Über das Buch

Mit einem Namen wie Joana kann man nicht leben, wenn man doch ein Mädchen namens Johnny ist. Eine Familie ist kein vierblättriges Kleeblatt, weiß doch jeder, und das Unglück jedenfalls etwas anderes als unglückliches Verliebtsein.

Ob eine ungelernte Floristin, genannt Mama, einfach so den Laden sich selbst überlassen darf. Ob ein kleiner Bruder erwachsener werden kann als man selbst. Ob ein Vater im Schlaf etwas anderes als Kreuzworträtsel lösen kann. Ob sich mit einem gewonnenen Minifernseher in die Zukunft schauen lässt. Ob die Zukunft verloren geht, wenn man zu viel schwarz-weiß sieht.

Ob es egal ist, wen man liebt, solange nichts passiert. Ob es egal ist, was passiert, solange man nicht liebt. Johnny, no answer.

Über Judith Zander

Judith Zander wurde 1980 in Anklam geboren und lebt heute in Jüterbog. Für ihre Werke wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem 3sat-Preis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs und mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis. Ihr letzter Roman ›Dinge, die wir heute sagten‹ stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschien bei dtv ihr Gedichtband ›manual numerale‹.

JOHNNY OHNELAND

 

 

 

 

Wenn es in meiner Macht stünde, mich zuzustutzen, wie ich wollte, so kenne ich keine Form, in die ich hineingepreßt werden möchte, wenn ich sie dann nie wieder ablegen könnte: das Leben ist eine ungleichartige, unregelmäßige, vielgestaltige Bewegung.

Michel de Montaigne, Dreierlei Umgang: Freunde, Frauen, Bücher

 

 

Suppose we all suddenly change to entirely different names. Nobody would ever know who anybody was talking about. The whole world would go crazy. […]

 

The fortune of Big Mama had turned out true – about the sort of trip and a departure and a return […]. And there was the sum of money in her father’s wallet, so that already she had lived up all the fortune Big Mama had foreseen. Should she go down to the house in Sugarville and say that she had used up the whole future, and what was she now to do?

Carson McCullers, The Member of the Wedding

2. SEPTEMBER

 

 

 

 

Johnny, nicht mehr recht in Sicht, so könnte man sagen. Nichts mehr in Sicht, von dir aus. Zwängest du dich, die Augen noch einmal zu öffnen, hielte dein Blickfeld nichts bereit als deinen eigenen Schoß, die immer noch nackt in Sandalen steckenden Füße der Frau neben dir, deine eigenen in den immer noch zu großen alten Coles-Männersocken und die nahe Begrenzung der Rückenlehne vor dir, alles im gedimmten zwischenweltlichen Licht von ungefähr halb vier AEST. Rechts weißt du den Gang, the aisle, ein spät erworbenes Wort. »An aisle seat, please.« Ein Fensterplatz wäre nichts als Blödsinn gewesen auf einem Langstreckenflug, ein Anfängerfehler, und es mag ja sein, dass auch dies wieder nur des Schrecklichen Anfang ist, zunächst aber ist es des Schrecklichen Ende, und etwas anderes ist nicht zu sehen. Kein Abschiedsblick auf die nächtlichen Glühwürmchenlichter einer Stadt, die dir unvertraut blieb, zum Glück. Und es ist kein Abschied. Don’t look back in anger. Don’t look now.

Später, später wird früher sein, und obwohl du Abflugs- und Ankunftszeit kennst, Anfang und Ende, gelingt es dir nicht, Zeitdifferenz und Zeitverschiebung stimmig miteinander zu verrechnen zur Reisedauer, einen Zusammenhang herzustellen zwischen zwei äußersten Punkten und dem Dazwischen. Es gibt einen Widerstand, ein eigentliches Nicht-verstehen-Wollen, der Verdacht ist nicht neu: dass diese Verweigerung wirksamer zu befriedigen vermag als alle Erkenntnis, dass alle kurz- und langlebigen Kulte sich auf ihr gründen, dass alle schlimmen Geschichten eher zu ertragen sind in der Annahme, etwas daran bliebe grundsätzlich und auf immer undurchschaubar, jenseits der unwirtlichen Grenzbereiche unserer Logik, und dass, gingen alle Rechnungen restlos auf, es keinen Grund mehr gäbe weiterzumachen.

Fragt sich, womit. Womit, und: womit? Stellt sich heraus, in zwölf Kilometern Höhe, es existiert kein Wort dafür in der Sprache, an die du dich irgendwann gewöhnt haben musst, nach einer längeren Zeit, in der dir nur noch übel davon geworden war, täglich wie um eine heiße Kartoffel in deinem Mund herumreden zu müssen. Vomit. Auch Wombat hopst dir durch den Kopf, das seine nackte oder haarige Nase, du kannst dich nicht erinnern, beständig gen Zaungrenze reckende Exemplar im Zoo. Womit, ein Wombat mit ewig leerem Beutel. Woman. Geschlechtgewordene Infragestellung. I’ve given up on …

Die Aufgabe ist überschaubar. Es gilt, 27 Stunden in der Luft und dem luftleeren Raum von ein paar Flughäfen zu überstehen und anschließend das Delirium noch so lange im Zaum zu halten, bis du aus einem Taxi einem Nachtportier vors Rezeptionsdesk und endlich in jenes vor einer Woche reservierte Bett gestolpert sein wirst, das unglaublicherweise auf der anderen Seite der Welt sanft und anspruchslos bereitsteht, dich aufzunehmen in die saubere Kühle seiner Laken. Das heißt, es würde ein Laken sein, unten, und eine Bettdecke in einem echten Bezug, oben, nicht dieses ständig verrutschende Gewurschtel eines Laken- und Deckengefüges, das zudem noch mit sich dir nie erschließender Fertigkeit ringsum unter der Matratze festgestopft war, unter dem man so, wie in eine Tüte gesteckt, niemals warm werden und einschlafen konnte, und zerrte man es mühsam heraus und damit unweigerlich auch das untere, das eigentliche Laken, sah alles nur noch nach einem Werk der Zerstörung aus, einer mutwilligen Torpedierung des Ordnungssinns anderer Leute. Selbst Renata war diese alltägliche Unnötigkeit nicht abzugewöhnen gewesen. Oh Johnny. Ihr nachsichtiges Lächeln, als seist du es, der nicht zu helfen ist. Dir ist, als verstündest du es auf einmal: Womöglich hätte das Auslassen dieser Handgriffe eine Lücke in Renatas Tagesablauf verursacht, die, gerade weil sie unter der Bewusstseinsoberfläche geblieben wäre, mit nichts anderem hätte gefüllt werden können, sondern lediglich alles Weitere ins Stocken gebracht hätte. So wie überhaupt ein Vorlauf an Zeit eigentlich nie zu etwas zu gebrauchen ist und nur leichte Panik aufwirft.

Du denkst an dieses Bett in der vaterländischen Fremde wie an eine Wiedergutmachung, ohne dich um diese Stunde dem Zuendeführen eines Gedankens verpflichtet zu fühlen. Wiedergutmachen was an wem oder woran. Schon wieder. Woman. Oh, hebe dich hinweg, du nicht mal falsche Freundin. Welcome womit, wodurch, wobei, wohin, wofern, wovon, worin, woran, wohlan! Not to mention wogegen!

Ich reise gegen die Zeit, formulierst du dir deutlich in deiner Muttersprache, unsicher, ob das in überhaupt irgendeiner Weise einer Tatsache entspricht. Es könnte sein. Es könnte auch sein, dass zwei Bewegungen gleichzeitig stattfinden, grundsätzlich, das ungeschriebene Naturgesetz von der Relativität des Unterwegsseins. Ja, so nennen wir es vorläufig. Bis morgen die Welt schon wieder anders aussieht. Das war stets als Trost gemeint gewesen, auch dies aber hatte sich als zweierlei entpuppt: In der Kindheit tropfte ein sachter Schrecken, es könnte so sein und was, wenn, hinein, obwohl daran nicht recht zu glauben war, keinesfalls gleich morgen, und nur die Ahnung von einem abrupten, womöglich unabwendbaren Hineingeraten in den sogenannten Ernst des Lebens, unter dem doch alle, die ihn beschworen, zu leiden schienen, fällte sich nach und nach sichtbar aus. Und später, später bewahrheitete sich alles.

Zum Beispiel also dieser Nacht-Tag-Nachtflug auf eine Hauptstadt zu – und der Reflex, die zu denken, verlernt sich wie angeblich Schlittschuhlaufen nicht, obschon angespannte Wackligkeit auf den ersten Eismetern die Glieder versteift, und du hast nun einige Winter, Herbst-Winter, Sommer-Winter, keinen zugefrorenen See, Tümpel, Fluss gesehen, das kann doch nicht sein – diese Flugreise also, in einem Dreisprung sozusagen über die Städte Dubai und Düsseldorf, zu gleichen Teilen unvertraut, kann doch, was ein mögliches Protokoll beträfe, kaum anders denn als Rückwärtsbewegung bezeichnet werden. Was die Bewertung einer solchen Bewegung angeht, herrschen verschiedene Ansichten. Der Rückzug, die Flucht, das Scheitern, die Schmach, und auch diese einst in ein Blankobuch abgeschriebene, die du festhieltest wie eine letzte Gewissheit damals: Es gibt aus jeder vertrackten Lage einen Ausgang, in den man hineinfinden kann, …, man muss nur bedächtig rückwärts gehen, so wie ein Krebs in sein Schlupfloch zurückweicht. Und: Wenn man nichts mehr ist, dann ist man immer noch, was man war. Bloß wann? Wann war man das, und was? Diese Methode des Zurückgehens, Zurückverfolgens führt ja schon, wenn man sich ihr nicht ernsthaft, nur mal antestend nähert, an den Rand ihres Magnetfeldes gerät, zu einer wilden Drehung der Gedanken, einem Verrücktspielen der inneren Anzeiger, die nicht entscheiden können, worauf sie sich ausrichten sollen, denn jeder sogenannte Punkt in der Erinnerung, der eigenen Historie, entpuppt sich als ganz und gar nicht klar scheidbar von seiner unmittelbaren Umgebung, den Nachbarpunkten, Punkten nun schon in Anführungszeichen, jenem amorphen Davor und Danach, dem er in jeder ehrlichen Erzählweise – und dahinter kommt man ja nicht, kann man nicht zurück, hinter ein Erzählen – gleichermaßen doch zuzurechnen ist. Das heißt, du Hilfsphilosophin, es gibt nur den Fluss. Oder es gibt ihn nicht. Todd River. Mal so, mal so. Das weiß jeder, und keiner will es so haben. Womöglich, aber dies ist eine aeroplane Idee im Zustand des Nichtschlafenkönnens und der Gewissheit des Nichtschlafenkönnens für den Rest dieser Luftfahrt (ab wann kann man von Rest sprechen, wann von rest, oh, restlose restlessness, ach, das geht doch zu weit), womöglich gab dieses schwimmende Dasein im Fluss, die Schwammigkeit einer Ruhe im Flussbett nicht den letzten Grund ab für Erfindung – oder musste man von Entdeckung sprechen? – und Triumph des Digitalen. Entweder oder. Und es ist doch gar kein neues Kunsthandwerk, das vergangene eigene Leben in den Berichten davon automatisch umzuwandeln von analoger Abfolge in digitale Treppenstufen, zusammenhängende Tonfolgen auch etwas ahnungslos zu zerschneiden in verschiedene Lieder, sodass ein Knacken zu hören ist am Übergang, kann sein, es geht einzig darum, den Beweis der Grenze, der Andersartigkeit der Phasen anzutreten, vor sich selber zuerst.

Als ein Schlupfloch schlechthin aber ist dir doch stets das Reisen vorgekommen. Du verdächtigst dich seit Längerem der Scharlatanerie, wenn du dieses Wort benutzt für das, was richtigerweise Angewohnheit genannt in den Ohren mancher erst recht falsch und kokett klingen müsste, eine Angeberei per Understatement. Vor Jahren wäre das die Wahrheit gewesen. Als du vorhin – vorhin? im anderen Leben noch? – den übergewichtigen Koffer einchecktest, später, der Herde folgend, dich in die Boardingschlange reihtest, durch den Schlauch in den Bauch des Flugzeuges trabtest, stellte sich jedoch als einzige Gefühlswahrheit die ein, dass du nach längerer Abstinenz dich einer alten Gewohnheit wieder überließest. Abhauen, schlichtweg. Sich hinwegbegeben, aber nicht in Haltung und Verfassung einer Flüchtenden, nicht im Krebsgang, zurückweichend. Sondern sozusagen mit zum Pfeifen gespitzten Lippen, La Paloma, als die Taube auf dem Dach, unerreichbar zu bleiben für die begehrlich greifenden Umstände und das Nicht-mehr-Aushalten transformieren ins Nicht-nötig-Haben und in diesem Umhang genäht mit Galoppstichen aus fliegenden Fahnen von dannen ziehen, in den Siebenmeilenstiefeln zweiter Klasse. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben. Dies ließ sich dann, leicht fröstelnd von den Nebenwirkungen der Entschlossenheit, rituell und gutheißend denken.

»I thought her feet must be boiling!« Dir bleibt nichts übrig, als die Stimme der Frau als an dich gerichtet zu deuten, trotz Verwendung der dritten Person, durch die jene Engländerin unwissend, mehr unsensibel als unschuldig – doch trägt einer Schuld an einem Mangel an Feinfühligkeit? und änderte Klarheit in dieser stets wieder auf dem Wochenplan der unverdaulichen Speisen stehenden Frage etwas? und was hat das schon mit der Unbekannten neben dir zu tun? –, die nun also ihre Sympathien gleich verspielt hatte dadurch, dass sie an dich gewandt über deine Füße als die einer Nichtangeredeten mutmaßte. Als die du dir denn auch vorkommst, ein schwächer gewordenes, aber nie ganz verblasstes Nachbild des Kindes vor der Bäckersfrau, Hat sie denn keinen Groschen?, als Subjekt-Objekt, suspekt und unfähig zu einer rettenden, rächenden Reaktion, abhauen geht nicht. So tun, als sei man nicht angesprochen, auch nicht, was überhaupt das Demütigendste daran ist. Die Situation ist (hier und jetzt und immerdar): dein abwesender Blick auf die Hände der Sitznachbarin, wie sie die Sandalenriemen lösten, die nackten Füße, wohl in der Absicht, etwas Reibungswärme zu erzeugen, kneteten, wurde nur allzu bereitwillig aufgefasst als Anteilnahme, gar Neugier, an der sich endlich jener Kommentar anbringen ließ, und zwar einer zu Füßen, die nicht ihre eigenen waren und in dicken, hässlichen Socken steckten, eine Anrede unter Vermeidung einer Anrede, das heißt Erschleichung von Zuwendung ohne Gegenleistung. Verschleierung der Erschleichung, des Nötighabens mittels Herabminderung des Gegenübers zu einem Nichtgegenüber. Schuldig. Wir alle dreimal die Woche. Trivial. Schwachsinn. Immerhin gibt sie doch zu, dass Sandalen fürs Flugzeugklima zu leichtsinnig waren und ihre Vermutung über »ihre«, Johnnys (was sie nicht vermuten würde), also deine in den Socken kochenden Füße falsch; leistet sie also nicht vielmehr ohne Not und sich selbst sogar etwas der Dummheit bezichtigend Abbitte, noch dazu mit der freundlichen Absicht, die dröhnende Anonymität dieses Zusammengepferchtseins aufzulockern, euch das, was nichts als zähes Warten ist, zu verdünnen?

Beides, wie immer beides, du weißt es doch, du hast es doch gewusst. Wie erwartbar, wie variationslos das Leben in seiner Ambivalenz doch irgendwann wird, alles hat zwei Seiten mindestens, das trifft immer zu. Das trifft, immerzu. Aber nicht unbedingt ins Schwarze, die Resultate dieser schwer zu kontrollierenden Neigung, die Worte doppelt und dreifach nutzbar zu machen, ihnen zweite und dritte Ebenen abzupressen, nichts umkommen zu lassen. Und kannst du das nun in Beziehung setzen zur Ambivalenz, stellt es einen durch ihre dir in Fleisch und Blut gezogene Allgegenwärtigkeit entstandenen Fall von vorauseilendem Gehorsam dar oder eher von Unterwanderung durch Übertreibung? Oder auch wieder nur verbale Notzucht? Nebenbei: Du wolltest doch wegkommen von den Absolutismen.

Was auch noch wahr ist: das Dröhnen der Maschine bohrt sich erst jetzt in deine Wahrnehmung, nachdem es von der gar nicht mal unangenehmen Frauenstimme unterbrochen worden ist. Ein Sinnbild aller Routine, denkst du, die erst unerträglich zu lasten beginnt durch den Einbruch des Glücks, das heißt natürlich inklusive seines Wiederverschwindens. Kann das gelten als menschliches Unglück? Mit dem Glück ist es so, das hat man bald heraus, dass das Gegenteil, oder sagen wir milder, die Abwesenheit der Normalfall ist, das, mit dem man lebt, das, was man erwartet und berechtigterweise erwarten zu dürfen glaubt. Das Glück zu erwarten gilt als naiver und vernunftwidriger als jeder Aberglaube, was nichts ändert am abergläubischen Vermeidungsverhalten, eingetrichtert von Verwandtenzungen, eingeübt in einem Alter, in dem man vertrocknete Marienkäfer begräbt und beim späteren Wiederaufwühlen der Stelle darauf setzt, sie nicht mehr vorzufinden, da sie nunmehr in den Himmel gekommen sind: wenn du’s dir zu doll wünschst, passiert’s nicht, freu dich mal nicht zu früh, man hat schon Pferde kotzen sehen. Die ganze Skala, auf der auch das fast todsicher eintretende Glück kaum näher an der Wirklichkeit rangieren durfte als das tollkühnste Wunschdenken, sondern mit dem gleichen Misstrauen bedacht wurde, und bald scheuten die Gedanken von allein vor dem unberechenbaren möglichen Glück zurück, wurden zurückgepfiffen von sich selbst und belohnt in der Logik des Aberglaubens, der nicht nur nüchtern darauf abzielte, eine Enttäuschung zu vermeiden, sondern unter diesem Deckmäntelchen stets auch seine wahre Natur durchblitzen ließ, süßes magisches Denken: Schlägst du die Augen nieder vorm Wunsch, vorm Glück, sieht es auch dich nicht und wagt sich näher heran. Denk gar nicht dran, dann kommt es schon, irgendwann. Wie fest und vollständig dich diese Gänsehaut umspannt, merkst du erst jetzt, wo ja nicht mehr viel passieren kann und du sie dir aus Neugier hier und da abzupulen beginnst mit alltäglichen Wünschen, kleinen Phantasien, die du dir nicht länger versagst und die dadurch offenbar trotzdem nicht davon abgehalten werden, sich zu verwirklichen. Doch ganz überzeugen tut es dich nicht, das sind nichtige Testfälle, hasenfüßige Simulationen, die wohl kaum etwas aussagen über die Chancen eines echten ersehnten Glücks. Und da kannst du nichts sehen, es liegt außer Reichweite vor allem schon deshalb, weil dir seit Wochen ist, als hättest du alle Fähigkeit eingebüßt, überhaupt solch einen Wunsch zu entwickeln, du kannst keine Vorstellung in dir bilden davon, in welchen Formen bestenfalls die Zukunft auf dich zukommen sollte, vorläufig kommst du nicht weg von diesem blinden Fleck. Ein Wunschfensterplatz auf einem Langstreckenflug mag gedankenlos sein, auf einem Nachtflug aber ist er sinnlos.

Witzlos. Dass sich dieses Wort plötzlich wieder anfindet, das irgendwann da und in Gebrauch war, in dem der anderen, irgendwann auch euch manchmal entschlüpfte, dir mit dem Gefühl einer Verunreinigung, Charlie hatte da weniger Skrupel, doch auch aus seinem Mund klang es dir als Urteil fremdbestimmt, nicht nach Charlie, witzlos im ursprünglichen Sinne, ohne Sinn und Verstand, herzlos. Einmal lasest du über Bach, in seinem Nekrolog hieße es, er habe von Natur aus ein etwas blödes Gesicht gehabt, womit nichts weiter gemeint gewesen sei, als dass er kurzsichtig war. Es gefällt dir immer noch, diese einstigen Bedeutungen mitzudenken, in deinem Reden mitschwingen zu lassen, das heißt, inzwischen kannst du wohl nicht mehr anders, nur ist es witzlos fürwahr, pointless, damit mehr als nur den gegenwärtigen Endpunkt der Bedeutungsverschiebung auch im Gegenüber anklingen lassen zu wollen. Doch geht ja auch dein Blick, dein Empfinden stets vom Ende der Geschichte aus und lässt die historischen Stufen und Schwundstufen in einem deiner Natur entsprechenden leicht komischen Licht erscheinen, die fortwährende Verschiebung, Metaphorisierung ist nicht retuschierbar. Es wäre auch schade drum, setzt du jetzt, wo du denkst, dass du nur an die Worte denkst, hinzu.

Sich das Unglück vorzustellen, ist kein Witz und auch nicht weitsichtig, es ist blödsinnig, es ist die umgekehrte Methode. Sie kam von innen, musste dir nicht beigebracht werden, war lediglich eine sich von selbst einstellende Schlussfolgerung: Wenn das Glück dadurch verhindert wurde, dass man es sich ausmalte, konnte dann nicht, indem man das innere Auge vor ein mögliches Unglück führte, sich zwang, das Ungeheure in aller Detailliertheit und Düsternis anzusehen, es durch diesen Trick in Bann geschlagen werden? Konnte nicht die Wahrscheinlichkeit, dass just dieses Unglück einträte, entscheidend abgesenkt werden mithilfe dieser Art von Vorschau? Schließlich funktionierten, wie du später lerntest, auch Impfungen so ähnlich: Eine dem Körper vorsorglich zugeführte abgeschwächte Form der Katastrophe wird genau diese in Zukunft abschmettern. Den kurzen Schmerz des Einstiches, die einen Abend währende Mattigkeit danach nahmst du gerne in Kauf. Und konntest nicht verstehen, dass dieser Nutzen, den du so der ursprünglich eingeimpften Denk- und Handlungsanweisung abluchstest, geradezu gefürchtet und verpönt war. Bloß nicht den Teufel an die Wand malen, hieß das. So viel Schwarzmalerei aber lag dir nicht. Dass das Glück im Grunde nur zu verscheuchen war, das mochte sein, aber dass man obendrein das Unglück mit der gleichen Gedankenoperation auf sich ziehen würde, sprengte für dein Empfinden jedes Maß und erschien dir wie eine empörend ungerechte Strafe, und die Frage war ja, wofür eigentlich. Es konnte nicht sein. Das Unglück kam auch so, von allein. Und es war doch besser und letzten Endes sogar vernünftiger, sich schon mal ein Bild von ein paar seiner möglichen Erscheinungsformen zu machen, auf dass es einen nicht völlig wehr- und ahnungslos erwischte. Meintest du.

Ein Problem indes zeigte sich nach und nach, zuerst als das unbestimmte Unbehagen, etwas sei nicht berücksichtigt worden in dieser Theorie, vergleichbar dem zu jedem Reiseaufbruch gehörenden Gefühl, etwas vergessen zu haben, und sicherlich hast du irgendwas bei Renata liegenlassen, zum ersten Mal wäre es dir nicht nur egal, sondern ganz recht. Später gab es konkrete Situationen, die immerhin halfen, das Problem herauszuschälen, auch wenn damit keinem geholfen war: Das erwünschte Glück ist überschaubar und endlich, das unerwünschte Unglück hingegen unermesslich; man weiß ungefähr und manchmal genau, was man ersehnt, aber nicht, was man alles auf keinen Fall verwirklicht haben möchte. Du stutzt, jetzt wo du erneut vor diesem immer noch für gültig erachteten Abbild deiner Version von Fatalismus stehst, denn dir fällt auf, es verkehrt plötzlich wie ein Vexierbild den bekannten Fall, dass man oft nicht recht weiß, was man will, sehr wohl aber, was nicht, in sein genaues Gegenteil. Und in diesem Zustand, der alles auf einmal ist, das heißt, alles nicht, kein Boden, kein Schlaf, keine Zeit, keine Aussicht, fängst du langsam an, dir schwer auf die Nerven zu gehen. Vielleicht ist ja wieder alles verkehrt. Aber das lässt sich auch immer sagen, wenn man nicht weiterweiß. Nichts, alles, immer, wieder, ja, ja.

Doch du kannst nicht anders, auch dir selbst gegenüber musst du das letzte Wort behalten, wohl wissend, es wird niemals das letzte sein, sondern das erste eines neuen Gedankenknäuels. Jedenfalls scheint dir, dies sei längst noch nicht alles, was sich dazu in dir aufgespult hat, du hast lediglich an einer unordentlichen Schlaufe gezupft und einen Faden hervorgezogen, dessen Hervorgezogenwerden den Rest zu immer garstigeren Knoten festzurrt. In ferner Vorzeit saßest du da mit angehobenen Ellbogen, gestreckten Händen, die den um sie gelegten Wollstrang auf Spannung hielten, und Oma Meta wickelte Runde um Runde ab und säuberlich auf ein wachsendes Knäuel, dessen Mitte ein zusammengerolltes Stück Pappe bildete, das später wieder zum Vorschein kam beim Wachsen des Pullovers, in dem du dann dasaßest irgendwann auf demselben Platz. Auf demselben Platz hängst du in der Luft bis Dubai, die Hände im Schoß, mit dem zunehmend höhendünnen und, nun sag’s schon, fadenscheinigen Gedanken, dass Glück und Unglück letztlich derselben Kategorie angehören, nämlich der der unerhörten Begebenheit, nicht gerade eine Novelle. Dünn wie ein Stück Pappe, das nicht wärmte unterm Hintern, zum Beispiel an einem 29. Februar, diesem unerhörten Datum. Die stets irritierende Monatsübersicht im Kalender, der Blick auf den Februar als den zu kurz gekommenen Monat. Bloß hilft die Tatsache, dass er manchmal diesen zusätzlichen Tag zugestanden bekommt, gerade nicht über jenen Anomalieeindruck hinweg, sondern verstärkt ihn nur noch, denn der Monat bleibt zu kurz wie ein eingelaufener Ärmel, trotz und gerade wegen des angestrickten Tages, an dem doch am meisten verwirrt, dass es ihn ab und zu gibt, sein Vorkommen wirkt befremdlicher als seine normale Abwesenheit, mit der man sich abfinden kann, und an deiner kindlichen Frage, wo er denn abbliebe in den nicht Schaltjahr genannten Jahren, ist die Beunruhigung bis heute nicht ganz verblasst. Der Februar hat zwei letzte Tage, einen Normalausgang und einen Ausnahmeausgang, ganz wie in strengster Traumlogik, und man kann ihn sich nicht aussuchen.

Ob die Engländerin neben dir, die vielleicht eine Waliserin war, jemals darüber nachgedacht hat, ob jemals jemand darüber nachgedacht hat, du wiegst dich ein in eine weitere deiner notorischen Kinderfragen, die selbst schon Teil deiner Eigentümlichkeit für dich war, ohne dass du darüber nachdachtest, ob du die Einzige seiest, die sie stellte. Am I the first one to think of it? Es wurde dir spät bewusst, es ist kaum zu glauben. Dass du niemals die Einzige bist. Zu Anfang glaubtest du auch, mit dem Glauben der nie herausgeforderten Überzeugung, du seiest die Einzige mit deinem Namen, aber auch das war ein Irrtum.

Eine Landung? Die Ankündigung von etwas Unangekündigtem. Gerade gerät dir alles zum Gleichnis, nun mach mal halblang, aber du gibst dich dieser Automatik doch hin, weil es im Moment weit und breit nichts anderes zum Hingeben gibt. Also: Klar war wieder nur, dass etwas käme, aber nicht was. Und das heißt 1 technical stop auf dem Ticket. Und das ist nun also Singapur, und wenn nicht, ist es auch egal.

POMMERLAND