Für alle, die mir diesen Weg ermöglicht haben

 

Für alle, die mich begleitet haben

 

Für alle, die in Gedanken bei mir waren

 

Für alle, die diesen Weg noch gehen werden

 

 

 

Dettighofen, im Herbst 2009

Richard Rost

 

Santa Maria in Chianni

Im Mai 2006 wird das Opernhaus Zürich als Representant der Schweiz zur 500-Jahrfeier der Schweizergarde nach Rom eingeladen, den Festgottesdienst mit Papst Bendikt XVI. musikalisch zu umrahmen. Chor, Orchester und Solisten singen unter der Leitung von Franz Welser-Möst die Krönungsmesse von W.A. Mozart. In einer beeindruckenden Zeremonie würdigt der Papst die Verdienste der Schweizer Garde von den Anfängen im 16. Jahrhundert bis zum heutigen Tag und begrüßt dabei auch mehr als 100 ehemalige Schweizergardisten, die in einem Gedenkmarsch von Bellinzona aus zu Fuß nach Rom gewandert sind.

Der Auftritt dieser schon in die Jahre gekommenen Herren in ihren Uniformen hat mich sehr beeindruckt und auch die Vereidigung der neuen Gardisten auf dem Petersplatz hat sich tief in mein Gedächtnis geprägt. Dass die alte Straße einen Namen hat und über viele Jahrhunderte die wichtigste Verbindung aus dem nordwestlichen Europa nach Rom war, habe ich erst viel später erfahren.

Nachdem ich ein Jahr zuvor von Tiefencastel aus den Alpenhauptkamm über den Julierpass bis nach Chiavenna überquert hatte, war in mir der Wunsch gereift, diesen Weg, dessen Aussprache ich erst lernen musste, bis nach Rom zu gehen: „Via Francigena“. Das Buch „Alle Wege führen nach Rom“ brachte mich dem Vorhaben näher, und endlich 2009 machte ich mich auf den Weg.

 

 

 

 

Blick über Bardone in Richtung Fidenza

 

 

 

 

 

Zu Dir wall’ ich mein Jesus Christ,

der du des Pilgers Hoffnung bist,

gelobt sei Jungfrau mild und rein,

der Wallfahrt wolle günstig sein,

gesegnet, wer im Glauben treu,

er wird erlöst durch Buß und Reu’!

 

( Richard Wagner „Tannhäuser“ 1. Akt )

 

 

 

Pavia, Ponte Coperto

 

 

Johannistag, 24.06.2009

 

Mein Rucksack wiegt 9 kg ohne die Wasserflasche. Ich habe mich beim Packen genau an die Erfahrungsberichte aus dem Internet gehalten, wobei Pia meint, ich könne viel Gewicht einsparen, wenn ich die Müsliriegel wegließe, was ich aber nicht befolgt habe. Mein ganzer Stolz sind meine Lowa Wanderschuhe, die ich schon seit Wochen immer wieder eingelaufen habe und in denen ich mich vom ersten Tag an wohlgefühlt habe. Neben einem Paar Sandalen, 2 Paar Wandersocken, jeweils doppelter Unterwäsche, Hemden und einem T-Shirt, habe ich noch eine 2. Hose und einen warmen Pullover eingepackt, dazu natürlich den obligaten Kraxenponcho und einen leichten Baumwollschlafsack; die Hemden und das Handtuch, sowie eine der beiden Hosen sind aus Mikrofaser, um ein schnelles Trocknen zu gewährleisten.

Alle anderen Kleinteile, wie Waschutensilien, Miniapotheke und Kartenmaterial sind in durchsichtigen Plastiktüten verstaut. Eine Taschenlampe, Handy und Digital-kamera mit Ladekabel sind auch im Gepäck. Bei einem meiner Spaziergänge nach Albführen hatte ich einen Haselnussstock gefunden, den ich mir zurecht geschnitten habe, und an den mir unser Schreiner in Stetten eine Stahlspitze montiert hat; er sollte mir wichtige Dienste leisten. Dazu natürlich das Credenziale, ein Büchlein, das bei jeder Übernachtung abgestempelt wird.

Am frühen Morgen dann ein langer Abschied von Pia, die zur Schule fährt, bevor mich dann Miro, unser Freund und hilfsbereiter Nachbar im Kirchholz, an die S-Bahn nach Hüntwangen bringt. Am Sonntag vorher hatte ich noch weiteres Kartenmaterial bestellt, das bisher nicht eingetroffen war. Ich trotte also mit Rucksack und Wanderstab nochmals ans Opernhaus und hoffe inständig, dass der erwartete Brief dabei sein würde. Als ich um 8:40 Uhr an der Pforte bin, liegt die Post schon da, aber mein Brief ist nicht dabei. „Bitte nochmals nachschauen“, bitte ich die Kollegin am Empfang und tatsächlich liegt der Brief mit kunstvoller und schwer leserlicher Schrift ganz unten im Stapel. Es kann losgehen!

Am Hauptbahnhof Zürich komme ich mir etwas deplaziert vor und werde mit meinem fast zwei Meter langen Wanderstab auch immer wieder gemustert. Im Zug nach Mailand habe ich die Gelegenheit, während tiefhängende und nasskalte Wolken vorbeiziehen, mein Kartenmaterial zu sortieren und aufeinander abzustimmen. Neben den schon erwähnten Karten der Assoziazione Internationale della Via Fancigena (AIVF) benutze ich auch noch das Handbuch von Birgit Götzmann, das mir noch viel Ärger bereiten wird. In Mailand angekommen, finde ich meinen Zug nach Pavia nicht auf der Anzeigentafel, bis mir ein freundlicher Herr erklärt, dass die Züge nach Pavia von Milano Linate abführen, ein Bahnhof, der einige hundert Meter vom Haupt-bahnhof entfernt liegt.

Im Zug nach Pavia, der sich durch die hässlichen Vororte schlängelt, an verdreckten Bahnhöfen vorbei, bekommt mein positives Italienbild bereits einen ersten Dämpfer; wie wird es wohl auf meinen Wegen aussehen?

 

14:10 Uhr Ankunft Pavia

 

Eigentlich wollte ich ja von der Grenzstadt Chiavenna aus meine Pilgerreise beginnen, die vor 4 Jahren das Ziel meiner Alpenüberquerung war, aber es war nicht möglich detailliertes Kartenmaterial von der Gegend östlich Mailands zu bekommen, sodass ich beschloss von Pavia aus zu starten. Der Ponte Coperto war nicht nur das Titelbild auf Birgit Götzmanns Reisebeschreibung, sondern die Stadt Pavia war auch, da über viele Jahrhunderte ein Zentrum Italiens, wichtiger Halt auf der Via Sancti Petri, der alten Pilgerstraße, die nach der Einverleibung des Langobardenreichs durch die Karolinger den Namen „Via Francigena“ oder „Frankenweg“ erhielt.

 

 

Pavia Piazza del Camine

 

Aus römischer Zeit ist in Pavia wenig übrig geblieben, dafür war die Stadt zu oft zerstört und geplündert worden, und auch das Wahrzeichen der Stadt, der Ponte Coperto aus dem 14.Jahrhundert, wurde nach der Zerstörung durch die Alliierten erst in der 50er Jahren wieder aufgebaut.

Ich laufe quer durch die Stadt, aber es ist Mittagszeit und alle Geschäfte sind geschlossen, sodass ich den Kauf einer italienischen SIM-Karte erst einmal verschieben muss. Eine Prospektverteilerin in der Fußgängerzone fragt mich, was ich den mit dem langen „bastone“ vorhabe? Auf meine Antwort, dass ich nach Rom wandere, ernte ich ein unverständiges Lachen mit der Bemerkung, es gebe doch so schöne Züge nach Rom, das sei doch bestimmt angenehmer.

Die Menschen hier begrüßen sich mit dem alten lateinischen „Salve“, was ich mir gleich zu eigen mache. Mein Besichtigungsprogramm beschränkt sich auf den Dom, der sich „in restauratione“ befindet, und auf die Kirche San Pietro in Ciel d’Oro, wo sich in der Krypta die Grabmäler von Boetius und des Heiligen Augustinus befinden. In einer Bar auf einem der Plätze fällt mir plötzlich ein, dass ich mich eigentlich um ein Nachtquartier kümmern müsste, das stellt sich aber schwieriger als erwartet heraus. Alle Herbergen, die ich anrufe, melden „completto“, zudem passt die italienische SIM-Karte, die ich in einem Mobile-Shop erstehen will, nicht in mein deutsches Handy; das fängt schon gut an! 

Da erblicke ich einen weiteren Pilger, unschwer an Rucksack und Stab zu erkennen, und spreche ihn wegen Übernachtungsmöglichkeiten an. Er ist Franzose, heißt Serge Grandais und ist auf dem Weg des Heiligen Martin von Tour über Pavia nach Ungarn, dem Geburtsort des Heiligen. Hier in Pavia wartet er auf Don Vittorio, einem Mitglied der St.-Martinsgesellschaft in Pavia, mit dem er hier verabredet ist und von dem er sich Hilfe bei seinem Übernachtungsproblem erhofft. Nach seiner Ankunft setzen wir uns an einen der zahlreichen Tische eines Cafes auf der Piazza; zu uns gesellt sich auch Renata Crotti, Professorin für Mediaevistik an der Universität von Pavia und zuständig für einen 125 km langen Abschnitt der Via Francigena zwischen Vercelli und Santa Christina. Serge ist Frater in einer Communauté in Paris und seit 58 Tagen Tagen unterwegs; er sieht ziemlich geplättet aus, was ich bewundernd zur Kenntnis nehme, was mir aber auch zu denken gibt in Bezug auf meine noch ausstehenden Strapazen.

An diesem Tisch, wo wir uns über alles Mögliche unterhalten, sehe ich auch die Lösung meines eigenen Übernachtungsproblems in greifbare Nähe rücken. Don Vittorio weiß Rat und lädt uns in seinen Wagen, mit dem er uns nach einer kleinen Stadtrundfahrt in ein Jugendwohnheim bringt. Der Padre, der uns empfängt, erklärt uns, dass die meisten Jugendlichen bereits in den Ferien sind und es freie Betten gebe. Bereitwillig macht er auch seinen timbro in das Credenziale, das ich zum ersten Mal etwas verlegen vorzeige, denn gewandert bin ich ja eigentlich noch keinen Meter. Der Padre erklärt uns den Weg zu dem 500 Meter entfernten, Wohnheim, in dem Mariella zuständig sei, eine Schwester, die angeblich Bescheid weiß, und verabschiedet sich von uns bis zum gemeinsamen Abendessen, zu dem er herzlich einlädt. Don Vittorio bringt uns mit dem Wagen zu dem beschriebenen Wohnheim, wo uns Mariella empfängt. Sie könne uns eine Kleinigkeit zum Essen bringen und Wasser, aber von Übernachtung kann keine Rede sein, da muss ein großes Missverständnis vorliegen, sie habe keine Betten frei! Der Don ist ob dieser Aussage sichtlich genervt und heißt uns wiederum einzusteigen. Er telefoniert mit einem Bekannten:“ Tu hai due stanze per due pellegrini, siamo qui in dieci minuti“? Er fährt mit uns aus der Stadt in das westliche Industriegebiet nach St. Martino, was Serge schon wieder etwas versöhnlicher macht, und hält vor einem Hotel mit Namen „Piccolo Gianino“, schräg gegenüber der Autowerkstatt Freni. Jeder von uns bezieht ein kleines Zimmer und der Padrone lädt uns auch noch zum Essen ein. Serge nennt es „Vorsehung“, ich aber frage mich, was es wohl kosten wird. Serge kommt in Socken zum Abendessen, was mir sehr peinlich ist, ihm aber überhaupt nichts ausmacht. Serge erzählt mir aus seinem Leben und weiht mich in seine Weltanschauung ein. Er ist überzeugt, dass seine - aber auch jede andere Pilgerschaft - die Welt verändert. Er ist besessen von dem Gedanken, die Umwelt zu zwingen, den Menschen, die zu Fuß unterwegs sind, den durch ihre Pilgerschaft erworbenen, moralischen Vorteil zurückzugeben. Auf meine Frage hin, wie das denn so konkret aussehen könnte, antwortet er, dass die Supermärkte anfangen würden, Joghurts nun nicht mehr in 6er-Packs, sondern für Leute, die nicht viel tragen könnten, auch einzeln zu verkaufen. Hosianna! Wir leeren gemeinsam eine Flasche Rotwein und speisen vortrefflich, beide im Glauben, dass Don Vittorio uns ein grandioses Geschenk bereitet hat. Ich lade ihn eine, auf seiner Rückfahrt, bei uns zuhause einen Stop einzulegen. Herzlicher Abschied bereits am Abend, denn ich möchte noch vor dem Frühstück aufbrechen.

 

25.06. Pavia – Santa Christina  26 km

 

Aufbruch um 6:00 Uhr. Ich hole an der Rezeption meinen Ausweis ab und bekomme die Rechnung präsentiert: 80 €! Mit der von Serge herbeigeredeten Vorsehung war es dann wohl nichts. Ich bezahle kommentarlos und stapfe los, immer an der breiten Straße entlang in Richtung Norden.

 

 

Pavia im Morgengrauen

 

Erst als ein Schild mit „Pavia 5 km“ kommt, wird mir bewusst, wie weit außerhalb der Stadt das Hotel eigentlich liegt. Die Autos in morgendlicher Hektik preschen nur so an mir vorbei, schließlich verpasse ich auch noch die Abzweigung, um auf dem Ponte Coperto den Ticino zu überqueren, aber somit komme ich nochmals durch die noch menschenleere Stadt. Auf der Via Garibaldi in Richtung Osten, nehme ich in einer Bar noch einen Kaffee und verlasse die Stadt mit schnellen Schritten. Die Reisfelder sind zwar trostlos, aber für den Anfang ist es ganz gut, auf ebenem Gelände zu gehen, noch dazu ist es frisch und angenehm. Ich schaffe es von unterwegs in der Parocchia von Santa Christina anzurufen, um für die nächste Nacht eine sichere Bleibe zu haben. Der Padre ist sehr nett und bestätigt mir, dass ich willkommen bin.

In Belgioioso mache ich Mittagspause in einer Bar. Die noch minderjährige Bedienung will mir vor dem Essen keinen Capuccino servieren. „Das macht man nicht, weil es Bauchschmerzen gibt“; ich füge mich und trinke den Capuccino nach dem Essen. 14:30 Uhr, nach schier endlosem Marsch in glühender Hitze auf einer stark befahrenen Strada Statale (SS), erreiche ich den kühlen Kirchenraum von Santa Christina, in dem ich mich erst einmal einige Minuten ausruhe. Ich war mit der heutigen Leistung zufrieden, es hätte schlimmer sein können, da ich vor allem nicht wusste, wie ich mit dem Rucksack zurecht komme. Ich zünde eine Kerze an und gehe um die Kirche, wo ich richtigerweise die Parrocchia vermute. Auf einem großen, eingezäunten Sportplatz spielen Dutzende von Kindern unter ohren-betäubendem Lärm. Mein Erscheinen wird freudig kommentiert mit „padre, padre, un pellegrino é arrivato“. Die Mannschaft von Don Antonio versorgt mich sogleich und ich bekomme ein Zimmer mit zwei Betten, die sicher schon bessere Zeiten gesehen haben.