E-Book-Ausgabe 2020

© 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

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Umschlaggestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Jitka Hanzlová (Rokytnik, 1990–1994) © VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Alle Rechte vorbehalten

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ISBN: 9783803142856

Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803133274

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VOR DEN BUSFENSTERN ragten nur noch die Pfahlspitzen der Zäune aus dem tiefen Schnee, vereinzelt wie dunkle Kommata auf einem weißen Blatt Papier. Selbst die goldene Kugel auf der Spitze des zwiebelförmigen Kirchturms von Lauterthal trug eine weiße Haube, als es der Großmutter mit einem Mal sehr viel schlechter ging. Sie schlief jetzt meistens, atmete röchelnd ein und aus, während vor ihrem Wohnzimmerfenster Vögel die Futterstelle anflogen, die die über ihr wohnenden Nachbarn auf ihrem Balkon eingerichtet hatten. Die Fahrt über versuchte Pax das mulmige Gefühl von sich fernzuhalten, das ihn jedes Mal befiel, seitdem sie die Großmutter einmal reglos auf dem Boden vor ihrem Bett gefunden hatten. Lieber malte er sich das Schauspiel der Vögel aus, sah die schwarzen Amseln auf den verschneiten Ästen, die feuchten Köpfe der Blaumeisen zwischen den letzten roten Beeren und den großen Eichelhäher, der wie ein farbiger Rabe über den Schnee schritt und sofort seinen Warnschrei ausstieß, sobald sie sich drinnen bewegten oder eine der Dorfkatzen sich anschlich, im Glauben, vor dem weißen Hintergrund noch immer bestens getarnt zu sein.

Einmal war ein Sperber angeflogen, hatte einen der Spatzen mit sich davongerissen, das ist halt die Natur, Tante Beatrix stellte die Packung mit den Keksen ein Stück von sich weg, Schluss damit, sagte sie, oder willst noch einen, du wächst ja noch. Pax hielt den Blick nach draußen, auf den aufgeregt zurückgebliebenen Rest der Schar, bevor er den Kopf schüttelte und sich an den Rand von Großmutters Sofa setzte. Schläft, sagte er.

Meistens übernachteten sie jetzt in Lauterthal, auf Feldbetten in der Küche, von der bloßen Gegenwart des jeweils anderen derart unangenehm berührt, dass ihnen das Einschlafen trotz ihrer täglich zunehmenden Müdigkeit immer mehr zur Kunst wurde, und wenn es ihnen endlich gelungen war, so wurde einer von beiden schon bald von einem Schnarchen oder von dem Knarzen geweckt, das die Metallgestelle bei jeder noch so kleinen Bewegung von sich gaben. Heute aber war es keines dieser üblichen Störgeräusche, von dem sie wach wurden, dass sie jetzt heimkehren würde, zu ihrem liebsten Kind, schrie die Großmutter aus dem Wohnzimmer durch das Dunkel, und warum ihr der Herrgott ausgerechnet dieses genommen hatte, augenblicklich sollte Tante Beatrix den Pfarrer holen, für die letzte Ölung, die insgesamt drei Mal in sechs Wochen stattfand. Ab dem vierten Mal ließ Tante Beatrix die Großmutter schreien, mit dem Messer zerteilte sie rosafarbene Ohrstöpsel. Für dich, sie hielt Pax zwei Teile hin, sodass sie in jener Nacht, als die Großmutter mit geöffnetem Mund erstarrt war, nichts als die Geräusche ihrer eigenen Körper gehört hatten.

Bis die Erde es wieder zuließ, dass der Friedhofsgärtner in die Tiefe grub, mussten sie warten. Pax hätte gern geweint, als Tante Beatrix die Schaufel etwas ungeschickt drehte und er die Erde auf den Holzsarg treffen hörte. Stattdessen fiel ihm Großmutters Gesicht ein, dem die Krankheit sämtliche Farben entzogen hatte. Großmutter, auf dem Sofa, ein Gebilde aus Glasknochen, die allein unter dem Gewicht der Bettdecke zu brechen drohten, und trotzdem noch mächtig genug, Tante Beatrix’ Stimme in die eines eingeschüchterten, kleinen Mädchens zu verwandeln und Pax eine Ohrfeige zu verpassen dafür, dass er nachgefragt hatte, wieso der gute, allmächtige Gott, zu dem sie unablässig betete, sie so im Stich gelassen hatte.

Anfangs waren sie noch mit dem Rollstuhl ein Stück die Dorfstraße hinuntergefahren, in die Bäckerei, um eine mit Salz und Kümmel bestreute Seele zu holen, an der die Großmutter den Heimweg über kaute, später aber wollte sie das Haus gar nicht mehr verlassen, weshalb Tante Beatrix sich auf ihre endlose Suche nach der passenden Unterstützung gemacht hatte. Männer durften die Großmutter nicht anfassen, Frauen bezichtigte sie des Diebstahls. Deshalb mussten sie letztlich ständig selber nach Lauterthal. Immerhin haben wir so unseren Sport, sagte Tante Beatrix bei gutem Wetter, während sie das Garagentor öffnete und darauf wartete, dass Pax sein Fahrrad mit den Vollgummireifen herausrollte. Wenn er Glück hatte, durfte er zuhause bei Oma Peschka bleiben, die er längst zu seiner eigentlichen Oma bestimmt hatte. Wenn nicht, fuhr er vor Tante Beatrix her, immer die Landstraße entlang, gegen den Wind und die Druckwellen der vorbeifahrenden Lastwagen.

Fand sich wieder einmal niemand, der einspringen konnte, selbst Oma Peschka nicht, so war Tante Beatrix gezwungen, die Großmutter ausnahmsweise selber zu wickeln, und Pax musste das Zimmer verlassen. Er wartete dann in dem dunklen Flur vor dem Schlüsselloch oder unter dem Vordach am Fenster, von wo aus er die beiden beobachtete. Mal lag die Großmutter einfach nur da, den Kopf abgewandt wie ein beschämtes runzeliges Kind, mal lachte sie Tante Beatrix an, du hast mich gerettet, sagte sie mit heller Stimme, und dass es kurz vor knapp war, schau doch, sie deutete in den Himmel, aus dem sie in letzter Zeit wieder Christbäume regnen sah. Jeden Moment konnte sich der Ausdruck ihres Gesichts in sein Gegenteil verkehren, mit Absicht wollt ihr mich sterben lassen, sagte sie dann, weil ihr Geld braucht, ihr Geier, bevor sie wie immer das Wort an die Jahresuhr richtete, durch deren Glasglocke die Sonne ein flimmerndes Muster an die Wand warf. In der Uhr musste sich wohl der Großvater befinden, wie der Leib Christi in der diamantbesetzten Monstranz der Lauterthaler Kirche, oder auch nur wie ein Flaschengeist, einmal kehrt er doch noch heim, sagte die Großmutter jetzt, und wenn sie dann drei Wünsche frei haben sollte, so war der erste, dass er ihnen die Ohren langzog, im Keller, damit sie endlich zugaben, wo das verdammte Geld hin war.

Pax hatte das Spiel schnell verstanden. Sie suchten. Tante Beatrix suchte im Schrank, und er suchte hinter dem Jesus mit Dornenkrone und vergoldetem Lendenschurz oder unter dem Teppich, und nach etwa zwei Minuten entdeckten sie das Geld dann jedes Mal unter Großmutters Kopfkissen. Heute aber war es dort nicht, es befand sich stattdessen, eingewickelt in kotverschmierte Waschlappen, im Mülleimer, bist du jetzt völlig – Tante Beatrix packte die Großmutter an ihren Handgelenken, auf denen sich umgehend Blutergüsse abzeichneten, ihre Fingerabdrücke auf Großmutters Pergamenthaut.

Pax lief hinaus in den Garten zwischen die Forsythien. So lange er sich erinnern konnte, hatte die Großmutter Anfang Dezember Barbarazweige aus den Büschen geschnitten, die an den Weihnachtstagen hellgelb in der Stube blühten und dabei ihren frühlingshaften Duft verströmten. Er schloss die Augen und stellte sich die leuchtenden Zweige vor, eine ganze Weile blieb er so stehen, bis ihm irgendwann der Geruch von gedünsteten Zwiebeln in die Nase drang. Ihm wurde schlecht, wenn Tante Beatrix Großmutter fütterte, Essen anreichte, wie Großmutters ehemalige Pflegekraft Schwester Renate, eine der letzten Nonnen des örtlichen Klosters, es genannt hatte, sie hatte auch nicht Lätzchen gesagt, sondern Serviervorlage, und aus dem Wickeln war der Wechsel der Inkontinenzmaterialien geworden. Jedenfalls bevor die Großmutter sie des Diebstahls bezichtigt hatte. Sie hatten sich entschuldigt und die Klosterfrau noch mehrfach zum Bleiben überredet und erst viel später festgestellt, dass Großmutters Bündel mit den Geldscheinen sich während Schwester Renates Ehrenamt tatsächlich mehr als halbiert hatte.

Kann kein Mensch essen, behauptete die Großmutter oft, und dann spuckte sie aus, die Suppen und den Brei und die zerquetschten Bananen, unbegabt warst du immer, woraufhin sie von dem Hähnchencurry mit Ananas schwärmte, das ihre jüngere Tochter eingeführt hatte. Das war ein Mal, ein einziges Mal, dass die für uns gekocht hat, flüsterte Tante Beatrix und weiter, dass sie endlich still davon sein sollte, sie sah zu Pax, der in der Küche half, die Ränder vom Toastbrot abzutrennen und es in mundgerechte Vierecke zu schneiden, damit die Großmutter gut kauen konnte. Mit an das Sofa, auf dem sie gefüttert wurde, wollte er nicht, schon gar nicht, nachdem er einmal beobachtet hatte, wie ihr Gebiss in die pürierte Bratwurst gefallen war. Nach dem Essen wollte die Großmutter immer nachhause laufen, ob sie jetzt endlich heimgehen könne? fragte sie mit Wut in der Stimme, und Tante Beatrix antwortete jedes Mal, du warst es doch, die den Hof gegen die Wohnung getauscht hat. Gott sei Dank, stell dir vor, du wärst jetzt allein in dem riesigen Haus, und wer diese Arbeit machen sollte. Tante Beatrix setzte den Kamm an und riss der Großmutter ganze Strähnen aus, bis sie aufschrie, es kam auch vor, dass sie sie verletzte, indem sie ihr die Nägel wie zufällig bis unters Fleisch kürzte, erzähl was, rief sie Pax zu, er aber wollte lieber nichts von dem berichten, was er draußen erlebt hatte, damit die Großmutter nicht neidisch wurde. Später, während Tante Beatrix Nägel und Windeln entsorgte, verlangte die Großmutter eilig, dass Pax die Zeitung brachte, um mit ihr zusammen die Todesanzeigen zu buchstabieren. Bald wirst du hier meinen Namen lesen können, sagte sie dann.

Vorsichtig griff Pax in die Schale mit den Blütenblättern, deren Duft sich mit dem der feuchten Erde und den Weihrauchschwaden über der Thujahecke vermischte. Kalt wie Wachs fühlten sich die dünnen Blätter an, feucht und tot. Schweres Konfetti, das ihn an etwas erinnerte. An die Frau mit der langen Sprache.

Lange Sprache? Tante Beatrix zuckte mit den Schultern, dass sie ehrlich keine Ahnung hatte, was er meinte, sagte sie, bevor sie in das Vaterunser einstimmte. Wie sie seine Hand dabei drückte, wenn auch nur, weil der Pfarrer sie dazu aufgefordert hatte. Pax fand es schön, er beobachtete Tante Beatrix, beruhigt vom Gemurmel der ewig gleichen Worte, und er hatte sie schon die Tage vorher belauert, morgens aus der Deckung seiner Cornflakespackung heraus – auch Tante Beatrix schien nicht weinen zu müssen, er sah sich um, tatsächlich weinte gar niemand der Anwesenden, was vielleicht daran lag, dass Tränen das Letzte für die Großmutter gewesen waren, und dass sie für das Geheule an ihrem Grab ganz sicher kein Verständnis aufgebracht hätte.

Einzig Tante Beatrix’ Augenlider waren eine Zeitlang geröteter als sonst, vielleicht weinte sie also doch heimlich, nachts oder noch vor dem Frühstück, dachte Pax, während sie zuhause im Garten darauf warteten, dass Oma Peschka den Frühling ausrief. Man kommt ja schon irgendwann an seine Grenzen, nach all dem Unglück, Tante Beatrix hielt einen Eimer über den Brunnen, andererseits, gab sie zu, war man aber doch auch ein bisschen erleichtert. Oma Peschka nickte, dass sie das Ganze ja selber durchhatte, sie lächelte mitleidig. Pax betätigte die Pumpe, einen eingetrockneten Fleck im Visier, Vanillesauce, auf Oma Peschkas Hauskleid. Gut, dass der Winter die Leitungen verschont hat, Oma Peschka zwinkerte ihm zu, während sie etwas von dem kalten Wasser in seine Richtung schnippte, ob er Lust hatte, mit ihr die Kaninchen zu füttern? Damit sich deine Tante endlich mal ein bisschen ausruhen kann. Aufmunternd streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

In dem riesigen Kaninchenstall, den der alte Peschka vielleicht nur deshalb an das Ende des Gartens gemauert hatte, weil ihm damals noch so viele Ziegel übrig geblieben waren, hing noch immer seine rostige Sense an einem Haken. Darüber hinaus hatte Peschka ein weiß gekalktes Mehrfamilienhaus mit braunen Fensterrahmen hinterlassen, dessen Fassade ein gusseiserner Vogel zierte. Nach Kriegsende und der Flucht aus Oberschlesien, wo vier kräftige Viehhändler ihn davon überzeugen konnten, ihre Schwester, die ein Kind erwartete, zu heiraten, hatte Peschka das Haus selbst gebaut, eine Leistung, die Pax beeindruckte, vielleicht gerade weil er Opa Peschka nie kennengelernt hatte. Er stellte sich vor, wie Peschka mit ein paar Männern Stein auf Stein schichtete, um dieses in den Augen eines Kindes riesige Haus zu mauern. Die Umstände von Peschkas Tod blieben für Pax undurchsichtig. Er hat zu tief ins Glas geschaut, sagte Tante Beatrix einmal, den Blick betreten abgewandt, während die Nachbarin nickte und leise das Wort Kor-sa-kow murmelte, bevor sie sich den Kindern gegenüber zu einer deutlicheren Geste hinreißen ließ: Sie hielt sich den Daumen der erhobenen rechten Hand an den Mund, die drei mittleren Finger um eine imaginäre Flasche, den kleinen abgespreizt, gluck-gluck sagte sie zwinkernd, bevor sie die Augen verdrehte und wie eine schwer Besoffene auf die Kinder zutorkelte. Wenn Leni, Oma Peschkas Enkelin, zu Besuch war, spielten Pax und sie oft in dem alten Kaninchenstall, gluck-gluck: Man musste sich zwingen, unter Opa Peschkas Sense so viele Schlucke Wasser zu trinken, wie man alt war, das ging noch, denn es waren damals nur sechs oder sieben, es gab Steigerungen, sechsundvierzig Schlucke für Tante Beatrix oder unschaffbare einundsechzig Schlucke Todesgefahr, Oma Peschka. War der Bauch zu voll, konnte man aufgeben, indem man laut und mit möglichst russischer Betonung das Codewort Kor-sa-kow schrie, dann folgten Varianten: einen Apfel an der Schnittseite der Sense in kleine Stücke schlitzen, eines der Stückchen in Sand paniert essen, in fünf Sekunden einmal um das Haus rennen, fünf Klimmzüge an der Schaukelstange machen, unter der Sense ein letztes Gebet sprechen und weitere Spiele, deren lustvoller Mittelpunkt immer die rostige Sense war, bis sie von der Schubkarre abgelöst wurde, die sich angeblich über Nacht mit Regenwasser aus Tschernobyl gefüllt hatte und deren unheimliche Anziehungskraft nur durch Tante Beatrix’ Erscheinen auf dem Balkon oder Oma Peschkas Auftritt mit Wäschekorb, Leine und Klammern im Garten gebrochen werden konnte. Manchmal gesellte sich Hendryk zu ihnen, nicht viel älter als sie, er lebte mit seiner Mutter in dem einzigen Wohnblock Blauenklingens schräg gegenüber, am Ende der Forststraße. Mit dem grünen Lkw, der, auf einer eigens gemieteten Abstellfläche geparkt, die Anwesenheit seines Vaters an den Wochenenden anzeigte, schienen Hendryks Ausbrüche zusammenzuhängen, einmal versuchte er den Wohnblock anzuzünden, indem er stundenlang vergeblich ein Feuerzeug an den Außenputz hielt. Pax und Leni ließen ihn nie mitspielen, wenn der Lkw auf dem Parkplatz stand, weil Hendryk dann unberechenbar war, jedenfalls nicht bereit, sich an die strengen Regeln ihres Spiels zu halten. Wir sollen doch nicht mehr Kor-sa-kow schreien, wies ihn Leni zurecht, weil das Wort unangenehm für Oma ist. Hendryk murmelte eine Entschuldigung, im Grunde wusste keiner von ihnen, was das Wort überhaupt bedeuten sollte, aber jeder kannte die Geschichte dazu, dass der alte Peschka nach einer Feier in eine Baugrube gefallen war, und hinterher war er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Lenis Oma hatte ihn vierundzwanzig Stunden am Tag betreuen müssen, keine Sekunde hatte sie mehr für sich gehabt, und trotzdem war es Opa Peschka gelungen, immer wieder auszubrechen, um sich bei den Nachbarn in den Garten zu stellen und bei jedem Wetter stundenlang in den Apfelbaum zu starren.

Mein Vater sagt, deine Oma hat den Alten mit Absicht zu Weihnachten draußen erfrieren lassen, Hendryk sah Leni herausfordernd an. Sei doch still, Idiot, Pax schubste ihn, sodass er hintenüber zwischen die Strohballen fiel. A-B-C, Lenis Opa liegt tot im Schnee, wiederholte Hendryk kichernd, klopfte den Staub von seinem Pullover ab und steckte Pax eine Handvoll Stroh in den Kragen. Dann versuchte er die Kaninchen zu befreien, bis Pax und Leni ihn endlich gemeinsam überwältigen konnten.

OMA PESCHKA wohnte im Erdgeschoss, darüber Döberleins, ein kinderloses Lehrerehepaar, und gegenüber Tante Beatrix mit Pax, ganz oben wechselten die Mieter häufig. Als Pax in die Grundschule ging, lebte der Bärtige mit seiner Freundin zwischen den Dachschrägen, sein Motorrad stand im Hof, eine schwere Straßenmaschine, bordeaux-metallic lackiert. Seine Freundin war zwar selten zu sehen, Pax aber nahm sie ständig wahr, entweder über sich, ihre Absätze auf dem Parkett oder den Fliesen im Bad, oder vor sich, ihr Haarspray im Treppenhaus, immer öfter auch nachts, wenn sie den Bärtigen lautstark aus der Wohnung warf. Von diesen flüchtigen Begegnungen mit der Nachbarin blieben Pax nur schemenhafte Bilder, ihre Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, der schräg am Hinterkopf saß, die dunkel schattierten Augenlider, lange Wimpern, ihre dünnen roten Lippen, die zierliche Figur und die wenig zarte Stimme, die ins nächtliche Treppenhaus schrie. Wenn Pax davon aufwachte, stand Tante Beatrix schon – oder immer noch – in der Küche und räumte auf, willst du wissen, wie man Silber putzt? fragte sie, oder ob er eigentlich Ahnung davon hätte, wie man bügelte, wobei die Uhrzeit keinen Einfluss auf ihre immer gleichen Fragen im immer gleichen Tonfall zu nehmen schien, sie fragte, ohne zu bemerken, dass sie es Pax beim letzten Mal schon erklärt hatte und viele Male zuvor – sie stand in genau der gleichen Haltung an genau der gleichen Stelle am Bügelbrett oder am Herd, die Alufolie und den Topf vor sich, in dem sie das Silberbesteck kochen wollte, und diese absolute Gleichförmigkeit war etwas, das Pax an ihr mochte, weil alles vorhersehbar schien.

Er genoss die warme Feuchtigkeit, das Brodeln und Zischen, den Wäschegeruch, wenn der Wasserdampf aus dem Bügeleisen aufstieg, die Befriedigung, wenn sich noch die widerspenstigsten Stoffe unter dem heißen Bügeleisen aufgaben, mach nochmal, sagte Pax, Tante Beatrix löste den Knopf für den Wasserdampf aus, sie bügelte, während Pax eine kleine Kupferkanne bereithielt, um den Tank jedes Mal wieder aufzufüllen. Die beschlagenen Fenster blieben fest geschlossen, auch in den Sommernächten, wenn ihnen der Schweiß beim Bügeln die Gesichter glänzend machte, dazu lief das Radio, das Radio lief immer, wenn Tante Beatrix wach war, konnte aber die wüsten Beschimpfungen der Nachbarn im Treppenhaus nicht übertönen, eine Tatsache, die Tante Beatrix manchmal dazu veranlasste, mitzusingen. Pax fand es unangenehm, ihr zuzuhören, lass das doch, sagte er, und Tante Beatrix sah ihn an, das Gesicht zu etwas verzogen, das als ein Lächeln durchgehen konnte, dem rein gar nichts zu entnehmen war, weder ob sie selbst ihr Singen gut fand, oder ob sie es gut fand, dass es Pax peinlich war, ja, vielleicht genoss sie seinen Zustand. Sie lächelte im Singen, das R rollend, zwiespältig, als sänge sie lustvoll und schämte sich zugleich für diese Lust am Singen, und so war ihr Lächeln wie das Lächeln eines ertappten Kindes, das unter der Hand eine Fliege verbirgt, der es soeben einen Flügel ausgerissen hat.

Die Nachbarn von oben waren für Pax umso faszinierender, je mehr sich die Frau in ihrer Wortwahl gehenließ und je öfter der Bärtige in seiner Lederkluft das Motorrad bestieg und im Anfahren derart beschleunigte, dass sich das Vorderrad vom Boden hob, eine Übung, die Pax mit seinem Fahrrad zu imitieren versuchte, leider nicht so erfolgreich wie Leni, die auf dem Hinterrad einmal quer durch den Hof fahren konnte. Wie viele Möglichkeiten es gab, sich zu frisieren und zu kleiden – die wenigen Male, die Pax und Tante Beatrix den Nachbarn über den Weg liefen, führten es ihnen vor Augen. Das sind Rocker, raunte Tante Beatrix jedes Mal furchtsam, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten, griff ihm zwischen die Schultern und grüßte die Nachbarn artig.

Lass mich auch mal an das Bügeleisen, Tante Beatrix, bettelte Pax an einem dieser Abende. Aber nur ausnahmsweise, sagte sie, und nur Hemden, Hosen und T-Shirts. Alles andere ist Frauensache, verkündete sie und spannte die Finger über ein knitteriges Stück Stoff.

Pax bügelte mit Hingabe, er plättete, während Tante Beatrix Fusseln abzupfte von Decken, von Pullovern, von seinen und von ihren Ärmeln, von Knien und Fersen und dem Teppich darunter. Und noch während Pax die ersten Socken stopfte, hatte er längst schon ein Auge auf die Nähmaschine geworfen und wollte wissen, wie sie funktionierte. Er stellte auf Zick-Zack-Stich, dunkel wars, der Mond schien helle, Schnee lag auf der grünen Flur, als ein Wagen blitzeschnelle, langsam um die Ecke fuhr, so dichtete das Radio in einer Sendung über Varianten der Unsinnspoesie, bevor es wieder Musik spielte. Pax nähte melodiöse Kurven und Wellen, während sich der hinausgeworfene Bärtige einmal mehr irgendwo zulaufen ließ, immer öfter fiel er jetzt schon im Erdgeschoss gegen die Tür und schlief davor ein. Pax beobachtete genau, wie man die Nähmaschine bestückte, wie man Stoffe aneinandernähte und auseinandertrennte – er versuchte sich an der Maschine, während Tante Beatrix auf dem Sofa saß und ihr die Augen wieder und wieder zufielen. Manchmal, wenn der Bärtige mit dem Motorrad zurückkam, gab es oben eine lautstarke Versöhnung, Tante Beatrix lag dann auf dem Sofa und presste die Lider zusammen, als schliefe sie, dabei konnte Pax ihr ansehen, dass sie bis in die letzte Muskelfaser angespannt auf jeden Lustschrei lauschte. Wenn es zu laut wurde, nähte er über die Geräuschkulisse. Der Bärtige aber kam immer seltener mit dem Motorrad zurück, er torkelte jetzt meistens, manchmal konnte Pax ihn sehen, wie er zwischen Hauswand und Gartenzaun pendelte, und häufig lag er morgens noch irgendwo um das Haus. Mal hatte er nachts Kartons aus der Mülltonne gezerrt und lagerte darauf im Vorgarten unweit der Tanne, unter der Pax und Leni ihr geheimes Versteck hatten, mal schnarchte er im Schuppen bei den Kaninchen, mal drückte er die Sandburgen platt, die sie erst am Vortag gebaut hatten.

Tante Beatrix hatte das Bügeleisen zum Auskühlen auf eine der Herdplatten gestellt, schon so spät, sagte sie, und ob er bitte das Bügelbrett aufräumen könnte und sich dann gleich die Zähne putzen. Pax nickte, mit dem Zeigefinger zeichnete er zwei Punkte und einen lachenden Mund auf die beschlagene Fensterscheibe, bevor er im Bad verschwand und später in sein Zimmer hinüberging, sich auszog und auf sein Bett legte. Eine leise Melodie aus dem Radio und der Duft nach frischer Wäsche waren das Letzte, das er wahrnahm, bevor ihm die Augen zufielen, da war noch Tante Beatrix’ Murmeln, ob er auch wirklich seine Zähne geputzt hatte, und er schüttelte den Kopf schon halb im Schlaf, träumte von einer Sinfonie aus Wasserdampf, aus feinem weißem und dichtem, nassen Dampf, aus schnellen Schwaden und tropischer Feuchtigkeit, die sich eben in einem finalen Regenguss auflösen wollte, als ein Schrei die Stille zerriss, gefolgt von einem dumpfen Schlag vor der Wohnungstür.

Pax schrak auf, und er hörte, dass Tante Beatrix auch wach war, wie sie ihre Hausschuhe mit den Zehen in die gewünschte Richtung drehte, nahm er wahr und wusste, dass sie jetzt in den Morgenmantel schlüpfte, der am stummen Diener hing, lauschte ihren Schritten ins Badezimmer, bevor er aufsprang, in die Küche schlich und den Schemel holte, mit dessen Hilfe er und Tante Beatrix die oberen Küchenfächer erreichen konnten, in denen sich Backzutaten, Grieß und Gewürze befanden und die sie selten nutzten, seit sie auf Tiefkühlkost umgestiegen waren. Durch den Türspion sah Pax den Bärtigen in einer seltsam verkrümmten Haltung auf dem Absatz liegen, die Großmutter fiel ihm ein, wie sie sie einmal hilflos und steif neben dem Bett gefunden hatten, und Opa Peschka, erfroren unter dem verschneiten Apfelbaum.

Im Badezimmer rauschte das Wasser zwischen den quietschenden Geräuschen der Armatur, lass die Tür bloß zu, sagte Tante Beatrix, den Wäschekorb unter ihrem Arm, und dass er wieder zurück ins Bett sollte.

Aber ich bin hellwach, protestierte Pax. Ob Opa Peschka wirklich tot im Schnee gelegen hatte?

Wer erzählt denn einen solchen Unsinn? fragte Tante Beatrix, der war einfach alt und musste dann ewig ins Krankenhaus, irgendwas am Darm. Sie setzte sich auf das Sofa, ob er eigentlich wusste, wie man Socken richtig zusammenlegte?

Pax hörte ein Wimmern. Wieder sah er durch den Spion, vielleicht hat er sich verletzt, Tante Beatrix suchte zwei passende Socken, wo hat sich der zweite versteckt, murmelte Pax am Guckloch. Na, wo hat sich der zweite versteckt? sagte Tante Beatrix, weiter, kontrollieren, ob gestopft werden muss, danach Ferse auf Ferse und glattstreichen.

Kommst du bitte? Tante Beatrix vermied es nach Möglichkeit, seinen Namen auszusprechen, nur wenn es gar nicht anders ging, sagte sie Pax, Pax gehörte zu Christus, Pax war kein üblicher Vorname, im Treppenhaus ging das Licht aus, die Spitze zur Ferse, Max, den oberen Teil darübergeklappt, Pax setzte sich neben sie auf das Sofa, zwischen ihnen der Wäschekorb, draußen das lauter werdende Jammern, Tante Beatrix stellte das Radio an, aber keine Nachrichten, rief sie dem Moderator zu, wir haben sie satt, eure schlechten Nachrichten vom Weltuntergang, spielt doch einfach mal schöne Musik. Es kam eine Sendung, in der Hörer einem Psychologen Fragen stellen konnten, mein Sohn meldet sich nie bei mir, mein Kind klaut Geld aus meinem Portemonnaie, meine Freundin ist vielleicht schwanger, und was man jetzt machen könnte, damit es niemand merkt – Pax tat, als hörte er nichts, während Tante Beatrix schnell weiterdrehte, sie griff nach ihrem Strickzeug, Marschmusik ertönte –, die Zeiten sind wirklich vorbei, Tante Beatrix fand eine Operette, die sie nach Pax’ Protest gegen ein instrumentales Medley eintauschte. In warmem Gelb leuchtete das Radio aus der Schrankwand in das Zimmer, die Anzeige das Tor zur Welt, Baden-Baden, Brüssel, SFB, Paris, Wien, Rom, meistens aber lief der Südwestfunk oder der Bayerische Rundfunk, manchmal stellte Pax um, versuchte Moskau oder Tel Aviv, dabei konnte er sicher sein, dass Tante Beatrix den Ausgangszustand wiederherstellte, sobald er aus dem Zimmer war. Er wartete, bis sie über ihrem Strickzeug eingeschlafen war. Tante Beatrix strickte, weil ihre Kolleginnen strickten, nicht, weil sie das Handarbeiten interessierte, es war fraglich, welche Tätigkeit sie wirklich begeistern konnte, sie sah gerne fern, ließ sich gerne berieseln, wie sie es nannte, und vielleicht war ihr Liebstes ganz schlicht der sorgloseste Zustand von allen: der Schlaf. Schwer atmete sie und wohlig ein und aus, ein paar fehlerhafte Reihen waren aufzutrennen, einige Maschen wiederaufzunehmen, damit die Kolleginnen nichts an ihrer Arbeit würden bemängeln können, Pax brachte ihr angefangenes Strickteil in Ordnung, Lochmuster für den Sommerpulli, er legte Tante Beatrix das Strickzeug zurück auf den Bauch, bevor er sich hinausschlich und den Lichtschalter drehte, der wie eine Küchenuhr im Treppenhaus tickte, während die Feder den Schalter langsam in seine Ausgangsposition zurückzog. Endlich konnte Pax den Bärtigen aus der Nähe betrachten, wie ein Tier schnupperte er an dem Mann, der stank nach etwas Saurem, das an altes Bier erinnerte – aus seiner Nase hing ein langer, mit Blut vermischter Rotzfaden, er trug ein Stirnband, eine kurze Lederjacke, die den Blick auf einen Nierengurt freigab, und eine Motorradhose, von einem Gürtel gehalten, den ein Stierkopf zierte. Neugierig besah Pax sich die ausgebeulte Stelle darunter und ließ den Blick weiter wandern, über die in dunkelrotem Leder abgesetzten und verstärkten Knie, die Waden entlang bis zu den Stiefeln, weiter über die gepolsterten Schultern, die Arme, die Handgelenke, am rechten ein Band mit Nieten, am linken eine digitale Armbanduhr, eine wie Pax sie sich lange schon wünschte. Vielleicht war der Bärtige tot. Pax kniete sich neben ihn und nahm ihm die Uhr ab, darauf bedacht, dass der Nachbar nicht in einer Art Todeskampf nach ihm greifen und ihn festhalten konnte, er beeilte sich, mit seiner Beute schnell wieder hinein und hinter den Türspion zu kommen.

Das Licht hielt sechzig Sekunden, und kurz bevor es erlosch, sah Pax Mutter, Vater und seinen Bruder John im Treppenhaus auftauchen. Nicht so, als wollten sie zu Tante Beatrix herein, sondern völlig unbewegt, der Vater mit großer Sonnenbrille in einem buntbestickten weiten Hemd der Mutter zugewandt, wie Schaufensterpuppen, die man vor Jahren im Abstellraum untergebracht und nun wieder herausgetragen hatte, und die umzukleiden noch keine Zeit gewesen war. Seine Mutter hatte lange, dunkelblonde Haare zu goldbraunen Augen, sein Vater war dunkler, kurzhaarig mit Augen wie Baumharz. Oder sein Vater hatte lange Haare, hell, um stechend grüne Augen, seine Mutter trug mal Zöpfe, hennafarbene oder schwarze, mal lockiges, mal glattes Haar über den graublauen Augen. Sein älterer Bruder aber war das Kind, das mit ihren Zöpfen spielte, wer und wo immer sie waren.

Der Bärtige auf dem Boden regte sich nicht und schien sie auch nicht im Geringsten zu interessieren, jetzt wechselte das Licht hinter dem Türspion, als drehte jemand beliebig an den Belichtungseinstellungen eines Fotoapparates, mal traten die Figuren hell hervor, dann wieder der sie umgebende Hintergrund, das Treppenhaus mit der Tür gegenüber, darauf das Türschild aus gebranntem Salzteig, Döberlein – Mutter und Vater erstarrten, einzig sein Bruder bewegte sich, ein gelbes Metallfahrzeug in Händen, Mehl hatte er über die steinernen Treppenstufen geschüttet, Schnee, durch den sich mehrere Spielautos kämpften und Spuren hinterließen. Es wurde schwarz hinter dem Türspion, das Quietschen der Räder verstummte, er hörte Mutter und Vater darüber diskutieren, ob die Spuren, die John gezogen hatte, gelungen seien, ob sie als Kunst gelten konnten, vorsichtig öffnete Pax die Tür, die Finger seiner linken Hand tasteten über die Oberkante des Streifens aus gelbgrüner Schutzfarbe, führten ihn durch das Dunkel des Treppenhauses an dem Liegenden vorbei. Er drückte die Klingel, dreimal kurz, ein Zeichen ohne Vereinbarung, das vielleicht bedeuten konnte, dass etwas Besonderes vorgefallen war, eins-zwei-drei, er beeilte sich, zurück hinter den Spion zu kommen, sah schließlich die Tür gegenüber aufgehen, Herr Döberlein im Gegenlicht, im Pyjama mit verquollenen Augen, dahinter seine Frau, auf dem Boden den Bärtigen, das Licht ging aus und wieder an und wieder aus und an, und irgendwann waren da Sanitäter zu sehen. Tante Beatrix schnarchte leise, Pax verabscheute es, wenn ihr Schnarchen ihm ihren Rhythmus aufzwang, und er mochte es gern, weil er so in der ganzen Wohnung wusste, dass sie da war. Er spielte Stoppen mit seiner neuen Digitaluhr, drückte die Knöpfe, so schnell er konnte, um möglichst wenig Zeit auf dem Display zu haben, Start-Stop-Ergebnis, Start-Stop-Ergebnis, wieder und wieder, und jedes Mal gab die Uhr dabei drei Pieptöne von sich, Tante Beatrix würde aufwachen wie immer, sie würde sagen, da bin ich wohl einfach auf dem Sofa eingeschlafen, Pax wollte gerne, dass sie es bemerkte, dass sie darauf aufmerksam wurde, dass er die Digitaluhr gestohlen hatte, er hielt die Uhr nah an ihr Ohr, Start-Stop, zwei Pieptöne lang die Vorstellung, wie es sein könnte, sich zu ihr zu legen – er traute sich nicht, Start-Stop-Ergebnis, Start-Stop – Tante Beatrix erschrak –, sie erschrak immer, wenn sie aufwachte, was war so außergewöhnlich daran, jeden Tag auf dem gleichen Sofa aufzuwachen, auf dem ihr Stunden zuvor die Augen zugefallen waren, da bin ich wohl einfach auf dem Sofa eingeschlafen, sagte Tante Beatrix, ignorierte die Digitaluhr, stand auf und verschwand im Badezimmer.

TROTZ ALLEDEM – ich glaube an mein Vaterland, das aus der tiefsten Not noch stets den Weg nach oben fand, da kniete der steinerne Soldat, gestiftet vom Kriegerverein Blauenklingen, den Stahlhelm auf den Knien, grün vom Moos. Pax hatte Tante Beatrix an diesem Augusttag auf den Friedhof begleitet, bleib mal stehen, sie drückte ihm ihre flache Hand an die Stirn, du glühst ja, sagte sie, und deutete auf die Schildmütze in seiner Hand, warum er die nicht aufsetzen wollte? Dass er sie doch eben erst in der Frühmesse hatte abnehmen sollen, und warum überhaupt die Männer in der Kirche die Kopfbedeckungen auszogen und die Frauen nicht? Tante Beatrix zuckte mit den Schultern, was du für Fragen stellst, und das schon um die Uhrzeit, sie fächelte sich etwas Luft zu, bevor sie noch einmal die Temperatur seiner Stirn überprüfte, die Schuhe bleiben trotzdem an, Max, sie sah sich um, aber niemand, nur die Soldatenfigur konnte beobachten, dass ihr Neffe barfuß auf dem im Schatten noch feuchten Kies stand. Tote tragen auch keine Schuhe, sagte Pax, doch, sagte Tante Beatrix, man legt sie mit Schuhen in den Sarg, und dass er das doch kürzlich erst bei der Großmutter gesehen hatte im Leichenschauhaus. Du rennst doch jedes Mal mit Leni hin. Pax nickte, stimmt, sagte er, um nicht zugeben zu müssen, dass er die Augen immer fest zugepresst hielt, sobald sie sich dem Schaufenster näherten, hinter dem die Leichen aufgebahrt waren. Angsthase, sagte er zu Leni, wenn er sie aufgeregt kichern hörte, bevor sie davonliefen.

Ein paar Kieselsteine waren an seinen Sohlen kleben geblieben und piksten ihn jetzt, während Tante Beatrix und er die Kapelle ansteuerten, im Frühjahr hatten sie für die Toten Narzissen und Tulpen in Oma Peschkas Garten gepflückt, jetzt, im Sommer, banden die Frauen aus dem Ort Kräuterbuschen, die zu Maria Himmelfahrt geweiht wurden und hinterher in der Kapelle gegen eine Spende zum Mitnehmen auslagen. In die Mitte der Sträuße gehörte eine Wetterkerze, gegen Gewitter, um sie herum Getreide und Kräuter, dann farbige Blumen, ganz außen einige Haselnussblätter. Weißt du warum?, fragte Tante Beatrix. Weil die Mutter Gottes bei einem Gewitter mit dem Jesuskind unter einem Haselnussstrauch Schutz fand, sagte Pax. Ach du weißt ja doch schon alles, Tante Beatrix tastete in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie, du hast deine Kappe ja noch immer nicht auf, wiederholte sie. Gleich, sagte Pax, weil er gerade dabei war, die lilafarbenen Blumen auf ihrem Kleid zu zählen, er begann mit den Blüten auf ihrem Gürtel, zählte weiter die Rippen entlang, bis zu ihrer linken Brust. Die runden Male auf ihrem nackten Oberarm fielen ihm auf, sie waren blasser als die sie umgebende Haut, diese hässlichen Impfnarben, sagte Tante Beatrix, als sie seinen Blick bemerkt hatte, sei bloß froh, dass man das heute nicht mehr so macht. Hat sicher wehgetan, sagte Pax, Tante Beatrix nickte, und jetzt Schluss und auf mit der Mütze, los, mir zuliebe. Aber sie gefällt mir nicht mehr so gut, sagte Pax und vergaß dabei das Ergebnis seiner Zählung, sie sieht nach Kleinkind aus. Ob er lieber einen Sonnenstich riskieren wollte? Wieder fasste sie an seine Stirn, heute ist Sonntag, da hat die Apotheke zu und dann kann dir keiner mehr helfen. Tante Beatrix wartete, bis Pax endlich gehorchte, bevor sie in ihr Portemonnaie sah, ach Mist, nur ein Fünfer, das ist mir doch zu viel, wo die Frauen die Sträuße sowieso bloß in ihren Gärten pflücken, wir bezahlen nächstes Mal, komm jetzt. Zur Sicherheit drehte Tante Beatrix sich noch einmal um, bevor sie nach einem besonders schönen Exemplar griff, bald nehmen wir sowieso Herbstblumen aus dem Garten, Astern oder Chrysanthemen oder die orangen Lampionblumen.

Pax legte den halben Strauß für Opa an den Gedenkstein mit der Inschrift Den lebenden Toten, das sagt man so, wie in dem Gedicht neulich im Radio, wie ging das nochmal, in der Nacht und dann ist es auch wieder gleichzeitig Tag und du weißt schon, fragte Tante Beatrix – dunkel wars, der Mond schien helle, sagte Pax, ja, genau, Tante Beatrix nickte. Die Wetterkerze blieb bei den Gefallenen, die Haselnuss kam mit der anderen Hälfte des Straußes zu Oma, damit hatten sie ihr Bestes getan gegen die Gewitter. Am Grab öffnete Pax gleich das Weihwasserbecken, das wie eine übergroße Zuckerdose mit einem Deckel vor Verunreinigungen geschützt war, vor den Vögeln, die es bei der Hitze als Bad missbrauchen würden. Eine abgeschnittene Flaschenbürste diente dazu, das Weihwasser zu sprengen, im Winter fror sie ins Eis, und wenn es wärmer wurde, konnte man mit ihr einen gefrorenen Würfel aus dem Becken ziehen. Jetzt sprengte Pax großzügig die graue Marmorplatte, die schon in der Sonne lag, er sah den Tropfen zu, die wie von Zauberhand über den verwitterten Namen der Urgroßeltern und über Großmutters glänzenden Goldbuchstaben verdunsteten. Wer kein Grab hat, der ist nicht sicher tot, sagte Pax, und weniger als eine Feststellung waren seine Worte eine Frage, die Tante Beatrix mit nichts weiter als einem tiefen Atemzug quittierte. Stell dich doch lieber in den Schatten, sagte sie jetzt, du bist ja schon ganz rot im Gesicht. Immer hielten sie am Grab einen Moment inne, nur einige Sekunden, eben genau so lange, bis Tante Beatrix es nicht mehr aushielt und mit Bestimmtheit sagte, da wo Großmutter jetzt ist, da hat sie es gut, noch bevor die Wirkung der Stille eintreten konnte und bevor sie ins Nachdenken gerieten, fuhr sie fort, jetzt wird gegossen, oder, so ein Glück, dass wir nicht gießen müssen, ob wir heute noch gießen müssen, oder wir gießen noch, das kann heute nicht schaden. Da wo deine Eltern und dein Bruder jetzt sind, da haben sie es gut, sagte Tante Beatrix. Kurz überlegte Pax, weiterzufragen, wie sie das denn wissen konnte, bevorzugte dann aber die Vorstellung, dass er sich um die Eltern und den Bruder keine Sorgen zu machen brauchte, dass sie nicht kalt geworden waren wie Großmutter, dass man sie nicht hässlich geschminkt und wie aufgequollene Puppen präpariert hatte, sondern dass sie eben verschwunden waren, so wie Tante Beatrix es ihm damals erklärt hatte: In Afrika wollten sie Weihnachten feiern, weil es da nicht immer so scheußlich grau ist wie hier im Winter, und weil er damals noch so klein war, hatten sie nur seinen älteren Bruder mitgenommen, es ist ja auch nichts für ein Kleinkind, so eine Reise, und es war auch nicht so viel Platz in dem ausgemusterten Postbus. Die genauen Umstände ihres Verschwindens hatte Tante Beatrix vergessen, das war jedenfalls alles lange, bevor du denken konntest, und dass sie nicht wiederkommen würden, leider, sie kniff ihn etwas ungeschickt in die Schulter, bevor sie eine Kiefernnadel von der Marmorplatte pickte, manche Dinge konnte man eben nicht ändern, aber immerhin, man konnte zum Trost ein Eis kaufen, bei dieser Hitze.

Ob denn die Blumen auf dem Grab seiner anderen Großeltern kein Wasser brauchten?, fragte Pax auf dem Weg zu dem gemauerten Becken, in das sie die Kanne tauchten. Tante Beatrix schüttelte den Kopf, das ist irgendwo ganz weit weg, da gießt jemand anderes, sagte sie so bestimmt, dass er, statt sie weiter mit seinen Fragen zu belästigen und dabei vielleicht noch den Eindruck zu erwecken, ihre Anwesenheit allein genügte ihm nicht, lieber zustimmend nickte. Er hätte sie gerne auf dem Weg zurück an der Hand gehalten, er fand sie schön in ihrem Sommerkleid, er neigte seinen Kopf etwas, stellte sich vor, dass es tröstlich sein könnte, ihn an ihre Armbeuge zu schmiegen, sie aber machte keine Anstalten, und er wollte nicht aufdringlich sein, immerhin opferte sie sich genug für ihn auf, sie hatte sich gegen ein eigenes Leben entscheiden müssen, nur seinetwegen, weil sie ihrer Schwester vor der Reise nun mal versprochen hatte, immer gut für ihn zu sorgen, sie erzählte ihm das oft, und auch die Nachbarn oder Tante Beatrix’ Kollegen betonten es häufig, als wäre Pax ihr nicht auch so, von ganz alleine dankbar für jeden einzelnen Moment ihrer Lebenszeit, die sie ihm schenkte, und sie tat ihm leid, denn ihr Leben ohne ihn wäre vermutlich so irrsinnig viel schöner gewesen, nur sagte sie nicht etwa, ohne dich würde ich selbst eine Weltreise unternehmen, oder, ohne dich wäre ich Pilotin geworden, ohne dich hätte ich die Revolution angezettelt, oder, ohne dich würde ich längst zum Mond geflogen sein, sie sagte nur, ohne dich hätte ich mehr Geld im Portemonnaie, das war ihre einzige Idee von dem Leben ohne ihn, in dem sie vielleicht auch im Kaufmarkt gestanden hätte, so wie jetzt. Meist arbeitete sie vormittags an der Fleischtheke, bis auf Donnerstag, da war sie ganztags im Markt, und Pax besuchte sie manchmal, in der Hoffnung auf eine Scheibe Gelbwurst oder ein paar abgelaufene Süßigkeiten. Ach weißt du, fiel es Tante Beatrix am Eisentor mit den vergoldeten Zinnen ein, das vom Friedhof zurück auf die Straße führte, ich bezahle den Buschen lieber doch, warte hier, und er sah sie eiligen Schrittes zurück zum Opferstock in der Kapelle hasten.

Auf dem Heimweg wurde Pax schwindelig, sein Gesicht unter der Schildmütze brannte, leg dich mal auf dein Bett, sagte Tante Beatrix zuhause, bevor sie als Erstes zu ihrem Medizinschränkchen im Badezimmer lief und mit dem Fieberthermometer zurückkam. Sie schüttelte den Glaskolben und kontrollierte die Anzeige, hier, steck dir das mal unter die Achsel – wenn ich wiederkomme, lesen wir ab.

Siebenunddreißig, sagte Tante Beatrix, und ein halbes Grad dazu – ob er den Oberarm auch richtig angelegt hatte? Nochmal zur Kontrolle, sie schüttelte wieder. Diesmal presste Pax die Arme an den Körper und versuchte dabei, die Styroporplatten an der Decke zu zählen und danach die rautenförmigen Ornamente darin und endlich noch die Blättergirlanden innerhalb der einzelnen Rauten.

Endlich kam Tante Beatrix wieder zurück, sie trat ans Fenster und hielt das Thermometer ins Licht, leicht erhöht, und jetzt mach mal die Augen zu, hast du Kopfschmerzen? Ein bisschen, behauptete Pax, tatsächlich war ihm heiß, und der kühle Waschlappen, den sie ihm auf die Stirn legte, tat gut. Tante Beatrix zog ihm Hose und Socken aus, das muss ja alles längst in die Wäsche, sagte sie, und sorgsam umwickelte sie Pax’ Unterschenkel mit feuchten Handtüchern, und jetzt versuch ein bisschen zu schlafen, ich komme dann wieder und wechsle die Lappen. Ausgerechnet sonntags muss der krank werden, wo kein Mensch erreichbar ist, hörte er sie im Flur laut vor sich hinsprechen, draußen rauschte der Wind durch die Blätter, das nasskalte Gefühl an seinen Beinen erinnerte ihn an die Zeit, als er noch hinten bei Tante Beatrix auf dem Fahrrad mitgefahren war und seine Füße manchmal zwischen die Speichen des Hinterrades und den Fahrradrahmen geraten waren. Am schlimmsten war es auf dem Weg zum Freibad gewesen, dann hatte er den ganzen Rückweg geweint, nicht, wie Tante Beatrix angenommen hatte, wegen der schmerzenden Füße, sondern wegen des verpassten Sommernachmittags. Die kalten Wickel waren dann kein Trost. Wenn es aber kühler war, hatte er so manchen Unfall nur vorgetäuscht. Die Füße in die Speichen gehalten und die Augen fest geschlossen, bis sie dann gequetscht wurden und Tante Beatrix sich um ihn kümmern musste.

Mir ist schlecht, rief er jetzt laut, aber Tante Beatrix, die noch nicht aus der Tür war, kam zu spät mit ihrem Eimer. Dass er nächstes Mal früher was sagen sollte, da macht man was mit. Nachdem sie alles aufgewischt hatte, kam sie mit Cola, Salzstangen und Genesungswünschen von Oma Peschka zurück, aber nur schlückchenweise trinken, sagte sie, und als sie Pax’ reumütigen Blick bemerkte, schon gut jetzt, dass er eben in Zukunft einen Sonnenhut aufsetzen sollte, ich hab es ja gleich gesagt, aber du wolltest ja nicht hören.

VON IHREN KOLLEGINNEN im Markt erfuhr Pax nicht nur, das Tante Beatrix bedauernswert war, nach all dem, was sie mitgemacht hatte und seinetwegen noch immer mitmachen musste, sondern darüber hinaus, dass es in Blauenklingen eine Menge weiterer, weniger bedauernswerter Menschen gab, Menschen, die anders waren als Tante Beatrix und Pax, als Herr und Frau Hämmerle, Frau Lubinski und die anderen Kollegen aus dem Markt im Tal