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GEORG RENÖCKL

Paris

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise durch
die Stadt an der Seine

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2019

© 2019 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto & Fotos: Georg Renöckl

Karten Seite: 12, 34, 50, 78, 104, 134, 160, 188, 216, 246, 270, 292, 314, 338, 362, openstreetmap.org | © OpenStreetMap-Mitwirkende (CC BY-SA 2.0)

Druck: EuroPB, Dělostřelecká 344, CZ 261 01 Příbram

ISBN 978-3-99100-296-3

eISBN 978-3-99100-297-0

Meinen Freunden Günther Aigner und
Père Maurice Meilheurat gewidmet,
mit denen diese Reise begann
.

Irren ist menschlich.
Flanieren ist pariserisch
.

Victor Hugo

Inhalt

Die Stadt als Droge

Der Königsweg: Teil 1

Der Königsweg: Teil 2 (Ins dunkle Herz von Paris)

Eine Couch für die Pariser Seele

Zu Besuch bei den alten Damen

Streetart in Belleville

Immigranten, Aristokraten und alte Gleise

Alte und neue Dörfer im Südosten

Stein und Geist

Hart am Mythos

Ein sonniger Samstag im Süden

Fackellauf an der Seine

Bombast, Beton, Balzac

Mit dem Fahrrad in die Zukunft

Von Park zu Park

Zurück in den Bauch

Zitierte Literatur

Die Stadt als Droge

„Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte. Das Gehn gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes, eines Straßennamens. Dann kommt der Hunger. Er will nichts von den hundert Möglichkeiten, ihn zu stillen, wissen. Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel, bis er in tiefster Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt.“

Wenn das keine Warnung ist! Sie stammt aus Walter Benjamins Notizen zu seinem unvollendeten Passagenwerk, in dem er sich auch mit dem im neunzehnten Jahrhundert in Erscheinung getretenen Flaneur beschäftigt.

Man muss das Flanieren aber gar nicht auf so extreme Weise betreiben, wie es Benjamin vorstellt – gerade die „hundert Möglichkeiten“, den Hunger zu stillen, lassen sich kaum an einem anderen Ort so unkompliziert und vielfältig ausprobieren wie in Paris –, um doch eine Ahnung vom Straßenrausch zu bekommen, dem man in dieser Stadt so leicht verfällt. Ist man einmal mitten drin in den selten rasterförmig angelegten, oft verwinkelten, überraschenden alten Straßen der französischen Hauptstadt, dann kann das Entdecken immer neuer romantischer Ecken, witziger Details, unerwarteter Ein- oder Ausblicke zu einer Sucht werden, gegen die es kein Gegenmittel gibt, solange die Füße mitmachen.

Mir genügt meist einer meiner ersten Wege in Paris, der mich zur Buchhandlung Gibert Jeune an der Place Saint-Michel führt, um mich von der Stadt förmlich eingesaugt zu fühlen. Gelegentlich versuche ich, die Gründe dafür herauszufinden. Mithilfe unzähliger Bücher kann man etwa die „Grammatik der Pariser Fassaden“ analysieren, den verbliebenen Spuren verschwundener Gebäude oder Straßenzüge folgen oder die vielen Details des typischen Pariser Straßenmobiliars besser verstehen lernen. Und doch gelingt es mir nicht, damit die Faszination dieses Ganzen wirklich zu erklären. Keineswegs ist der Reiz von Paris museal. Das architektonische Erbe ist überwältigend, doch mit viel Lust am Neuen werden innovative Bushaltestellen, Métro-Linien, Leihradstationen, neueste Methoden der Fassadenbegrünung, urbane Landwirtschaftsflächen und ganze Stadtviertel ins Gesamtkunstwerk Paris eingepasst. Vielleicht ist ein gewisser Ehrgeiz der gemeinsame Nenner, der die Stadtentwicklung vorantreibt: Man begnügt sich in Paris nicht damit, dass etwas funktioniert, es sollte schon Weltklasse sein oder wenigstens danach aussehen.

Ein Hang zur Perfektion bestimmt viele Bereiche des Pariser Lebens, ob es nun die unfassbare Vielfalt der Waren in den Einkaufsstraßen oder auf den Märkten ist, die ihre Verkäufer zu größter Sorgfalt bei der Präsentation zwingt, oder die Art und Weise, wie sich die meisten Pariser im öffentlichen Raum zu bewegen wissen: Wer nicht mithalten kann, hat es schwer. „Savoir vivre“ ist nicht etwa, wie viele glauben, die französische Spielart des italienischen „dolce far niente“, sondern ein hoher Anspruch: Es bedeutet schlicht und einfach, die gesellschaftlichen Spielregeln zu beherrschen. Mit Gemütlichkeit oder dergleichen hat das so wenig zu tun wie die typische Pariser Höflichkeit mit echter Freundlichkeit – auch wenn es einfach schön ist, in der Bäckerei mit „Monsieur“, „Mademoiselle“ oder „Madame“ angesprochen zu werden.

Verlasse ich die Buchhandlung, überquere ich gern die Seine in Richtung Île de la Cité. Wie alle anderen auch, gehe ich dabei meist bei Rot über die Straße, oft neben einem Polizisten, der das genauso macht. Auch das gehört zum Pariser Savoir-vivre: Über Kleinkariertheit ist man erhaben, und Polizisten haben Wichtigeres zu tun, als Fußgänger zu maßregeln. Vielleicht haben sie auch Respekt vor der Unbotmäßigkeit, die zur Natur der Bewohner dieser Stadt gehört: Sich aufzulehnen und um sein Recht zu kämpfen, hat hier eine ehrwürdige Tradition, nicht umsonst gelten die Pariser im übrigen Frankreich als „râleurs“, als „Raunzer“, mit denen man sich lieber nicht anlegt.

Dabei hat man manchmal, wenn man die Weltstadt zu Fuß erkundet, das Gefühl, von Dorf zu Dorf zu wandern. Auch wenn die Stadt die vielen alten Ortskerne an ihren ehemaligen Rändern geschluckt, überwuchert, ausgelöscht oder völlig verändert hat, spürt man sie oft noch, die unterschiedlichen Persönlichkeiten von Belleville und Ménilmontant, von Charonne oder der Butte aux Cailles, von Saint-Germain-des-Près, Grenelle, Auteuil, Passy, Batignolles oder Les Epinettes – teils klingende, teils kaum bekannte Namen.

Äußerlich angeglichen wurden sie im 19. Jahrhundert durch Baron Georges-Eugène Haussmann, ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten haben sie aber meist gewahrt, ob es sich nun ums aristokratische Auteuil, das intellektuelle Saint-Germain oder das proletarisch-migrantische Epinettes-Viertel handelt. In Letzterem entsteht während der Arbeit an diesem Buch ein völlig neuer Stadtteil, das Grand Paris der Zukunft beginnt langsam Gestalt anzunehmen. Doch auch mitten im Zentrum ist die gerade stattfindende Veränderung faszinierend zu beobachten: An den Ufern der Seine, wo gerade noch der Verkehr mit Hochgeschwindigkeit durchbrauste, hört man jetzt wieder das Wasser gluckern, seit die Schnellstraße durch das historische Zentrum von Paris zur Fußgängerzone gemacht wurde. Auf Plätzen wie Nation oder Bastille, die vor Kurzem noch und völlig zurecht als Verkehrshölle auf Erden galten, pflanzen heute Kindergartenkinder Blumenbeete. Die ehrgeizige ökologisch ausgerichtete Politik von Bürgermeisterin Anne Hidalgo verleitet manche Beobachter zum Vergleich mit Baron Haussmann. Das ständige Streben nach der Spitze und der unbedingte Ehrgeiz, zu den Vorreitern zu zählen, vereint nicht nur den deutschstämmigen Präfekten und die spanischstämmige Bürgermeisterin, sondern ist eben eine Pariser Konstante.

Auf mich wirkt die typische Pariser Unruhe, diese Unfähigkeit, sich auf den Lorbeeren auszuruhen, im Grunde sehr beruhigend: Ganz gleich, wie gut man die Stadt kennt – man wird doch bei jedem Besuch am laufenden Band Neues entdecken. Wahrscheinlich meinte Hemingway, als er feststellte, dass Paris kein Ende habe, ja genau das.

Schönes Flanieren!

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A

Statue Saint-Denis

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Pont au change

C

Boulangerie Dheilly

D

Fontaine des Innocents

E

La Fresque

F

Pâtisserie Stohrer

G

Passage du Grand-Cerf

H

Passage du Caire

I

Passage du Prado

J

Les 2 au coin

K

Passage des Petites Ecuries

L

Marché Quentin

M

Terminus Nord

N

Krishna Bhavan

Der Königsweg: Teil 1

Im April 2019 brannte nicht nur die Kathedrale der französischen Hauptstadt Paris, vielmehr stand das Zentrum des Landes in Flammen. Schließlich führen alle Wege nach Notre-Dame, jedenfalls alle Wege Frankreichs: Nur wenige Meter vor dem linken Eingangstor ist der „Nullpunkt der Straßen Frankreichs“ („point zéro des routes de France“) ins Pflaster eingelassen. Wird die Distanz eines Ortes in Frankreich zu Paris angegeben, bezieht sich die Messung auf diesen Punkt im Herzen der Stadt.

Während ich dieses Kapitel niederschreibe, weiß man noch immer nicht, warum der verheerende Brand ausgebrochen ist, der in der Nacht vom 15. zum 16. April den mittelalterlichen Dachstuhl der Kathedrale zerstört hat. Ihre Umgebung ist seither durch Bleirückstände belastet. Ich musste beim Anblick der brennenden Kirche unwillkürlich an meine alte zerfledderte Ausgabe von Victor Hugos „Notre-Dame de Paris“ denken. Auch auf deren Cover brennt die Kathedrale, wenn auch kontrolliert: Das vergilbte Taschenbuch, das ich als Student billig bei einem Pariser Altwarenhändler erstanden habe, zeigt Quasimodos Kampf gegen die anstürmenden Bettler des Hofs der Wunder, bei dem er durch die mittelalterlichen Wasserspeier einen Regen aus brennendem Pech und Blei auf die Angreifer niedergehen lässt.

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Saint-Denis bzw. heiliger Dionysius

Auch vor dem Feuer von 2019 kam mir fast jedes Mal, wenn ich von der nahen Place Saint-Michel in Richtung Notre-Dame spazierte, Victor Hugos Roman in den Sinn. „Ceci tuera cela. – Dieses wird jenes töten“, sagt darin der dämonische Diakon Claude Frollo und zeigt zuerst auf ein Buch, dann auf die Kathedrale. Der spätmittelalterliche Priester bezieht sich auf die Gefahr, die das gedruckte Buch für die Macht der Kirche darstellte. In Wirklichkeit hat ein Buch die Kirche damals gerettet: Als Victor Hugos Roman 1831 erschien, galt Notre-Dame als Fall für die Spitzhacke. Der Zahn der Zeit, diverse Umbauten sowie die Beschädigungen durch die Revolutionäre hatten ihr arg zugesetzt. Bevor sich Napoleon selbst zum Kaiser krönte, ließ er den Innenraum der Kathedrale weiß anstreichen und durch Fahnen verhängen, um den baufälligen Zustand im wahrsten Wortsinn zu übertünchen. Notre Dame schien unrettbar verloren. Dann schrieb Victor Hugo seinen Roman, der zu einem immensen Publikumserfolg wurde und ein Umdenken einleitete, das schließlich zur aufwendigen Restaurierung der Kathedrale führte. Eine solche steht nun wieder an.

Mir dient die majestätische Kirche am Nullpunkt der Pfade, die zwar ihr altes Dach verloren, die Katastrophe aber doch erstaunlich glimpflich überstanden hat, bei meinem Spaziergang nur als Wegweiser: Ganz links neben dem linken Eingangstor befindet sich die Statue eines Mannes, der eine Bischofsmütze auf dem Kopf und selbigen in den Händen trägt. Es handelt sich um Saint Denis beziehungsweise den heiligen Dionysius, den ersten Bischof von Paris. Er wurde um das Jahr 250 n. Chr. auf dem Montmartre enthauptet, soll danach seinen Kopf unter den Arm genommen haben und sechs Kilometer in Richtung Nordosten marschiert sein. An dem Ort, an dem er schließlich zusammenbrach und begraben wurde, ließ die Pariser Stadtpatronin Genoveva ein Gotteshaus errichten, das im zwölften Jahrhundert zu einer der ersten gotischen Kirchen Europas umgebaut wurde. Wäre der bedauernswerte Bischof hier im Zentrum der Stadt hingerichtet worden, hätte er wahrscheinlich einen leichteren letzten Weg gehabt: Eine schnurgerade, von den Römern im ersten Jahrhundert angelegte Straße führt von der Île de la Cité zur späteren Basilika: die Rue Saint-Denis. Die französischen Könige wählten die seit den Römern in ihrem Verlauf unveränderte Straße nach erfolgreichen Kriegen für ihre Triumphzüge, und auch auf ihrem letzten Weg folgten sie derselben Strecke. Seit der Merowingerin Arnegunde, der vierten Ehefrau des Frankenkönigs Chlotar, wurden 68 Königinnen und Könige Frankreichs sowie mehrere Dutzend Prinzen, Prinzessinnen und verdiente Hochadelige in der Basilika bestattet.

Die königliche Triumph- und Trauerroute teilt die Stadt in eine West- und eine Osthälfte und lädt zu einem lohnenden, langen Spaziergang, den ich mir für heute vorgenommen habe. Auf diesem Weg den Kopf nicht allzu fest auf den Schultern zu tragen, also nicht nur stur geradeaus, sondern auch ausführlich nach rechts oder links zu schauen, empfiehlt sich dabei.

Ich kehre Bischof Saint Denis also den Rücken und spaziere durch die Rue de Lutèce, vorbei an der Polizeipräfektur und dem Marché aux fleurs, einem hübschen Blumen- und Kleintiermarkt, zum Boulevard du Palais. Angesichts des von monumentalen Gebäuden und breiten Straßen geprägten, von Reisegruppen abgesehen, jedoch recht leblosen Stadtteils ist kaum vorstellbar, dass er jahrhundertelang „Herz, Kopf und Mark der Stadt“ war, wie ein mittelalterlicher Chronist schrieb. Verantwortlich für seine heutige Anmutung ist Baron Eugène Haussmann, der auf Geheiß Kaiser Napoleons III. der verwinkelten und unhygienischen französischen Hauptstadt mit ihrem über die Jahrhunderte gewachsenen Häuser- und Hüttendickicht ein neues, strahlendes Gesicht verpasste. Er schuf das vertraute Pariser Stadtbild mit seinen typischen eleganten Häusern, radierte aber auch ganze Viertel aus – zum Leidwesen vieler Bewohner und Liebhaber der vertrauten Stadt wie zum Beispiel Charles Baudelaire, der in seinen „Blumen des Bösen“ die berühmten Verse schrieb: „Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville/Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel) – Verschwunden Alt-Paris (das Bild der Stadt verwischt/sich schneller als ein sterblich Herz bekehrt).“

Besonders radikal war die Umgestaltung der Île de la Cité, deren ursprüngliche Bebauung bis auf wenige Ausnahmen völlig verschwand. Hunderte Häuser und Kirchen wurden abgerissen, 25 000 Bewohner mussten die Insel verlassen. Gerade einmal tausend leben heute noch dort.

Und doch sind gerade auf der Île de la Cité auch mittelalterliche Bauten erhalten, die ihr einen geradezu märchenhaften Glanz verleihen: Die Conciergerie, deren spitze Türme ich vom Pont au change aus betrachte, ist ein später zum Gefängnis umfunktionierter Überrest des hochmittelalterlichen französischen Königsschlosses. Bittere Ironie der Geschichte: Auch die letzte Königin von Frankreich und Navarra, Marie Antoinette, wartete darin auf ihre Hinrichtung – ein Schicksal, das sie unter anderem mit Danton und Robespierre teilte.

Die Place du Châtelet, eine etwas unwirtliche Gegend, der das namensgebende „Schlösschen“ irgendwie fehlt, bringe ich rasch hinter mich und beginne die Tour gleich mit einem Umweg. Statt in die Rue Saint-Denis biege ich noch schnell in die Rue des Halles, wo ich, wenn ich in der Nähe bin, gerne die Boulangerie von Monsieur und Madame Dheilly aufsuche. Sie gehört zum erlauchten Club der im legendären Boulangerie-Guide „Cherchez le pain“ aufgelisteten besten hundert Bäckereien der Stadt. Akribisch untersucht darin der amerikanische Historiker Steven L. Kaplan, der sich auf die Geschichte des Brotes spezialisiert hat, die Baguettes der Hauptstadt nach den Kriterien „Aussehen“ (drei Punkte), „Kruste“ (drei Punkte), „Teig“ (drei Punkte), „Kaugefühl“ (ein Punkt), „Duft/Aromen“ (fünf Punkte), „Geschmack“ (fünf Punkte). Zwanzig Punkte, wie im typisch französischen Schulnotensystem vorgesehen, sind also zu vergeben. Ich kenne das System noch aus dem Literaturstudium an der Sorbonne Nouvelle, dort funktioniert es so: Zwanzig Punkte bekommt der liebe Gott, 19 Racine, 18 Molière, 17 der Professor. Von Punkt 16 abwärts sind die Studenten dran.

Auch Steven L. Kaplan geht streng mit den ohnehin besten Bäckereien der Stadt ins Gericht: Das Brot von Laurent Dheilly findet er nicht schön genug, weil es ihm zu flach und zu länglich ist. Er lobt aber die Kruste und vor allem das Innere („schön luftige Struktur, crèmefarben, körperreich, rund, appetitlich“), den Duft („sehr aromatisch, frühlingshaft frisch“) und den Geschmack („erfreulich und gut ausgewogen“). Wer das nachprüfen will, muss für das Traditionsbaguette bloß 1,15 Euro investieren. Mir steht an diesem Morgen aber der Sinn nach Nahrhafterem, ein Pain au chocolat muss es sein. Ich finde es, ganz ohne Punkte zu vergeben, hervorragend. Mit dem Schokoladengebäck in der Hand und den Bröseln auf dem Mantel gebe ich mich sofort als Ausländer zu erkennen: Ein richtiger Pariser würde niemals mitten auf der Straße von seiner Viennoiserie abbeißen, sondern sich im nächsten Café einen Espresso bestellen und sein Gebäck dort verzehren. Das darf man nicht nur, es ist durchaus üblich. Wen der Anblick von totem Ungeziefer nicht vom Essen abhält, der kann auch vor der Auslage des legendären Ratten-Vernichters Aurouze gleich neben der Bäckerei an seinem Croissant knabbern und dabei die vor über hundert Jahren zwischen oder unter den Markthallen gefangenen Riesennager aus der goldenen Zeit des Hallenviertels bewundern.

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Ratten-Vernichter Aurouze

Ich gehe lieber durch die Rue Courtalon, eine enge alte Straße, die bereits im dreizehnten Jahrhundert erwähnt wurde, in Richtung Rue Saint-Denis. In einer Parallelstraße, der Rue de la Ferronnerie, wurde der viel geliebte König Henri IV. erstochen, woran heute noch ein ins Pflaster gearbeitetes Wappen erinnert. Als ich die Rue Saint-Denis erreiche, wirkt diese gar nicht königlich, sondern schäbig: Fast-Food-Lokale, Schuhgeschäfte und die ersten paar Sex-Shops dieser vor wenigen Jahren noch als Sündenpfuhl berüchtigten Straße dominieren das Bild – immerhin kann man sich mit dem Wissen trösten, auf historischem Boden zu wandeln.

Das kann man auch bei der Fontaine des Innocents, wenige Schritte weiter stadtauswärts: Der Name dieses Brunnens erinnert an den ältesten Friedhof der Stadt, den „Cimetière des Innocents“. Benannt wurde er nach einer benachbarten, den unter König Herodes massakrierten Kindern geweihten Kirche, die heute nicht mehr steht. Bereits die Merowinger begruben hier ihre Toten, über zwei Millionen Menschen sollen bis 1780 auf dem ursprünglich außerhalb der Stadt gelegenen Friedhof bestattet worden sein. Neun Tage brauchte die Erde dieses Friedhofs, um einen Leichnam zu „fressen“, erzählte man sich. Die Knochen aus aufgelassenen Gräbern wurden in Beinhäusern gelagert. Kurz vor der Revolution von 1789, als Teile der Mauern und der überquellenden Beinhäuser zusammenzubrechen begannen, wurde der Friedhof geleert. Fünfzehn Monate lang rollten täglich makabre Prozessionen mit Wägen voller menschlicher Überreste, von Priestern begleitet, in Richtung der aufgelassenen Steinbrüche im vierzehnten Arrondissement, die von nun an als Katakomben dienten. Der Renaissance-Brunnen wurde von der Rue Saint-Denis, wo er Teil der Inszenierung königlicher Triumphzüge war, auf seinen heutigen Platz einige Meter von der Straße entfernt versetzt. Damals wurde auf dem vormaligen Friedhofsgelände ein neuer Markt eingerichtet. Dieser verlor seine Funktion wiederum im neunzehnten Jahrhundert mit dem Bau der Markthallen, die dem seit dem zwölften Jahrhundert bestehenden zentralen Markt der Hauptstadt einen würdigen, der Eleganz und Opulenz der Belle Époque entsprechenden Rahmen verliehen.

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Ein wuchtiges „Blätterdach“, die Canopée

Ihrem gegen heftigen Widerstand durchgesetzten Abriss in den 1970er-Jahren folgten zehn Jahre, in denen ein gähnendes Loch genau dort klaffte, wo sich der von Émile Zola für alle Zeiten in der Literaturgeschichte verewigte „Bauch von Paris“ befunden hatte. Ein Teil wurde mit dem unterirdischen Riesenbahnhof Châtelet/Les Halles gefüllt, an dem sich fünf Métro- und drei RER-Linien kreuzen. 750 000 Passagiere benützen den Bahnhof täglich. Wer aus der Banlieue oder vom Flughafen nach Paris kam, wurde hier bis vor wenigen Jahren noch von einem schäbigen, unübersichtlichen Einkaufszentrum empfangen, doch damit ist es seit 2016 vorbei: Ein „Blätterdach“, auf Französisch „Canopée“, aus riesigen Stahl-Lamellen soll das heller und übersichtlicher gestaltete Einkaufszentrum vor Regen schützen, aber luft- und lichtdurchlässig belassen. Der spektakuläre Bau stieß zunächst auf gemischte Reaktionen: Er war um vieles teurer als vorgesehen, wirkte klobiger als auf den vorab präsentierten Modellen und hielt zu allem Überdruss den Regen auch nur teilweise ab. Freilich: Niemand behauptet, es wäre schlechter als das, was hier noch vor ein paar Jahren stand, und die Sache mit den undichten Stellen hat man mittlerweile in den Griff bekommen.

Mich zieht es ohnehin nicht wegen des Einkaufszentrums in die Gegend, sondern wegen dessen Umgebung: Das Herz des Viertels wurde 1971 zwar weggerissen, aber viele der Arterien, die zu ihm führten, pulsieren nach wie vor. Auch manche Gaststätten aus den goldenen Zeiten der Hallen gibt es noch, etwa in der Rue Rambuteau, die nördlich an der Baustelle vorbeiführt, das typische Hallen-Bistro Au Père Fouettard mit seiner stilvoll patinierten Inneneinrichtung und dem längst nicht mehr genützten Regal, in dem Stammgäste früher ihre Stoffservietten aufbewahrten, oder La Fresque, ein weiterer dieser praktischen Klassiker, die es einem ersparen, sich bei Shopping-Touren von Fast Food oder Systemgastronomie ernähren zu müssen, wie man das in ähnlichen Einkaufslandschaften andernorts eben hinnimmt. Hier bin ich gestern bei meinen Recherchen zu Mittag eingekehrt und habe den Wirt gleich um das Rezept des Kabeljaurückens mit Chorizo-Sauce gefragt, den es als Mittagsteller gab – typische Pariser Bistro-Küche: einfache Zutaten, ein schnelles Rezept und doch ein hervorragendes Gericht. Angesichts des Trubels hat er mich gebeten, am nächsten Vormittag wiederzukommen, hier bin ich nun. Und habe Glück. Der freundliche Mann, der gerade mit dem Besen in der Hand im Eingang lehnt und eine Verschnaufpause macht, ist Küchenchef Jean-Louis Winnebroot persönlich, der mir das Rezept gern weitergibt. Allerdings sind die Zutatenlisten, wenn man mit Restaurant-Köchen über ihre Rezepte spricht, meist gewöhnungsbedürftig: Man nehme fünf Liter Schlagobers … Hier gilt: Verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl und Ihre Vorlieben, dann wird das schon. Wichtig ist ihm vor allem nach Gefühl zu kochen und die Qualität der Zutaten, auf die er beim Erklären immer wieder hinweist. Also:

JEAN-LOUIS WINNEBROOTS KABELJAU IN CHORIZO-SAUCE

Man braucht für vier Personen ein etwa 15 Zentimeter langes Stück von einer weichen Chorizo-Wurst mit eher geringem Durchmesser (gut zwei Zentimeter – in Frankreich sehr gängig, bei uns etwas schwerer zu bekommen). Diese häuten und in feine Scheiben schneiden. In etwa einen halben Liter Obers geben und dieses auf die Hälfte reduzierend einkochen – ein einfacher Trick, der die Schärfe der Wurst mildert und eine würzige, dichte Sauce entstehen lässt.

Ein schönes Stück vom Kabeljaurücken mit Olivenöl beträufeln, salzen und mit etwas Fischfond und Weißwein zehn Minuten im Rohr garen. Keinesfalls zu lange im Rohr lassen – zerkocht wird der Fisch bröckelig und trocken, es wäre schade drum! Den Fisch mit der Chorizo-Sauce auf Tellern anrichten.

Dazu gab es Ratatouille und Karottenpüree, auch das geht nach Gefühl: Für die Ratatouille sechs der sieben typischen Gemüsesorten (Melanzani, Zucchini, Zwiebel, drei verschiedenfarbige Paprika) in Würfel schneiden und einzeln braten, bis sie weich sind. Zum Schluss mischen und geschälte, entkernte Tomaten dazugeben, aufkochen, mit Salz und Pfeffer abschmecken.

Für das Karottenpüree braucht es Karotten, Butter, Milch, Salz und Pfeffer. Wie viel in etwa? Jean-Louis erklärt kryptisch: Keinesfalls mit der Butter sparen, die Milchmenge richtet sich danach, ob man es mit zarten Frühlings- oder zähen Winterkarotten zu tun hat. Ganz wichtig: Ausreichend pfeffern, sonst schmeckt es wie Babybrei. Im Gegensatz zu Kartoffelpüree, das mit dem Pürierstab gemixt zu Kleister wird, kann man hier ohne Probleme den Stabmixer verwenden.

Das war es schon. Der kleine Brotkorb, der in Frankreich wie auch Leitungswasser, Salz und Pfeffer von Gesetzes wegen gratis auf dem Tisch steht und auf Verlangen jederzeit nachgefüllt werden muss, erspart französischen Köchen die bei uns stets vorhandene „Sättigungsbeilage“.

Gut gelaunt spaziere ich in Richtung Saint-Eustache weiter, dieser riesigen, von außen immer etwas unfertig aussehenden, gotisch anmutenden Renaissance-Kirche am Rande des alten Marktplatzes. So schwer sie von außen zu fassen ist, so großartig ist diese Kirche von innen: Das Raumgefühl ist einzigartig, die behäbige Riesenkirche wirkt plötzlich wunderbar leicht, ihr helles Gewölbe – das höher ist als das von Notre-Dame – zieht einen förmlich nach oben.

Nach der Kirche geht es in der Rue Montorgueil weiter. „Hochmutsberg“ würde die deutsche Übersetzung in etwa lauten, ein schön selbstironischer Name: Der Hügel, zu dem die Straße führt, besteht aus nichts anderem als aus dem Müll, der sich einst vor der Stadtmauer türmte. Diese hatte König Philippe Auguste am Ende des zwölften Jahrhunderts zur Verteidigung der Hauptstadt anlegen lassen – Gefahr drohte von den Engländern, die auch über die nahe Normandie herrschten. Von Philippe Augustes Mauer sind heute noch einige Spuren im Pariser Stadtbild erhalten, und eben auch der mittelalterliche Müllberg, in dessen Richtung ich jetzt aufbreche. Die Rue Montorgueil zählt seit jeher zu den gastronomischen Lebensadern der Metropole: Über diese Straße, die weiter stadtauswärts Rue Poissonnière heißt, also Fischhändlerinnenstraße, wurden, als man die Engländer endlich aus dem Land geworfen hatte, Fisch und Meeresfrüchte von der etwa zweihundert Kilometer entfernten Küste der Normandie in die stets hungrige Hauptstadt transportiert.

Zwischen den zahlreichen Fischhändlern siedelten sich weitere „métiers de bouche“ an, „Mundberufe“, wie man so schön auf Französisch sagt: Fleischer, Obst- und Gemüsehändler, Bäcker … darunter auch Institutionen wie die Pâtisserie Stohrer, 1730 von einem polnischen Pâtissier eröffnet, der sein Handwerk im Elsass vervollkommnete, wo der polnische König Stanislaus nach der Teilung seines Landes im Exil lebte. Der Pâtissier folgte der Tochter seines Königs, als diese den französischen Thronfolger Ludwig XV. heiratete, nach Versailles und später nach Paris. Dort machte er das heute noch klassische Dessert „Baba au rhum“ bekannt (ja, nach dem in Rum getränkten Kuchen ist bei Asterix ein Römerlager benannt). 1864 wurde das Geschäftslokal von Paul Baudry so gestaltet, wie es heute noch aussieht. Man kann also kunsthistorisches Interesse vortäuschen, wenn man die legendäre Pâtisserie betritt, wird sie aber kaum wieder verlassen, ohne zumindest ein Éclair gekauft zu haben. Ich mochte diese länglichen, wegen ihrer Cremefüllung oft etwas „aufgeweichten“ Brandteigkrapfen früher nicht so, ließ mich aber längst durch ein Schokolade-Éclair von Stohrer bekehren.

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Renaissance-Kirche Saint-Eustache

Zumindest eines der einst zahlreichen großen Fischgeschäfte liegt schräg gegenüber der Pâtisserie Stohrer, und auch das legendäre Restaurant Au Rocher de Cancale ist in Sichtweite, wenn mich auch die hellblaue Farbe und die frisch renovierte, viel zu glatte Fassade irritieren – das leicht verwitterte Äußere von früher fand ich passender. 1846 wurde das aktuelle Restaurant neu eröffnet, das viel ältere Vorgängerlokal gleichen Namens war von Balzac in zahlreichen Romanen verewigt worden. Ein Koch namens Langlais kreierte darin die „sole à la normande“, „normannische Seezunge“, ein Fischgericht mit vielen Meeresfrüchten und – wie alles, das mit dem Adjektiv „normannisch“ geschmückt wird – reichlich Obers. Wir verdanken das heute als typisch normannisch geltende Gericht dem romantischen neunzehnten Jahrhundert und seinem Bedürfnis nach Folklore, die es im Regelfall an Ort und Stelle gar nicht gab. So baute man allerorts Pseudoruinen, rekonstruierte verfallene Ritterburgen, erfand „uralte“ Trachten vom Schottenrock bis zum Steireranzug und dachte sich „typische“ Gerichte aus. Gegen Letzteres ist auch nichts einzuwenden.

Innen ist das Rocher de Cancale nach wie vor eine Augenweide – was das berühmte Rezept betrifft, verlasse ich das Lokal aber mit leeren Händen: Der aktuelle Küchenchef hat weder von der Geschichte des Hauses noch von normannischer Seezunge die leiseste Ahnung, ein Jammer.

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Passage du Caire

Lohnend ist in diesem Viertel auch der eine oder andere Abstecher in eine der Nebenstraßen, etwa die Rue Tiquetonne, zu der ich nun zurückspaziere. Bei Hausnummer 56 befindet sich das 1951 gegründete Pâtisserie- und Küchenbedarfsgeschäft G. Detou, das heute noch wie ein Kaufmannsladen aus dieser Zeit aussieht, freilich wie einer für Experten, in dem es von Jahrgangssardinen über feine Senfsorten bis zur Chocolatier-Basisausstattung einfach alles gibt. Bei meinem Bummel in Richtung Osten komme ich an zahllosen winzigen Geschäftslokalen, Cafés und Restaurants vorbei, deren Enge ihre Inhaber zu kreativen Lösungen zwingt und in denen modernes Design, altes Gebälk und Mauerwerk reizvolle Kombinationen ergeben. Ich lande in der Passage du Grand-Cerf, an deren Stelle sich einst das Hôtel du Grand-Cerf befand, der zentrale Postkutschenbahnhof der Hauptstadt – unglaublich turbulent muss es damals zugegangen sein. Heute strahlt die Passage eher diskrete Eleganz aus, viele Designer-Büros sind hier zu Hause, ein schönes und teures Geschäft für afrikanische Möbel, Stoffe und Kunsthandwerk auf zwei Etagen, kleine Boutiquen. Bei einem Vintage-Laden finde ich Schuhspanner des österreichischen Bundesheers in einer Wühlkiste.

Die Passage bringt mich zurück zur Königsstraße. Bis vor Kurzem war sie gerade in diesem Abschnitt noch Tag und Nacht ein einziger lang gezogener Straßenstrich, doch davon ist so gut wie nichts mehr geblieben. Die Straße atmet sichtlich auf, Sex-Shops weichen Bio-Weinhandlungen, Gemüseläden und Frühstückslokalen. Zahlreiche Passagen mit teils schillernder Vergangenheit öffnen sich links und rechts der Rue Saint-Denis, zum Beispiel die Passage du Bourg-l’Abbé gleich gegenüber, in der sich einige Handwerker und ein hübsches Café angesiedelt haben, oder, ein paar Schritte stadtauswärts, die Passage de la Trinité, eine der engsten dieses Viertels.

Nach dem Überqueren der Rue Réaumur geht es weiter in die Passage du Caire, die wie vieles in diesem Viertel an Napoleons Ägypten-Feldzug erinnert. An dieser Stelle befand sich der von Victor Hugo im Glöckner von Notre-Dame ausführlich beschriebene „Hof der Wunder“ (Cour des Miracles), in dem Krüppel aller Art wie durch ein Wunder von ihren Leiden „geheilt“ wurden, wenn sie von ihren Betteltouren zurückkamen: Buckel wurden abgeworfen, Blinde konnten wieder sehen, Gelähmte wieder gehen … ein schillernder, aber auch gefährlicher Ort, glaubt man dem Romancier. Es lohnt sich, ein paar Schritte ins Innere der verzweigten Passage zu machen, in der es zahlreiche Schneiderläden gibt, man aber auch Schaufensterpuppen und ähnlichen Boutiquebedarf kaufen kann. Sehenswert sind die „ägyptischen“ Ornamente der Hausfassade am Hinterausgang.

Nicht unspannend geht es in der Passage Sainte-Foy weiter, deren diskreten Eingang in der Rue Saint-Denis 263 man leicht verpassen kann. Sie wurde direkt an die mittelalterliche Stadtmauer gebaut, weswegen sie einige Stufen und Unebenheiten aufweist. Diesem Weg („Sentier“) entlang der Mauer verdankt das ihn umgebende Viertel bis heute seinen Namen. An der Passage Sainte-Foy sind alle Neuerungen der jüngsten Zeit spurlos vorübergegangen. Eine Dame fortgeschrittenen Alters mit gewagtem Dekolleté, eine würdige Vertreterin ihres uralten Gewerbes, beschimpft mich, als ich den Fotoapparat zücke, um eine Schneiderwerkstatt in der Passage zu fotografieren, und beruhigt sich erst, als ich den Apparat in meiner Tasche verstaue. Prostitution und Schneiderwerkstätten – das macht den „alten“ Sentier seit jeher aus.

Einst arbeiteten hier vor allem Nordafrikaner, darunter viele sephardische Juden, später Türken, dann übernahmen die Chinesen den Pariser Textilsektor. Sie wurden wegen zunehmender Beschwerden in Richtung elftes Arrondissement verdrängt – die Rue du Chemin-Vert gilt nach wie vor als Hauptstraße des „neuen“ Sentier, doch auch dort waren die vielen Schneidereien nicht erwünscht. Inzwischen zeichnet sich eine definitive Lösung ab, die chinesische Kleiderproduktion ist in die Vorstadt Aubervilliers übersiedelt. Zu meinem Leidwesen muss ich ein zweites Mal an der Dame vorbei – das andere Ende der Passage, an dem ich eigentlich wieder hinauswollte, ist mittlerweile durch ein versperrtes Gitter verschlossen. Diesmal werde ich großzügig ignoriert.

Der Umweg, den ich wegen der geschlossenen Passage nehmen muss, ist aber auch lohnend. So kann ich einen kurzen Blick in die Passage des Dames-de-Saint-Chamond, Rue Saint-Denis 226, werfen, an deren Ende ein hübsches Stadtpalais liegt, das sich einst ein Minister Richelieus erbauen ließ. Auch dieses wurde vom Textilsektor übernommen. Man kann durch das Palais zum Boulevard Sébastopol durchgehen. Vorsicht, das Pflaster ist sehr uneben!

Ich kehre in die Rue Saint-Denis zurück, gehe links in die schräg bergauf führende Rue Sainte-Foy weiter, danach gleich rechts in die Rue Chénier und erklimme den ehemaligen „Mont Orgueilleux“, den Hochmutsberg. Hier ist das Herz des Sentier-Viertels, die Straßen sind noch immer von kleinen Boutiquen gesäumt, ständig überqueren mit Stoffballen bepackte Männer die Fahrbahn. In der Rue Beauregard angekommen, mache ich ein paar Schritte stadteinwärts, die mich an der kürzesten Straße von Paris vorbeiführen: Die Rue des Degrés besteht eigentlich nur aus ein paar Stufen. Dieses Viertel ist ein schönes und, von den paar Boutiquen-Straßen abgesehen, recht ruhiges Eck von Paris. An der Kreuzung mit der Rue de la Lune, der Mondstraße, wäre die „Blumenboutique“ Les 2 au coin eine Pause wert: eine Blumenhandlung, in der es auch eine Café-Ecke und ein kleines Mittagsmenü gibt. Sieht nett aus, mir kommt die unverhoffte Pausenlocation aber etwas zu früh. Außerdem sind die Tische ohnehin voll, ein gutes Zeichen.

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Porte Saint-Denis

Von der Rue de la Lune, die ich nun hinunterspaziere, hat man einen schönen Blick auf die Porte Saint-Denis, eine zu Ehren des Sonnenkönigs Ludwig XIV. errichtete barocke Triumphpforte. Unter seiner Regierung wurde die aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende, an dieser Stelle vorbeiführende Stadtmauer Karls V. abgerissen und durch die Grands Boulevards ersetzt. Noch heute markiert die Pforte, die an der Stelle eines gleichnamigen Tores der alten Mauer steht, eine Grenze: Auf der anderen Seite heißt die Königsstraße nun Rue du Faubourg Saint-Denis und wechselt den Charakter. Halal-Fleischereien dominieren ein verändertes, aber nicht minder sehenswertes Straßenbild. Zudem gibt es weitere Passagen zu erforschen, gleich nach dem Triumphbogen etwa die Passage du Prado mit einem sehenswerten Art-déco-Dach, unter dem sich vorwiegend afrikanische Männer in zahlreichen Barber-Shops rasieren lassen.

Zwischen all den nordafrikanischen Läden übersieht man leicht die Brasserie Chez Julien, was ein Fehler wäre, handelt es sich doch um ein prachtvolles ehemaliges „Bouillon“, ein Lokal, in dem einst vor allem gekochtes Rindfleisch und eben Suppe serviert wurden. Die opulent verzierte Belle-Épo-que-Speisehalle mit sehenswertem Glasdach beherbergt heute ein nicht billiges Restaurant, das aber trotzdem gut besucht ist.

Als Little India gilt die Passage Brady ein paar Schritte weiter, ein indisches Restaurant grenzt hier an das andere. Ich mag sie nicht besonders, weil man ständig von Kellnern mit Speisekarten angesprochen und hineingebeten wird, ein Spießrutenlauf.

Lohnender finde ich die ruhige Passage des Petites-Ecuries (auch ein hübscher Name: „Kleine-Pferdestall-Passage“), die einen starken Kontrast zur quirligen Rue du Faubourg Saint-Denis bildet. Einige Schritte in ihrem inneren liegt die Brasserie Flo, eine Pariser Gastronomielegende, im Jahr 1918 von einem Elsässer namens Floederer in einem alten Bier-Depot gegründet und heute das Flaggschiff eines wahren Brasserie-Imperiums. Das Ambiente ist gediegen, die Preise sind es auch.

Zurück auf dem Königsweg umfängt mich wieder das pralle Straßenleben. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sticht eine kleine, hübsche Kaffeerösterei heraus, daneben ein ausgezeichnet sortierter Traiteur, man bekommt kurdische Sandwiches, kann auf beiden Seiten in unzähligen Lokalen essen gehen – wieder einmal zeigt sich, dass auch untouristische Straßenzüge in Paris wahre Paradiese für Flaneure darstellen können, vor allem, wenn sich diese ein kleines bisschen für Gastronomie interessieren.

Ab der Rue de la Fidélité wird die Straße deutlich ruhiger. Die Halle des Marché Saint-Quentin lasse ich links liegen, einen anderen Abstecher möchte ich wiederum keinesfalls auslassen: den Nordbahnhof, eine dieser Kathedralen des Verkehrs, die die Begeisterung des neunzehnten Jahrhunderts für die Eisenbahn und für ihre ungeheuren Möglichkeiten würdig zelebrieren. Amsterdam und Brüssel sind zum Greifen nah, doch wozu in die Ferne schweifen: Die Brasserie Terminus Nord, wieder eine dieser altehrwürdigen Brasserien, von denen auf dieser Route kein Mangel besteht, liegt genau gegenüber. Zumindest einmal sollte man sich so ein Lokal in Paris auch gönnen, allein des Spektakels wegen. Mit einer „Brauerei“, was der Name eigentlich bedeutet, haben diese Gaststätten wenig zu tun: Zwar spielt das Bier hier eine wichtigere Rolle als im typischen Restaurant, eine Brasserie zeichnet sich jedoch durch ihre Größe, ihre einfachen, aber nahrhaften Gerichte, die eher ungezwungene Atmosphäre und durchgehende Küche aus. Als ich noch in Paris gelebt und Familienbesuche gelegentlich ins Terminus Nord geführt habe, war ich immer von den Kellnern fasziniert, die riesige Meeresfrüchteplatten oder Choucroute-Schüsseln zwischen den Tischen balancierten und auch dann freundlich blieben, wenn ihnen mein kleiner Sohn dabei beinahe zwischen die Füße geriet.

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Nordbahnhof

Ab hier wird die Rue Saint-Denis wieder belebter und vor allem bunter: Ich nähere mich dem indischsten Stück von Paris. Die Auslagen sind voller Saris und Maharadscha-Anzüge, ich verstehe auf der Straße kein Wort mehr. Gut zweieinhalb Stunden bin ich nun unterwegs, Zeit für eine Pause. Das Restaurant Krishna Bhavan in der Rue Cail wurde mir empfohlen, preiswert und authentisch-indisch soll es sein. Etwas ratlos stelle ich fest, dass fast alle Restaurants in dieser Straße so heißen … Kurz entschlossen gehe ich ins Krishna Bhavan auf Nummer 24 – es ist gerammelt voll, doch ein winziger Tisch wird gerade frei. Manchmal hat es auch Vorteile, allein essen zu gehen. Eng ist es hier drin, wie so häufig in Paris, wo die Menschen gelernt haben, sich in einem Lokal, in dem eigentlich nicht einmal genug Platz ist, um sich umzudrehen, den Mantel auszuziehen, ohne dabei sämtliche Teller und Gläser von den nur wenige Zentimeter entfernten Tischen zu fegen. Jeder kann das hier, Tische werden ständig weg- und wieder zurückgeschoben, damit neue Gäste sich setzen können oder jemand aufs WC gelangen kann. Alles klappt reibungslos, auch die vielen Gespräche sind angeregt, aber niemand unterhält sich dabei so lautstark, dass sich jemand anderer gestört fühlen könnte. Bei gut gewürztem, aber nicht zu scharfem Kadai Vegetable Curry und einer Laddu-Kugel zum Dessert, hinuntergespült mit picksüßem Ceylon-Kaffee, genieße ich die Atmosphäre, bewundere meinen indisch aussehenden Tischnachbarn, der mit dem Handy in der linken Hand telefoniert, während er mit der rechten die verschiedenen Saucen und den Reis, den er auf einer großen Platte serviert bekommen hat, zu kleinen Bällchen formt und in den Mund bugsiert, ohne deswegen das Gespräch zu unterbrechen. Viel zu schnell vergeht an diesem Ort voller ungewohnter Gerüche, Klänge und Bilder die Zeit. Beim Bezahlen gebe ich mich weltgewandt und frage, aus welchem Teil Indiens die Küche stammt. Aus gar keinem, lautet die freundliche Antwort: Das ist ein sri-lankisches Lokal.

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Passage de la trinité

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A

Kräuterläden

B

Centre Barbara

C

Brasserie de la Goutte d’or

D

Echomusée

E

Marché Dejean

F

Institut des cultures d’Islam

G

Café Lomi

H

Marché de l’Olive

Der Königsweg: Teil 2

Ins dunkle Herz von Paris

An den Bouffes du Nord gehe ich heute nur vorüber, sollten Sie aber die Gelegenheit dazu haben, besuchen Sie eine Vorstellung dieses magischen Theaters, das so wirkt, als habe es Peter Brook mit seinem Team in seinem Verfall eingefroren. Für mich geht es unter der in diesem Abschnitt überirdisch verlaufenden Linie 2 der Métro weiter – die Gleise der Nord- und Ostbahn sowie der Canal Saint-Martin machten einen herkömmlichen Tunnel technisch unmöglich. Gut fürs Stadtbild: Die Gusseisensäulen, die Bögen und die unzähligen Nieten dieser überirdischen Bahn zeugen selbstbewusst von der technischen und ästhetischen Meisterleistung, die der Bau damals darstellte.

Über die Nordbahnbrücke spaziere ich in Richtung Rue de Jessaint und weiche einmal mehr von der royalen Direttissima ab, die mich eigentlich in die Rue Marx-Dormoy geführt hätte. „Goutte d’Or“ heißt das Viertel, in dem ich stattdessen ankomme und wo ich mir für die Recherchen ein Zimmer gemietet habe. Die Gegend hat seit jeher einen schlechten Ruf. Schon in Émile Zolas „L‘assommoir“ (Der Totschläger) soffen sich hier die Proletarier um ihre Existenz, heute gilt das Viertel vielen noch als Immigrantenghetto, verdreckt und gefährlich, als Drogen- und Hurenviertel, No-go-Area – dabei wird man als Spaziergänger so freundlich begrüßt. Am Eck Rue Stephenson/Rue de Jessaint/Rue de Tombouctou befinden sich vier kleine Läden, in denen ausschließlich frische Kräuter verkauft werden, vor allem Minze, Koriander und Petersilie. Es duftet betörend vor diesen Läden, aus denen stets das Wasser, mit dem die Kräuter frisch gehalten werden, auf die Straße rinnt. Ein Kraut kenne ich nicht. Ein freundlicher Verkäufer drückt mir ein Büschel davon in die Hand, lässt mich raten. Blassgrün sieht es aus, wie eine überdimensionierte Flechte, es riecht süßlich-würzig, ich habe keine Ahnung. Absinth! Hat aber nichts mit grünen Feen oder sonstigen verbotenen Räuschen zu tun, man trinkt es als Kräutertee, es soll gut für die Verdauung sein. Behalten Sie es doch gleich! Mit dem Kräuterbuschen in der Hand betrete ich die Goutte d’Or. „Goldener Tropfen“ so hieß der Wein, der einmal an den Hängen des Montmartre angebaut wurde, ein ehemals sehr beliebter Weißwein, der die Reblaus-Epidemie nicht überlebte, aber auch so dem raschen Wachsen der Stadt zum Opfer gefallen wäre. Viele nennen das Viertel nach dem angrenzenden Boulevard auch Barbès. Leila erwartet mich, meine aus dem Bénin stammende Zimmerwirtin, die mir versprochen hat, mir heute Nachmittag die Highlights ihres Viertels zu zeigen, das sie so unendlich viel besser findet, als sein Ruf es vermuten lässt.

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Rue Stephenson

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Ali-Baba-Grotte für Bibliophile

Unsere Tour beginnt mit einem echten Insidertipp: In der Rue Pierre-l’Ermite Nummer 3 drückt Leila auf eine Klingel, neben der schlicht Librairie steht. Wenig später öffnet sich die Tür, wir stehen in einer wahren Ali-Baba-Grotte für Bibliophile – ein wunderschöner, weitläufiger, von eisernen Säulen abgestützter Raum voller alter und seltener Bücher. Leila, die mir vorher nicht allzu viel verraten hat, freut sich über meinen offen stehenden Mund. Früher sei das eine Schmiede gewesen, erklärt Nicolas, der hier arbeitet. Neben dem Erdgeschoß gibt es noch ein Kellergeschoß, in dem die Buchhändler regelmäßig Ausstellungen organisieren. Ein großzügiger Ort, der in dieser Form nur in dieser Gegend denkbar ist: Im Quartier Latin oder in Saint-Germain, wo man viel eher mit einer solchen Buchhandlung rechnen würde, wären die Mieten viel zu hoch. Vorsichtig schmökere ich in ein paar kostbaren Bänden, ein frivol-heiterer Erotik-Ratgeber aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert wäre ein hübsches Souvenir, ist mir aber zu teuer. Viel günstiger und braver, aber dennoch schön sind hingegen die fantasievollen Klappbücher für kleine und größere Kinder, die die Librairie im Eingangsbereich aufgestellt hat.

Durch die Rue de la Charbonnière geht es, mit Blick auf das nahe Sacré Cœur, das von hier geradezu unwirklich aussieht, zum Centre Barbara. Seit acht Jahren gibt es dieses Kulturzentrum bereits. Neben einem reichhaltigen Konzertprogramm und Ausstellungen richtet sich das Zentrum vor allem an Künstler und Sozialprojekte: Dreihundert Künstler nützen derzeit die Ateliers, Proberäume und Aufnahmestudios, auch diverse Therapie- und Präventionsprogramme finden hier Platz. Sonja Lambert führt uns durch das Gebäude. Die gebürtige Serbin, die schon seit vielen Jahren im Viertel wohnt, ist hör- und sichtbar stolz auf das moderne, sich diskret in seine Umgebung einfügende Zentrum, das ehrgeizige Programm der Konzerte, aber auch auf die Rolle, die es für das Ansehen der Goutte d’Or spielt: Weit über die unmittelbare Umgebung hinaus bekannte Festivals wie „La Goutte d’Or en Fête“ oder „Magic Barbès“ werden vom Centre Barbara mitveranstaltet – hinschauen und hineingehen lohnt sich, irgendetwas ist immer los.

Leila führt mich weiter zur Brasserie de la Goutte d’Or an der Ecke zur Rue des Gardes. Fred und Tristan, die mit ihren Bärten und Kappen genauso aussehen, wie man sich junge Craftbeer-Brauer vorstellt, brauen fünfhundert Hektoliter Bier pro Jahr, das man in einigen Pariser Lebensmittelläden sowie in ausgewählten Monoprix-Filialen zu kaufen bekommt. Ein wenig Hipsterflair liegt neben der hopfigen Note natürlich in der Luft, die beiden sind mit viel Lust und Einsatz bei der Sache. Auch sie lieben ihr Viertel und legen Wert auf den lokalen Charakter ihrer Biere, selbst wenn der Hopfen aus Flandern stammt: Für das vollmundige Aroma des belgisch inspirierten Triple-Biers sind Kaffeebohnen aus einer Rösterei in der Nähe verantwortlich, die Gewürze, die das fein aromatische Château-Rouge-Bier unverwechselbar machen, kommen aus dem nächsten Gewürzladen, und in Erinnerung an die Kohlenlager des alten Nordbahnhofs brauen sie ein Charbonnière-Bier mit getoastetem Malz, dessen rauchig-milde Note einfach ideal zum noch sehr kühlen Frühlingswetter passt.

Die Rue des Gardes ist eine Designer-Straße, hinter deren Auslagen zahlreiche Nähmaschinen surren – die Stadt Paris stellt hier Pariser Jungdesignern günstigen Arbeitsraum zur Verfügung, der im Rest der Stadt kaum aufzutreiben ist. In der Rue Cavé kommen wir am Echomusée vorbei. Vor vierundzwanzig Jahren hatte Museumsgründer Jean-Marc Bombeau die Vision, in dem ehemaligen Eckcafé mit Stuckdecke einen Raum zu schaffen, der die Kultur in den Alltag der Jugendlichen des Viertels bringt und in dem auch ihre Kultur – Hip-Hop und Streetart – Platz hat. Viel Engagement und Herzblut steckt in diesem Ort, Jean-Marc ist stolz auf „seine“ Kinder, die mittlerweile erfolgreiche Hip-Hopper sind oder ihre Fotos ausstellen. Jeden Mittwoch findet eine Jamsession statt, Poetry Slams und Hip-Hop-Konzerte stehen regelmäßig auf dem Programm.

Doch wo ist nun, nach so viel Kultur, Mode, Craft Beer und Design, das mythenumrankte afrikanische Barbès, das wahlweise als Projektionsfläche für Ängste oder exotische Fantasien dient? Gleich ums Eck. Die Rue Myrha ist wohl die afrikanischste Gasse der Hauptstadt. Wir biegen nach rechts und stehen nach wenigen Schritten vor der Ferme de ParisLa Cave de Don Doudine