Omis Gabe

Harald J. Krueger

für Wiebke

Omis Gabe

Roman

Harald J. Krueger

1

›Heute endet meine Haltbarkeitsdauer‹, grübelte Ursula Behrens. Die sechsundachtzigjährige Witwe lag im Bett. Sie schaffte es nicht, sich aufzurichten. Tränen sammelten sich. ›Es passt angeblich nie‹, schmollte sie und erinnerte sich an eine Szene in einem alten Film.

Der personifizierte Tod, im schwarzen Anzug, klopft nachts an eine Haustür und wird vom Hausherrn abgewiesen. Daraufhin beklagt er sich: »Es passt den Kandidaten nie. Ich lebe zwar schon ewig, komme aber immer ungelegen. Das ist die Tragik meines Lebens.«

Die Todgeweihte blinzelte sich die Augen trocken. ›Eine Sache muss ich unbedingt noch erledigen‹, ermahnte sie sich. Seit Tagen verließ sie nur zum Essen und für das Gegenteil das Bett. Für die schwindenden Kräfte machte sie den Klimawandel verantwortlich.

Anfang April 2016 verhießen warme Tage die langersehnte frühe Rückkehr des Sommers. Ende des Monats erfror die Freude durch einen Wintereinbruch in Mitteleuropa. Agronomen überboten sich beim Schätzen der Ernteausfälle. Das Mindestgebot lag bei einhundert Millionen Euro.

Aus jahrzehntelanger Routine verfolgte Ursula Behrens mehrmals täglich, auch vom Bett aus, die Wetterberichte im Fernsehen, früher mit ihrem Mann. Günther war vor zwei Jahren mit vierundachtzig gestorben. Das Wetter spielte für den Bauunternehmer eine wichtige Rolle. Das Interesse war durch den Verkauf der Firma vor fast zwanzig Jahren nicht erloschen, selbst bei Ursula nicht.

Obwohl sich die Klimakapriolen diesmal in Hamburg milder auswirkten, verursachten und beschleunigten sie Ursulas Meinung nach den körperlichen Verfall. Seit Tagen pendelten die Temperaturen zwischen nachts null und tags zwanzig Grad, in Süddeutschland minus fünf und plus dreißig.

Heute am Montag, den 2. Mai, wankte die Geschwächte, von Petra, der Haushälterin, gestützt, vom Schlafzimmer die gewundene Marmortreppe hinunter ins Esszimmer zum Mittagessen.

Nach der frischen Hühnersuppe erschien der Hausarzt. Er prüfte Temperatur, Blutdruck und Atmung. Die Ergebnisse kommentierte er nicht. Ihrer Klimatheorie widersprach er mit dem Hinweis, dass in der Villa an der Elbchaussee in Hamburg Thermostaten die Raumtemperatur ganzjährig auf konstante dreiundzwanzig Grad regulierten. Der ungewöhnliche Schneefall in Bayern begründe ihre Schwäche nicht, auch wenn sie sich nicht leugnen ließe.

Ursula war froh, dass er ihr beim Abschied keine Medizin verordnet hatte. Dadurch blieben der Medikamentenverächterin die wohlwollenden Ermahnungen der Haushälterin erspart.

Zurück im Bett ließ sie sich ein Kissen unter den Kopf schieben und schnaufte: »Petra, mit mir geht es zu Ende. Eines muss ich noch erledigen. Rufe meine Tochter an. Angelika soll rasch kommen.« Sie schloss die Augen. Mit zittrigem Atem hauchte sie: »Hole die Papierschere vom Schreibtisch und die stärkste Haushaltsschere aus der Küche. Lege sie griffbereit hier auf den Nachttisch.«

»Was wollen Sie denn damit?«

»Muss ich meinen letzten Willen auch noch begründen? Beeilen Sie sich bitte!«

Den Wechsel vom freundlichen Duzen zum strengen Siezen kannte die sechzigjährige Haushälterin seit fünfunddreißig Jahren. Damals bei der Einstellung war sie fünfundzwanzig Jahre jung. Ursula Behrens war doppelt so alt und gerade zum ersten Mal Oma geworden. Ihre Tochter, Angelika Harms, hatte ihr erstes Kind, Niels, geboren.

Bei dem Vorstellungsgespräch hatte Günther Behrens betont, dass er es leid sei, dauernd neue Mädchen, wie er sich ausdrückte, im Haus anzutreffen. Deshalb wollte er eine gut ausgebildete Fachkraft bis zu deren Pensionierung einstellen. Jahrzehntelang hoffte Petra, das zu erleben. Nun fehlten ihr noch fünf Jahre. Die Unsicherheit ihrer Zukunft im Hause Behrens ließ sie seufzen. Eine vergleichbar gut bezahlte Anstellung würde sie als sechzigjährige nicht finden. Ihre bewährte Methode gegen Bangen und Trübsal war Arbeiten. Zunächst Angelika Harms, die Tochter, anrufen, die Scheren holen und dann abwaschen, saugen, bügeln, Abendbrot vorbereiten.

2

Angelika Harms saß auf dem Sofa und blätterte ihr Vogue-Magazin. Beim Klingeln des Festnetztelefons leuchtete auf dem Display ›Omi‹. Niels hatte ihr das so eingerichtet. Das war einer der Vorteile, dass ihr älterer Sohn bei ihr in der Wohnung am Mittelweg in Hamburg Harvestehude wohnte. Der Fünfunddreißigjährige kümmerte sich mit Hingabe um die Bändigung der Technik wie Fernseher, Computer und Handy. Oft wünschte sie sich, dass er seine Mitmenschen mit einbezöge. Im Augenblick befürchtete sie, dass der Anruf ihre Pläne für den Nachmittag gefährden könnte.

Es meldete sich Petra, die Haushälterin: »Hallo Frau Harms. Ihre Mutter meint, es gehe zu Ende mit ihr, und bittet Sie, rasch zu kommen.«

»Vor 19 Uhr schaffe ich das heute nicht.«

»Verstehe. Es ist nur so« , sie zögerte, »ich sollte ihr Scheren bereitlegen.«

»Wozu das denn?«

»Das wollte sie nicht erklären. Ich bin besorgt. Sie ist sehr schwach. Der Arzt war auch schon da.«

»Ich versuche, Felix oder Niels zu schicken. Ich melde mich gleich wieder.«

Sie tippte auf die Kurzwahltaste für Felix. Ihr jüngster Sohn verkaufte Autos bei der BMW-Niederlassung in Hamburg Nedderfeld. Wie erwartet, war er angeblich in einem Kundengespräch. Sie war überzeugt, dass er in Wahrheit die Sekretärin mit Komplimenten zusülzte. Das konnte er noch besser als Autos verkaufen. Zum Glück war sein Handy erreichbar.

3

Auf Felix` Smartphonedisplay blinkte ›Mutti‹. Er verdrehte die Augen und entschuldigte sich bei dem Kunden: »Das geht ganz schnell.«

Er blubberte ins Handy: »Das passt im Augenblick nicht. Ich melde …«

Angelika unterbracht ihn: »Omi stirbt mal wieder. Sie braucht dich jetzt sofort.«

»Ich komme hier frühestens um 17 Uhr weg.«

Tatsächlich war er sich mit dem Käufer des Neuwagens fast schon einig. Nur der Preis für die Inzahlungnahme des alten BMW 320 war noch strittig. Wie so oft lag die Bewertung des Einkäufers für die Gebrauchten unverschämt niedrig. Felix erhoffte sich ein kleines Zubrot. Er schnaufte: »Der geschätzte Kollege macht es uns nicht leicht. Aber er hat da leider keinen Handlungsspielraum.« Nachdenklich stricht er sich das Kinn. Plötzlich erhellte sich seine Miene: »Ich kenne einen Händler, der faire Preise für gepflegte Gebrauchte wie Ihren bezahlt. Wenn Sie einverstanden sind, rufe ich ihn gleich mal an.«

Der Kunde nickte.

Felix durchsuchte die gespeicherten Kontakte und stellte die Verbindung her: »Hallo Herr Riecken hier ist Felix Harms, heute ist Ihr Glückstag, wenn Sie sofort zugreifen, bekommen Sie einen hochwertigen 320 für 9.000 Euro.« Wenn Felix ihn siezte, wusste Herr Riecken, dass der Kunde mithörte.

Er maulte: »Ich habe den Hof voll mit 320er. Mehr als 8.500 liegen nicht drin.« Das überbot das BMW-Angebot nur um 50 Euro.

»Für 8.800 gehört das Schmuckstück Ihnen.« Felix schaute den Kunden mit schiefen Kopf an und sah ihn zustimmen.

Herr Riecken kannte das Spiel und sagte: »Na gut 8.800 Euro.«

4

Durch die Absage ihres Sohns Felix geriet Angelika Harms Terminplanung ins Wanken. Ihre Achseln nässten. Niels anzurufen, war ihr selten gelungen, andere versuchten es gar nicht erst. Er saß bei der Firma IAM, International Application Manufacturer, zwar immer in seinem Kaninchenstall, wie er die halbhohe Zelle im Großraumbüro nannte, hatte jedoch sein Telefon permanent auf die Telefonzentrale umgeleitet. Das Handy schaltete er nur zum aktiven Gebrauch ein.

Angelika, seine Mutter, überraschte es deshalb nicht, dass sich trotz Durchwahlnummer eine Telefonistin meldete: »Es geht um eine dringende Familienangelegenheit. Niels muss sofort zu Hause anrufen.«

»Niels hat sein Telefon umgeschaltet. Ich kann ihn nicht erreichen und darf meinen Platz nicht verlassen.«

»Müssen Sie aber, und zwar dalli, dalli!«

»Ich will meinen Job nicht gleich am ersten Tag riskieren.«

»Den riskieren Sie jetzt schon, weil Sie Niels noch nicht informiert haben.«

»Ich schicke Niels eine E-Mail.«

»Die liest er garantiert erst morgen. Nun beeilen Sie sich!«

»Ist es wirklich so dringend?«

»Würde ich sonst solange mit Ihnen sabbeln?«

»Na gut, ich flitze kurz zu ihm. Hoffentlich ist er am Platz.«

In Wahrheit freute Elfi sich, mal ihren Empfangstresen zu verlassen. Endlich gab es einen Grund, den rätselhaften Saal nebenan zu betreten. Wenn mal jemand heraus kam und zur Toilette ging, fast nur junge Männer, hörte sie durch die offene Tür lediglich flinkes Tastaturgeklimper, nie Stimmen. Einmal erhaschte sie einen Blick in das Halbdunkel. Es gab drei Gänge. Gepolsterte Trennwände standen zwischen den Schreibtischen. Auf jedem flimmerten Bildschirme. Davor hackten Programmierer auf Computertastaturen.

Das gedämpfte Licht reichte, um die gedruckten Namensschilder an den Raumteilern zu entziffern. ›Niels Harms‹ fand Elfi hinten links in der Ecke. Wie alle anderen starrte er geradeaus. Nur über seinem Monitor schwebte an einem Faden ein roter Luftballon.

5

Niels genoss den Fluss der Logik seines Programms. Morgens hatte er noch keinen Lösungsansatz für die geforderte Anwendung vor Augen. Wie immer ermunterte er sich: ›Dann fange ich doch einfach mal an‹. Das funktionierte auch heute. Kein Wunder an solch einem Tag. Die Quersumme der einzelnen Ziffern des Datums, 2.5.2016, betrug 16, eine überaus harmonische und seltene Zahl, die Quadratzahl einer Quadratzahl. Davon gibt es nur zwei im Bereich der Zweistelligen. Bislang hatte der frisch programmierte Algorithmus die normalen Tests bestanden. Die Zufriedenheit, ein funktionierendes Rechenmodell geschaffen zu haben, durchströmte ihn. Er liebte das Kribbeln.

Die Kontrolle mit unwahrscheinlichen Zufällen lief noch. Weil diese Prüfung im Firmentestprogramm nicht existierte, hatte er es heimlich selbst geschrieben und keinem verraten. Entsprechend aufgeregt befürchtete er, erwischt zu werden. Beim Warten auf den Befund trommelten die Finger leise auf der Tischplatte. Plötzlich blinkte eine Fehlermeldung auf dem Bildschirm. Niels ärgerte sich. Eine Lücke hatte er übersehen. Dass die monierte Variable null sein könnte, hatte er abgefangen, dass es sie aber gar nicht gab, fehlte. Er suchte eine elegante Möglichkeit diese spitzfindige Unterscheidung zwischen null und nichts einzubauen. Mit einer etwas lockereren Einstellung wäre es nicht unbedingt notwendig. Das widerspräche jedoch seinen Qualitätsansprüchen. Er träumte davon, durch perfekte Programme geachtet zu werden.

»Niels, du sollst sofort zu Hause anrufen.«

Er zuckte zusammen. Er hatte niemand bemerkt. Die Frauenstimme hinter sich kannte er nicht. Vor Wut sprang er auf und brüllte: »Was fällt Ihnen ein, mich so zu erschrecken! Wer sind Sie überhaupt?«

Die junge Frau im dunkelblauen Hosenanzug mit weißer Bluse stammelte: »Entschuldigung. Ich bin Elfi die neue Nachmittagsrezeptionistin.«

»Ach, dann müssen wir uns auch noch duzen. Hast du denn meinen roten Ballon nicht gesehen.«

»Doch.«

Niels fauchte: »Ihn aber nicht beachtet! Das ist unverschämt. Was hast du dir dabei gedacht?«

Elfi senkte den Blick und schwieg. Blonde Strähnen hellten ihre dunkle Kurzhaarfrisur auf.

Niels blubberte: »Ich feiere hier keinen Kindergeburtstag. Der rote Luftballon entspricht der roten Fahne am Meer, also ›Badeverbot‹. Hier heißt roter Luftballon ›Stören verboten‹.«

»Verstanden, wird nicht wieder vorkommen. Rufst du dann bitte jetze deine Mutter an.« Das ›jetze‹ klang leicht berlinerisch.

In Raum zischten einige, um Ruhe bittend.

Elfi eilte zurück. Ihren Einstieg in die heilige Halle hätte sich die neunundzwanzigjährige freundlicher erhofft. Tränen drängelten.

Nach jahrelanger Weltreise und abgebrochenem Studium im In- und Ausland hatte es ihren Eltern gereicht. Sie reduzierten ihr Budget dramatisch. So arm schämte Elfi sich vor ihren Bekannten in Berlin. Deshalb war sie nach Hamburg geflohen und hatte nicht den besten aber einzigen Job akzeptiert.

Niels atmete tief durch und rief seine Mutter an.

»Gut dass du dich gleich meldest. Omi stirbt mal wieder. Sie braucht dich jetzt sofort.«

Er flüsterte: »Wahrscheinlich eher dich, aber an ersten Montagen in ungeraden Monaten muss sie nachmittags mit mir vorliebnehmen. Dann hat dein Friseur Vorrang, damit du frisch blondiert und onduliert bei deinen Kunstliebhabern bewundernde oder neidische Blicke einheimst.«

»Ich liebe dein scharfsinniges Verständnis. Grüße Omi ganz lieb von mir. Ich komme, sobald die Vernissage beendet ist, nach.«

Niels verließ den Programmierersaal. Hinter dem Empfangstresen entdeckte er Elfi. Sie tupfte sich die Augen trocken.

Er bedauerte seinen Auftritt, stoppte und haspelte: »Ich muss los, dringende Familienangelegenheit. Auf dem Rückweg esse ich ein Schinkenbrot im Schellfischposten. Das schmeckte mir dort bisher immer gut. Wenn du dazukommst, lade ich dich ein.«

Elfi stotterte: »Schellfischposten. Ich kann aber erst um 18 Uhr hier weg.«

»Das passt prima.« Niels stürmte nach draußen und hoffte, dass er nicht rot geworden war. Wenn er vorher nur eine Sekunde darüber nachgedacht hätte, wäre es nicht dazu gekommen. Der Fünfunddreißigjährige hatte noch nie jemanden eingeladen. Dafür hatte sein Mut nicht gereicht. Wenn Elfi attraktiver aussähe, hätte er es nicht gewagt. Wirklich unattraktiv sah sie nicht aus. Ihr zartes Gesicht mit den wachen Augen wirkte sympathisch aber eben nicht attraktiv. Das lag vermutlich nur an den Stoppelhaaren. Lange Haare hätten ihn gehemmt.

Niels radelte von der HafenCity Richtung Altona an der Elbe entlang. Bei der Wärme schob er das Fahrrad hinter Övelgönne die Schräge hoch zur Elbchaussee.

6

Petra, die Haushälterin, begrüßte Niels mit ernster Miene und schickte ihn gleich ins Schlafzimmer. Die Gardinen dämpften das Sonnenlicht. Omi lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ihre Hände ruhten auf der Bettdecke. Niels setzte sich auf den Stuhl neben ihr und starrte sie an. So bleich kannte er sie nicht. Sie atmete flach.

Minuten später bemerkte sie ihn, öffnete die Lider und drehte den Kopf. Ein Lächeln umspielte die faltigen Lippen. Dann hauchte sie: »Schön dass du kommen konntest. Es soll dein Schade nicht sein.«

Niels erkundigte sich: »Wie geht es dir?«

»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit zum Lügen. Etwas Wichtiges muss noch erledigt werden.« Sie atmete zittrig und schob die Bettdecke vom Hals: »Nimm mir bitte das Amulett ab. Dafür brauchst du eine der Scheren hier. Der Verschluss lässt sich nicht öffnen.« Dabei fingerte sie eine feingliedrige Goldkette aus dem Halsausschnitt ihres Nachthemds. Am Ende baumelte eine flache, ovale Platte, wenig größer als eine Münze, jedoch nicht glänzend, sondern matt und glatt.

Niels protestierte: »Behalte sie doch, wenn sie so fest mit dir verbunden ist!«

»Ich brauche das Amulett nicht mehr. Dich wird es dein Lebtag schützen.«

»Wovor schützen?«

Sie hielt ihm das Amulett an der Kette hin: »Schneid es ab!«

Niels ergriff die Papierschere, setzte sie möglichst weit vom lappigen Hals an und drückte. Die Kette widerstand.

»Nimm die Haushaltsschere!«

Die Schneiden durchdrangen das dünne Gold. Die Schere schnappte hörbar zu. Omi betrachtete das Amulett einen Augenblick und reichte es Niels: »Trage es stets am Körper, gib es nie her und verrate es keinem. Nur dann warnt es dich vor Lug und Trug.«

Er drehte es zwischen den Fingern: »Wie soll das möglich sein?«

Omis Gesicht wirkte entspannter, wie von einer Bürde befreit: »Lerne, es zu verstehen. Mit Wie und Warum verschwendest du deine Zeit.«

»Wie hat dich das Amulett vor Lug und Trug gewarnt?«

»Auch das zu wissen würde dir nichts nützen. Lerne selbst, die Zeichen zu deuten.«

»Ich glaube nicht an solchen Humbug. Bist du sicher, dass es auch bei mir funktioniert?«

»Nur der Tod ist sicher. Es hat seit vielen Generationen gewirkt. Aber vergiss nie, was ich dir sagte: Trage es stets am Körper, gib es nie her und verrate es keinem. Am Ende deiner Tage gib es weiter mit dem gleichen Gebot.«

Niels schwieg und unterdrückte sein zweifelndes Grinsen. Er überwand sich, zu nicken, obwohl er lieber den Kopf geschüttelt hätte. Aber das wollte er ihr angesichts ihres strengen Blicks nicht antun. »Wo hast du das Amulett her?«

»Von meiner Mutter. Das war auch ihre letzte Amtshandlung.«

»Was heißt auch?«

»Sie gab mir das Amulett, als sie starb.«

»Aber du stirbst hoffentlich nicht so bald.«

Omi lächelte mit nassen Augen: »Sonst hätte ich eben nicht den letzten Willen meiner Mutter erfüllt.«

Niels bedrückte ihre Todesahnung. Reden würde helfen. ›Ausgerechnet mit mir, dem Oberstoffel‹. So nannte ihn seine Mutter oft. Mit einem tiefen Seufzer fragte er: »Erzählst du mir, wie du das Amulett bekommen hast?«

»Wenn du die traurige Geschichte hören willst, muss es jetzt sein.« Sie schloss die Augen, wie um Kraft zu sammeln, und erzählte mit leiser Stimme: »Meine Mutter war 1944 Mitte dreißig, also ungefähr so alt wie du. Mein Vater war zwei Jahre vorher in Stalingrad gefallen. Fast jede Nacht hagelte es Bomben in Hamburg. Wir bangten im Luftschutzbunker. Auch unsere Wohnung wurde getroffen. Mutter hoffte, noch Brauchbares in den Trümmern zu finden, vor allem den Kinderwagen aus dem Kellerverschlag. Damit zogen die Ausgebombten damals um. Leider stürzte dabei die Kellerdecke über ihr ein und verschüttete sie. Sie wimmerte um Hilfe. Ich kroch zu ihr. Mit letzter Kraft drückte sie mir das Amulett in die Hand und sagte, was ich dir auftrug. So wurde ich mit vierzehn Jahren Vollwaise ohne Verwandte. Man steckte mich ins Waisenhaus.« Omis Stimme zitterte.

Niels seufzte: »Krieg ist furchtbar, das weiß jeder. Aber durch das Wissen persönlicher Schicksale wird der Schrecken mitfühlbarer. Wie ging es dann weiter?«

»Ich wünsche dir, dass du nie so hungern musst wie wir im Waisenhaus. Hunger frisst einen von innen auf.« Die Erinnerung nagte an ihren Kräften.

Niels bedauerte seine Fragen. Ratlos schwieg er. In seiner Not ergriff er ihre Hand. Dünne, pergamentartige Haut bedeckte Knöchelchen. Anfangs spürte er zarten Druck ihrer Finger. Ihr Atem verlangsamte sich. Die Finger entglitten seiner Hand. Sie schien zu schlafen, hoffte er. Leise schlich er aus dem Schlafzimmer.

In der Küche faltete Petra Wäsche. Sie schaute ihn fragend an. Er wusste nichts zu sagen und zuckte die Schultern.

»Schläft sie?«

Er nickte, war sich jedoch nicht sicher.

Die stets Emsige seufzte: »Ich mache uns einen Tee.«

Schweigend tranken sie den frisch gebrühten Darjeeling. Petra trug auf einem kleinen Silbertablet eine Tasse ins Schlafzimmer. Niels blieb in der Küche sitzen. Er wartete auf seine Mutter, die mit Freundinnen überaus wichtig als erste Ölgemälde betrachteten, die dort noch sieben Wochen ausgestellt wurden.

Eine Viertelstunde später kehrte Petra zurück. Ihr tränennasses Gesicht verriet, was er befürchtet hatte. Sie setzte sich zu Niels an den Küchentisch. Er versuchte zu scherzen: »Hat sie deinen Tee nicht vertragen?«

Petra schluchzte auf und wisperte: »Es war ihr Lieblingsnachmittagstee. Sie bekam ihn jeden Tag um diese Zeit. Sie hat sich sogar heute bedankt.«

»Können wir etwas unternehmen, zum Beispiel den Notarzt rufen?«

Sie schüttelte den Kopf: »Ich frage den Hausarzt, was zu tun ist. Rufst du deine Mutter an?«

Seine Mutter meldete sich mit ihrem Handy: »Hallo Niels.« Im Hintergrund waren gedämpfte Frauenstimmen zu hören.

»Du hast Omis Abgang verpasst.«

»Oh, ich komme sofort, mein armer Junge! Weiß Felix Bescheid?«

»Nein. Ich rufe ihn gleich an.«

7

Die Todesnachricht trübte Felix` Freude über den kurz zuvor unterschriebenen Neuwagenvertrag. Um sich durch die kleine Vermittlungsprovision aufzuheitern, fuhr er zunächst zu Reiner Riecken in der Süderstraße. Der holte eine dicke Rolle Geldscheine aus der Hosentasche, zog zwei Fünfziger heraus und drückte sie Felix kommentarlos in die Hand. Sie wünschten sich weiterhin gute Geschäfte.

Felix schämte sich nicht, da sein Kunde dadurch auch profitierte, und BMW sowieso genug verdiente. Außerdem simulierte er gelegentlich zum Ausgleich Telefonate mit Gebrauchtwagenhändlern, dann natürlich ohne den Lautsprecher einzuschalten. Dabei wurden ihm angeblich niedrigere Preise geboten. Das beherrschte Felix so gut, dass er so manche Kunden überzeugte, das lausige Angebot des BMW-Einkäufers zu schlucken.

Nach diesem Umweg brauste er zu Omis Villa an der Elbchaussee.

8

Vor dem Portal der Villa hielt ein Taxi. Niels sah seine Mutter aussteigen. Eine schwarze Spitzenstola bedeckte ihr Haupt. Er vermutete, dass sie die vorsorglich in der Handtasche mit zur Vernissage genommen hatte.

Wenig später traf Felix ein. Er war wie immer smart casual gekleidet. Beide schauten ernst aber nicht verheult aus. Niels wunderte sich über seine gebremste Trauer. Omi hatte ihr Ende angekündigt und war friedlich gestorben. Seit Opis Tod vor zwei Jahren, sagte sie oft, dass ihr das Leben keinen Spaß mehr mache. Niels mochte seine Großeltern. Sie spielten aber schon lange keine große Rolle für ihn. Am meisten nahm es Petra, die Haushälterin, mit.

Sie servierte ihnen im Wohnzimmer Kaffee. Angelika bat sie, sich dazu zusetzen, und erkundigte sich: »Wie hat meine Mutter Abschied genommen? Hat sie nach mir gefragt?«

Petra holte tief Luft: »Nach dem Mittagessen sollte ich Sie anrufen. Zum Glück konnte Niels rechtzeitig kommen. Die beiden sprachen eine Weile. Zur Teestunde brachte ich ihr den Tee. Sie schlief, ich wartete, bis sie sich aufrichtete und trank. Ich wollte mich zurückziehen, da hauchte sie: Warte bitte, ich möchte mich bei dir für alles bedanken.« Petra schluchzte, dann fuhr sie fort: »Wortwörtlich flüsterte sie, ›ich hätte es lieber direkt meiner Tochter aufgetragen, nun musst du es ihr sagen, ich will, dass du bis zu deiner Pensionierung in ihren Diensten bleibst. Das hätte auch mein Mann so gewollt‹.« Petra bebte und trocknete ihr Gesicht. In Niels Hosentasche erwärmte sich das Amulett.

Angelika fragte: »Und was geschah dann?«

Petra schnaufte: »Sie sank zurück aufs Kopfkissen und bewegte sich nicht mehr. Ein Arm hing herunter. Nach einigen Minuten legte ich ihre Hand auf die Bettdecke. Sie fühlte sich leblos an. Eine Weile später überwand ich mich, ihren Puls zu ertasten. Ich fand keinen. Die Hand war kälter. Da war ich überzeugt, dass sie gestorben war.« Trauer schüttelte sie. Tränen flossen. Alle schwiegen, bis Angelika sagte: »Was war mit den Scheren?«

Durch die Frage fasste sich Petra und antwortete mit normaler Stimme: »Die lagen dort, wo ich sie hinlegen sollte.«

Angelika wandte sich an Niels: »Hat Omi die Scheren angesprochen, als du mit ihr alleine warst?«

»Die waren mir gar nicht aufgefallen.« Niels wollte die traurige Geschichte des Amuletts nicht erzählen. Wahrscheinlich hätte er es herumreichen müssen. Womöglich hätte es Mutti beansprucht. Niels glaubte zwar nicht daran, wollte es aber nicht hergeben. Es steckte in der Hosentasche und erwärmte sich.

Der Hausarzt kam, stellte den Tod fest und erklärte: »Damit hatte ich heute Mittag schon gerechnet. Was für ein sanftes Ableben! Eine künstliche Verlängerung wäre keine Gnade für sie gewesen.«

Petra bot an, ein Abendessen zu bereiten. Die Familie lehnte dankend ab und knabberte salzige Cracker zum Rotwein. Dabei vereinbarten sie, dass Angelika sich um die Beerdigung kümmert. Petra schickten sie nach Hause. Sie sollte bis auf Weiteres in der Villa haushalten. Lange diskutierten sie, was mit der Villa geschehen sollte.

Angelika als Alleinerbin wollte lieber in der Wohnung am Mittelweg in Harvestehude bleiben. Dabei unterstellte sie, dass ihr Mann, der zur Zeit in Abu Dhabi den Bau eines Hochhauses leitete, das ebenso wünschte. Niels, der bei seinen Eltern wohnte, schloss sich dem an. Felix witterte das große Geld. Er wollte sich um den Verkauf kümmern.

Gegen 20 Uhr brachte er Angelika und Niels zur Wohnung am Mittelweg. Das Fahrrad passte hinten in den BMW SUV für Stadtförster.

Angelika rief: »Oh, ein neues Auto, Glückwunsch!«

Felix reagierte nur mit einem ›Hm‹.

Niels vermutete, dass in Wahrheit eine fingierte Probefahrt stattfand. Das Amulett erwärmte sich in der Hosentasche.

9

Am nächsten Morgen berechnete Niels beim Frühstück wie immer die Quersumme der Ziffern des Datums, 3.5.2016. Siebzehn war zwar eine ungerade Zahl, er bevorzugte gerade, aber immerhin war es eine Primzahl. Diese Unteilbaren hielt er für geweiht. Dass Omi gestern trotz der guten Quersumme sechzehn gestorben war, verunsicherte seine Prognose, was heute der Tag bringen würde.

Die Sonne blinzelte zwischen bauschigen Wolken, ideal um mit dem Fahrrad zur Firma IAM, International Application Manufacturer, zu flitzen, während des Berufsverkehrs eindeutig schneller als mit Bus oder Auto. Beim Aufbruch hörte er seine Mutter mit dem Bestatter telefonieren. Der sollte ihr umgehend Terminvorschläge unterbreiten. Wie so oft spielte Sie die Ungeduldige.

10

Felix nutzte jede freie Minute, um Makler für Omis Villa anzurufen. Interesse bekundeten sie alle. Einen Besichtigungstermin für Donnerstag akzeptierte nur Jutta von Jülich.

Petra versprach ihm, vorher alles besonders präsentabel zu machen. Leicht irritiert betonte sie: »Präsentabel war und ist es hier an sich immer. Dafür bin ich ja da.«

11

In der IAM vollendete Niels das Programm vom Montag und widmete sich der nächsten Aufgabe. Heute kam er holperiger als gewohnt voran. Um 17:55, viele Kollegen waren bereits gegangen, brach er ab. Beim Passieren der Rezeption erkannte er Elfi, die neue Nachmittagsrezeptionistin. Siedendheiß erinnerte er sich an die Einladung in den Schellfischposten. Elfi stierte auf ihren Bildschirm und schien ihn nicht gesehen zu haben. Niels hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Das hielt er aber für eine gar zu kurzfristige und vor allem feige Lösung.

Er stammelte: »Hallo Elfi, dich hatte ich völlig vergessen. Meine Oma ist gestern gestorben. Zur Wiedergutmachung lade ich dich zum Tee bei mir ein. Tee kann ich gut. Passt es dir nächste Woche Freitag?« Er schätzte, dass bis dahin die Beerdigung gewiss erledigt sein würde.

Sie schaute auf den Kalender: »Das ist Freitag der Dreizehnte. Bei dir zu Hause?«

Niels bemerkte ihren zweifelnden Blick, verstand ihn aber nicht und erklärte: »Keine Sorge, um diese Zeit ist meine Mutter meistens da. Statistisch korrelieren Unglückstage nicht mit Freitag dem Dreizehnten. Das ist Aberglaube. Dieses Jahr beträgt die Quersumme der Datumsziffern übrigens achtzehn, eine hübsche gerade Zahl und das Produkt aus 2 mal 9 und 3 Mal 6.«

Elfis Gesichtsausdruck wirkte verwirrt: »Ja, wenn das so ist. Freitags habe ich früher frei.«

Niels haspelte: »Deshalb wurde der Tag vermutlich ›Freitag‹ getauft.«

Elfi runzelte die Stirn: »Ich glaube, das war umgekehrt.«

Niels überlegte kurz: »Du hast recht. So wird es gewesen sein.«

»Du wohnst also bei deinen Eltern.«

»Ja, das ist praktisch. Mein Vater arbeitet monatelang im Ausland. So ist Mutti nicht alleine und ich auch nicht. Ich schlafe in meinem Kinderzimmer und wohne im ehemaligen Zimmer meines Bruders. Wenn es dir lieber ist, können wir auch im Wohnzimmer oder Esszimmer Tee trinken.«

Elfi schaute ihn skeptisch an.

»Meine Mutter wird entzückt sein.«

Sie nickte: »Ort und Zeit sagst du mir am besten kurz vorher, damit du es nicht wieder vergisst.«

Abends beim Ausziehen fiel ihm das Amulett aus der Hosentasche. Er hob das Erbstück auf und untersuchte es zum ersten Mal genauer. Die hellgelbliche Oberfläche glänzte schwach, fast matt, und war glatt ohne jegliche Kratzer oder Einschlüsse. Oben war sie leicht gewölbt, unten plan. Die Ränder waren makellos gerundet. Der ovale Stein war oben quer durchbohrt. Durch das winzige Loch passte das dünne Goldkettchen. Durch die Querlage trug sie nicht auf. Niels vermutete, dass ihm Omis Stein ihren Verlust erleichterte. Die angebliche Warnung vor Lug und Trug hatte er nicht festgestellt aber auch nicht erwartet. Doch die Idee faszinierte ihn. Er schmunzelte: ›Dafür sollte ich ein Programm für Smartphones entwickeln.‹