag 2006, S. 183.

3Lutkat, Sabine/Schultze, Wolfgang: Märchen von Füchsen. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania Verlag 2017, S. 9.

4Alle Informationen über Odins oben genannte Begleiter – nebst zahlreichen anderen über die nordische Götterwelt – finden sich in: »Das Lied von Grimnir«, aus: Die Edda. Die ältere und jüngere, nebst den mythischen Erzählungen der Skalda, übersetzt und mit Erläuterungen begleitet von Karl Simrock, 6. verbesserte Auflage, Stuttgart 1876.

5Preußler, Otfried: Krabat. Stuttgart, Thienemann Verlag 1981, S. 236-237, S. 252-256.

6Bies, Werner: Artikel »Rabe« in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich und anderen. Band 11, Berlin/New York 2004. Dort auch umfangreiche weitere Informationen mit zahlreichen Varianten und Belegen.

Nachtbild

Raben

hacken verwünscht

ans Fenster

es sind

aber die Schatten

des Laubs

so ist kein Bild

in der Augen

Nacht

was es ist

es hat aber Flügel

(Heinz-Albert Heindrichs: Siebenbuch)

I. Aitologisches – oder:
Wie manches begann

Vom Ursprung allen Lebens

Der Himmel entstand vor der Erde. Aber er war nicht älter; denn zu der Zeit als der Himmel wurde, war auch die Erde schon im Begriff sich zu formen. Und hier war auch das erste lebende Wesen, von dem wir Kunde haben: Ein Vogel war es, der die Menschen schuf und alles Leben auf dieser Erde. Dieses Wesen nennen wir: Tulungersaq oder Vater Rabe, denn er gestaltete alles Leben sowohl auf der Erde wie in den Menschen, und er wurde der Ursprung von allem.

Er war kein gewöhnlicher Vogel, sondern eine heilige Lebenskraft, die der Anfang war von allem, was zu jener Welt wurde, in der wir nun leben. Doch auch er begann in Gestalt eines Menschen und er tastete im Dunkeln, und seine Taten waren zufällige, bis ihm offenbar wurde, wer er war und was er sollte.

Er saß zusammengekauert in der Finsternis, als er urplötzlich zu Bewusstsein kam und sich selbst entdeckte. Er begann zu atmen und besaß Leben. Er lebte!

Alles um ihn herum war Finsternis, und er konnte nichts sehen. Da tastete er sich mit den Händen vor. Seine Finger strichen über Lehm, die Erde war aus Lehm, alles rings um ihn war toter Lehm. Er ließ die Finger über sich selbst gleiten, fand sein Gesicht und fühlte, dass er Nase, Augen und Mund, Arme, Beine und Körper hatte. Er war ein Mensch – ein Mann.

Über der Stirn fühlte er einen kleinen, harten Knoten. Er wusste nicht, was das war. Er ahnte nicht, dass er einmal ein Rabe werden würde und dass der kleine Knoten wachsen und zu einem Schnabel werden würde.

Er begann nachzudenken. Nun begriff er, dass er ein freies Wesen war, nicht verwachsen mit all dem, was ihn umgab.

Dann kroch er langsam und vorsichtig über den Lehm. Er wollte herausfinden, wo er war. Plötzlich fühlten seine Hände einen leeren Raum vor sich, einen Abgrund, und er wagte nicht, weiterzugehen. Da brach er einen Klumpen Lehm ab und warf ihn hinunter in die Tiefe. Er lauschte, um zu hören, wann dieser den Grund erreichte.

Aber er hört nichts. Er entfernt sich vom Abgrund und findet einen harten Gegenstand, den er im Lehm vergrub. Er wusste nicht, warum er das tat. Aber er tat es. Und dann saß er wieder in sich gekehrt da und dachte darüber nach, was wohl in all dem Dunkel, das ihn umgab, verborgen sei.

Da hörte er plötzlich ein Sausen in der Luft, und ein kleines Wesen setzt sich auf seine Hand. Mit der anderen Hand fühlte er darüber hin und entdeckte, dass es einen Schnabel und Flügel hatte und warme, weiche Federn am ganzen Körper, aber kleine, nackte Füße.

Es war ein kleiner Sperling. Und auf einmal verstand er, dass dieser kleine Sperling schon vor ihm da war, dass er in der Dunkelheit um ihn geflogen und gehüpft war und dass er ihn nicht bemerkt hatte, bevor er sich auf ihm niederließ.

Der Mensch hatte gerne Gesellschaft, er wurde kühner und kroch jetzt furchtloser über den Boden, hin zu der Stelle, wo er zuvor etwas vergraben hatte. Dieses hatte jetzt Wurzeln geschlagen und war lebendig geworden. Ein Strauch war aus der Erde entsprossen, die Erde war nun nicht mehr unfruchtbar. Der nackte Lehm hatte Büsche bekommen, es wuchs Gras darauf.

Aber der Mensch fühlte sich einsam und formte aus Lehm eine Gestalt, die ihm gleich war. Und dann saß er wieder zusammengekauert da und wartete.

Kaum hatte der neue Mensch Leben, da begann er auch schon, mit den Händen in der Erde zu wühlen. Er hatte keine Ruhe und schaufelte rastlos Erde rings um sich auf. Und er entdeckte, dass der neue Mensch einen anderen Sinn als er besaß, einen hitzigen, einen heftigen Sinn. Das gefiel ihm nicht, und er ergriff ihn, schleppte ihn mit sich fort und warf ihn in den Abgrund. Dieses Geschöpf, so hieß es, wurde zum Tornaq, zu einem bösen Geist und von ihm stammten alle bösen Geister.

Wieder kroch er zu dem Strauch, den er gepflanzt hatte. Und siehe: Aus dem Busch ward ein Baum geworden, und neben dem Baum standen noch andere Bäume. Überall standen Bäume, ein ganzer Wald war entstanden, ein Wald mit fruchtbarem Boden. Und mit den Bäumen waren Pflanzen und viele Kräuter überall hervorgesprossen, und er ließ seine Hand über all die Gewächse gleiten und fühlte ihre Formen, und er spürte ihren Duft, aber zu sehen vermochte er nichts.

Nun bekam er Lust, die Erde, auf der er sich selbst entdeckt hatte, kennenzulernen, und er kroch umher mit dem kleinen Sperling, der über seinem Kopf flatterte. Er kann ihn nicht sehen, hört aber seinen kleinen Flügelschlag oder fühlte ab und zu, wie er sich ihm auf den Kopf oder auf die Hände setzte. Der Mensch aber kroch weiter, da er nicht wagte, in der Finsternis zu gehen. Da fand er Wasser ringsum, und er entdeckte, dass er sich auf einer Insel befand.

Nun wollte er auch wissen, was drunten im Abgrund war, und er bittet den kleinen Sperling hinunterzufliegen und ihn zu untersuchen.

Dieser flog fort und blieb sehr lange weg. Und als er endlich wiederkehrte, erzählte er, dass er tief unten, im Lande des Abgrunds gewesen war – in einem neuen Land, das gerade begonnen hatte, eine Kruste zu bilden.

Er beschloss, selbst in das Land des Abgrunds hinabzusteigen, und bittet den kleinen Vogel, sich auf sein Knie zu setzen, und er befühlt ihn, um herausfinden, wie er beschaffen war und wie er es anfing, sich schwebend auf seinen Flügeln zu halten.

Dann tastete er sich weiter in den Wald und brach Zweige ab, die wie Flügel waren, und befestigte sie an seinen Schultern. Aber als er mit den Zweigen schlug, wurden sie plötzlich zu richtigen Schwingen, Federn wuchsen aus seinem Körper und bedeckten seinen ganzen Leib. Der Knochen auf der Stirn wurde größer und entwickelte sich zu einem Schnabel, und er merkte plötzlich, dass er fliegen konnte wie der kleine Sperling. Da erhoben sie sich beide und schwebten hinunter, zum Land des Abgrundes. Aber in dem Augenblick, als der Mann zu fliegen begann, rief er: »Qaoq – qaoq!« Er war zu einem großen, schwarzen Vogel geworden und er nannte sich selbst »Rabe«.

Das Land, aus dem sie kamen, nannte er »Himmel«. Und es war so weit vom Himmel bis zum Land des Abgrundes, dass er sehr erschöpft dort unten endlich ankam.

Hier war alles kahl und öde. Und der Rabe bepflanzte das Land des Abgrundes auf die gleiche Weise wie das Land im Himmel. Er und der Sperling flogen von Ort zu Ort und bald war alles mit Wald bedeckt. Ein Baum stand neben dem anderen, und viele Kräuter und Blumen wuchsen zwischen den Bäumen.

Das neue Land nannte der Rabe »Erde«.

Als die Erde fruchtbar und lebendig geworden war, schuf der Rabe die Menschen.

Manche erzählen, dass er sie aus Lehm formte, genauso, wie er oben im Himmel eine Gestalt nach seiner eigenen Gestalt geformt hatte. Aber andere behaupten, dass die Menschen ihre Entstehung einem Zufall verdankten, der noch seltsamer sei, als wenn sie wirklich mit Absicht und Vorsatz erschaffen worden wären.

Vater Rabe wanderte umher und pflanzte Kräuter und Blumen. Da entdeckte er plötzlich einige Pflanzen mit Schoten, die er zuvor noch nie gesehen hatte. Er ging näher an sie heran, um sie sich genauer anzuschauen. Da sprang plötzlich eine Schote auf, und heraus sprang ein Mensch, wohlgestaltet und voll ausgewachsen. Der Rabe war so verwirrt, dass er seinen Schnabel zurückschlug und selbst wieder zum Menschen wurde.

Und dann ging er lachend auf den Neugeborenen zu und fragte:

»Wer bist du, und woher kommst du?«

»Ich komme aus der Schote da«, sagte der Mann und zeigte auf das Loch, aus dem er herausgekommen war. »Ich war es leid, dort zu liegen, daher schlug ich mit den Füßen ein Loch und sprang heraus!«

Da lachte Vater Rabe herzlich und sagte: »Ei, ei, ei! Du bist ein merkwürdiges Geschöpf. Deinesgleichen habe ich nie gesehen!« Und der Rabe lachte wieder und sagte weiter: »Ich habe ja selbst diese Schotenpflanze gesetzt, ahnte aber nicht, dass so etwas herauskommen würde! Aber die Erde, auf der wir gehen, ist noch nicht fertig. Merkst du nicht, wie sie schaukelt? Wollen wir auf den Hügel dort gehen? Dort ist die Kruste schon fest und hart.« Erst jetzt merkte der Mann, dass er auf schwankendem Grund ging, und er eilte mit Vater Rabe fort.

So entstand der erste Mensch. Und Vater Rabe schuf nun viele Menschen, Männer und Frauen.

Aber es wird erzählt, dass alle, außer den vier ersten, alle Menschen aus Lehm erschaffen wurden. Aber jene vier, die aus einer Schotenpflanze kamen, wurden die Vorfahren für die stärksten Geschlechter der Erde.

Der Mensch war erschaffen.

Aber es heißt, dass am Anfang kein Unterschied zwischen Menschen und Tieren bestand. Die Tiere konnten zu Menschen und die Menschen konnten zu Tieren werden. Und die Menschen benutzten die Hände zum Gehen oder krochen auf allen vieren umher. Erst später lernten sie, aufrecht auf den Füssen zu gehen.

Das Erste, was Vater Rabe den Menschen zu essen gab, waren Beeren, die zwischen all dem, was er gepflanzt hatte, gewachsen waren.

Aber was von den Pflanzen gepflückt oder an Wurzeln ausgegraben wurde, reichte nicht aus. Daher musste andere Nahrung geschaffen werden, und so entstanden die Tiere.

Der Rabe formte sie wie die Menschen aus Lehm: Sie sollten ihre Nahrung werden, wenn sie sie zu jagen gelernt hatten.

Er schuf die Tiere der Erde und die Tiere in der Luft und im Meer. Und er zeigte sie den Menschen und erzählte ihnen, dass sie von ihnen leben sollten, wenn sie gelernt hätten, sie zu jagen.

Aber das war nicht leicht. Es war dunkel auf der Erde. Die Augen konnten nichts sehen. Wollte man gehen, musste man sich mit den Händen vorwärts tasten und nach dem richten, was man mit den Ohren gehört hatte. Alles war Schall.

Die Menschen hörten die Rentiere, die mit tiefen Kehllauten husteten, Wölfe, die heulten, Landbären, die brummten, Füchse, die bellten: »Kak-kak Kak-kak!« Im Meer schnaubten Robben, Walrosse brüllten und Wale pusteten. Vögel schrien und sangen, und die Insekten summten. Man hörte das Rauschen des Windes im Wald, das Rascheln und Raunen der Blätter, das Brechen der Brandung an den Küsten.

Man war umringt von Leben, das nur durch Töne vernommen werden konnte. Aber man sah immer noch nichts. Überall tastete man sich in der Finsternis voran. Es war nicht leicht zu leben.

Da rief der Rabe den kleinen Sperling zu sich und sagte: »Du warst schon, ehe ich mich selbst auf der Erde sitzend fand. Du weißt vielleicht auch mehr als ich. Flieg hinaus in die Welt und finde etwas, das die Erde erleuchten kann, so dass die Menschen sich sehen können und auch die Landschaft um ihre Wohnplätze und die Tiere, die sie jagen sollen.«

Und der kleine Sperling flog fort und verschwand in der Dunkelheit, und so lange blieb er fort, dass der Rabe schließlich glaubte, er würde niemals mehr zurückkehren. Man konnte nicht Tage und Nächte zählen, alles war eins. Es gab keine Zeit, und der Rabe wusste nicht, wie lange der Sperling fort war.

Aber schließlich hörte er einen Flügelschlag und merkte, wie er sich auf seine Hand setzte. Im Schnabel trug er zwei Stücke Glimmer, eingewickelt in Blätter, ein helles und ein dunkles Stück. Diese gab er dem Raben.

Und der Rabe brach ein kleines Stück von dem hellen Glimmer ab und warf es in die Luft. Sogleich floss ein gewaltiges Licht über die Erde und blendete alles Lebende. So stark war das Licht, dass es lange dauerte, bis der Rabe selbst sehen konnte.

Zum ersten Mal schauten die Menschen über das Land, in dem sie lebten. Sie sahen die Wälder, die Tiere auf der Erde und im Meer und die Vögel in der Luft, und sie freuten sich über all die Schönheit, die sie umgab.

Das Leben wurde für sie alle groß und neu.

Aber das Licht war zu stark, es blendete. Da brach er ein Stück von dem dunklen Glimmerstein ab und warf es in die Luft. Gleich wurde das Licht gedämpft, die Menschen konnten sehen, ohne dass ihnen die Augen schmerzten, und die Nacht kam zusammen mit dem dunklen Glimmer und schenkte ihnen Ruhe.

Der Tag begann mit der Nacht zu wechseln.

Jetzt kamen alle Freuden zu den Menschen. Der Rabe lehrte sie Häuser bauen, die Schutz gegen Wind und Wetter gaben, und lehrte sie Kajaks, Frauenboote und alle Arten von Fanggeräten zu machen, so dass sie auf dem Meer fahren und Fangtiere jagen konnten.

Aber es wurden immer mehr Menschen, und auch die Tiere vermehrten sich, und ihre Insel wurde zu klein.

Aber das Meer, das Meer war groß.

Da erhob sich eines Tages eine schwarze und gewaltige Masse aus dem Meer heraus und blieb vor der Insel der Menschen liegen – ein gewaltiges Ungeheuer, das keinem anderen Tiere ähnlich war.

Man ruderte in Frauenbooten und Kajaks zu ihm hinaus und versuchte, es zu harpunieren. Aber alle Harpunen prallten von seinen Seiten ab, ohne dass das Ungeheuer sie auch nur beachtete.

Der Rabe sah den hoffnungslosen Kampf der Menschen und sagte zu dem kleinen Sperling:

»Folge mir und halte dich über dem Ungeheuer schwebend in der Luft, ich will ihn vom Kajak aus jagen.«

Dann paddelte er hinaus, und während sich der Sperling über dem Ungeheuer schwebend befand, warf der Rabe seine Harpune und tötete es. Die Menschen jubelten und schafften es zu ihrem Wohnplatz und speckten es ab. Sie zerlegten es in kleine Stücke und warfen diese in allen Richtungen ins Meer.

Und siehe: Inseln wuchsen aus dem Meer empor, Land schoss auf neben Land und wurde zu einer großen und mächtigen Küste. So entstand das große Festland, und auf ihm war Platz für die Menschen und für alle Tiere.

Als aber die Erde so geworden war, wie sie sein sollte, versammelte der Rabe alle Menschen um sich und sprach Folgendes zu ihnen:

»Ich bin euer Vater, mir verdankt ihr euer Land und euer Leben, und mich dürft ihr niemals vergessen.«

Und dann erhob er sich von der Erde und flog hinauf zum Himmel, wo es noch dunkel war. Hier warf er den Rest des hellen Glimmers aus, und wie ein gewaltiges Feuer brach das Licht hervor über die Welt, und Himmel und Erde waren erschaffen.

So wurden die Erde und die Menschen und die Fangtiere.

Aber vor all diesem war der Rabe und vor ihm der kleine Sperling.

Erzählung der Inuit

Die Schöpfung – Geschichten vom Raben Tu-lu-Kau-guk

Es gab eine Zeit, da auf der Erdoberfläche noch keine Menschen waren. Die ersten vier Tage war der erste Mensch noch eingehüllt in der Schote einer Stranderbse. Am fünften Tag streckte er seine Füße heraus, zersprengte die Schote und fiel als völlig ausgewachsener Mann auf den Boden und stand auf. Er sah sich um, bewegte seine Hände und Arme, seinen Hals und seine Beine und untersuchte sich selbst ganz neugierig. Als er sich umsah, erblickte er die Schote, aus der er herausgefallen war, noch an der Ranke hängend und an ihrem unteren Ende das Loch, aus dem er gekommen war. Dann sah er sich wieder um und bemerkte, dass er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt hatte und der Boden unter seinem Tritt nachgab und ganz weich war. Nach einiger Zeit spürte er im Magen ein unangenehmes Gefühl und bückte sich, um aus einer kleinen Pfütze vor seinen Füßen Wasser in den Mund zu schöpfen. Das Wasser lief in seinen Magen hinunter und er fühlte sich wieder wohler. Als er wiederaufsah, bemerkte er ein schwarzes Ding mit flatternden Bewegungen geradewegs auf sich zukommen. Wenn es anhielt und am Boden stand, sah es ihn an. Das war der Rabe, und als er stehenblieb, hob er einen Flügel und schob seinen Schnabel, wie eine Maske, auf den Kopf hinauf und verwandelte sich im selben Augenblick in einen Mann. Schon bevor er seine Maske hochhob, hatte er den Menschen angestarrt und nachdem er sie aufgehoben hatte, glotzte er noch mehr und bewegte sich, um genauer sehen zu können, hin und her. Endlich sagte er: »Was bist du? Von wo bist du gekommen? So etwas wie dich habe ich noch nie gesehen!« Der Rabe blickte den Menschen an und war immer mehr darüber verwundert, dass dieses fremde Wesen ihm an Gestalt so ähnlich war.

Dann ließ er den Menschen ein paar Schritte gehen und rief wieder erstaunt: »Von wo bist du gekommen? Ich habe früher nie so etwas wie dich gesehen!« Darauf antwortete der Mensch: »Ich komme aus dieser Erbsenschote«, und zeigte auf die Pflanze, aus der er gekommen war. »Ah«, rief der Rabe, »ich habe zwar diese Pflanze geschaffen, aber niemals geglaubt, es könnte so etwas wie du daraus hervorkommen. Komm mit mir auf jene Anhöhe dort; ich habe sie zwar erst ein wenig später gemacht und sie ist noch weich und nachgiebig, aber es ist dort doch fester und härterer Grund als hier.«

Sie gewannen bald das höher gelegene Land und hatten nun festeren Boden unter ihren Füßen. Der Rabe fragte den Menschen, ob er etwas gegessen hätte. Dieser antwortete, dass er aus einer Pfütze irgendein feuchtes Zeug zu sich genommen. »Ah«, sagte der Rabe, »du hast Wasser getrunken. Warte jetzt hier auf mich.«

Er zog die Maske wieder vors Gesicht, verwandelte sich so in einen Vogel und flog hoch in den Himmel, wo er verschwand. Der Mensch wartete, wo er geblieben war, bis der Rabe am vierten Tag zurückkam. In seinen Klauen brachte er vier Beeren. Er schob seine Maske hinauf und wurde wieder ein Mann, der ihm zwei Brombeeren und zwei schwarze Rauschbeeren entgegenhielt und sagte: »Das habe ich für dich zum Essen gebracht. Ich will auch, dass diese Beeren auf Erden häufig vorkommen; jetzt iss sie aber!« Der Mensch nahm die Beeren und steckte sie nacheinander in den Mund, und sie stillten seinen Hunger, den er schon unangenehm gespürt hatte. Dann führte der Rabe den Menschen zu einem kleinen Bach in der Nähe; dort ließ er ihn stehen, ging zum Rand des Wassers und formte aus ein paar Lehmpatzen ein Paar Bergschafe und behielt sie in der Hand. Als sie getrocknet waren, forderte er den Menschen auf, sich anzusehen, was er gemacht habe. Der Mensch fand sie sehr schön und der Rabe befahl ihm nun, seine Augen zu schließen. Sowie er die Augen geschlossen hatte, nahm der Rabe wieder seine Maske vor und machte über den Bildwerken vier Flügelschläge, womit ihnen das Leben eingehaucht war, und als voll ausgewachsene Schafe sprangen sie davon. Nun hob er wieder seine Maske hoch und befahl dem Menschen zu sehen. Wie der Mensch die Schafe sich so voll Leben bewegen sah, schrie er vor Freude auf, und der Rabe sagte: »Wenn diese Tiere zahlreich geworden sein werden, werden die Menschen sehr danach trachten, sie zu bekommen.« Darauf sagte der Mensch, er hoffe, sie würden zahlreich werden. »Gut«, sagte der Rabe, »es wird aber für sie besser sein, in den hohen Felsen zu hausen, so dass sie nicht jeder töten kann, und man soll sie nur dort finden.«