Cover

Clare Mac Cumhaill
Rachael Wiseman

The Quartet

Wie vier Frauen die Philosophie
zurück ins Leben brachten

Aus dem Englischen übersetzt von
Jens Hagestedt, Frank Lachmann und Andreas Thomsen

C.H.Beck

Zum Buch

Die Geschichte der europäischen Philosophie ist die Geschichte der Gedanken, Visionen, Hoffnungen und Ängste von Männern, die ihre größtenteils abstrakten Theorien in der Abgeschiedenheit des «Elfenbeinturms» schrieben, weit weg von den praktischen und mitunter chaotischen Anforderungen der alltäglichen Realität. Nur wenige Menschen können eine Philosophin beim Namen nennen. Das vorliegende Buch setzt dieser Situation die bisher unbekannte Geschichte von vier jungen Philosophinnen entgegen: Elizabeth Anscombe, Philippa Foot, Mary Midgley und Iris Murdoch wurden kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren und begannen ihr Philosophiestudium an der Universität Oxford kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Als die männlichen Professoren und Studenten eingezogen wurden, bekamen sie Unterricht von Frauen, Kriegsdienstverweigerern und geflüchteten Wissenschaftlern. In diesem Umfeld entwickelten sie eine neue Philosophie des Lebens, der Liebe und der Schönheit als Gegenmittel zum technischen, szientistischen und skeptischen Zeitgeist.

Clare Mac Cumhaill und Rachael Wiseman lassen die Schlüsseljahre der vier Philosophinnen in ihrem atmosphärisch dicht erzählten Buch, das sich streckenweise wie ein guter britischer Campus-Roman liest, wieder lebendig werden. Ihr Interesse an den vier Frauen entstand aus der Sorge um ihre Studentinnen. Warum verließen – und verlassen immer noch – so viele brillante junge Philosophinnen das Fach? Sie begannen, die Geschichte von Elizabeth, Iris, Mary und Philippa zu erzählen, um die nächste Generation von jungen Frauen zu inspirieren.

Über die Autorinnen

Clare Mac Cumhaill, Associate Professor an der Universität Durham, und Rachael Wiseman, Senior Lecturer an der Universität Liverpool, sind Philosophinnen und Freundinnen. Gemeinsam leiten sie das Forschungsprojekt Women In Parenthesis, das sich mit dem Leben, dem Werk und den Freundschaften des Quartet befasst. Beide leben in Newcastle, der Stadt, in die Mary Midgley 1951 gezogen ist. Als Mary im Alter von 99 Jahren starb, hinterließ sie ihnen ihr Archiv, eine Keksdose – und die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird.

Inhalt

Vorwort

Die Mitwirkenden

Prolog: Mr Trumans Ehrendoktor – Mai 1956 Oxford

Elizabeth Anscombe erhebt Einspruch

Philippa Foot ist einer Sache auf der Spur

Kapitel 1: Auf Bewährung – Oktober 1938 – September 1939 Oxford

Miss Mary Scrutton und Miss Iris Murdoch vom Somerville College

Miss Elizabeth Anscombe vom St Hugh’s College

Mary und Iris betreten die politische Bühne,
und wir lernen die Bewohner von Boars Hill kennen

Der Agamemnon-Kurs

Eine Revolution in der Philosophie: Freddie Ayer erklärt der Metaphysik und der Ethik den Krieg

Ein letztes Wort der Idealisten

Kapitel 2: Studieren in Kriegszeiten – September 1939 – Juni 1942 Oxford

Der Krieg beginnt, und die jungen Männer
verlassen Oxford

Miss Philippa Bosanquet erscheint im Somerville

Pazifismus:
Elizabeth schreibt ihr erstes Pamphlet

Die vier Frauen lernen sich kennen

Ein alter Mann: H. H. Price über Hume

Ein Flüchtling: Heinz Cassirer über Kant

Eine Frau: Mary Glover über Platon

Ein Kriegsdienstverweigerer: Donald MacKinnon und das metaphysische Tier

Unsere vier unzeitgemäßen Philosophinnen bekommen alle eine Eins

Kapitel 3: Unordnung und Not – Juni 1942 – August 1945 Cambridge & London

Mary und Iris ziehen nach London

Elizabeth wendet sich wieder Aristoteles und dem Wesen des Menschen zu

Iris und Philippa im London der Kriegsjahre

Elizabeths Projekt gerät ins Stocken

Liebe und Krieg in Seaforth

Mary verschlägt es zu einem «seltsamen Stamm»

Elizabeth Anscombe lernt Ludwig Wittgenstein kennen

Philippa und Iris warten auf Nachrichten

Elizabeths neuer Plan

Das Ende des Krieges: Drei Freundinnen kehren nach Oxford zurück

Kapitel 4: Park Town – September 1945 – August 1947 Oxford, Brüssel, Graz, Cambridge & Chiswick

Die Männer kehren nach Oxford zurück, und Mary fährt zum Boars Hill

Philippa beschließt zu zeigen, dass Ayer unrecht hat

Iris lernt Jean-Paul Sartre kennen

Philippa, Iris und die Hilfsaktion für Flüchtlinge

Elizabeth und Philippa beginnen ein philosophisches Gespräch

Iris’ kommunistische Vergangenheit holt sie ein

Lieutenant Colonel Austin treibt die Revolution voran

Elizabeth holt Wittgenstein nach Oxford

Mary und Iris bereiten sich auf ihren Wiedereinstieg in die Philosophie vor

Kapitel 5: Ein gemeinsames «Nein!» – Oktober 1947 – Juli 1948 Oxford & Cambridge

Das Quartett vereint gegen Ayer und Hare

Iris und Elizabeth sprechen über die Wirklichkeit des Vergangenen

Philippa bringt Tatsachen und Werte wieder zusammen

Elizabeth denkt über menschliches Handeln nach

Aristoteles erwacht zum Leben

Kapitel 6: Zurück ins Leben – Oktober 1948 – Januar 1951 Oxford, Cambridge, Dublin & Wien

Elizabeth hält ihre erste Vorlesung

Elizabeth und Iris in der Krise

Metaphysik im großen Stil und ein Neuanfang für Mary

Philippa hält eine Vorlesung, und Elizabeth
fährt nach Wien

Iris und Philippa fügen den Hintergrund hinzu

Wittgenstein unterzeichnet sein Testament

Kapitel 7: Metaphysische Tiere – Mai 1950 – Februar 1955 Newcastle & Oxford

Mary verlässt Oxford

Lotte Labowsky und die Warburg-Schule

Elizabeth gibt die «Philosophischen Untersuchungen» heraus

Iris und Mary diskutieren Poesie und Paradoxie

Iris über Sartre, Hare und den Stil der Zeit

Mary stellt «die Frauenfrage», und Iris nimmt Unterricht in Sachen Liebe

Zurück ins Leben

Epilog: Noch einmal: Mr Trumans Ehrendoktor – Mai 1956 Oxford

Nachtrag

Anhang

Anmerkungen

Häufig zitierte Archivquellen

Vorwort

Prolog:
Mr Trumans Ehrendoktor
Mai 1956, Oxford

Kapitel 1
Auf Bewährung
Oktober 1938 – September 1939, Oxford

Kapitel 2
Studieren in Kriegszeiten
September 1939 – Juni 1942, Oxford

Kapitel 3
Unordnung und Not
Juni 1942 – August 1945, Cambridge & London

Kapitel 4
Park Town
September 1945 – August 1947, Oxford, Brüssel, Graz, Cambridge & Chiswick

Kapitel 5
Ein gemeinsames «Nein!»
Oktober 1947 – Juli 1948, Oxford & Cambridge

Kapitel 6
Zurück ins Leben
Oktober 1948 – Januar 1951, Oxford, Cambridge, Dublin & Wien

Kapitel 7
Metaphysische Tiere
Mai 1950 – Februar 1955, Newcastle & Oxford

Epilog
Noch einmal: Mr Trumans Ehrendoktor
Mai 1956, Oxford

Nachtrag

Bibliografie

Zitierte Bücher und Aufsätze von Autorinnen des «Quartetts»

Auswahlbibliografie

Zum Weiterlesen

Abbildungsverzeichnis

Dank

Personenregister 

Für unsere Großmütter, Mütter und Töchter:
Alice, Joan, Rose, Christina, Paula, Lynda, Penelope und Ursula

Vorwort

Die Geschichte der europäischen Philosophie handelt normalerweise von den Gedanken, Visionen, Hoffnungen und Ängsten von Männern. Die Männer, um die es in dieser Geschichte geht, haben aber hauptsächlich ein von Frauen und Kindern ungewöhnlich isoliertes Leben geführt: «Praktisch alle großen europäischen Philosophen waren Junggesellen», schrieb die Philosophin Mary Midgley im Jahr 1953.[1] Dies war die erste Zeile in einem Manuskript für ein Radiogespräch, das sie im Auftrag der BBC erstellte, aber vom Sender letztlich abgelehnt wurde: Marys Beobachtungen über die Familienverhältnisse von Philosophen seien, wie die Produzentin urteilte, ein «triviales und irrelevantes Eindringen privater Angelegenheiten in das intellektuelle Leben».[2] Mary meinte allerdings, dass es den Solipsismus, den Skeptizismus und Individualismus, die für die westliche philosophische Tradition so charakteristisch sind, in einer Philosophie von Menschen mit einem wirklichen Leben gar nicht hätte geben können: von Menschen, die schwanger werden, Kinder großziehen und kein klösterliches Leben des Geistes führen, sondern ein soziales und körperliches Leben im intimen Austausch mit Partner:innen, Freund:innen und Geliebten.

Dieses Buch erzählt eine Geschichte, in deren Zentrum vier Philosophinnen und ihre Freundschaft stehen. Mary Midgley (geb. Scrutton), Iris Murdoch, Elizabeth Anscombe und Philippa Foot (geb. Bosanquet) wurden in einer Zeit erwachsen, in der sich einige der turbulentesten Ereignisse des 20. Jahrhunderts abspielten. Geboren kurz nach dem Ersten Weltkrieg, nahmen sie ihr Studium der Philosophie an der Universität Oxford kurz nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen in Österreich auf. Mary hielt sich sogar in Wien auf, als die deutschen Soldaten kamen – sie hatte sich auf eine Reise begeben, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, bevor sie aufs College ging, wobei ihr Lehrer ihr versichert hatte, dass sich der Aufruhr in Europa schon wieder legen werde. Sie kehrte nach Hause zurück, nachdem Schilder in den Schaufenstern aufgetaucht waren, auf denen zu lesen war: «Wenn Sie als echter Deutscher hierherkommen, dann grüßen Sie mit ‹Heil Hitler!›»[3] Die Ereignisse, die in den kommenden Jahren stattfanden, sollten die Menschheitsgeschichte verändern – Nationalsozialismus, Shoah, totaler Krieg, Hiroshima und Nagasaki. Diese Generation wurde mit Taten der Verderbtheit und des Chaos konfrontiert, die diejenigen, die vor ihnen lebten, wohl kaum für möglich gehalten hätten.

Iris Murdoch hat beobachtet, dass französische und britische Philosophen anscheinend sehr unterschiedlich auf die postnazistische Situation reagierten.[4] Die Nachkriegsphilosophie und -literatur Frankreichs wird von der französischen Besatzungserfahrung beherrscht. Doch während Jean-Paul Sartres Philosophie die moralischen und politischen Implikationen der Freiheit erforschte und zu verstehen versuchte, ob Authentizität und Aufrichtigkeit für diejenigen möglich waren, die das Vichy-Regime erlebt hatten, mussten die Briten keine solche Krise durchstehen. Stattdessen kehrten die Männer Oxfords 1945 von ihrem Einsatz im Krieg zurück, krempelten die Ärmel hoch und machten dort weiter, wo sie 1939 aufgehört hatten.

Die Aufgabe, die die jungen Männer vor der Unterbrechung durch den Krieg begonnen hatten, war ein kühnes Unterfangen: Das Fach, das bisher als «Philosophie» bekannt war, sollte eliminiert und durch eine neue Reihe logischer, analytischer und wissenschaftlicher Methoden ersetzt werden, die als «logischer Positivismus» bezeichnet werden. Die spekulative metaphysische Forschung – das Streben nach Wissen über die Natur des Menschen, über Moral, Gott, Wirklichkeit, Wahrheit und Schönheit – sollte im Dienste der Wissenschaft der Präzision und der Sprachanalyse Platz machen. Nur noch Fragen, die mit empirischen Methoden beantwortet werden konnten, sollten zulässig sein. «Was ist der Sinn des menschlichen Lebens?» «Wie sollen wir leben?» «Gibt es Gott?» «Ist die Zeit real?» «Was ist Wahrheit?» «Was ist das Schöne?» Metaphysische Fragen wie diese, die über die Grenzen dessen hinausgingen, was wir messen und beobachten können, wurden als «Unsinn» bezeichnet. Ebenso verbannt wurde das ältere philosophische Bild vom Menschen als einem geistigen Wesen, dessen Leben auf Gott oder das Gute ausgerichtet ist und für das die Philosophie der Versuch ist, über die grundlegende Struktur der Wirklichkeit nachzudenken. An seine Stelle trat eine Vision von menschlichen Wesen als «effizienten Rechenmaschinen»:[5] von Individuen, deren intellektuelle Kräfte es ihnen ermöglichen würden, über ihre chaotische animalische Natur hinauszugehen, um damit eine ansonsten rohe und gestaltlose Welt zu organisieren und zu rationalisieren. Man erklärte, dass es keine genuin philosophischen Probleme gebe; Fragen, die sich einer wissenschaftlichen Untersuchung entzogen, seien entweder lästiges Kuddelmuddel oder Fälle von sprachlicher Verwirrung.

Wäre nicht der Krieg dazwischengekommen, so hätte es gut sein können, dass sich Mary, Iris, Elizabeth und Philippa den Männern angeschlossen hätten, um die schöne neue Welt einer Philosophie einzuläuten, die der Poesie, des Geheimnisses, des Geistes und der Metaphysik beraubt gewesen wäre. Oder, was wahrscheinlicher ist, sie hätten ihr Studium abgeschlossen und die Philosophie hinter sich gelassen, weil sie, wie so viele junge Frauen auch heute noch, davon überzeugt gewesen wären, dass das Fach nichts für sie sei. Stattdessen geschah etwas anderes: Die jungen Männer und die «großen Nummern» der britischen Philosophie (A. J. Ayer, Gilbert Ryle und J. L. Austin) wurden aus dem Oxforder Boden herausgerissen und in Whitehall und im Kriegsministerium wieder eingepflanzt. Unsere vier Freundinnen blieben hingegen zurück, um ihr Studium in einem aus dem Tritt geratenen Oxford zu beenden, das voll war mit Evakuierten aus London und Flüchtlingen vom Kontinent.

Und die Philosophie erwachte wieder zum Leben. Die alten Metaphysiker konnten wieder von Poesie, Transzendenz, Weisheit und Wahrheit sprechen. Die Kriegsdienstverweigerer fragten, was Gott und die Pflicht von ihnen verlangten. Die geflüchteten Wissenschaftler vermittelten in einer Sprache, die nicht ihre eigene war, Gelehrsamkeit und Wissen von einer Art, die Oxford nie zuvor erlebt hatte. Und die Frauen, die nun nicht mehr in Klassenzimmern voller kluger junger Männer saßen, die gerne Diskussionen gewannen, richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Welt, und zwar gemeinsam.[6] Sie interessierten sich für «die Wirklichkeit, die den Menschen umgibt – ob transzendent oder wie auch immer», sagte Iris.[7] Und sie hatten Fragen. Sehr viele Fragen.

So lernten diese vier Frauen, die Philosophie auf ihre eigene Weise zu betrachten: als eine uralte Form des menschlichen Erkenntnisstrebens, die über Tausende von Jahren hinweg durch das Gespräch am Leben erhalten wurde und deren Aufgabe es ist, uns kollektiv dabei zu helfen, uns in einer riesigen Welt zurechtzufinden, die jede:n Einzelne:n von uns übersteigt. Als die jungen Männer aus dem Krieg zurückkehrten, mit ihren analytischen Methoden und ihrer Verachtung für Mysterien und Metaphysik, standen unsere vier Freundinnen mit einem einvernehmlichen «Nein!» bereit.

Unser eigenes philosophisches Gespräch begann im Sommer 2013. Wir lernten uns in Genf kennen, als wir beide zu einer kleinen Gruppe von Philosoph:innen gehörten, die sich versammelten, um der Natur des Träumens auf die Spur zu kommen. Jede von uns erkannte in der anderen eine Mitphilosophin, die das Obskure, Flüchtige und Wechselhafte liebte und dazu neigte, komische Fragen zu stellen. Bald entdeckten wir, dass wir beide über den Zustand der akademischen Philosophie gleichermaßen verzweifelt waren, einer Disziplin, in der wir beide Fuß zu fassen versuchten. Wir wussten, dass wir, wenn wir weitermachen wollten, eine Möglichkeit finden mussten, Philosophie auf eine engagiertere, kreativere und offenere Weise zu betreiben. Wir waren davon gelangweilt, Männern zu lauschen, die über Bücher von Männern über Männer sprachen, und wollten gemeinsam philosophieren, als Freundinnen. Wir waren auf der Suche nach einer Geschichte, die uns dabei helfen konnte. Dann, am 28. November, erschien im Guardian ein Brief mit der Überschrift «Das goldene Zeitalter der weiblichen Philosophie». Er stammte von einer «Mary Midgley», ein Name, der uns bekannt vorkam, der aber nicht der einer Philosophin war, deren Werke auf den Lehrplänen der Universitäten auftauchten oder in den führenden Fachzeitschriften diskutiert wurden. In diesem Brief legte Mary die Grundzüge der Geschichte dar, die Sie im Folgenden lesen werden. Sie berichtete nämlich davon, wie sie und ihre Freundinnen Iris, Elizabeth und Philippa in der Philosophie aufblühten – einem Fach, das gemeinhin als unwirtliches Terrain für Frauen gilt –, weil die Männer im entscheidenden Moment zum Kriegsdienst eingezogen worden waren.[8]

«Das Problem sind natürlich nicht die Männer an sich», heißt es in dem Brief weiter. «Männer haben in der Vergangenheit schon auf ganz annehmbare Weise Philosophie betrieben.» Mit einem Augenzwinkern schien sie also anzudeuten, dass es nun höchste Zeit sei, einmal zu untersuchen, welche Art von Philosophie Frauen denn gemacht haben – und machen würden. Damit schien uns beiden das Schicksal genau das geliefert zu haben, was wir uns wünschten, und das sogar frei Haus. Ehe wir uns versahen, waren wir häufige Besucherinnen eines Seniorenheims in einem Vorort von Newcastle, nur wenige Meilen von unseren eigenen Wohnorten entfernt, und standen in einem regelmäßigen Austausch mit Mary Midgley. In ihrem Sessel versunken, sprach sie von den Verfassern der Bücher, die ihre Regale befüllten, als hätten sie gerade eben erst den Raum verlassen: Collingwood, Joseph, Price, Wittgenstein, Austin, Ayer und Hare. Sie reichte uns Papiere, Notizen und Zeitungsausschnitte aus kleinen Stapeln, die die Fensterbänke, Ablageflächen und den Teppich in ihrem winzigen Wohnzimmer bedeckten. Und sie erzählte uns von ihren Freundinnen, die inzwischen alle verstorben waren: Iris, Philippa und Elizabeth.

Mary wollte, dass wir eine Sache begreifen: «wie es ist, buchstäblich ‹im Krieg› zu sein». Dies war zu einer Zeit, in der uns seit über zehn Jahren erzählt wurde, dass wir uns im «Krieg gegen den Terror» befänden; Mary aber wollte unbedingt, dass wir den Unterschied erkennen: Man macht nicht das, was man normalerweise tun würde; man ist nicht dort, wo man normalerweise wäre; man wird hin und her und dann wieder weitergeschickt, und man wird reglementiert. Die eigene Familie und die Freunde wurden ebenfalls umgesiedelt, sind tot oder verletzt oder schweben in Gefahr. Es ist schwer herauszufinden, was vor sich geht; die Zeitungen sind nicht zuverlässig, das Radio ist Propaganda, Briefe werden zensiert. Lebensmittel sind knapp, das Benzin ist rationiert, Reisemöglichkeiten sind eingeschränkt. Die Zukunft ist ungewiss. Man hat Angst. Es ist dunkel.[9] Als sie uns diese Dinge erzählte, waren dies keine Erinnerungen an eine feste und unveränderliche Vergangenheit, sondern ein lebendiger Hintergrund für die Philosophie, die sie uns vermitteln wollte. In Zeiten des Chaos braucht man Philosophie, sagte sie, und hier wurden wir mit einer Theorie über das menschliche Leben konfrontiert, die sie und ihre Freundinnen ausgearbeitet hatten, Zigaretten rauchend, um den Hunger zu unterdrücken, während die Luftschutzsirenen heulten und die Vorhänge zur Verdunklung das Licht aussperrten.

Während die Welt versucht, sich von einer Pandemie zu erholen, und sich der Herausforderung der Klimakatastrophe gegenübersieht, ist es vielleicht an der Zeit, erneut wie diese Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg zu fragen: Was für ein Tier ist der Mensch? Was brauchen wir, um gut zu leben? Ist die Philosophie zu irgendetwas nütze?

Nach dem Krieg teilten die Männer auf beiden Seiten des Ärmelkanals ein «Menschenbild» [«picture of man»], das noch immer unsere kollektive Vorstellung beherrscht. Der «Held» der modernen Philosophie ist, wie Iris schrieb, «ein Sohn des wissenschaftlichen Zeitalters». Er ist «frei, unabhängig, einsam, mächtig, rational, verantwortungsbewusst, mutig, der Protagonist so vieler Romane und moralphilosophischer Werke».[10] Aber er ist entfremdet von seiner eigenen Natur, von der natürlichen Welt, die sein Zuhause ist, und von anderen Menschen. Für uns Heutige haben Einsamkeit und Entfremdung eine ganz eigene Qualität gewonnen. Denn die technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte erweckt zwar den Eindruck einer völlig offen daliegenden Welt – in Sekundenschnelle zeigen uns unsere Computer die Oberfläche des Mars, das Innere eines Wespennests oder die Pläne für einen Atomreaktor. Angesichts der überwältigenden Komplexität des menschlichen Lebens und der zunehmenden Akzeptanz virtueller Ersatzversionen von Freundschaft, Spiel, Liebe und zwischenmenschlichem Kontakt entziehen wir uns jedoch kollektiv der Aufgabe, vor der wir stehen. Stattdessen ziehen wir es vor, uns in Fantasien davon zu ergehen, dass irgendeine zukünftige Generation, eine künstliche Intelligenz oder eine wissenschaftliche Innovation uns diese Last abnehmen wird. Doch wie Mary es formulierte, wird das, «[w]as tatsächlich mit uns geschieht, gewiss immer noch von menschlichen Entscheidungen abhängen. Nicht einmal die wunderbarsten Maschinen könnten bessere Entscheidungen treffen als die Menschen, die sie programmieren sollen.»[11]

Wir brauchen jetzt ein Bild, das uns zu einem neuen Selbstverständnis verhilft und dabei zeigt, wie es weitergehen soll. Wir müssen in der Lage sein, die Handlungs- und Denkstrukturen zu erkennen, die unser Leben heute und in der Vergangenheit geprägt haben. Und wir müssen auch die Möglichkeiten zur Veränderung dieser Strukturen sowie die Mechanismen verstehen, durch die eine solche Veränderung erreicht werden kann.

«Ich habe den Menschen in eine Reihe mit Katzen und Rüben gestellt», schrieb Elizabeth 1944 und betonte, dass jeder Versuch, uns selbst zu verstehen, seinen Ausgang von der Tatsache nehmen muss, dass wir lebendige Wesen sind.[12] Doch während wir das Leben von Rüben und Katzen nur objektiv, nämlich von außen, untersuchen können, muss das Leben des Menschen durch den Menschen von innen her erforscht werden. Und wenn die Aufgabe darin besteht herauszufinden, was wir sind, dann ist es eine, die wir, wie diese Frauen, gemeinschaftlich angehen müssen: in Universitätsräumen und Speisesälen, Teeläden und Wohnzimmern, per Post und in Kneipen, zwischen Windeln und Babys. Ihr Lebensraum ist ein bunter Flickenteppich aus Mauergärten, Flüssen, Kunstgalerien, Flüchtlingslagern und ausgebombten Gebäuden.

Durch die Augen dieser vier Freundinnen betrachtet, zeigt sich ein neues Bild. Unsere vertraute Welt verwandelt sich in ein reichhaltiges Mosaik aus miteinander verzahnten Mustern, gespickt mit kulturellen Gegenständen voller metaphysischer Kraft und vor pflanzlichem, tierischem und menschlichem Leben nur so wimmelnd. Und wir, die Menschen, deren Leben daran mitwirken, diese Muster und Gegenstände zu erzeugen und zu bewahren, werden mit einem neuen, unbefangenen Blick als diejenige Art von Tieren identifiziert, deren Wesen es ist, zu hinterfragen, zu erschaffen und zu lieben. Wir sind metaphysische Tiere.

Wir schaffen und teilen Bilder, Geschichten, Theorien, Worte, Zeichen und Kunstwerke, die uns helfen, unser Leben gemeinsam zu meistern – so erzählen es uns diese vier Frauen. Diese Kreationen sind ungeheuer kraftvoll, weil sie uns zeigen, was der Fall ist und war, und uns zugleich neue Wege erschließen, wie wir weitermachen können. Sie machen uns deutlich, dass das, was zu unserer gemeinsamen Vergangenheit wird, immer vorläufig ist; die Vergangenheit wird durch Zeugnisse und Konservierung am Leben erhalten, sie ist daher an sich veränderlich und kann leicht verdrängt werden oder verloren gehen. Doch weil die Vergangenheit eine lebendige Sache ist, können Entdeckungen, die wir jetzt machen, Auswirkungen auf unsere Geschichte haben. Wir können unsere Vergangenheit anders betrachten – und das, was wir für geschehen halten, neu schreiben. Andere Vergangenheiten warten auf uns.

Wir haben diese Vergangenheit rekonstruiert, indem wir Fragmente aus Briefen, Tagebüchern, Fotos, Gesprächen, Notizbüchern, Erinnerungen und Postkarten zu Bildern zusammengefügt haben. Diese Bilder formen Muster, die durch das Wichtigste von allem zusammengehalten werden: die sich entfaltenden, miteinander verwobenen Leben von vier erstaunlich brillanten Frauen. Wir lernen sie als Teenager am Vorabend eines Krieges kennen und folgen ihnen, während sie darum ringen, ihren Weg in einer sich verändernden intellektuellen und politischen Umgebung zu finden. Verabschieden werden wir sie in ihren späten Dreißigern, wenn sie die Weltbühne betreten, ihre Namen in der Literatur zu lesen und ihre Stimmen im Radio zu hören sind. Jede der Frauen schlägt einen anderen Weg ein, um ein Leben zu führen, das dem Ziel gewidmet ist, sich die Welt begreiflich zu machen. Jede hat andere Lösungen für die praktischen, intellektuellen und psychologischen Probleme des Philosophierens als Frau gefunden. Und alle vier schöpften Kraft aus ihrer gemeinsamen Freundschaft.

Die Leben dieser Frauen werfen wiederum ein Licht auf eine Gegenerzählung zu der normalerweise erzählten Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ihre Helden sind nicht A. J. Ayer, J. L. Austin und R. M. Hare, sondern Persönlichkeiten, die Sie vielleicht nicht kennen: H. H. Price, H. W. B. Joseph, Susan Stebbing, R. G. Collingwood, Dorothy Emmet, Mary Glover, Donald MacKinnon und Lotte Labowsky. Diese Gegenerzählung verbindet die zeitgenössische Philosophie mit den großen spekulativen Metaphysikern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, mit den Idealisten und Realisten, die darum bemüht waren, das Wesen der Wahrheit, der Wirklichkeit und des Guten zu ergründen, bevor die Philosophie mit der Hinwendung zur Sprachanalyse ihren Blick auf die Bedeutung der Wörter «wahr», «wirklich» und «gut» einengte. Sie demonstriert, dass das Stellen metaphysischer Fragen und die Suche nach Antworten ein natürlicher und wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens ist. Sie verbindet scheinbar abstrakte und esoterische Fragestellungen mit den drängenden und ganz realen ethischen, praktischen und spirituellen Fragen, mit denen jede:r von uns im alltäglichen Leben konfrontiert ist.

Diese Geschichte ist von den großen historischen Entwicklungsbögen des westlichen philosophischen Denkens durchzogen: Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin; Descartes, Hume, Kant, Hegel; Frege, Wittgenstein; Moore. Und natürlich werden all diese Traditionslinien durch das große Chaos des 20. Jahrhunderts erschüttert: das von Flüchtlingen und Migranten, von Mord und Krieg, Tod und Ungewissheit.

Das Buch beginnt mit einer Szene, die eine philosophische Frage aufwirft. Wir schreiben das Jahr 1956, und Elizabeth Anscombe steht vor den Dozenten der Oxforder Universität und erklärt, dass der ehemalige US-Präsident Harry S. Truman, der Mann, der die atomare Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki angeordnet hat, ein Massenmörder ist und ihm nicht die Ehrendoktorwürde verliehen werden darf. Die Dozenten sind fast einhellig anderer Meinung, und Truman erhält die Ehrung. Elizabeth ist irritiert: Was erkennt sie, was diese Herren nicht erkennen? Wenn sie dazu geneigt sind, einen Mann zu ehren, der für die gnadenlose Tötung Zehntausender unschuldiger Menschen berühmt ist, dann, so sagt sie, sind sie irgendwo falsch abgebogen. Die Philosophie dieses Buches entwirft eine Karte, die uns wieder zurückführt.

Sie können das vorliegende Buch als eine Erzählung lesen und daraus ein Bild des menschlichen Lebens mitnehmen, das unsere ganz normale Lebenswelt so erscheinen lässt, wie diese Frauen sie sahen: als etwas Erstaunliches und Zerbrechliches, das ständiger Pflege und Aufmerksamkeit bedarf. Und Sie können es als eine philosophische Auseinandersetzung lesen: eine, die die Philosophie wieder zurück ins Leben bringt. Wenn es Ihnen möglich ist, sollten Sie es mit Freundinnen und Freunden gemeinsam lesen.

Die Mitwirkenden

Elizabeth Anscombe, 1919–2001

Philippa Foot (geb. Bosanquet), 1920–2010

Mary Midgley (geb. Scrutton), 1919–2018

Iris Murdoch, 1919–1999

Die Philosophinnen

Die Collegefrauen

Alice AmbroseDorothy EmmetMary GloverMartha KnealeMargaret MastermanSusan StebbingMary Warnock (geb. Wilson)

Myra CurtisHelen DarbishireVera FarnellBarbara GwyerMildred HartleyIsobel HendersonCarlotta LabowskyLucy SutherlandJanet Vaughan

Die Idealisten & die Bewohner:innen von Boars Hill

Die Realisten

«Alte Männer» & Kriegsdienstverweigerer

E. F. & Winifred CarrittH. W. B. JosephSandie & Erica LindsayGilbert Murray & Lady MaryE. J. & Theo Thompson

G. E. MooreH. A. PrichardW. D. Ross

R. G. CollingwoodE. R. DoddsPeter GeachDonald MacKinnonH. H. PriceOscar Wood

Geflüchtete Gelehrte

Die Wittgensteinianer

Die Existentialist:innen

Heinz & Eva CassirerEduard FraenkelFranz HeinemannRaymond KlibanskyFranz SteinerFriedrich WaismannRichard Walzer

Ludwig WittgensteinWasfi HijabGeorg KreiselRush RheesKanti ShahYorick SmythiesJohn Wisdom

Martin BuberKatharine FarrerGabriel MarcelJean-Paul Sartre

Die Metaphysiker

«Junge Männer» im Kriegsdienst

Der Oxford Socratic Club

Ian CrombieAustin FarrerMichael FosterBasil MitchellEric MascallDennis Nineham

Dozenten

J. L. AustinA. J. AyerIsaiah BerlinGilbert Ryle

Studenten

Nick CrosbieRichard HareDavid HicksM. R. D. FootGeoffrey MidgleyFrank Thompson

Geoff Warnock

Stella AldwinckleC. S. Lewis

Prolog

Mr Trumans Ehrendoktor

Mai 1956
Oxford

Elizabeth Anscombe erhebt Einspruch – Philippa Foot ist einer Sache auf der Spur

Elizabeth Anscombe erhebt Einspruch

Am 1. Mai 1956, kurz nach dem Mittagessen, rief das Geläut der dreistimmigen Glocke von St Mary’s Church die Dozenten der Universität Oxford in die Old Bodleian Library,[1] seit 400 Jahren eine Stätte der männlichen Gelehrsamkeit und des klerikalen Strebens, die nun plötzlich und auf unerklärliche Weise von «den Frauen» bedroht sein sollte.[2] Von St John’s, dem New College und Worcester machten sich die Dozenten mit flatternden Talaren, Gewändern und Kapuzen auf den Weg nach Süden durch die St Giles’ Street, bogen dann nach Westen in die Holywell Street und schließlich nach Osten in die Broad Street ab.[3] Als sie sich im Hof vor dem Convocation House versammelten, machten Gerüchte die Runde: «Die Frauen führen in der Versammlung irgendetwas im Schilde; wir müssen sie […] niederstimmen.»[4]

Einige Dinge waren bekannt. Der Vizekanzler, Alic Halford Smith, hatte dem Hebdomadalrat den Vorschlag unterbreitet, dem ehemaligen US-Präsidenten Harry S. Truman die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford zu verleihen.[5] Die Tradition schrieb vor, dass die Nominierung auf der Convocation (dem Leitungsgremium, das sich aus allen Doktoren und Rektoren der Universität zusammensetzt) durchgewunken und die Auszeichnung im darauffolgenden Monat im Rahmen der alten Zeremonie der Encaenia verliehen werden sollte. Und dennoch … Hier endeten die Fakten und die Gerüchte begannen, in Halbsätzen zusammengestückelt. Die Nominierung, so hieß es, würde von «den Frauen» angefochten werden.

Die Dozenten von St John’s waren mit einer einfachen Anweisung im Gepäck erschienen: «Die Frauen niederstimmen.»[6] Nun liefen sie herum und versuchten herauszufinden, um welche Frauen es ging. Es war keine Überraschung, dass Somerville im Mittelpunkt des Geschehens stand; das gottlose Somerville, ein College für Intelligenzler (oder, wie manche sagten, «Freaks»).[7] Im All Souls war das Gewissen durch ein Gefühl von Ungerechtigkeit geweckt worden: Sicherlich «wäre es falsch, Mr Truman BESTRAFEN zu wollen!» «Verdammt noch mal, man kann niemanden verantwortlich machen, nur weil ‹seine Unterschrift unter dem Befehl steht›.» An den Esstischen des New College war man sich einig, dass «dieses Handeln» zwar ein «Fehler» gewesen war, aber doch nur «sozusagen eine Randerscheinung in seiner Karriere».[8] Obwohl, wie einige überlegten, ansonsten doch recht wenig über die Karriere von Mr Truman bekannt war. Wenn man den Namen «Truman» hörte, musste man unweigerlich an «Hiroshima» und «Nagasaki» denken.

Im Convocation House angekommen, begaben sich die Dozenten in den Sitzungsraum – einen mittelalterlichen Gerichtssaal, der wie eine Miniaturversion des britischen Unterhauses eingerichtet war. Alle Augen suchten die Bänke nahe dem Eingang (die üblicherweise von Frauen besetzt waren) nach der Unruhestifterin ab. Und tatsächlich, da saß sie, reglos und stumm: Miss Elizabeth Anscombe.

Hinter den Kulissen waren die Aufsichts- und Disziplinarbeamten [Proctors] und Rektoren [Wardens] der Universität, die Dekane und die Zensoren in Aufruhr: «Ob sie wohl eine Gruppe zusammengetrommelt hatte?» Sie selbst sagte Nein, aber konnte man ihr trauen?[9] Die Universitätsvertreter konsultierten eifrig die Statuten und untersuchten frühere Präzedenzfälle, da die Vorgehensweise im Umgang mit solchen Protesten unbekannt war; niemand konnte sich an ein früheres derartiges Vorkommnis erinnern. Vizekanzler Alic Halford Smith stand kurz vor seiner Pensionierung und hatte seinen Nachfolger John Masterman gebeten, die Sitzung an seiner statt zu leiten.[10] Masterman war noch in der Einarbeitungsphase, und als er die Kapuze seines Talars richtete und sich anschickte, seinen Platz einzunehmen, war er noch ein wenig unsicher, was das Verfahren anging. Die Tagesordnung hatte es in sich: Der Status des Griechischen Neuen Testaments im Studiengang Theologie sollte erörtert werden. Der Hebdomadalrat drängte ungeduldig darauf, seinen Vorschlag zur Ehrung Trumans durchzusetzen, was sich bereits um ein Jahr verzögert hatte, und nun war auch noch «Miss Anscombe» ein Ärgernis, das sich zu einer Peinlichkeit auswachsen konnte.[11] Außerdem hatte sie die Dinge noch weiter verkompliziert, da sie darum gebeten hatte, die Sitzung auf Englisch und nicht auf Latein abzuhalten (obwohl ihre Lateinkenntnisse perfekt waren).[12]

Masterman legte Wert darauf, dass «so wenig Staub wie möglich aufgewirbelt werden sollte».[13] Einige Journalisten drückten sich vor Ort herum und waren darauf erpicht, Informationen zu erhalten. Keine Frage, eine «Szene» bahnte sich an. Den Proctors war Miss Anscombe schon lange ein Dorn im Auge. Denn sie war dafür bekannt, dass sie zu den Vorlesungen in Hosen erschien, was laut Universitätsstatuten für Frauen verboten war. Die Erleichterung war daher groß, als sie sich erhob und unter ihrem Talar ein Rock und bestrumpfte Beine zum Vorschein kamen.[14]

Es wurde fast still, als Miss Anscombe zum Rednerpult ging, und die gedämpften belustigten oder spöttischen Kommentare verhallten, als sie zu sprechen begann. Ihrer etwas anrüchigen Erscheinung (langes und unfrisiertes Haar, sauberes Gesicht, keine Schminke, unförmige Kleidung) stand die Schönheit ihrer tiefen und sonoren Stimme gegenüber. «Ich bin entschlossen, mich dem Vorschlag zu widersetzen, Mr Truman hier in Oxford einen Ehrendoktor zu verleihen.»[15] Sie war nervös, aber ihre Rede war klar und gefasst.

«Ein Ehrendoktortitel ist keine Verdienstauszeichnung, sondern gewissermaßen eine Belohnung dafür, dass man eine sehr angesehene Person ist, und es wäre töricht zu fragen, ob es ein Kandidat verdient, so angesehen zu sein, wie er es ist. Deshalb ist die Frage, ob jemandem die Ehrendoktorwürde verliehen werden soll, in der Regel völlig uninteressant.» Bei diesen scheinbar beschwichtigenden Worten war möglicherweise eine deutliche Entspannung der Stimmung im Raum zu spüren. «Eine sehr angesehene Person wird allerdings wohl kaum auch ein berühmt-berüchtigter Verbrecher sein», fuhr sie fort, «und wenn sie zufällig ein nicht berühmter und berüchtigter notorischer Verbrecher sein sollte, so wäre es meiner Meinung nach unangebracht, diese Frage überhaupt zur Sprache zu bringen.» Ein paar der Anwesenden erlaubten sich vielleicht, ihr Lächeln zu teilen. «Nur in dem eher seltenen Fall [oh Himmel], dass ein Mensch überall für eine Tat bekannt ist, angesichts derer es Anbiederung wäre, ihn zu ehren, kann die Frage überhaupt nur von geringstem Interesse sein.» Ihre Worte, ihre Bedeutung, drangen durch.

Als Miss Anscombe ihre Ausführungen fortsetzte, taten sich die versammelten Dozenten schwer, ihrer Argumentation zu folgen. Sie wollte nicht bestreiten, dass Trumans Handeln «mit ziemlicher Sicherheit eine große Zahl von Menschenleben gerettet hat», und auch nicht, dass es die schreckliche Aussicht darauf verhindert hatte, dass «sehr viele Soldaten auf beiden Seiten getötet worden wären, die Japaner […] ihre Kriegsgefangenen massakriert hätten und eine große Zahl ihrer Zivilbevölkerung durch ‹normale› Bombenangriffe getötet worden wäre». Den Pazifismus hält sie für eine «Irrlehre», und sie ist auch nicht gegen die Todesstrafe. Und dennoch beharrt sie darauf: Trumans Handeln «ist Mord»; er hat «ein paar Massaker» auf dem Kerbholz.

Bisweilen schien sie das ehemalige Staatsoberhaupt mit unverschämten Beleidigungen zu überziehen: «Ein ziemlich mittelmäßiger Mensch kann spektakulär böse Dinge tun, ohne dadurch beeindruckend zu werden»; «jeder Narr kann so sehr ein Schurke sein, wie es ihm beliebt»; «man kann nicht gut sein oder etwas Gutes tun, wenn man dumm ist».[16] Sie verglich ihn mit den größten Schurken der Geschichte: «Wenn Sie ihm diese Ehre zuteilwerden lassen, welcher Nero, welcher Dschingis Khan, welcher Hitler oder welcher Stalin wird dann in Zukunft nicht geehrt werden?»[17] Und an einer Stelle benutzte sie das Wort «Schlächter».[18]

John Masterman war zunehmend «erzürnt», als das «weibliche Mitglied» ihre «unbeherrschte Rede» hielt. Als er in die Runde blickte, war er zuversichtlich, dass «die Frauen» in einer Abstimmung besiegt werden würden. Aber könnte man dies mit dem angestrebten Minimum an aufgewirbeltem Staub erreichen? Die Presse würde den Vorfall «ganz zu Recht aufgreifen», und er und Oxford würden sich eines «Aktes der Unhöflichkeit» gegenüber Präsident Truman schuldig machen, der dort Ehrengast sein sollte. Masterman spielte daher mit dem Gedanken, die Sitzung zu vertagen, bevor es zu einer Abstimmung kommen konnte.[19]

Miss Anscombe kam zum Schluss ihrer Rede. «Proteste von Leuten, die keine Macht haben, sind Zeitverschwendung», sagte sie. Noch immer sprach sie bedächtig und ruhig. «Ich nutze hier nicht die Gelegenheit, um eine ‹Geste des Protests› gegen Atombomben zu machen, sondern ich wende mich vehement gegen unser Vorhaben, Mr Truman zu ehren, weil man auch durch Lob und Schmeichelei Anteil an der Schuld einer schlechten Tat haben kann.»[20] Als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, herrschte Schweigen. «Kein Gemurmel, kein Rascheln, keine Veränderung der Mienen.»[21]

Dem Historiker Alan Bullock, als Mitglied des Hebdomadalrats, fiel die Aufgabe zu, zugunsten der Nominierung zu argumentieren. Die versammelte Gesellschaft zeigte sich zwar ohnehin vollkommen unbeeindruckt,[22] doch Bullocks kräftige männliche Stimme und sein Yorkshire-Akzent dürften wohl dennoch einen gewissen beruhigenden Effekt gehabt haben. «Wir billigen das Handeln [Trumans] nicht», sagte er, wobei sein «wir» die sachlichen Männer des Gremiums um ihn herum umfasste und die gewohnte behagliche Ordnung wiederherstellte. «Nein, wir glauben sogar, dass es ein Fehler war.»[23] Dennoch gab es ihm zufolge viele mildernde Umstände: «Mr Truman hat die Bomben nicht im Alleingang gebaut oder ihren Einsatz beschlossen, ohne sich mit irgendwem darüber zu beraten.» Bullock sprach mit der Autorität eines Historikers; vor Kurzem hatte er die erste Biografie über Hitler in Buchlänge verfasst.[24] «Nein, er war nur für die Entscheidung verantwortlich», nur für «die Unterschrift unter dem Befehl».[25] Trumans Handeln war, so schien er anzudeuten, lediglich eine Sache des Ausfüllens von Papieren. Bullock schloss seine Ausführungen – er machte es immer kurz – mit der Anmerkung, dass «ein Handeln dieser Art ja letztlich auch nur eine Episode ist, sozusagen ein Nebenschauplatz in einer ganzen Laufbahn. Mr Truman hat einiges Gutes getan».[26]

Am Ende tat Masterman trotz seiner Vorbehalte das, was er tun sollte, und brachte den Antrag vor das Gremium mit den Worten: «Placetne vobis, Domini Doctores, placetne vobis magistri?» Hätte jemand «non placet» gerufen, wäre er gezwungen gewesen, eine förmliche Abstimmung durchzuführen, doch zu seiner Erleichterung gab es keine solchen Einwürfe – zumindest keine, die er wahrzunehmen gedachte. Miss Anscombe und ihren etwaigen Unterstützer:innen musste das Prozedere wohl unbekannt sein, wie er erleichtert annahm. Nach ein oder zwei Sekunden des Schweigens stellte er fest, dass der Beschluss einstimmig angenommen war.[27]

Nachdem die Sitzung geschlossen wurde, herrschte unter den Anwesenden Verwirrung darüber, was genau geschehen war. War Miss Anscombe eine verkappte Pazifistin? Handelte es sich um eine Art römisch-katholischen Protest? Was war das für ein «wohlgesinnter» Blödsinn?[28] Hatten «die Frauen» das Ganze zu noch unbekannten Zwecken inszeniert? Verstand die «unbeherrschte Frau» nicht, wie weit die Japaner militärisch zu gehen bereit waren?[2930«Solitary Opponent»Manchester Guardian3132