Boris Johnson

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Javier Sirvent/Redux/laif

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00876-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00876-2

Das große Missverständnis

Ich war spät dran für die Rede des Premierministers. Mit meiner Presse-Akkreditierung stimmte irgendetwas nicht, und noch Minuten nachdem ich hinter dem Rücken der Ordner einen mir definitiv nicht zustehenden guten Platz im Auditorium des überfüllten Kongresszentrums besetzt hatte, fürchtete ich, dass mein irregulärer Status auffliegen und ich des Saales verwiesen werden würde. Draußen, zwischen den Ständen von Politorganisationen und Lobbyisten, drängten sich die Parteitagsbesucher, die keinen Einlass mehr gefunden hatten; in diese ungastliche Wartezone verbannt zu werden, war kein erfreulicher Gedanke. Doch allmählich legten sich meine Enttarnungsängste, und ich konnte mich auf die Rede konzentrieren, die Boris Johnson an diesem 2. Oktober 2019 auf dem jährlichen Kongress der britischen Konservativen, der Tories, in Manchester hielt.

Der Regierungschef hätte eigentlich, so ließ sich denken, verbittert und aggressiv auftreten müssen. Erst seit gut zwei Monaten im Amt, war ihm bislang praktisch nichts gelungen: Im Unterhaus bekam er keine Mehrheit für seinen Brexit-Kurs, die Opposition verweigerte ihm Neuwahlen, und vor dem Obersten Gerichtshof hatte er wegen eines verfassungspolitisch

Stattdessen hielt er eine entspannte, gutgelaunte, positiv gestimmte Rede. Zwar polemisierte er gegen die brexitskeptische Unterhausmehrheit, doch klang das dann so: «Wenn das Parlament eine Reality-TV-Show wäre, hätten die Leute uns alle inzwischen aus dem Dschungel rausgewählt. Aber wenigstens hätten wir zusehen können, wie der speaker [der regierungskritische Parlamentspräsident John Bercow] gezwungen wird, einen Känguru-Hoden zu essen.» Trotz der bevorstehenden und von ihm verfochtenen Trennung von der EU erklärte Johnson: «Wir lieben Europa» – worauf das Echo ihm etwas verhalten vorgekommen sein mag, sodass er halb besänftigend und halb trotzig nachschob: «Ich jedenfalls liebe Europa.»

Der Premierminister jammerte nicht, wie Populisten es sonst zu tun pflegen, über die Globalisierung, sondern feierte den Freihandel (und nannte als besonders schlagenden Beleg für britische Exportstärke die Ausfuhr von CDs des Popsängers Jason Donovan nach Nordkorea). Johnson prahlte ein bisschen mit einem englischen Nuklearforschungszentrum, das «an der Schwelle zur Herstellung kommerziell nutzbarer Minifusionsreaktoren zum Verkauf rund um die Welt» stehe – und fügte dann hinzu: «Ich weiß, dass sie seit einiger Zeit an der Schwelle stehen. Es ist eine ziemlich geräumige Art Schwelle.»

Über kaum einen Politiker der Gegenwart sind so viele Klischees im Umlauf wie über Boris Johnson, gerade auch in Deutschland. Nicht, dass er keine Kritik verdient hätte: Von seinen Unwahrheiten und Verantwortungslosigkeiten wird in diesem Buch zur Genüge die Rede sein. Wir werden auch sehen, dass seine warmen Worte für ein solidarisches Gesundheitssystem in einer eigentümlichen Spannung zu einer durchaus kalten Lebensphilosophie stehen. Aber das verbreitete Johnson-Bashing ist von anderen Dimensionen. Man hat ihn als Clown, als radikalen Rechten oder radikal rechten Clown hingestellt. Er

Vorher hatte Johnson angeblich die demokratische Legitimation gefehlt, weil er zunächst nicht vom Volk, sondern nur von den weniger als 200000 Mitgliedern der Konservativen Partei ins Amt gebracht worden war, nachdem seine Vorgängerin Theresa May den Posten aufgegeben hatte. Wobei in Deutschland, wenn ein Bundeskanzler während einer laufenden Legislaturperiode zurücktritt, sein Nachfolger nicht einmal den erklärten Rückhalt irgendeiner Parteibasis braucht, sondern von 366 oder 409 Unterstützern im Parlament gewählt wird. Doch auf den Vergleich schien niemand zu kommen. Bei Johnson und Johnsons Großbritannien muss man sich offenbar um Fairness nicht allzu angestrengt bemühen. Als Schweden während der Corona-Krise seinen Sonderweg ohne Lockdown beschritt und höhere Opferzahlen als andere europäische Länder in Kauf nahm, wirkte das bedenklich und wurde auch eindringlich hinterfragt – in der Regel in sachlichem Ton. Als freilich die britische Regierung in der Frühphase der Epidemie eine verwandte Strategie der «Herdenimmunität» zu verfolgen schien, galt das gleich als Beweis der elitären Menschenverachtung, die unter dem Brexit-Monster Boris Johnson auf der Insel Einzug gehalten habe.

Nicht, dass Johnson über populistische Appelle erhaben wäre. Nach seinem Wahlsieg im Dezember 2019 trat der Premierminister vor seinen Anhängern unter dem Slogan und Banner The People’s Government auf. Das klang bürgernah, war aber im Grunde furchterregend: als könne in einer Demokratie irgendeine Regierung einen höheren Anspruch darauf erheben, das Volk zu repräsentieren, als jede andere.

Doch die wesentlichen Positionen der neuen Internationale der nationalistischen Scharfmacher und Dunkelmänner teilt Boris Johnson nicht. Er ist kein Protektionist, sondern ein Freihändler. Er ist kein Leugner oder Beschöniger des Klimawandels, sondern ein bekennender und sogar leidlich praktizierender Umweltschützer. Er glaubt nicht, dass man Moral und Werte in der Außenpolitik ignorieren sollte, sondern hat sich mit dem mächtigen China angelegt, als die Volksrepublik Rechtsstaat und Bürgerfreiheiten in Hongkong zu untergraben anfing.

Vor allem jedoch ist Johnson kein Hasser und Hetzer, kein Aufpeitscher des verunsicherten weißen Mannes gegen Feminismus, Islam oder Einwanderung, kein Prediger von Angst und Ressentiment, kein Verleumder oder Verfolger von Minderheiten. Noch als er in einer Zeitungskolumne vollverschleierte muslimische Frauen flegelhaft mit Briefkästen (wegen des

Im Juli 2019, als Johnson sich um den Parteivorsitz der Tories bewarb, verlieh ein Leserbriefschreiber im konservativen Daily Telegraph seiner Begeisterung für den Kandidaten Ausdruck, indem er ihn mit einer literarischen Figur verglich: dem Helden von Arnold Bennetts komischem Roman The Card aus dem Jahr 1911. Dieser Denry Machin ist ein unerschöpflich einfallsreicher und zugleich extrem windiger Geschäftemacher, der aus ärmlichen Verhältnissen nicht nur zu Wohlstand, sondern zum hochrespektablen Bürgermeisteramt aufsteigt. Indes, fragt einer der Stadträte indigniert, was hat er eigentlich geleistet? Hat er auch nur einen Tag in seinem Leben gearbeitet? Mit welcher großen Sache verbindet sich sein Name? «Er verbindet sich», antwortet da einer von Denry Machins Anhängern, «mit der großen Sache, uns allen gute Laune zu machen.» Unvorstellbar, dass irgendjemand das über einen der üblichen Rechtspopulisten sagen könnte. Als Empfehlung für Boris Johnson war es die natürlichste Sache der Welt.

Dieses Buch versucht, sich von den bequemen Klischees

Das Buch ist, wie der Untertitel sagt, das Porträt eines Störenfrieds, eines Unruhestifters. Johnson hat mit dem Brexit ganz Europa aufgeschreckt und die Ordnung des Kontinents durcheinandergebracht. Die Auswirkungen könnten am Ende sein eigenes Land, das Vereinigte Königreich, erschüttern oder sogar sprengen, falls die Schotten, die Johnsons Brexit mehrheitlich für falsch halten, ihr Unabhängigkeitsbestreben wiederbeleben und aus dem britischen Staatsverband ausscheiden sollten. Doch Johnson hat auch eine ideologische Revolution ausgelöst: Er hat bei seinem Triumph im Dezember 2019 für die Tories Wähler aus dem Arbeitermilieu gewonnen, die früher die Partei nie gewählt hätten und die ihr Gesicht und ihre Philosophie unweigerlich verändern werden. Die Geburt dieses «Volkskonservativismus» ist eine der bemerkenswertesten Neuerungen, die sich mit Johnson verbinden, womöglich nicht weniger bedeutsam und folgenreich als der Brexit. Großbritannien ist damit noch einmal zum politischen Experimentierfeld geworden, wie nach den Wahlsiegen von Margaret Thatcher 1979 und von

Boris Johnson wird hier aber auch deshalb ein Störenfried genannt, weil er für unser ordentliches deutsches Politikverständnis eine besondere Provokation bedeutet. Wir sind an seriöses Staatspersonal gewöhnt, entweder idealistisch oder bürokratisch. Eine Schelmen- und Abenteurerfigur, wie Johnson sie zumindest über weite Strecken seiner Karriere verkörpert hat, ist zwar auch für die englische Politik keineswegs typisch. Man braucht nur an Theresa May zu denken, die bieder pflichtbewusste Vorgängerin des Premierministers, oder, wiederum davor, an die kultivierte Edelnormalität von David Cameron. Beides nicht gerade Paradebeispiele amüsanter Exzentrik. Doch einen stärkeren Hang zum Spielerischen, zu Uneigentlichkeit und dem Unterlaufen professioneller Strenge gibt es in der politischen Kultur Großbritanniens in der Tat. Nichts völlig ernst zu nehmen, sich dabei jedenfalls nicht erwischen zu lassen, das Authentische zu scheuen und das Stilisierte zu pflegen, alles gleichsam in Anführungszeichen zu setzen – dieses prinzipielle Distanz- und Ironiegebot ist ein klassischer Bestandteil der englischen Sozialisation, besonders der männlichen, besonders in der Elite. Aus deutscher Perspektive kann das irritieren.

Boris Johnsons spielerisches Wesen hat ihn mehr als einmal zu Fehlern und Sündenfällen verleitet, und wir werden uns genau mit ihnen beschäftigen. Aber die Lebendigkeit seiner Geschichte, die wir erzählen und erwägen wollen, hat davon immens profitiert. Und somit geht es los.

Wie man Boris wird

Viele Deutsche halten Boris Johnson, was seine Herkunft angeht, für ein typisches Mitglied der englischen Elite. Aber das stimmt nicht. Ein typisches Mitglied der englischen Elite ist etwa Johnsons Vorvorgänger als Premierminister, David Cameron: solide großbürgerlich (der Vater war ein wohlhabender Börsenhändler), mit Verbindungen noch ein bisschen höher hinauf, in die Aristokratie (Camerons Frau Samantha stammt aus einer seit acht Generationen adligen Familie). Nicht gerade absolute High Society, aber am oberen Rand der oberen Mittelschicht. Die Johnsons dagegen haben einen viel wackligeren sozialen Status. Sie gehören einem eher bohemehaften Milieu an, einer Art Prekariat der Elite.

 

Alexander Boris de Pfeffel Johnson wurde am 19. Juni 1964 nicht in England geboren, sondern in den Vereinigten Staaten, in New York. Seine Eltern, Charlotte und Stanley, beide erst Anfang zwanzig, lebten mit einem Reise- und Studienstipendium in den USA, das der junge Vater in Oxford gewonnen hatte. Die Familie, die ziemlich schnell auf sechs Köpfe anwuchs, führte in den nächsten Jahren ein unstetes internationales

Charlotte, eine Malerin, kommt aus einer zugleich feinen, linksliberalen und intellektuellen Familie; ihre Großmutter war die erste Übersetzerin Thomas Manns ins Englische. Charlottes Kinder erlebten sie als den Wärmequell und moralischen Kompass der Familie. In der Parteitagsrede in Manchester, die ich in der Einleitung zitiert habe, ist es seine Mutter, die Boris als eigentliche Lebensautorität nannte: Sie habe ihm die Überzeugung vom gleichen Wert und der gleichen Würde der Menschen beigebracht. Stanley ist mit ihr verglichen eine schillernde Figur. Wer in der englischen guten Gesellschaft hat schon einen türkischen Großvater vorzuweisen, der als prominenter Publizist

Heute zählen die Johnsons in der Tat zur britischen Elite, aber sie sind in ihr nicht zu Hause, sie haben in ihr keine tiefen Wurzeln. Daraus entspringt ein eigentümliches Wechselspiel von Ehrgeiz und Schalkhaftigkeit, ein widersprüchliches doppeltes Bestreben, im Establishment zugelassen und anerkannt zu sein – und ihm gleichzeitig eine Nase zu drehen, es auf die Probe zu stellen, seine Grenzen auszutesten. Respektlosigkeit und Chuzpe sind im Überfluss da, es wird mit Gusto gegen Konvention und gute Sitten verstoßen – aber der revolutionäre Impuls, das Bedürfnis, die herrschende Ordnung umzustoßen und etwas wirklich Neues anzufangen, fehlt weitgehend. Johnsonhaftigkeit, wie Stanley und Boris sie verkörpern, ist flegelhaft, aber nicht rebellisch, frech, aber konservativ.

Der Vater liebt dieselbe Art der Provokation, die zum Markenzeichen seines Sohnes geworden ist. Stanley erzählt über seine Hochstimmung, als er, Student in Oxford, vor festlichem Publikum ein preisgekröntes eigenes Gedicht vortragen durfte: «Ich habe diese Auftritte in vollem Ornat immer geschätzt. Man hat da ein seltsames Machtgefühl. Kein Wunder, dass Hitler [die Reichsparteitage in] Nürnberg genoss.» Seinen Job bei der Weltbank verlor er wegen eines Aprilscherzes. Um die Aufmerksamkeit des scheinbar leicht verschnarchten Direktoriums zu testen, hatte Stanley zusammen mit einem Freund ein Projekt zur Förderung des Tourismus in Ägypten ausgearbeitet; die vorgeschlagene Kreditsumme betrug 100 Millionen US-Dollar. Nur bei genauerer Lektüre stellte man fest, dass das Geld für den Bau von drei neuen Pyramiden verwendet werden

Es fällt nicht leicht, hinter diesen beliebig vermehrbaren Stanley-Johnson-Anekdoten, von ihm selbst oder von anderen erzählt, einen menschlichen Kern, die Umrisse einer realen Person freizulegen. Der Oxford-Witzbold ist zugleich ein leidenschaftlicher ökologischer Aktivist für den Schutz von bedrohten Dickhäutern oder Gorillas, hat aber auch auf seine alten Tage für eine Reality-TV-Show im Dschungel campiert. 2017 erschien der bislang letzte von zehn Romanen, die Stanley Johnson verfasst hat – ein satirischer Politthriller unter dem Titel Kompromat, in dem mit Sex-Erpressungen und Mordanschlägen durch Giftspinnen zwischen Moskau, Peking, Washington und London um den Brexit gekämpft wird. Eine deutsche Bundeskanzlerin kommt ebenfalls vor, Helga Brun, die aus der früheren DDR stammt und dort für einen in Dresden stationierten sowjetischen Geheimdienstler gearbeitet hat, der inzwischen Präsident von Russland geworden ist. Damals war die spätere Kanzlerin von dem schneidigen KGB-Offizier auch als Frau beeindruckt: «Einmal hatte sie ihn kühn gefragt: ‹Igor, bist du eigentlich mit einer Erektion geboren?›» Insgesamt ein eigentümlich pueriles Buch für einen Autor, der bei der Publikation schon auf die achtzig zuging. Um den alten Stanley Johnson liegt etwas von der mentalen Haltlosigkeit des unwürdigen Greises.

Diese gehemmte, fast behindert wirkende Emotionalität findet ihr Echo in der klammen Verlegenheit, mit der Stanleys Sohn einmal öffentlich über die Trennung der Eltern gesprochen hat. Boris Johnson ist für gewöhnlich bis zur Verschlossenheit diskret, wenn es um sein Privat- oder Seelenleben geht. Auf die Frage eines Interviewers nach der Scheidung von Charlotte und Stanley, so berichtet Boris’ Biograph Andrew Gimson, habe Johnson zunächst spontan gesagt: «Ja, es hat mich mitgenommen, als sie sich getrennt haben.» Um kurz darauf vor seiner ungewohnten Offenheit zurückzuschrecken: «Oh gütiger Gott, sie werden das lesen.» Und sich schließlich in eine abgewogene, ausweichende Null-Antwort zu flüchten: «Nein, es hatte einen gewissen Effekt. Sie haben es brillant gehandhabt.»

 

Ein englischer Freund von mir, ein früherer Mitarbeiter von Boris Johnson, hat mir einmal in einem Gespräch in einer Londoner Hotelbar einen faszinierenden Einblick in die existenziellen Startbedingungen seines einstigen Chefs gegeben. Ob ich den Roman A Perfect Spy («Ein blendender Spion») von John le Carré gelesen hätte? Kenner halten das Buch für das beste Werk dieses Großmeisters des modernen Agententhrillers. Es erzählt die Geschichte des britischen Geheimdienstlers Magnus Pym, den die übermächtige Figur eines egoistischen, hochstapelnden und betrügerisch kriminellen Vaters fürs Leben prägt und beschädigt – eine Traumatisierung, die ihn erst zum Spion und dann zum Doppelagenten und Verräter werden lässt.

Magnus ist unaufhörlich damit beschäftigt, es Pym senior recht zu machen. Er muss von Kindesbeinen an mitspielen, als stets verfügbares Maskottchen, wenn der Vater in seinen auf Pump und Lüge gebauten Glanzzeiten mit Jockeys und Schauspielerinnen Hof hält, mit falscher Seriosität über ein Imperium von Scheinfirmen präsidiert oder sich für die Liberale Partei mit moraltriefenden Reden um ein Parlamentsmandat bewirbt.

Sich anzupassen, Erwartungen zu erfüllen, immer die ihm zugedachte Rolle zu spielen, nicht nein sagen zu können, die Wahrheit zu verschweigen, zu verstecken, zu bemänteln, obwohl er sie kennt – das wird für Magnus Pym zur zweiten Natur. Besser: zur ersten, zur einzigen Natur, hinter der seine wahre Person verschwindet oder sich gar nicht erst entwickeln kann. Ichschwach und im tieferen Sinne vaterlos wird er zur leichten Beute für die Rekrutierung durch den britischen Auslandsgeheimdienst MI 6, aber genauso für einen tschechischen Agentenführer, der sich mit dem Versprechen brüderlicher Nähe in den Hohlraum von Pyms Seele einnisten und ihn zum Verrat bringen kann. Magnus’ Geschichte ist eine Tragödie des Geliebtwerdenwollens, und ihr trauriger Held ist nur umso ärmer dran, weil er allen tatsächlich gefällt, jeden für sich zu gewinnen vermag und Erfolg um Erfolg einheimst, während seine innere Leere dazu in quälendem Kontrast steht. Nicht dass er nicht geliebt würde macht Magnus Pyms wirklich heilloses Schicksal aus, sondern dass er selbst nicht lieben kann.

 

Natürlich wollte mein Freund mit seinem literarischen Vergleich nicht sagen, dass Boris Johnson ein Spion oder Landesverräter sei oder dass sein Persönlichkeitsbild sich exakt mit dem von John le Carrés unglücklicher Romanfigur decken würde. Auch ist Stanley Johnson selbstverständlich kein Krimineller wie der Schwindler Pym senior in der tragischen Agentengeschichte.