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Thomas Harding

FUTURE
HISTORY
2050

Dokumentation
Florian Toperngpong

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INHALT

Kurze Mitteilung des Herausgebers

Über mich

2020

Notiz Nr. 1

2021

Notiz Nr. 2

2022

Notiz Nr. 3

2025

Notiz Nr. 4

2028

Notiz Nr. 5

2029

Notiz Nr. 6

2031

Notiz Nr. 7

2032

Notiz Nr. 8

2033

Notiz Nr. 9

2035

Notiz Nr. 10

2037

Notiz Nr. 11

2040

Notiz Nr. 12

2043

Notiz Nr. 13

2045

Notiz Nr. 14

2047

Notiz Nr. 15

2050

Notiz Nr. 16

Nachwort des Herausgebers

GLOSSAR

Kurze Mitteilung des Herausgebers

Ehrlich, ich wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte.

Ich war gerade für Recherchen im Berliner Landesarchiv. Das ist eine alte Munitionsfabrik im Norden der Stadt, ein großes Backsteingebäude mit hohen Decken und gebohnerten Fußböden. Auf einem kleinen Tisch vor mir standen sieben Pappschachteln. Einige davon war ich bereits durchgegangen und hatte viel Interessantes über eine jüdische Familie in Erfahrung bringen können, die in den 1930er Jahren in Berlin lebte. Besonders interessant war, dass eine der Schachteln die Korrespondenz zwischen dieser Familie und der Gestapo enthielt.

Nun öffnete ich die vierte Schachtel, und da fand ich sie. Neun kleine Hefte, die mit Bindfaden zusammengeschnürt waren. Alle waren sie voller handschriftlicher Notizen. Sie trugen die Nummern 1, 2, 4, 6, 7, 9, 10, 11 und 13. Die Handschrift war gut lesbar, und der Text war – überraschend für den Ort, an dem ich mich gerade befand – auf Englisch verfasst.

Ich sah mir die Hefte genauer an und entdeckte verschiedene Daten. Auf dem Umschlag des Heftes, das ich gerade in der Hand hielt, stand „2031“. Ich blätterte ein paar Seiten weiter und gelangte zum Jahr 2033. Am Ende des Heftes war ich bei 2035 angelangt.

Neugierig geworden sah ich mir die übrigen Hefte an. Die Daten umfassten die Jahre von 2020 am Anfang eines Hefts bis 2050 am Ende eines anderen. Und als ich die Seiten dann genauer durchzusehen begann, fiel ein Dokument heraus. Es war eine Postkarte, die eine Frau geschrieben hatte, die aus Venedig evakuiert worden war, nachdem eine dramatische Erhöhung des Meeresspiegels die Stadt unter Wasser gesetzt hatte. Das Datum des Poststempels aus dem Jahr 2031. Aber wie sollte das möglich sein? Bis 2031 waren es noch elf Jahre!

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Die Notizhefte sowie weitere Dokumente

Ich habe Jahre in fensterlosen Räumen überall in der Welt zugebracht — zuweilen nennt man mich eine Archivratte —, und ich bin von Natur aus skeptisch. Ich gelte auch als Vernunftmensch. Ich habe gelernt, vorurteilslos und nicht-tendenziös die Fakten zu prüfen, die vor mir liegen.

Also holte ich tief Atem und zog das Dokument zu mir, um es näher zu betrachten. Gewiss, es schien ein Original zu sein, keine Kopie oder ein Faksimile. Der blaue Datumsstempel in der rechten oberen Ecke des jeweiligen Blattes machte einen authentischen Eindruck. Das Landesarchiv hatte das Dokument immerhin für real befunden. Auch die Unterschrift ganz unten schien echt zu sein, selbst wenn sie nur ein Krakel war.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ruhe — sagte ich zu mir selbst. Analytisch vorgehen! Vielleicht hatte jemand sich hier mit Science Fiction befasst und die Sache aus Versehen zurückgelassen. Doch wenn das der Fall gewesen wäre, wäre die Person bestimmt zum Archiv zurückgekehrt, um die wertvollen Dokumente wieder an sich zu nehmen.

Die andere Möglichkeit war, dass es sich um einen Witz handelte, und das war wahrscheinlicher. Ein Forscherkollege, der sich auf Kosten seiner Kollegen oder Kolleginnen einen Scherz erlaubt hatte. Aber das konnte ich schnell ausschließen. Denn würde jemand wirklich solch eine lange historische Darstellung aufschreiben, nur für einen Scherz? Immerhin handelte es sich, so meine Überschlagsrechnung, um mehr als zweihundert Seiten. Diese Hefte zu fälschen wäre eine gewaltige und äußerst schwierige Aufgabe gewesen. Und es wäre außerordentlich peinlich gewesen, wenn dies als Fälschung entdeckt worden wäre. Es gab also nur eine Möglichkeit. Dass sie echt waren.

Das war natürlich undenkbar. Absurd. Selbst wenn dies die wirkliche Geschichte war, die jemand in der Zukunft aufgeschrieben hat — wie sollte das Material dann zurück ins Jahr 2020 gelangt sein? Natürlich hatte ich schon von Zeitreisen gehört und Artikel gelesen über Wurmlöcher und Unregelmäßigkeiten im Raum-Zeit-Kontinuum. Aber das war doch eher Stoff für Romane und Filme. Gute Unterhaltung, aber Unsinn für einen Wissenschaftler wie mich.

Und doch. Was, wenn es tatsächlich echt wäre?

Ich sammelte alle anderen Dokumente ein, die ich vor mir hatte, steckte sie wieder in die Pappschachteln und schloss die Deckel. Ich hatte nichts weiter vor an diesem Tag. Ich würde diese Hefte lesen, und zwar sorgfältig.

Die Aufgabe, die ich mir stellte, war diese: Wenn ich noch bei der letzten Seite glauben würde, dass diese Artefakte — ich muss gestehen, dass ich den Heften bereits einen solchen respektvollen Namen gab — eher real als dies nicht waren, musste das für mich als Wissenschaftler bedeuten, dass die Hefte tatsächlich die Geschichte der Zukunft beinhalteten.

Ich schlug die erste Seite auf und begann zu lesen. Und zu meiner vollkommenen Überraschung — es war vielmehr ein regelrechter Schock — begann ich, je mehr ich las, alles umso glaubhafter zu finden. Bald schon bemerkte ich zahlreiche Lücken in dem Bericht.

Ganze Jahre waren ausgelassen.

Ich stellte weiterhin fest, dass die „Interviewerin“ und die „Historikerin“, wenn das die richtige Bezeichnung für beide ist, sich jeweils auf ein oder höchstens zwei Ereignisse in jedem Jahr konzentrierten. Hierfür gab es keine Erklärung.

Hier sind sie also. Ich gebe die Hefte so wieder, wie ich sie gefunden habe, außerdem verschiedene Artefakte, die zwischen den Seiten eingelegt waren. Die Texte beginnen mit einer Einleitung der „Interviewerin“. Ich habe keinen Versuch unternommen, den Text zu redigieren. Ich habe den Dokumenten nichts hinzugefügt und habe nichts gestrichen*. Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich diesen bemerkenswerten Bericht mit all seinen Unvollkommenheiten und Leerstellen so der Öffentlichkeit zur Verfügung stelle, wie ich ihn entdeckt habe. Was seine Authentizität anbetrifft, überlasse ich das Urteil Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser.

Thomas Harding

Januar 2020

* Zum besseren Verständnis habe ich ans Ende des Berichts ein kleines von mir zusammengestelltes Glossar angefügt

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Über mich

Meine Großma Nancy sagt, jede Geschichtsdarstellung ist persönlich. Dem stimme ich zu. Geschichte ist etwas Reales, sie macht etwas mit den Menschen, und wenn man sorgfältig hinguckt, kann man ihre Spuren im Alltagsleben der Menschen verfolgen.

Natürlich ist es spannend zu lesen, wie und warum Kriege ausbrechen und enden, warum dieser König oder jene Königin ihren Thron verloren hat, wie ein großartiger Wissenschaftler eine großartige Maschine erfunden hat oder eine Künstlerin eine völlig neue Ausdrucksform. Für mich ist aber das Alltagsleben genauso interessant. Vielleicht sogar noch interessanter. Was haben die Menschen gegessen und getrunken? Was hatten sie an? Womit haben sie ihre Zeit verbracht? Worüber haben sie gesprochen? Vor wem oder was hatten sie Angst? Wen haben sie geliebt? Was hat sie veranlasst, morgens aufzustehen?

Und im Geist solch einer persönlichen Geschichtsschreibung … hier ein bisschen über mich:

Ich heiße Billy Schmidt. Ich bin vierzehn Jahre und elf Monate alt. Ich lebe mit meinen Eltern, meinen zwei älteren Schwestern und meiner Großma Nancy in London. Unsere Wohnung ist klein, aber groß genug für uns sechs. Wir leben mit 25 000 Nachbarn in einem City Tower. Hier gibt es auf kurze Entfernung alles Lebenswichtige: Läden, ein Fitnessstudio und einen Marktplatz. Alles wird zu hundert Prozent recycelt.

Und das ist mein typischer Tagesablauf: Ich wache morgens um neun Uhr von dem Geräusch von Cook930 auf, der das Frühstück zubereitet. Meistens esse ich etwas Obst (aus einem lokalen Super-Treibhaus) und einen Carb-Riegel (Reis oder Soja). Die Schule beginnt um zehn Uhr. Ich kann gar nicht glauben, dass meine Eltern um acht Uhr morgens oder noch früher zur Schule mussten. Mein Gehirn beginnt erst um zehn langsam zu funktionieren.

Das Mittagsessen zu Hause wird wieder von Cook930 zubereitet (Salat im Sommer, Suppe im Winter). Nach dem Mittagessen erledige ich meine Gemeindearbeit. Zur Zeit bedeutet das, dass ich Kindern unserer Grundschule Geschichten vorlese. Natürlich wird der meiste Unterricht von einem Robotlehrer gegeben, was den Vorteil hat, dass er für jeden Schüler den individualisierten Lehrstoff bereithält. Aber Menschen können natürlich etwas vermitteln, was Roboter nicht können. Humor zum Beispiel. Oder Körperkontakt. Ich bin gern bei den kleinen Kindern. Ich kann mir vorstellen, dass ich später in der Erziehungsverwaltung arbeiten werde. Aber bis dahin sind es noch viele Jahre. Zuerst muss ich meine Schulpflichtjahre absolvieren, und danach noch drei Jahre Sozialdienst. Dann werde ich schon siebenundzwanzig Jahre alt sein.

Nach der Schule gehe ich mit meinen Freund:innen ins Fitnessstudio. Mein Lieblingstag ist der Mittwoch, denn dann steht das Fahrrad, das mir zugewiesen worden ist, vor einem Fenster, und ich kann das Biodiversitätsgebiet vor der Stadt sehen. Gerne gehen wir auch in das City-Tower-Kino.

Am Abend esse ich mit meiner Familie in der Volkskantine. Sie ist nicht weit von unserer Wohnung. Wenn ich mich genügend bewegt habe, gönne ich mir einen Nachtisch. Am liebsten mag ich eines der neuen Insta-Eiscremes. Die gibt es erst seit letztem Jahr, und was ich gut finde, ist, dass ich Geschmack, Textur und Form selbst gestalten kann. (Gestern Abend sah mein Insta-Eis aus wie mein Cousin. Ich musste lachen, als ich ihm die Nase abgebissen habe.) Gegen elf Uhr sind wir gewöhnlich wieder zu Hause.

Ich gucke mir dann vielleicht eine Stunde lang einen Film an. Jetzt bin ich gerade verrückt nach einer Krimiserie, die in den 2010er Jahren spielt, als die Staatsanwaltschaft sich noch auf menschliche Detektive verlassen musste, um Verbrecher zu überführen. Ich muss oft laut losschreien, wenn sie die offenkundigen Beweise nicht sehen. Und wenn die Kriminalbeamt:innen ohne einen forensischen Schutzanzug den Tatort betreten, muss ich laut lachen! Was die sich damals wohl gedacht haben? Natürlich werden sie den Tatort kontaminieren! Ach ja, die gute alte Zeit!

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Mein größter Wunsch ist es, bei den All Stars Fußball zu spielen. Mein Trainer sagt, ich wäre eigentlich gut genug, aber ich müsste mehr trainieren.

Mein anderer Traum ist zu reisen. Wir können uns nur in den nichtüberfluteten Zonen bewegen, aber es gibt ja noch jede Menge andere attraktive Reiseziele. Doch den City Tower zu verlassen ist teuer. Die Energie, die selbst für eine kurze Reise verbraucht wird, ist sehr groß. Ich spreche natürlich von Straße und Schiene, denn Flugzeuge sind bekanntlich seit 2029, dem Höhepunkt der Klimakatastrophe, wir nennen ihn den SHOCK, verboten. Leider hat noch niemand eine Co2-freie Technologie für Luftverkehr im großen Stil erfunden, obwohl das immer wieder angekündigt worden ist.

Dieses Jahr wollen wir eine mehrwöchige Reise unternehmen. Eines Tages möchte ich auch einmal die Alpen sehen. Es heißt, da soll es noch einen richtigen Gletscher geben. Den möchte ich unbedingt sehen. Auch die Wildblumen dort sollen großartig sein, behauptet jedenfalls meine Freundin Katia. Vielleicht sollten wir zusammen fahren. Ich werde sie morgen fragen.

Ich bin am 5. Juli 2035 geboren. Meine erste Erinnerung ist, wie ich vier Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausblase. Er stellte eine mittelalterliche Burg dar. Die Zinnen waren aus Schokolade mit orangenem und gelbem Zuckerguss. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht, ob ich mich wirklich daran erinnere oder ob die Erinnerung von einem Foto stammt, das meine Eltern damals gemacht haben. Jedenfalls sehe ich da glücklich aus, mit langen zotteligen Haaren und einem breiten Grinsen auf meinem Gesicht.

Anscheinend habe ich erst mit dreieinhalb sprechen gelernt. Meine Eltern behaupten, ich hätte dann aber umso mehr geredet. Ich bin immer neugierig gewesen, das werden alle bestätigen. Ich bin die Jüngste in der Familie, und eine andere frühe Erinnerung von mir ist die, dass meine Geschwister ständig sagten: „Hör auf mit deinen ewigen Fragen!“

Über mittelalterliche Burgen weiß ich eine Menge. Ich habe alle Bücher gelesen, die ich dazu finden konnte. Ich kann erklären, was der Unterschied zwischen einer Motte (einem – oft künstlichen – Hügel mit Palisadenzaun), einer steinernen Burg (die natürlich aus Steinen gebaut ist) und einer konzentrischen Burg (mit einer Menge innerer Mauern und Höfe) ist. Ich weiß, was die Verteidiger gegen die Angreifer geschleudert haben (flüssiges Pech; muss echt weh getan haben) und was für Dinge die Angreifer benutzt haben (Sturmleitern, Rammböcke und Katapulte). Wusstest du zum Beispiel, dass eine „Zinne“ – wie die „Zinke“ einer Gabel – etwas mit Lücken dazwischen ist und auch etwas mit Zahn zu tun hat (vielleicht hatten die Leute früher mehr Zahnlücken)? Ich mag alles aus der Vergangenheit. Neben Burgen sind meine Lieblingsthemen: Dinosaurier, die Römer und die Han-Dynastie in China. Besonders interessiert mich, wie Menschen oder Völker jeweils große Macht erlangten und sie dann wieder verloren.

Also ja, die Vergangenheit interessiert mich total. Mein Hobby ist, Geschichtsbücher zu lesen. Meine Eltern behaupten, dass ich, seit ich lesen kann, nie ohne meinen Library1500-Reader unterwegs war. Ja, ich habe das Ding geliebt! Ich musste meinen Speicherplatz immer mehr erweitern. Mit acht hatte ich fünf iShelves. Als ich zehn war, brauchte ich schon 15, und als ich dreizehn wurde 45. Auf ein iShelf passen 100 Bücher, also eine ganze Menge! Manche Leute löschen, was sie auf ihren iShelves haben, um Platz für neue Bücher zu haben. Doch ich habe alle behalten.

Aber Bücher und alte Filme zu gucken reicht nicht. Besser ist es, Geschichte direkt von denen zu erfahren, die sie selbst erlebt haben. Und aus diesem Grund verbringe ich so viel Zeit wie möglich mit Großma Nancy, solange sie noch genug Kraft dazu hat, und wir plaudern über früher. Wir reden und reden stundenlang, ohne dass ich bemerke, wie die Zeit vergeht. Obgleich sie jetzt in ihrem elften Lebensjahrzehnt ist, ist ihr Gedächtnis noch ausgezeichnet.

Ich hatte beschlossen, Großma Nancy richtig zu interviewen, und angefangen, Aufzeichnungen zu machen. Ich habe schon immer in meinem All-In-One Tagebuch geführt, um festzuhalten, was ich jeden Tag tue: was ich lese oder was Wichtiges am Tag passiert ist (falls etwas passiert ist). Aber das jetzt ist etwas anderes. Es geht um Geschichte, und ich möchte, dass die Aufzeichnungen stimmen und gesichert sind. Deshalb hatte ich unserer Handschreiblehrerin von meinem Projekt erzählt, und sie hatte mir freundlicherweise zwei Päckchen mit Heften aus Papier sowie drei Schreibstifte gegeben.

Großma Nancy war sehr zufrieden, als ich ihr das mit den Papierheften erzählte.

„Biografen haben schon immer auf handgeschriebene Briefe und maschinenschriftliche Dokumente zurückgegriffen“, sagte sie. „Ich weiß gar nicht, wie die Historiker demnächst etwas über die Menschen von heute herausfinden wollen, wo sich doch alles nur noch in den Social Media abspielt.“

So macht Großma Nancy das immer: Sie greift irgendein kleines Thema auf und bläst es zu einer Lehre fürs Leben auf. Meistens ist mir das egal, aber manchmal nervt es mich, wie in diesem Fall. Und das habe ich ihr auch gesagt. Sie hat gelächelt, mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Du weißt doch, es heißt: ‚Du kannst einem alten Hund keine neuen Kunststücke mehr beibringen.‘ “ Und dann hat sie gesagt, ich solle nicht vergessen, mich bei der Lehrerin zu bedanken. Ich habe nur die Augen verdreht.

Als wir uns dann zum ersten formellen Interview hinsetzten, sagte Großma Nancy auf einmal, dass sie eine Bedingung stellt. Nämlich dass ich alles Wort für Wort „protokolliere“. Als ich fragte, was sie mit „protokollieren“ meint, schlurfte sie zu einer großen Truhe, öffnete den Deckel, griff hinein und holte ein großes blaues quaderförmiges Ding heraus. Es war offenbar richtig schwer, denn als sie quer durch den Raum zurückschlurfte, mit dem Ding vor der Brust, bewegte sie sich ganz langsam. „Das ist für dich“, sagte sie und ließ das Ding in meine Arme fallen. Es war wirklich schwer!

Beim genaueren Hinsehen entdeckte ich, dass der Quader ein riesiger abgewetzter marineblauer Schuber war –, mit einer kleinen Schublade –, der zwei dicke gedruckte Bücher aus der alten Zeit enthielt. Es war ein Lexikon aus Papier, und es war riesig!

Während Großma es sich bequem machte, habe ich schnell in meinem All-In-One nachgeguckt. Offenbar ist das Lexikon 1928 zuerst in zwölf Bänden erschienen, nachdem man über 70 Jahre daran gearbeitet hatte. Es enthält nicht weniger als 414 800 Wörter. Das ist eine ziemliche Menge. Die Leute, die das Wörterbuch gemacht haben, müssen irgendwann eingesehen haben, dass es bei den meisten Menschen keinen Platz für zwölf Bände in ihren Wohnungen gibt, und so wurde es 1971 in zwei Bänden herausgegeben. Damit alle Wörter hineinpassten, mussten die einzelnen Einträge total geschrumpft werden.

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Großma Nancys schweres Wörterbuch mit der Schublade für die Lupe im Schuber

Nimm P bis Z, sagte Großma Nancy. Ich schlug „P“ auf, um „Protokoll“ zu finden. Die Buchstaben waren unglaublich klein. Ich habe gute Augen, aber das war einfach nicht lesbar. Großma reichte mir deshalb eine große Lupe, die in der kleinen Schublade oben im Schuber steckte, und ich suchte nach der richtigen Seite.

Protegieren. Protestieren. Prothese. Protokoll.

Im Lexikon steht, dass „Protokoll“ eine formgerechte, exakte Niederschrift bezeichnet. Das Wort kommt vom griechischen Wort protó-kolon, was „vorne angeklebt“ bedeutet und ursprünglich vorne an Buchrollen angeklebte Blätter bezeichnete, auf denen Angaben zur Entstehung des Buchs standen. Im 16. Jahrhundert stand das Wort für den Titel von Rechtsurkunden. Und schließlich bezeichnete es eben formgerechte und möglichst genaue Niederschriften, was ebenso eine gewissenhafte Wiedergabe eines Gesprächs wie auch ein Strafzettel sein kann. Wieder was gelernt.

„Wenn es die Sprache ist, die uns von anderen Tieren unterscheidet“, sagte Großma Nancy, „dann ist dies Buch der Schlüssel zu unserer Spezies. Es ist deins.“

Das ist noch etwas, was Großma Nancy tut: Sie schenkt mir alte Sachen. Und ich mag das. Mein Zimmer ist voll von echt coolem alten Kram. Ich habe eine Schreibmaschine, eine alte Arzttasche (mit einem echten Stethoskop und Operationsbesteck), einen Brieföffner und einen Abakus.

„So“, sagte Großma Nancy, „versprichst du mir jetzt, dass du alles Wort für Wort protokollieren wirst? Auch wenn du langweilig oder nicht gut findest, was ich sage?“

Ich versprach es.

Großma Nancy blickte mich streng an, so, als ob ich das nicht ernst gemeint hätte.

„Ich verspreche es“, sagte ich erneut und sah ihr in die Augen. Diesmal meinte ich es wirklich.

Dann sagte Großma Nancy, dass sie mir, während wir die Jahre durchgingen, alle möglichen Dinge geben würde, die sie gesammelt hatte. Briefe, Bilder und andere Erinnerungsstücke. Das fand ich wirklich aufregend. Außer dass Geschichte auch etwas Persönliches ist, habe ich gelernt, dass eine verlässliche Geschichtsschreibung auch Beweisstücke und Anschauungsmaterial braucht.

Als Nächstes fragte sie, über welche Periode der Geschichte ich gern etwas wüsste. Und als ich sagte: über die Zeit, die für mein Leben entscheidend war, schlug sie vor, dass wir fünfzehn Jahre, bevor ich geboren bin, anfangen und fünfzehn Jahre danach weitergehen würden, bis heute.

Dies sind also Großma Nancys Erinnerungen an die vergangenen dreißig Jahre.

2020

Nimmt dein All-in-One jetzt auf?

Okay, fangen wir mit 2020 an. Ein gutes Jahr, um zu beginnen.

2020 habe ich aufgehört, an der Uni regelmäßig Vorlesungen zu halten. Ich war 35 Jahre lang Professorin für Englische Geschichte des 16. Jahrhunderts an der Universität von Cambridge gewesen. Ich habe immer gern gelehrt, aber ich freute mich nun darauf, mehr Zeit für mich zu haben. Außerdem hatte ich gerade den Auftrag bekommen, ein Buch zu schreiben. 2020 war also das Ende eines Lebensabschnitts – entschuldige bitte die abgedroschene Floskel – und der Beginn eines neuen.

Ich habe das Geld vom Vorschuss für das Buch genutzt, um mir ein neues Auto zu kaufen. Es war mein erster fahrerloser Wagen. Und es war toll! Er konnte ganz allein einparken. Er konnte selbständig die Spur wechseln. Bei einer Fahrt machte es mir so viel Spaß, in den fahrerlosen Modus zu wechseln, dass der Wagen mich ermahnte. „Legen Sie bitte Ihre Hände auf das Lenkrad!“, rief er, und für die nächsten 500 Kilometer durfte ich die „Fahrerlos“-Funktion nicht mehr nutzen.

Erst ein Jahr zuvor war der erste Mensch von einem fahrerlosen Auto getötet worden. Das war sehr traurig, und es zeigte, dass der Weg in eine automatisierte Zukunft nicht gefahrlos war.