Cover

Elisabeth Gifford

Das Haus der Gezeiten

Roman

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Elisabeth Gifford

Elisabeth Gifford ist in einem kleinen Pfarrhaus in den Midlands aufgewachsen. Sie hat französische Literatur, Religionswissenschaft und kreatives Schreiben studiert. Heute lebt sie in London und schreibt regelmäßig für die «Times» und den «Independent».

Über dieses Buch

Nur das Meer kennt die Wahrheit.

 

Das Leben auf der kleinen schottischen Insel Harris orientiert sich seit eh und je am Lauf der Gezeiten. Hier hofft Ruth, das Zuhause zu finden, das sie seit dem Selbstmord ihrer Mutter vermisst. Zusammen mit ihrem Mann will sie ein altes Cottage zu einem Bed & Breakfast umbauen. Doch bei den Arbeiten machen sie einen grausigen Fund: Säuglingsknochen. Wer war das Kind? Woran ist es gestorben?

 

Können ihr die Aufzeichnungen eines jungen Pastors, der vor über hundert Jahren in dem Cottage lebte, den Schlüssel zu diesem Geheimnis liefern? Der Geistliche war einem alten schottischen Mythos auf der Spur, und was er damals herausfand, wirkt fort bis in die Gegenwart und auf Ruths eigene Familiengeschichte …

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «Secrets of the Sea House» bei Corvus/Atlantic Books Ltd., London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Secrets of the Sea House» Copyright © 2013 by Elisabeth Gifford

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Manuela Knetsch

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Abbildung: picture alliance/Design Pics)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-23317-3 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-51361-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-51361-7

Für Josh, Hugh, Kirsty und George

Prolog

Meine Ururgroßmutter war eine Robbenfrau. Sie legte ihr Robbenfell ab, verliebte sich in einen Fischer, brachte sein Kind zur Welt, und dann verließ sie ihn. Früher oder später kehren alle Robbenmenschen zurück ins Meer.

Das zumindest ist die Geschichte, die Mum mir immer erzählt hatte.

«Aber ist die Geschichte auch wahr?», hatte ich von ihr wissen wollen.

«So wahr wie du und ich, Ruthie», hatte sie dann gesagt. «Oben auf den Inseln gibt es viele, die von den Robbenmenschen abstammen.»

Später dachte ich natürlich, das sei der Grund gewesen. Der Grund dafür, dass sie mich verlassen hatte. Sie hatte der Sehnsucht, zurück ins Wasser zu gehen, nicht widerstehen können, weil auch sie eine Selkie war.

Ich habe lange daran geglaubt, und ich glaubte es gern. Es ließ mich hoffen, dass sie eines Tages vielleicht doch wieder zu mir zurückkäme und ich wieder nach Hause durfte.

Erster Teil

Erstes Kapitel Ruth, 1992

Ich glaube nicht, dass ich mich jemals im Leben so reich beschenkt gefühlt habe wie damals in unserer allerersten Nacht im Haus der Gezeiten oder dass ich je zuvor so aufgeregt war. Ich lag hellwach im Bett und hätte am liebsten sofort mit den Malerarbeiten weitergemacht. Es war stockfinster, vor den Fenstern von künstlichen Lichtquellen weit und breit keine Spur. Ich drückte auf die kleine Leuchte am Wecker – es war zwei Uhr morgens – und kuschelte mich eng an Michaels langen Rücken. Wie gewaltig er in der Dunkelheit wirkte; seine Gegenwart gab dem Raum etwas Tröstliches. Als ich Michael das erste Mal begegnete, erschien er mir zu groß, zu lang gestreckt, wie eine Spezies, die ich nicht kannte. Bis mir klarwurde, dass er genau war, wie er sein sollte, ein Schössling im Wald, mit hellbraunen Haaren, die die Farbe von Winterlaub hatten. Und in diesem Augenblick war er erschöpft, vollkommen erledigt, und schlief tief und fest.

Wir hatten Monate der Schufterei hinter uns, Monate der Knochen- und Drecksarbeit, in denen wir das alte Haus zuerst in den Zustand einer leeren Leinwand versetzt und uns danach mit der Renovierung abgeplagt hatten, bis schließlich ein Stadium erreicht war, das uns den Einzug ermöglichte. Tatsächlich aber waren unser Schlafzimmer und die halbfertige Küche bis jetzt die beiden einzigen bewohnbaren Räume. Aber die hohen Zimmer mit den eleganten Fenstern und den üppig verzierten Kaminen ließen bereits erahnen, dass unser Haus eines Tages wunderschön sein würde.

Ich drehte mich wieder um, viel zu wach für zwei Uhr morgens, und außerdem hatte ich schrecklichen Durst. Daran war vermutlich der fragwürdige Rotwein aus dem Supermarkt in Tarbet schuld. Aus dem Wasserhahn im Schlafzimmer wollte ich nicht trinken. Wir hatten eben erst einen toten Vogel aus dem Tank gefischt, der die Leitungen zum oberen Stockwerk versorgte.

Ich schlüpfte aus dem Bett. Es war eiskalt. Das Feuer im Schlafzimmerkamin war erloschen. Ich schlich die Treppe hinunter, so leise ich konnte, und tastete mich in der Dunkelheit an der nackten Wand entlang.

In der Küche füllte ich einen Becher mit Leitungswasser, trank und starrte hinaus auf die dunkel umrissenen Hügel. Am schwarzen Himmel stand glasklar der Mond. Monochrome Schatten fluteten den Raum. Im Dunkeln sah die Küche am besten aus. Man hätte den buckligen Umriss in der Ecke fast für einen neuen Gasherd halten können, doch dort stand nur ein alter, von einem Tuch bedeckter Arbeitsbock mit elektrischer Kochplatte und Abwaschschüssel.

Neben dem Fenster, an der Pinnwand, schien das Mondlicht auf die blassen Quadrate meiner To-do-Listen für sämtliche Zimmer; Stofffetzen und Farbmuster; aus Wohnzeitschriften gerissene Fotos perfekt gestalteter Räume; eine Collage, die zeigte, wie das Haus der Gezeiten einmal sein würde – eines Tages irgendwann. Ich liebte es, an dem wackligen Küchentisch zu sitzen, meine Listen zu überarbeiten, Dinge wegzustreichen und neue dazuzuschreiben, genoss das köstliche Gefühl, wie sich aus der schäbigen Ruine, die wir im tiefsten Winter gekauft hatten, langsam, aber sicher endlich das Heim erhob, das nun für immer unser Zuhause sein sollte.

Das Haus der Gezeiten hatte ich zum ersten Mal im Schein einer Taschenlampe gesehen, ich hatte den blassen Kegel über vernagelte Fenster streifen lassen und über rissige, modergrüne Wände. Wir hatten die Hintertür aufstemmen müssen, um uns Zugang zu verschaffen. Die Luft war stickig gewesen und erfüllt vom Geruch verrottender Pflanzen. Stapel verdreckter Fliesen in einem Wrack von Küche. Überall nur Schmutz, Unrat und Verfall. Die eiskalte Luft hatte alle Wärme aus Händen und Gesicht gesaugt.

Ich hatte augenblicklich umkehren und zurück nach London fahren wollen.

«Vergiss mal das Chaos», hatte Michael gesagt. «Stell es dir frisch gestrichen vor, mit Vorhängen an den Küchenfenstern, und hier ein schöner großer Holztisch.»

 

Und jetzt – die Außenhaut mehr oder weniger wetterfest, die Ratten zwangsvertrieben, die Löcher im Dach geflickt, der Schutt weggeschaufelt, jetzt, nach ungezählten Stunden des Verputzens und Anstreichens waren wir schließlich hier – und nun konnte man sich tatsächlich vorstellen, dass das Haus der Gezeiten sich eines Tages nicht mehr nach zugiger Baustelle, sondern wie ein echtes Zuhause anfühlen würde.

Und dann tauchte auch immer gleich ein weiterer Gedanke auf, die Vorstellung von etwas, das unmöglich schien. Wie wir zwei, wenn das Haus vollkommen fertig sein würde, durch die Eingangstür hereinkämen und ich etwas Kleines, Warmes, Leichtes in meinem Arm hielte, ein schlafendes Gesicht in einem Nest aus weichen Decken. Unser Kind.

Ich vermied den Blick auf den unteren Teil der Pinnwand und das zerfledderte Bündel offener Rechnungen, aber ich spürte trotzdem, wie sich in meinem Bauch nagend die Sorgen regten.

Ich stellte den Becher verkehrt herum auf das Ablaufblech – vorsichtig, denn das Waschbecken hing ziemlich lose von der Wand und wurde nur von ein paar Resten Schnittholz gestützt. Die Bodenfliesen waren eisig, und meine Füße begannen zu schmerzen. Die Kälte stach wie mit Nadeln in meine verkrampften Schultern.

Als ich die Eingangshalle durchquerte, um wieder nach oben zu gehen, lag fast alles in Dunkelheit. Die neuen Dielenbretter unter meinen nackten Füßen fühlten sich unangenehm rau an, und der eiskalte Zug, der durch die Lücken kam, wo die Fußbodenleisten fehlten, roch nach feuchter Erde. Schaudernd steuerte ich auf den Flecken Mondlicht am unteren Ende des Treppengeländers zu. Ich streckte die Hand nach dem Pfosten aus und spürte den kalten Lack in meiner Handfläche.

In diesem Moment sah ich es: eine schnelle Bewegung, aus dem Augenwinkel, ein winziger Flügelschlag. Ich sah eine Hand, die sich auf den Pfosten senkte, direkt nach meiner.

Ich erstarrte. Ein plötzliches, schmerzhaftes Prickeln von Blut in den Füßen, der eindrückliche Geruch nach Erde in der Nase, sämtliche Sinne und Instinkte auf Flucht ausgerichtet. Sie war ganz nah, so offenkundig präsent, dass ich damit rechnete, dass sie vor mir erscheinen würde. Ich bekam keine Luft. Mein Herz schlug so wild, dass ich dachte, es müsste mir den Dienst versagen.

Und dann war sie wieder weg. Die Luft entspannte sich.

Ich rannte die Treppe hinauf, die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen – so, wie ich sie verlassen hatte. Mit einem Satz sprang ich ins Bett und drängte mich ganz nah an Michael. Er murmelte etwas, ohne wach zu werden.

Ich starrte in die Dunkelheit. Was war das eben gewesen? Eine verzögerte Reizübertragung von den Augen zum Gehirn. Der böse Streich eines Bewusstseins im Halbschlaf, der mich in schier lachhafte Panik versetzt hatte. Irgendwann hatte mein Herzschlag sich wieder beruhigt, ich hatte mich selbst beschwichtigt, war schon fast wieder eingeschlafen, als ich mit einem Ruck erneut hochfuhr – in höchster Alarmbereitschaft. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ins Dunkel. Wieso hatte es sich dann aber so unglaublich real angefühlt, als wäre jemand bei mir in der Eingangshalle gewesen, so nahe bei mir, dass ich einen Moment lang nicht mehr gewusst hatte, wer ich war?

Die Angst kam zurück. Mir war schlecht vor Müdigkeit, doch an Schlaf war nicht zu denken; hellwach und angespannt lag ich da – sämtliche Sinne geschärft – und lauschte auf die leisen Geräusche eines stillen Hauses.

Ich hörte, wie sich draußen am Ufer leise die Wellen brachen wie Atemzüge. Ich stand wieder auf, wickelte mir eine Decke vom Stuhl um die Schultern, stellte mich ans Fenster und zog das Rollo nach oben. Der Mond stand kreisrund in der Dunkelheit. Auf den Wellen bewegten sich breite Streifen von Licht, wogten in der Dunkelheit auf und nieder und vergingen.

Ich sah ihnen eine Weile zu. Danach war ich ruhiger. Und fand schließlich doch noch etwas Schlaf.

 

Als Michael am nächsten Morgen mit zwei Bechern Kaffee ins Zimmer kam, schien die Sonne bereits kräftig durch die Rollos. «Heute Vormittag wird das Holz geliefert», sagte er, suchte sich ein T-Shirt und roch daran. Er streckte die Arme in die Ärmel. «Kann sein, dass das Meereszimmer heute schon einen Fußboden bekommt.» Er setzte sich mit Schwung aufs Bett, sodass die Matratze wippte, und schlüpfte in die schmuddelige Jeans vom Vortag. Ich hatte Mühe, den Becher zu balancieren, damit der Kaffee nicht auf das neue Federbett schwappte. Der Kaffee hatte einen öligen, bitteren Beigeschmack. Ich fragte mich, ob das Instantpulver schal geworden war. Ich stellte den Becher auf die Obstkiste, die zu Dekorationszwecken mit einem sauberen Geschirrtuch bedeckt war.

«Donny kommt nachher und hilft mir, die restlichen Dielen rauszureißen. Wir müssen noch einen Kabelschacht ziehen, bevor wir den neuen Boden verlegen.»

«Ich komme runter und helfe euch.»

«Ich dachte, du wolltest deine Zeichnungen fertig machen.»

Er beugte sich vor und gab mir einen kurzen Schmatzer aufs Kinn. Seine langen, dünnen Arme hatten sich verändert; Muskeln und Sehnen traten jetzt deutlich hervor. Er hatte schwer geschuftet, um uns endlich aus dem Wohnwagen herauszubekommen. Das viel zu kurze Bett, in dem er sich nicht ausstrecken konnte, war ihm zuwider gewesen. Mir hatte es eigentlich ganz gut gefallen, im Schutz der Dünen zu wohnen, direkt neben dem einsamen Strand und den riesigen Atlantikbrechern, die sich in der blauen Winterluft auftürmten wie geschmolzenes Glas. Ich war froh, dass das Haus der Gezeiten fast genauso nah am Wasser lag, nur auf der anderen Seite der Dünen, wo sich saftig grüne wilde Wiesen in sandigen Wellen aus wogendem, silbernem Strandhafer verloren. Direkt dahinter fingen die breiten, flachen Strände an.

Michael stand auf, streckte seinen langen Körper und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken. Ich glaube, ich hatte mich in Michael verliebt, weil er sich seiner Größe wegen immer zu mir herunterbeugte, wenn er mir zuhörte, so als würde ihn wirklich interessieren, was ich sagte. Außerdem war er nett und gertenschlank, und sein wilder, blonder Lockenschopf erinnerte mich an einen Engel auf einem mittelalterlichen Gemälde. Er zog sich einen Pullover an und darüber den schmutzigen Arbeitsoverall. Lächelnd schlug er sich auf die Schenkel, bereit, an die Arbeit zu gehen.

«Also, Donny kommt in einer halben Stunde.»

«Ich stehe gleich auf. Ich habe nur leider nicht so gut geschlafen.»

«Ja, ich weiß. Mir geht auch ständig im Kopf herum, was als Nächstes zu tun ist, die Eröffnung, die ersten Gäste. Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir tatsächlich hier leben, in diesem Haus, an diesem unglaublichen Ort.»

Ich konnte ihn pfeifen hören, als er nach unten ging.

Ich schürte das Feuer und absolvierte am Waschbecken in der Ecke des Schlafzimmers eine unglaublich kalte Katzenwäsche. Ich schlüpfte in meine Jeans und ein Flanellhemd und hatte ein schlechtes Gewissen, weil Michael die ganze Knochenarbeit allein machte, während ich in dem einzigen guten Zimmer im Haus saß und Eidechsen zeichnete. In dem Buch ging es um das Nervensystem von Reptilien, und ich hatte gerade mit dem letzten Kapitel begonnen: «Gehirn und Nervensystem der Podarcis erhardii oder Kykladen-Mauereidechse.» Michael hatte sich inzwischen daran gewöhnt, in dem Zimmer zu schlafen, in dem das Terrarium mit der Eidechsenfamilie stand, und an den leicht beißenden Geruch der wächsernen Larven, die sich unten auf dem Boden des Glasbeckens sammelten.

Ich hob die Wärmedämmung ab und warf von der Seite aus einen Blick hinein, um zu sehen, wie es den Tieren ging. Augenblicklich kam Bewegung in die Sache: ein zuckender Schwanz, Gewusel; die beiden Eidechsen wechselten blitzartig die Position und erstarrten. Eidechsen lassen sich nicht zähmen. Sie besitzen ein sehr kleines, urgeschichtliches Gehirn, das einem einzigen Prinzip gehorcht: dem Überleben. Eidechsen verbringen ihr ganzes Leben in höchster Alarmbereitschaft. Horchen auf verdächtige Geräusche, scannen mit ihren Echsenaugen fortwährend die Umgebung ab, registrieren mit ihren Zehen jede noch so leise Erschütterung, ständig bereit, der Hirnrinde eine einzige Nachricht zu senden: Flucht! Jetzt! Eidechsen denken nicht und wägen nicht ab; ist ein gewisser Grad an Reizüberflutung erreicht, rennen sie davon. Eidechsen sind ein lebendiger Selbsterhaltungstrieb auf vier geschmeidigen, flinken Beinen, und ihre evolutionäre Strategie ist so effektiv, dass sich noch heute auch in jeder höher entwickelten Spezies ein Stückchen Eidechsenhirn finden lässt.

Ich schob den Ärmel hoch und senkte behutsam die Hand in das Becken. Die beiden Tiere huschten mit kleinen Seitwärtsbewegungen der Beine und in einer Wolke aus Sand ans andere Ende des Terrariums – einen anderen Zufluchtsort hatten sie nicht. Langsam bewegte ich die Hand auf diese hintere Ecke zu; wieder schnelles Wühlen, dann schloss sich meine Hand um eins der beiden Tiere. Ich spürte, wie seine kleinen Muskeln in meiner Handfläche arbeiteten, wie es sich wand und mit den Hinterbeinen kratzte. Mit dem Oberarm presste ich mir die Chloroformflasche gegen die Brust, mit der freien Hand schraubte ich den Deckel auf. Ich drückte der zuckenden Eidechse das feuchte Tuch aufs Gesicht, dann wartete ich, bis alles still war. Ich schraubte den Deckel wieder zu und setzte mich an den Schreibtisch. Die Eidechse lag quer auf einem Stück Karton, die Haltung der Beinpaare eine Mischung aus sorgsam gerupftem Hühnchen und Comic-Frosch in anthropomorpher Hände-hoch-Pose. Ich nahm das Skalpell vom Tisch und machte mich daran, ihr den Bauch aufzuschlitzen und die Nerven freizulegen.

Irgendwann merkte ich, dass unten das Hämmern und Schlagen aufgehört hatte. Ich besitze die erstaunliche Fähigkeit, inmitten des größten Lärms arbeiten zu können, ohne etwas davon mitzubekommen, doch die plötzliche Stille beunruhigte mich. Nicht einmal das Geräusch des Spatens war noch zu hören. Irgendetwas stimmt nicht, dachte ich und ging die Treppe hinunter. Ich hoffte nur, dass sich nicht wieder ein neues Problem aufgetan hatte. Michaels Vater hatte uns genug Geld geliehen, um das Haus so weit herzurichten, dass wir die ersten Pensionsgäste aufnehmen konnten, aber um die laufenden Zahlungen leisten zu können, mussten wir so schnell wie möglich eröffnen.

Ich ging die Treppe hinunter und durchquerte mit verschränkten Armen die zugige Eingangshalle. Jedes einzelne der quadratischen Schiebefenster im Meereszimmer gab den Blick auf den Atlantik frei, und der Raum fühlte sich immer viel eher nach «Meer» als nach einem Zimmer an. Michael und Donny standen fast hüfttief zwischen den Bodendielen und starrten nach unten. Michael war eindeutig nicht erfreut, mich zu sehen.

«Was ist los?», fragte ich. «Sag mir ruhig die Wahrheit! Ist es etwa Trockenfäule?»

Donny wirkte beunruhigt und ernst. Michael war unter seiner Sommerbräune und dem Baustaub ganz blass um die Nase. In dem Zimmer herrschte Eiseskälte. In der Luft hing ein saurer Geruch nach Fäulnis und Feuchtigkeit.

«Ich will nicht, dass du das siehst», sagte Michael. «Es wird dir nicht gefallen.»

«Was ist es denn? Oh nein, bitte nicht noch eine Ratte!»

Ich balancierte über die letzten verbliebenen Dielenbretter an der Wand entlang und ließ mich in die Lücke zwischen den aufgestemmten Brettern hinunter. Der Erdboden war feucht und sandig, schmutzig und mit Schutt übersät. Zwischen Michael und Donny lag eine kleine, dunkelbraune Kiste, genauer gesagt eine kleine Metallkiste, die an manchen Stellen fast völlig verrostet war. Sie hatten sie offensichtlich gerade aus dem sandigen Boden gegraben.

Der Deckel stand offen.

Ich quetschte mich neben Michael, und er musste nach der Diele hinter sich greifen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

«Nicht!», sagte er.

Ich ging in die Hocke und sah in die Kiste. Die Erde unter dem ehemaligen Fußboden roch sehr sauer, der Geruch war beißend. Ich erblickte eine Ansammlung winziger Knochen, vermischt mit den zerfallenden Resten irgendeines Wollstoffs. Sie lagen da, als seien sie symmetrisch angeordnet worden. Ein winziger runder Schädel, wie von einem Kaninchen oder einer Katze. Die Knochen hatten einen gelblichen Farbton, sauber abgenagt von Käfern oder anderen Organismen, die wahrscheinlich im Laufe vieler, vieler Jahre ins Innere der verrosteten Kiste gelangt waren. Ich fragte mich, weshalb jemand eine Katze unter dem Haus vergraben hatte. Dann legte ich den Kopf schief und runzelte die Stirn.

Das war kein Haustier und auch kein anderes kleines Tier. Nein, das war ein menschlicher Schädelknochen, der eines Babys, aber alles war so winzig, dass das Kind entweder stark untergewichtig gewesen oder viel zu früh geboren worden war. Ich ließ den Blick über die Armknochen wandern und dann weiter hinunter zu den Beinknochen.

Da stimmte etwas nicht. Wo war das zweite Bein? Ich rutschte näher, registrierte, wie seltsam stark dieser einzelne Oberschenkelknochen ausgeprägt war, die lange Einkerbung, die sich mittig über die gesamte Länge zog, und dann wurde mir klar, dass gar keine Knochen fehlten, sondern dass beide Beine offensichtlich zu einem einzigen, sehr kräftigen Knochen verwachsen waren. Die Füße waren kaum zu erkennen und seltsam gespreizt, wie winzige Fortsätze.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich traute meinen Augen nicht.

Zweites Kapitel Ruth

Noch am selben Tag, an dem wir unter unserem Haus auf die Überreste gestoßen waren, kam die Polizei aus Tarbert zu uns. Sie parkten mit mehreren Fahrzeugen direkt auf der Wiese vor dem Haus und rissen schlammige Reifenspuren in die grüne Grasnarbe.

Als ich die Polizisten durchs Küchenfenster beobachtete, war ich plötzlich zurück: ein kleines Kind, alleine am Kanal, versteckt hinter dem Einsatzfahrzeug, während die Beamten sich damit abmühten, etwas aus dem Wasser zu ziehen. Mir war schwindlig, und mir stockte der Atem, als ich plötzlich erneut vor Augen hatte, wie der aufgedunsene Körper aus dem Wasser geborgen wurde.

Übelkeit überkam mich, und ich musste nach dem Küchenstuhl greifen. Ich senkte den Kopf und konzentrierte mich auf meinen Atem. Irgendwann richtete ich mich wieder auf und sah mich in der Küche um.

Michael ging hinaus, um die Polizisten zu begrüßen, und ich überließ es ihm. Ich versuchte, mich auf das Offensichtliche zu konzentrieren, und räumte das Frühstücksgeschirr weg, aber ich konnte nicht aufhören zu zittern.

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und fuhr zusammen.

«Alles in Ordnung?», fragte Michael.

«Es ist nur so kalt hier, wenn sie ständig rein- und rauslaufen.»

«Ich sage ihnen, sie sollen die Haustüre zumachen.»

Den übrigen Vormittag warf Michael mir, wann immer er ins Zimmer kam, einen besorgten Blick von der Seite zu.

Natürlich weiß Michael über meine Vergangenheit Bescheid. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht. Gleich am ersten Tag, an dem wir uns begegneten, habe ich es ihm erzählt: dass ich im Kinderheim aufgewachsen bin. Nachdem Mum gestorben war. Nachdem sie sich ertränkt hatte.

Er weiß es, und gleichzeitig weiß er nichts. Es gibt so viele Dinge über jene Jahre, die ich ihm niemals erzählen werde. Die ich nicht einmal mehr mir selbst erzähle.

Ich zog mir einen alten Pullover über, den Michael an der Küchentür hatte hängen lassen, und umklammerte mit meinen verfrorenen Händen eine Tasse Tee. Ich hörte sie rein- und raustrampeln, laute Stimmen, Türenknallen.

Ich trat hinaus in die Eingangshalle und sah die braunen, von den Stiefeln ins Haus getragenen Schlammspuren. Sie ruinierten den neuen Dielenboden, noch bevor wir Gelegenheit gehabt hatten, ihn richtig zu versiegeln. Aus dem Meereszimmer war zu hören, wie sich die Polizisten noch tiefer ins Erdreich gruben. Zitternd vor Zorn ging ich in die Küche zurück und schloss die Tür.

«Ich fürchte, es dauert mindestens noch zwei Tage, bis die Forensiker aus Inverness eintreffen», sagte Sergeant MacAllister und betrat die Küche, wohin Michael und ich uns verzogen hatten, um zu Mittag zu essen, so, als wäre alles ganz normal. «Es wäre vielleicht besser, wenn Sie für ein paar Tage ausziehen, bis wir die Überreste abtransportieren können.»

Der Wohnwagen fühlte sich klamm und unbewohnt an. Es roch wie in einer alten Keksdose. Außerdem war es trotz des Petroleumofens eiskalt. Alles, was ich anfasste, saugte mir die Wärme aus der Haut.

Der Tag war vergeudet. Ich goss Formaldehyd in die Schale mit dem Eidechsenpräparat und schob sie ins unterste Fach des winzigen Kühlschranks.

«Unfassbar, dass wir von dem Ding aus unserem eigenen Haus vertrieben werden!», sagte ich zu Michael, als wir in dem engen Bett lagen.

«Sie kommen es bald holen, und mit der Zeit werden wir vergessen, dass es jemals da gewesen ist.»

Er klang so sicher und zuversichtlich. Wir kuschelten uns eng aneinander, warteten darauf, dass uns warm wurde, warteten auf den Schlaf.

 

Am nächsten Tag setzte starker Wind ein. Ich erwachte im schalen Geruch des Wohnwagens. Mir war derart schlecht von der Erinnerung an die rostige Kiste mit den Knochen, die wie Überreste eines kleinen Tieres ausgesehen hatten, dass ich von dem Porridge, das Michael gekocht hatte, nichts essen konnte.

Michael ging rüber ins Haus, um das obere Gästezimmer zu tapezieren, und so nahm er den Hörer ab, als die Polizei wegen des Forensik-Teams anrief, das vom Festland kommen sollte. Ich hörte, wie der Wind die Wohnwagentür zuschlug. Michael kam herein. Er sah niedergeschlagen aus, die Haare vom Sturmwind nass und zerzaust.

«Die Fähre sitzt übers Wochenende in Uig fest.» Er setzte sich an den winzigen Tisch. Regenwasser tropfte von seiner gelben Öljacke. «Ich fürchte, wir können doch nicht so schnell zurück ins Haus, wie wir dachten, Liebes.»

«Du tropfst das Papier nass.» Ich war sauer. Alles lief verkehrt. «Das wirft uns um Wochen zurück. Vielleicht steht jetzt sogar die Eröffnung zu Saisonanfang auf dem Spiel. Wie sollen wir dann mit den Rückzahlungen anfangen?»

Ich blickte auf; Michael sah blass und besorgt aus.

«Na ja, wir können nichts tun, bis sie die … du weißt schon … die Überreste abgeholt haben.» Er seufzte. Er drehte die Zeichnung des Eidechsennervensystems zu sich herum und betrachtete sie. «Wie läuft’s? Das sieht schön aus. Wie die Adern eines Blatts.»

«Wenigstens kommt Geld rein, wenn ich damit fertig bin.»

«Ich mache besser auch wieder weiter. Wir haben keine Raufasertapete mehr, und wir brauchen neue Farbe. Donny und ich fahren rauf nach Tarbert zum Laden.»

Ich küsste seine kalte, nasse Wange und tupfte die Tropfen weg, die er auf dem Tisch hinterlassen hatte.

Während der nächsten Stunde arbeitete ich hochkonzentriert an der Zeichnung, vollkommen vertieft in die minuziöse Skizzierung von Nervenbahnen und fein verästelten Blutgefäßen, die darauf ausgelegt waren, die Eidechsenmuskeln beim allerersten Anzeichen von Gefahr mit Blut zu fluten.

Währenddessen pochte der Wind gegen die Wohnwagenseite, unablässig und rachsüchtig. Ich spürte den Luftdruck wie Wellen von Benommenheit über mir zusammenschlagen. Die Vibrationen ließen den Tisch erzittern. Gerade, als ich das Skalpell zur Hand nahm und damit begann, die winzigen Muskeln eines Vorderbeins einzuschneiden, traf eine besonders bösartige Böe den Wohnwagen; ich zuckte zusammen und schnitt mir in den Daumen, ließ das Skalpell fallen und fluchte.

Ich fand ein Pflaster und kämpfte mit dem Klebestreifen.

Für die Dauer eines Augenblicks stieg mir Mums Talkumduft in die Nase; die Erinnerung daran, wie sie ein Heftpflaster aufgerissen hatte; wie sie sich über mich gebeugt hatte, um mein aufgeschlagenes Knie zu säubern, an den beschwingten Klang ihrer Stimme, während sie die winzigen Spielplatzsteinchen entfernt und mir dabei von den Siths erzählt hatte, den von uralten Gletschern in die Landschaft gestreuten Felsbrocken, die sich in der Dämmerung in lustige, alberne Kreaturen verwandelten. Das raue, orangefarbene Pflaster hatte sich ordentlich auf meine Haut gelegt, die gesäuberte Wunde roch nach antiseptischer Salbe, und Mum hatte sich vorgebeugt, mich auf den Kopf geküsst und mich Mo Gaol genannt.

Mum stammte von den Inseln, doch sie hatte mich in London großgezogen. Ich war in einem Block mit Sozialwohnungen aufgewachsen, mit langen Ziegelbalkonen, die nach Chlorbleichlauge rochen, und mit Treppenhäusern, in denen es nach Urin stank.

Sie hatte mir nie erzählt, von welcher der Inseln genau sie stammte.

Mit der heilen Hand ließ ich den Deckel des Verbandskastens zuschnappen und schob ihn in den kleinen Küchenschrank zurück. Ich setzte mich wieder an meine Zeichnungen, doch der Regen trommelte inzwischen so laut aufs Dach, als würde jemand eimerweise Schotter auf den Wohnwagen kippen. Es war unmöglich, sich zu konzentrieren.

Ich saß da und sah durch das regennasse Fenster hinaus auf den plattgedrückten Strandhafer. Schließlich nahm ich ein neues Blatt Papier zur Hand und machte mich an eine weitere anatomische Skizze, brachte sämtliche Details des armen Kindes in seinem provisorischen, verrosteten Sarg zu Papier, an die ich mich erinnern konnte. Ich starrte das Ergebnis an, den Knochenfortsatz, dort, wo die Beine hätten sein sollen. Ich dachte an die Mutter. Fragte mich, ob sie es gewesen war, die ein Loch in den Boden unter unserem Haus gegraben, die kleine Kiste mit Erde bedeckt, die Bodendielen wieder festgenagelt hatte.

Während ich so dasaß und mit dem Bleistift auf die Kunststofftischplatte klopfte, kam mir ein Gedanke. Ich kannte jemanden, den ich zu einer derart seltsamen fetalen Missbildung befragen konnte. Ich lachte leise auf, weil ich nicht schon eher darauf gekommen war. Als ich nach längerem Herumkramen die Telefonnummer meines alten Anatomieprofessors in London gefunden hatte, beschloss ich, rüber zum Haus zu laufen, wo auf einem Hocker in der Eingangshalle unser nagelneues Telefon stand. Ich zögerte einen Augenblick, weil ich wusste, dass Michael und Donny nicht da waren, doch dann, ärgerlich über mein Zaudern, wickelte ich mich in eine riesige Öljacke von Michael ein und lief zum Haus – oder ließ mich vielmehr vom Wind hinüberblasen.

Ich zog die Haustür hinter mir zu, froh, dem Regen entkommen zu sein, und hängte die tropfnasse Jacke über den Treppenpfosten. Ich war bereit, ja fest entschlossen, Professor Carter anzurufen. Ich drehte mich um, um das Telefon zu holen, und ließ den Blick durch die kalte Eingangshalle schweifen. Wieder lag dieselbe Spannung in der Luft. Und wieder kam dieselbe Angst angekrochen, bemächtigte sich schleichend meiner Körpersysteme; mein Herz fing an zu hämmern; meine Hände wurden klamm und glitschig. Und wieder wurde ich von dem drängenden Instinkt überwältigt, der mir befahl, augenblicklich von hier zu verschwinden.

Doch dieses Mal kriegte sie mich nicht. Ich zog die Telefonnummer aus der Tasche, hob den Hörer ab und wählte.

So stand ich in der leeren Halle und wartete darauf, dass jemand abnahm. Die Muskeln in meinem Nacken waren angespannt, wappneten sich gegen die kalte Luft auf meiner Haut. Gegen sie. Ich wusste, dass es eine Sie war. Und ich wusste noch etwas – sie war kein neugeborenes Kind. Sie war älter, wissender.

Und ich wollte, dass sie verschwand. Ich hörte, wie irgendwo in London ein Telefon klingelte, und spürte eine Woge der Erleichterung, als ich plötzlich Professor Carters sanfte Stimme hörte.

Wir unterhielten uns ziemlich lange. Er sagte, er hätte von einem derartigen Phänomen schon gehört, dass es jedoch ziemlich selten sei. Er versprach, ein paar Informationen zusammenzustellen und sie für mich in die Post zu geben.

«Und Ruth, Sie wissen ja», sagte er. «Sollten Sie es jemals wieder zu einem Weihnachtsessen schaffen, wir vermissen Sie.»

Ich legte auf und ging zur Haustür hinaus.

Das Telefonat hatte leises Heimweh nach dem Professor und seiner Frau in mir geweckt. Damals, in meinem ersten Jahr an der Uni, als über Weihnachten sämtliche Wohnheime verlassen und alle Studenten nach Hause gefahren waren, hatten die beiden all die Einsamen, die nicht wussten, wohin, zu sich eingeladen. Für mich war es das schönste Weihnachtsfest seit Jahren gewesen, auch wenn es von einem alten Gefühl der Verbitterung überlagert wurde, von der Erinnerung an kaputte Spielzeugeisenbahnen und billige Barbiepuppenimitate mit flachsigen Haaren – inmitten von zerknülltem Geschenkpapier, das man in einem riesigen Haufen im Speisesaal des Kinderheims zurückgelassen hatte. Keine Ahnung, wer die Pakete damals geschickt hatte.

Andererseits: Hätte ich das Kinderheim damals nicht so sehr gehasst, hätte ich nie so viel Zeit in der städtischen Bibliothek verbracht.

Niemand will mit neunundzwanzig halbwüchsigen Teenie-Mädchen, wie ich eines war, zusammenleben. Es dauerte eine Weile, bis ich gelernt hatte, mich anzupassen. Bei Woolworths besorgte ich mir Ringe aus Stahl. Wurde ich in die Ecke gedrängt, bewies ich, dass ich auch austeilen konnte. Ich schnitt mir die Haare ab, trug Stahlkappenstiefel und einen schwarzen Crombie-Mantel – Skinheadkluft.

Wohin geht man, wenn man kein richtiges Zuhause hat? Man läuft stundenlang ziellos durch die Stadt, die Hände rot vor Kälte. Wohin geht man, wenn man zu denen gehört, die von den Leuten am liebsten übersehen, vergessen werden – wenn man zu denen gehört, denen alles zustoßen kann, ohne dass es jemanden kümmert?

Eines Nachmittags hatte ich mich vor dem eisigen Novembernebel draußen auf der Straße in die Marmorhallen einer Londoner Bibliothek geflüchtet. Es war ruhig, und in der Luft hing der Geruch von alten Büchern, und plötzlich fiel alles einfach von mir ab.

Die Abteilung mit den Nachschlagewerken mochte ich am liebsten. Ich ließ die Hand über die glatten Buchrücken gleiten und zog dann irgendeines heraus, rein zufällig. Ein ganzes Universum von Dingen, von denen ich nichts gewusst hatte. Auf diese Weise verbesserten sich meine Noten so sehr, dass ich zum Biologiestudium zugelassen wurde.

Das Jahr null. Die Universität. Man konnte jeder sein. Die Stahlkappenstiefel und die Ringe legte ich ab; und hatte offensichtlich gleichzeitig auch endlich den Mief abgelegt, von dem es in der Schule immer geheißen hatte, wir Heimkinder hätten ihn in unseren Klamotten hängen. Am ersten Tag des ersten Semesters reihte ich mich ein in die riesige Menge neuer Gesichter, ich trug ein paar nagelneue Jeans und einen Mantel, beides hatte ich mir von dem Geld gekauft, das ich im Rahmen meiner Ausbildungsförderung erhielt.

Die Bibliotheken auf dem Campus waren moderne Gebäude aus hellem Sichtbeton und Glas, und sie waren voller Menschen, die womöglich so waren wie ich, vielleicht würde ich auch so sein wie sie. Man konnte sich alles aus den Fingern saugen, alles neu erfinden, und niemand arbeitete härter daran als ich.

Während des zweiten Semesters lernte ich Michael kennen, in einem Waschsalon. Er trug meine Wäsche zusammen mit seiner zurück ins Studentenwohnheim. Ich hielt ihn für verrückt, und ich fand, dass er gut aussah – auf schafswollpulloverartige Weise, so wie die Dozenten – und außerdem so adrett und freundlich. Ich beobachtete ihn dabei, wie er mit den beiden Wäschesäcken hantierte. Er sprach sanft und war höflich – fast schon vornehm.

Michael besaß die Gabe des Sich-Kümmerns; er strahlte sie aus wie Wärme. Der erste Kuss war der erste Biss in den Apfel der Glückseligkeit.

Am Tag unserer Hochzeit saßen auf meiner Seite der Kirche keine Familienangehörigen auf den Kirchenbänken. Wir füllten sie mit Freunden von der Uni auf. Und mit Professor Carter und seiner Frau.

 

Als ich über die Wiese zurück zum Wohnwagen lief, verlor sich der eisige Griff um meine Hände. Draußen war es tatsächlich wärmer als im Haus, und nach dem Ende des Regens fühlte sich die Luft weich und feucht an. Auf der Küstenstraße näherte sich ein winziger Transporter. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte mit Erleichterung, dass es ein Polizeifahrzeug war. Die Fähre von Uig hatte es offensichtlich doch geschafft. Die Polizisten kamen bestimmt, um die sterblichen Überreste mitzunehmen.

«Wenn ich eines von damals weiß, als ich in der Zoologie ständig in Kisten mit Knochen rumgewühlt habe», sagte ich zu Michael, als wir wieder an unserem Küchentisch im Haus der Gezeiten saßen, «dann das: Dieses Kind ist vor mindestens hundert Jahren gestorben.»

«Ruth, es ist weg. Mir wäre lieber, wir würden nicht mehr darüber sprechen», sagte Michael, den Mund voller Toastbrot.

«Wie kannst du so was sagen? Wie hältst du das aus, nicht zu wissen, was hier passiert ist?»

Michael stand auf und ließ Wasser in die Spülschüssel laufen. «Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das im Mittelalter mal ein Kloster war. Ein befreundeter Archäologe erzählte meinem Vater eines Tages, dass in unserem Garten wahrscheinlich tote Mönche begraben seien. Selbst wenn dem so ist, sie haben uns nie gestört. Ruth, es hat keinen Sinn, über Dinge nachzudenken, die vorbei sind.»

Ich blieb am Tisch sitzen und strich mit dem Zeigefinger in einer Honigpfütze herum, bis Michael den Teller abräumte.

Ich stand auf, um das Geschirr abzutrocknen. Dann stapelte ich es auf dem Tapeziertisch und sah zum Fenster hinaus, hinüber zu der kleinen weißen Kirche. Das Auto von Pfarrer Dougal stand davor.

Wir hatten das Haus der Gezeiten von der Kirchengemeinde gekauft. Es war früher einmal das Pfarrhaus gewesen, doch als das Gebäude im Unterhalt schließlich zu teuer wurde, baute die Gemeinde ihrem Pfarrer einen hübschen Bungalow mit Kieselrauputz, unten in Tarbert. Die offizielle Adresse unseres Hauses lautete also «Zum Pfarrhaus», aber die wenigen Leute, die außer uns in der weit verstreuten Gemeinde Scarista lebten, nannten es nur das Haus der Gezeiten – Tigh na Mara. Es lag abseits der anderen Häuser am Rand des kilometerlangen, unbewohnten, wogenden Graslandes, das von einem Halbkreis aus Hügeln umgeben war. Das Meer war so nah, dass der Wind den Dünensand manchmal bis in die Eingangshalle wehte.

Wo man auch stand, überall im Haus war der sanfte Atem der Wellen zu hören. Der Blick aus den vorderen Fenstern wirkte wie ein Werbeplakat von den Bahamas, so türkisblau war das Wasser und so blendend weiß der Sand – nur dass am Strand statt Touristen im Bikini zerzauste Schafe herumspazierten.

Der ideale Ort für eine Ferienpension – bis jetzt.

«Ich glaube, ich gehe mal zu Dougal rüber und unterhalte mich ein bisschen mit ihm. Es gibt bestimmt Aufzeichnungen darüber, wer hier früher alles gelebt hat.»

Michael seufzte.

Ich betrat den ummauerten Friedhof und ging zur Kirche. Die feudaleren Grabsteine, inzwischen kreuz und quer geneigt, thronten auf einem sanft ansteigenden Grashügel. Unten hingegen standen die Grabsteine der ärmeren Leute, kaum mehr als ausgegrabene Ackersteine, ohne Inschrift. Es gab auch modernere Grabsteine mit harten Kanten. Sie standen ordentlich aufgereiht in der Nähe der Straße – jedenfalls war hier ausreichend Platz, um ein Kind angemessen auf einem Kirchhof beizusetzen.

Die Kirche war leer und still. Michael mochte die gälischen Gottesdienste; er empfand sie wie eine Art Meditation, beruhigend, doch bei mir führten die fremden Klänge der gesungenen Psalmen zu Beklemmungen im Brustraum und dem Drang, aufzustehen und mich zur Wehr zu setzen. Ich lebte jetzt seit ein paar Monaten auf Harris und bekam langsam eine Ahnung davon, weshalb Mum sich in London verkrochen haben könnte. Schließlich entstammte auch sie dieser strengen religiösen Gemeinschaft, bei der sonntags die Kinderschaukeln weggesperrt wurden und das Konzept der unverheirateten Mutter außerhalb der Bibel nicht existierte. Das machte mich bei der Begegnung mit dem armen alten Geistlichen Dougal jedes Mal aufs Neue aggressiv und streitsüchtig.

Ich fand ihn in der Sakristei. Er stand auf einem Stuhl und räumte einen großen, in die Mauer eingelassenen Schrank aus. Er trug, wie immer, einen schwarzen Anzug, und über dem weißen Priesterkragen leuchteten sein rosarotes Gesicht und die weißen Haare noch heller. Seine ältliche Haut wirkte überraschend glatt, so als würde der Inselregen sie jeden Morgen wieder reinwaschen.

«Ach, Ruth, Sie sind’s», sagte er und stieg behutsam von seinem Stuhl. «Was kann ich für Sie tun? Es tut mir sehr leid, dass Sie mit dem Pfarrhaus einen solchen Ärger haben. Wir hatten ja keine Ahnung!»

«Danke, Dougal, das ist auch der Grund, weshalb ich zu Ihnen komme. Ich würde gerne wissen, ob es in den Kirchenbüchern Aufzeichnungen über die Menschen gibt, die früher in unserem Haus gelebt haben, sagen wir, so etwa vor hundert Jahren.»

«Sergeant MacAllister hat mir genau dieselbe Frage gestellt, und deswegen bin ich jetzt hier, um die alten Register herauszusuchen. In diesem Schrank wurde jedenfalls seit Jahren nicht mehr richtig aufgeräumt. Sie könnten mir zur Hand gehen.»

Er wuchtete seine massive Gestalt wieder auf den wackeligen Stuhl und begann, mir verschiedene Dinge zu reichen. Ich nahm einen Stapel zerfledderter Gesangbücher entgegen, einen Haufen Pamphlete der Missionarsgesellschaft in dicker viktorianischer Schrift, stapelweise pergamentfarbene Registerbücher. «Ich glaube, das war alles», sagte er und beugte sich noch ein Stück weiter in den Schrank hinein. «Wobei …» Ich hörte etwas Schweres auf ein Holzbord fallen. Er zog ein kleines, in ein Tuch gewickeltes Bündel heraus, klopfte den Staub ab, reichte es mir herunter und ließ den Arm wieder in der Tiefe des Schrankes verschwinden.

Dann stieg er vom Stuhl und stellte einen kleinen metallenen Löwen auf den Tisch. Es handelte sich um einen Briefbeschwerer aus gelblich grün angelaufenem Messing. Der Löwe brauchte dringend eine Politur.

Das Bündel war in braunen Samt eingeschlagen. Der Stoff fühlte sich alt und seidenweich an, und als ich ihn aufschlug, stieg mir modriger Geruch in die Nase. Zum Vorschein kamen ein blau-rot marmoriertes Notizbuch und ein quadratisches, gläsernes Tintenfass mit eingetrockneter Tinte. Außerdem noch ein altmodischer Füller – eine Feder in einer Perlmutthalterung. Der Füllfederhalter schimmerte leicht, als ich ihn zwischen den Fingern drehte.

«Sieht aus wie das Predigtbuch eines Pfarrers», sagte Dougal, als er durch die Seiten blätterte. «Steht leider kein Name drin.» Er reichte mir das Buch. Ich musterte die Innenseiten des Einbandes.

«Aber ein Datum, sehen Sie?» Ich deutete auf die kleine Schrift in einer Ecke. «1860

Dougal zog ein Register aus dem Stapel auf dem Tisch. Die in verblassten, einst schwarzen Tintenstrichen verfassten Einträge waren vergilbt ins Papier gesunken. Er blätterte zurück bis zum Jahr 1860.

«Na bitte: Pastor Alexander Ferguson, im Jahr 1860 Pfarrer von Scarista.»

«Dann muss das hier ihm gehört haben.» Der Füllfederhalter war dekorativ geriffelt. Fast zu verspielt für einen Mann.

Dougal musterte noch immer mit gerunzelter Stirn die Einträge. «Nach dem, was hier steht, war er bereits mit sechsundzwanzig allein verantwortlich für die Kirchengemeinde. Keine einfache Aufgabe für einen so jungen Mann. Außerdem war Ferguson offensichtlich nicht verheiratet, von ihm kann das Kind also nicht gewesen sein.»

«Wir können ihn doch nicht nur deshalb von vornherein ausschließen, weil er unverheiratet war», sagte ich. Als ich Dougals verlegenen Gesichtsausdruck bemerkte, fügte ich eilig hinzu: «Wer lebte denn damals sonst noch in dem Haus?»

Er kramte noch einmal in dem Stapel und stieß schließlich auf ein dünnes Haushaltsbüchlein für den zum Pfarrhaus gehörigen Gutshof. Er schlug es auf und deutete auf eine Aufstellung des Personals und der betreffenden Gehälter für den Monat September 1860: Margaret Kintail, Moira Gillies, Effie MacAllister, diverse männliche Landarbeiter.

«Vielleicht hatte Ferguson überhaupt keine Ahnung, was unter seinem Dielenboden vergraben lag», sagte oder besser dachte ich laut. «Vielleicht war es das Kind von einem der Männer mit einem der Hausmädchen. Aber wieso um alles in der Welt haben sie es ausgerechnet unter dem Fußboden des Arbeitszimmers im Pfarrhaus vergraben?»

Auf der Rückseite eines alten Kirchenbriefs schrieb ich ein paar Einträge aus dem Register ab.

«Dougal? Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir Alexander Fergusons Notizbuch ausborge, um es zu lesen? Ich bringe es auch bestimmt zurück.»

«Sergeant MacAllister wird sich sicher kaum für ein altes Buch mit Predigten interessieren, und ich kann es mir genauso gut irgendwann später ansehen. Möchten Sie das Schreibset nicht auch mit ins Haus nehmen? Schließlich hat es irgendwann mal dorthin gehört, und ich weiß doch, dass junge Leute wie Sie solche alten Dinge mögen.»

Etwas in mir zögerte – eine unbestimmte Angst davor, zu viele Verbindungen zur Vergangenheit zu knüpfen. Ich tat es als Unsinn ab.

«Das ist wirklich nett von Ihnen», sagte ich. «Der Kamin im Meereszimmer ist fast fertig. Das Schreibset würde auf dem Sims sicher sehr hübsch aussehen.»

Dougal begleitete mich ins Freie, und wir standen beide im Wind und betrachteten den Friedhof. Er wirkte besorgt. Ich spürte, dass er noch etwas loswerden wollte.

«Die Sache mit Ihrer Mutter tut mir sehr leid, Ruth», sagte er schließlich. «Sie haben sie sehr jung verloren, und noch dazu unter so traurigen Umständen.»

Ich war bestürzt, weil er so plötzlich auf das Thema kam, und mir wurde klar, dass Michael mit ihm darüber gesprochen haben musste.

«Na ja», sagte ich. «Danke.»

«Und es muss umso schwerer für Sie gewesen sein, weil Sie keinen Vater hatten.»

Ich zuckte die Achseln. «Wissen Sie, Dougal, darüber spreche ich eigentlich nicht so gern.»

«Eines wollte ich Ihnen noch sagen, Ruth. Sobald die sterblichen Überreste auf die Insel zurückkommen, werden wir das Baby ordentlich bestatten.»

Ich nickte. Wir blieben schweigend noch einen Moment stehen und sahen dem wilden Schauspiel der riesigen Brecher zu. Weit draußen auf dem Meer türmten sich tiefblaue Wellen, von denen sich die Gischt löste wie feines, weißes Haar, das im Wind wehte.

«Außerdem habe ich mir überlegt», sagte er, «dass ich für Sie eine Haussegnung abhalten könnte, falls Sie das wünschen. Es könnte Ihnen dabei helfen, nach allem, was geschehen ist, besser zur Ruhe zu kommen.»

«Was meinen Sie damit, eine Haussegnung?»

«Wenn Leute in ein neues Haus ziehen, komme ich oft dazu und spreche in jedem Zimmer einen Segen. Zum Neubeginn.»

«Ich möchte nicht unhöflich sein, Dougal, aber ich fürchte, das ist nicht ganz mein Ding. Trotzdem vielen Dank.»

Er lächelte und nickte, und wir gaben uns die Hand.

Ich ging davon, fast versucht, mich umzudrehen und zu sagen, ja, kommen Sie rüber, jetzt sofort und machen Sie Ihre Haussegensache, aber es schmeckte zu sehr nach Aberglaube und Magie und Weihwasser, und außerdem war ich immer noch sauer, weil ich zugelassen hatte, dass meine alberne Nervosität meine Gefühle für das Haus der Gezeiten beeinflusst hatte. Nein, sollte in unserem Haus tatsächlich ein ruheloser Geist umgehen, gab es nur eine Möglichkeit, ihm Frieden zu geben: herauszufinden, was jenem Kind zugestoßen war.

 

Ein paar Tage später hörte ich, wie etwas auf dem Fußboden in der Eingangshalle aufkam, und lief hinunter, um die Post zu holen. Professor Carter hatte mir einen Umschlag mit Fotokopien von Bildern und Artikeln geschickt. Ich nahm sie mit zurück ins Bett und reichte sie nach dem Lesen an Michael weiter.

«Es gibt also ein sogenanntes Meerjungfrauensyndrom?»

Ich nickte. «Die wissenschaftliche Bezeichnung lautet Sirenomelie.» Ich zeigte ihm das grobkörnige Foto eines großen Probenglases, in dem in Konservierungsflüssigkeit der Körper eines Säuglings schwamm, das runde Gesicht friedlich, die Augen wie im Schlaf geschlossen. Der Oberkörper lief zu einem spitzen, seitlich leicht verdrehten Schlauch aus Fleisch zusammen. Am unteren Ende hingen zwei verformte winzige Füßchen, die an eine Flosse erinnerten. Es sah nicht eben hübsch aus. Michael verzog das Gesicht.

«So hätte das Meerjungfrauenbaby also ausgesehen?»

Ich nickte.

«Du liebe Zeit! Armes Ding.»