Frank Gerbert

Endstation Sarajevo

Die letzten sieben Tage des Thronfolgers
Franz Ferdinand

Eine Spurensuche von Böhmen bis Bosnien

INHALT

VORGESCHICHTEN

Eine weiße Gams. Eine ziemlich schwarze Seele. Reisen wie der Thronfolger: Von der Unmöglichkeit, ein Schlachtschiff zu chartern.

22. JUNI: CHLUMETZ, BÖHMEN

Ein überflüssiges Schloss. Das Liebesleben des Franz Ferdinand. Tschechen kontra Habsburger.

23. JUNI: WIEN

Der Nebenkaiser besucht noch einmal seinen Dienstsitz. „Schweinerei!“ – FF als Kunstrichter.

24. JUNI: STEIERMARK, KRAIN, TRIEST, FIUME

Ungern in Ungarn – warum FF einen Riesenumweg nahm. Erzfeind Italien. Des Thronfolgers Flotte. Die österreichische Riviera.

25. JUNI: SPLIT, METKOVIĆ, MOSTAR

Einst Dalmatien, jetzt Kroatien. Mit dem Bus zum Zug. Warum Bosnien zu Österreich-Ungarn gehörte.

26. JUNI: MOSTAR, BAHNFAHRT NACH SARAJEVO

Alte Brücke, neue Friedhöfe. Kirchturmpolitik. Die Habsburger – Ausbeuter oder Entwicklungshelfer?

27. JUNI: IVAN-PASS, ILIDŽA

Franz Conrad von Hötzendorf, Kriegstreiber. Oskar Potiorek, sein Konkurrent. Der Schatten des Oberst Redl. Warum FF vorzeitig abreisen wollte, es aber nicht tat.

28. JUNI, SARAJEVO

Der Bombenwurf. Die Ehre des Hauses Habsburg. Tödliche Fehler. Die Schüsse. Versuch, den Hass zu verstehen.

NACHGEDANKEN UND HINTERGEDANKEN

Ist FF in eine Falle gegangen? Warum hohe k. u. k. Militärs auf seine Ermordung hofften. Hätte ein überlebender Thronfolger den Weltkrieg verhindert?

DANK

LITERATUR UND MEDIEN

Reise Franz Ferdinands vom 23. bis 28. Juni 1914

Nur einem Freudenfeste
hab ich einst beigewohnt:
das war der Fall des Este –
der hat sich doch gelohnt.
Wie man es hinterbracht hat
ganz schonend mir und zart,
mein linkes Aug’ gelacht hat:
Schaut’s, der bleibt uns erspart!

Ein freudiges Erlebnis
für mich und für das Land
war das spanische Begräbnis
des Neffen Ferdinand.
Wir folgten unserem Hasse
auf lustiger Leichenfahrt.
Begräbnis dritter Klasse –
da blieb mir was erspart.

Recht g’schichts ihm, schmecks, nun büß’ er,
weil auf mein’ Tod er g’wart.
Der Geizhals war kein Grüßer
hat am Gemüt gespart.

Spottverse von Kaiser Franz Joseph I. auf den Tod des Franz Ferdinand von Österreich-Este, ihm in den Mund gelegt von Karl Kraus in der satirischen Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“

VORGESCHICHTEN

Eine weiße Gams. Eine ziemlich schwarze Seele. Reisen wie der Thronfolger: Von der Unmöglichkeit, ein Schlachtschiff zu chartern.

Das gespenstische Tier versteckt sich. Ich suche und suche und finde es nicht. Erst eine Dame vom Museum weist mich auf den Lichtschalter hin. Der liegt nun wirklich so weit unten, dass er leicht zu übersehen ist. „Weiße Gams – Bitte Knopf drücken“, steht da, was ich sofort tue. Hoppla – wo mich eben noch ein Hubertushirsch anstarrte, mit einem Kreuz aus Plexiglas zwischen den Hörnern, steht nun das Unglückstier vor einer Hochgebirgskulisse. Zack, da ist es schon wieder weg – und auf Knopfdruck sofort wieder da, denn hier haben sich die Museumsleute des „Hauses der Natur“ in Salzburg einen Beleuchtungstrick mit Zeitschaltung ausgedacht. Die weiße Gams steht seitlich in einer Nische, wird auf Knopfdruck grell beleuchtet, und ihr Spiegelbild überstrahlt auf einer diagonal gestellten Glasscheibe den dahinter befindlichen Hubertushirsch.

Neben der Gams wird dann auch ein Erklärschild lesbar: „Die Erlegung eines weißen Wildes soll nach altem Jägeraberglauben Unglück bringen. Der Gamsbock wurde vom österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand d’Este im August 1913 im Blühnbachtal (Salzburg) erlegt. Am 28. Juni 1914 – noch innerhalb der Jahresfrist – fiel der Thronfolger einem politischen Attentat zum Opfer.“

Unklar bleibt hier die Sache mit der Jahresfrist, deshalb muss ich ergänzen, dass der Sage nach der Erleger eines Albino-Tiers eben innerhalb eines Jahres mit einem unnatürlichen Ableben zu rechnen hat. Eine strengere Variante dieses Mythos besagt, dass nicht jeder weiße Bock tödlich ist, sondern nur, wenn es sich um ein „Satanstier“ handelt, eine Verkörperung des Teufels; ob das der Fall war oder nicht, weiß der Schütze erst ein Jahr später – wenn er dann noch lebt. Kronprinz Rudolf und Erzherzog Franz Ferdinand sollen weniger als ein Jahr vor ihrem jeweiligen Ableben Satanstiere erlegt haben, ebenso im Januar 1989 der Karpaten-Diktator Nicolae Ceauşescu, der dann an Weihnachten von Aufständischen hingerichtet wurde. Alle drei waren passionierte Jäger.

Rudolf, der einzige Sohn Kaiser Franz Josephs I. und Kaiserin Elisabeths, schoss 1888 also erst den fatalen Bock, dann im Januar 1889 auf seine aktuelle Geliebte und kurz danach auf sich selbst, worauf sein Cousin Franz Ferdinand zum Thronfolger wurde. Auch für ihn galt: erst weiße Gams, dann Jäger tot.

Nein, ich glaube natürlich nicht an derlei finsteres Geraune und habe das bleiche Wild hier nur zur Unterhaltung eingeführt. Allerdings: Bedenkt man, wie viele seltsame Zufälle und haarsträubende Fehlentscheidungen dazu beigetragen haben, dass der designierte nächste österreichische Kaiser bei einem dilettantisch ausgeführten Attentat ums Leben kam, und bedenkt man weiter, welche unfassbaren Katastrophen dieser Mord auslöste (nachdem freilich noch weitere Kausalereignisse dazugekommen waren), nämlich zwei Weltkriege mit bis zu 80 Millionen Toten, dann liegt es gar nicht so fern, hier an ein mythisches, satanisches Verhängnis zu glauben.

Ich möchte hier nicht Autoren wie Stephen King Konkurrenz machen, aber wenn ein Dokument stimmt, das mir das Haus der Natur in Salzburg im Nachhinein übersandte, wurde das unheilvolle Tier gar nicht im Blühnbachtal erlegt, wie im eigenen Museum behauptet, sondern weiter nördlich im Bluntautal, und zwar an einer Stelle, die in der Luftlinie (ich habe auf einer genauen Landkarte nachgemessen) nur etwa sieben Kilometer entfernt liegt vom „Berghof“ auf dem Obersalzberg, auf dem zwei bis drei Jahrzehnte später ein gewisser Adolf Hitler viel Böses ausheckte. Und da man nicht genau weiß, wo genau „in einem Lawinengraben über der Alpwinkelalm“ das Tier erlegt wurde, könnten es auch nur 6,66 Kilometer sein …

Im Salzburger Museum sieht das Tier indes alles andere als unheilvoll aus, sondern eher wie ein scheues, sanftes Reh. Seine braunen Kulleraugen sind herzerweichend, und in diesem Moment kann ich es sogar nachempfinden, wenn radikale Jagdgegner (zu denen ich mich nicht zähle) Jägern den Tod wünschen. Franz Ferdinand war ein besonders umtriebiger, manischer, vielleicht sogar psychopathischer Jägersmann, der einen erheblichen Teil seiner Zeit auf Erden damit verbrachte, Tiere totzuschießen. Sogar seinem Onkel, dem Kaiser, der selber gern jagte, wurde er dadurch ein bisschen unheimlich. Als der Neffe einmal im Lainzer Tiergarten, einem eingezäunten Wildpark bei Wien, mehrere hundert Abschüsse tätigte, soll Franz Joseph gesagt haben: „Unbegreiflich, das sind doch Haustiere!“

Nach offizieller Zählung hat der Thronfolger 274.899 Geschöpfe in Wald und Flur vom Leben zum Tode befördert, und es wären sicher noch hunderttausend mehr geworden, hätte FF (so sein offizielles Monogramm, das ich mir im Folgenden zu verwenden gestatte) nicht schon mit 50 Jahren sein Schnellfeuergewehr für immer aus der Hand legen müssen.

Ich möchte hier gleich klar sagen, dass der Hauptgegenstand dieses Buches kein Sympathieträger war und ist. Der „Wüterich“, so nannte man ihn in Kreisen der Armee, war weithin unbeliebt, ja gefürchtet.

Sozusagen als Vorgeschmack gebe ich hier eine Charakterisierung wieder, die von Josef Redlich (1869–1936) stammt, einem Juraprofessor, der zweimal Finanzminister in österreichischen Regierungen war und später in Harvard, USA, lehrte:

„Gegen den Erzherzog bestehen tiefe, in breite Volksschichten herabreichende Antipathien, sein herrisches Wesen, seine Bigotterie, seine in Geldsachen ganz unglaublich kleinliche und unwürdige Art, seine geschmacklose Kunstsammlerei, mit der er schon längst zum Schrecken aller Antiquitätenhändler geworden ist, die krankhafte Tötungssucht, die er am Wilde ausließ, seine jeden edleren Menschen verletzende Gewohnheit schimpflichen Misstrauens, die ihn jeder Denunziation zugänglich machte; dies und die beschränkt-bigotte, intolerante, hochmütige, alles perturbierende Art seiner Gemahlin haben ihn in Österreich und vollends in Ungarn höchst unbeliebt gemacht.“

Manche Biografen finden, dass Redlich etwas übertrieben hat, und stellen den Erzherzog und seine Frau in Nuancen sympathischer dar. Jedenfalls ist FF schon wegen seiner vielen drastischen Aussprüche eine sehr unterhaltsame Figur, und wegen seiner aus heutiger Sicht unglaublich reaktionären Ansichten.

Im Übrigen hoffe ich, dass meine Leserinnen und Leser mit mir der Meinung sein werden, dass schwierige und finstere Persönlichkeiten oft interessanter sind als brave Menschen. Verwiesen sei hier auf den ebenso berühmten wie berüchtigten Schauspieler Klaus Kinski (1926–1991), der nicht nur fast immer Kriminelle oder Wahnsinnige darstellte, sondern auch im realen Leben ziemlich unangenehm werden konnte. Franz Ferdinand könnte man als den „Klaus Kinski der Habsburger“ bezeichnen – ein Vergleich, der zugegebenermaßen hinkt, nicht nur wegen des markanten Gesichts Kinskis und des recht durchschnittlichen des Thronfolgers, sondern weil der erste ein extrovertierter, „getriebener“ und exzentrischer Mensch war, während der zweite eher den Typus des Biedermanns verkörperte, wenn auch cholerisch aufgeladen.

Es gibt sogar eine kleine Verbindung zwischen Kinski und dem Erzherzog: 1955, in einem seiner ersten Filme, durfte der Mime in einem deutschen Spielfilm über die Morde von Sarajevo mitwirken („Um Thron und Liebe“). Natürlich verkörperte er einen Bösewicht – nicht den Mörder Princip, sondern dessen Kumpel Čabrinović, der erfolglos eine Bombe auf FF warf.

Obwohl Ultrakonservativer, Antidemokrat und Militarist, muss man Franz Ferdinand doch eines zugutehalten: Er war in seinen letzten Jahren der Einäugige unter den Blinden in der Führungsschicht der Donaumonarchie – fast als einziger hat er sich dem dort erwogenen „Präventivkrieg“ gegen Serbien widersetzt, weil dieser, wie er überzeugt war, in einen großen europäischen Waffengang münden würde. Obwohl es nicht Pazifismus und Menschenliebe waren, die ihn dazu brachten, gegenüber den Monarchen Deutschlands, Großbritanniens und Russlands auf Entspannung zu drängen, sondern Pessimismus (ein Krieg, so glaubte er zu Recht, werde den Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerreißen), war er in dieser Frage weitsichtiger als die anderen. Und deshalb ist es von doppelter Tragik, dass mit ihm nicht nur ein einflussreicher Kriegsgegner erschossen wurde, sondern sein Tod auch noch von der Wiener „Kriegspartei“ dazu verwendet wurde, einen Angriff auf Serbien zu rechtfertigen.

Dass ich mich mit FF beschäftige, hat überdies einen familiären Hintergrund. Meine Großmutter erzählte gern von ihrer, und vor allem von ihres Vaters Begegnung mit dem Thronfolger. Mein Urgroßvater Jan Červenak, in Mähren, in einem Dorf in der Nähe von Brünn, geboren, schlug sich eher schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. Immerhin reichte es zum Heiraten und Kinder Großziehen, eines davon war meine Großmutter Cecilie, geboren 1905. Etwas später lebte die Familie knapp nördlich der mährischen Grenze, im Dorf Istebna im Kronland Österreichisch-Schlesien, wo mein Ahn als Heger in einem wohl staatlichen Forstamt angestellt war. Eines Tages erschien Franz Ferdinand im Ort, auch die kleine Oma Cilly hat ihn zu Gesicht bekommen. Es wurde eine große Treibjagd veranstaltet, denn der Thronfolger war seit seiner schweren Tuberkuloseerkrankung Mitte der 1890er-Jahre nicht mehr in der Lage, nach dem Wild zu pirschen; es musste ihm vor die Büchse getrieben werden. Um die Sache zu vereinfachen, hatte mein Urgroßvater vor ihm niederzuknien, sozusagen als Stativ, und FF, ihm den Gewehrlauf auf die Schulter legend, hat diverse Hirsche und Auerhähne zielsicher niedergemacht. Der gute Jan erhielt eine Silbermünze als Belohnung. Leider wurde er irgendwann später unter dem Vorwurf des Holzdiebstahls entlassen und versuchte daraufhin, in die USA zu emigrieren, kehrte aber von Hamburg unverrichteter Dinge zurück, weil er das zur Einwanderung zulässige Alter bereits überschritten hatte. Zum Glück ersparte ihm die Zahl seiner Jahre dann auch, als Soldat in den Ersten Weltkrieg ziehen zu müssen, und er starb erst Mitte der 1930er-Jahre.

In der Tat war der kurze Kontakt meines Vorfahren mit dem Erzherzog der entscheidende Grund dafür, dass ich mich für diesen zu interessieren begann, dadurch auf das Weltreisetagebuch des Habsburgers stieß und mich entschied, es in gekürzter und kommentierter Form neu herauszugeben. Franz Ferdinand hatte 1892 und 1893 von Kaiser Franz Joseph eine Bildungsfahrt um die Welt an Bord des damals modernsten k. u. k. Kriegsschiffs finanziert bekommen und darüber einen äußerst ausführlichen, recht offenherzigen und manchmal komischen Bericht abgeliefert.

Ich geriet in den Bann dieses seltsamen und schon zu seiner Zeit anachronistischen Menschen; erst durch die Beschäftigung mit ihm habe ich so recht verstanden, wie Monarchen dachten und fühlten, speziell die Habsburger in ihrer Endphase.

Vielleicht gibt es Österreicher, die die Nase darüber rümpfen, dass sich da ein Deutscher publizistisch an diesem Thema und dieser Persönlichkeit zu schaffen macht; ich bin aber so frei zu hoffen, dass mir die landsmannschaftliche Distanz sogar erlaubt, freier und unvoreingenommener an das Thema heranzugehen als mancher Einheimische. (Hilfsweise führe ich zu meinen Gunsten an, über meine Oma Cilly sozusagen Viertelösterreicher zu sein.)

Eines Tages stand jedenfalls die Idee vor meinen Augen, FF mit der eigenen Feder, richtiger gesagt, Tastatur, Tribut zu zollen und ihm 99 Jahre später auf der letzten Reise seines Lebens hinterherzufahren, jener von Ende Juni 1914 von Schloss Chlumetz in Böhmen bis zum Konak-Palast in Sarajevo, wo er sein Leben aushauchte. Gut vorbereitet durch die Lektüre fast aller erreichbaren Franz-Ferdinand-Biografien und Sarajevo-1914-Bücher, wollte ich mich an die Orte von damals begeben, um wie ein Detektiv möglicherweise noch das eine oder andere Indiz zu entdecken. Oder immerhin auf Informationen zu stoßen, die noch nicht in anderen Werken stehen.

Außerdem würde mich meine Reise zwingen, mich mit den postjugoslawischen Kriegen der 1990er-Jahre zu beschäftigen, was ich bisher immer vermieden hatte, weil ich mich damals aus Entsetzen über die Bestialitäten nicht genauer mit den Hintergründen beschäftigen wollte. Doch nun nach Mostar und Sarajevo zu fahren, ohne nach den Ursachen der Blutbäder zu forschen, deren Wurzeln noch in Habsburger Zeiten zurückreichen, ging einfach nicht.

Es erwartet Sie im Folgenden also ein Buch, das auf zwei, manchmal sogar drei Zeitebenen spielt: Ich schildere meine Erlebnisse im Jahr 2013, schiebe aber ein, was an denselben Orten 1914 passierte; gelegentlich kommen auch Ereignisse des Bosnienkriegs (von 1992 bis 1995) vor.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, Franz Ferdinand taggenau 99 Jahre später Kilometer für Kilometer exakt zu folgen, vom 22. bis zum 28. Juni 2013. Das konnte allerdings schon deshalb nicht ganz klappen, weil der Erzherzog von Triest bis vor die süddalmatinische Küste mit dem Schlachtschiff „Viribus Unitis“ gefahren war. Da ich nicht damit rechnen durfte, dass irgendeine Kriegsmarine der Welt mir ein ähnliches Gefährt zur Verfügung stellen würde (schon gar nicht, mangels Existenz, die österreichische oder ungarische), meine und meines Verlages Mittel mir auch nicht das Chartern einer Hochseejacht gestatteten und auch kein öffentlicher Schiffsverkehr zwischen Triest und Süddalmatien mehr existiert, musste ich eine andere Lösung finden.

Mit dem eigenen Pkw fahren und die Küstenstraße nehmen? Das erschien mir dann doch geradezu respektlos gegenüber Franz Ferdinand. Außerdem hatte dieser, mit Ausnahme der Schiffspassage (und der allerletzten Kilometer im Automobil), immer die Eisenbahn gewählt, das damals bequemste und schnellste Verkehrsmittel; alle Strecken, die er nahm, existieren noch heute. Als Sohn eines Eisenbahners und passionierter Zugfahrer war es mir zudem fast Pflicht, die Schiene zu bevorzugen; vom Zug aus würde ich überdies Ähnliches erblicken können wie damals FF.

Leichter gesagt als getan. Zuerst stellte ich fest, dass es, anders als 1914, keine nächtliche Zugverbindung mehr zwischen Wien und der Adria gibt, jedenfalls nicht auf der direkten Route über Laibach/Ljubljana, sondern nur per Umweg über Salzburg und Udine. Ich entschloss mich deshalb, tagsüber zu fahren, auf FFs Route über Ljubljana, hingegen das letzte Stück nicht nach Triest, sondern ins weiter südlich gelegene Rijeka zu nehmen, um von dort ein nächtliches Fährschiff nach Split zu besteigen.

Dass ich dann von Split bis in die kroatisch-bosnische Grenzstadt Metković mit einem schnöden Linienbus würde fahren müssen und in beiden Orten einen unnötig langen Aufenthalt haben würde, blieb nicht die einzige Komplikation. Es befuhren von Metković aus auch nur zwei tägliche Züge die Strecke nach Mostar und Sarajevo, die zwei Städte, die FF dann besuchte. Der erste unerreichbar früh, der andere recht spät. Um nicht nur einen Abend und eine Nacht in Mostar bleiben zu können, entschloss ich mich, einen ganzen Tag dort zu verbringen; der Thronfolger absolvierte nur eine einstündige Auto-Rundfahrt.

Noch komplizierter verhielt es sich schon beim ersten Teil der Reise von meinem Wohnort München nach Chlum in Tschechien und weiter nach Wien. Laut Zugauskunft würde ich für die etwa 400 Kilometer über acht Stunden unterwegs sein, mit mehrfachem Umsteigen. Die Fahrt von dort nach Wien würde dann noch einmal drei Stunden dauern. Hinzu kam, dass ich ganz gerne noch die Weiße Gams in Salzburg sehen und das Franz-Ferdinand-Museum in dessen ehemaligem Schloss Artstetten besuchen wollte. Letzteres wäre mit der Bahn noch einmal unverhältnismäßig zeitaufwändiger gewesen. So buchte ich schweren Herzens einen Mietwagen von Salzburg bis Wien und würde also die erste Teilstrecke von Chlum bis in die österreichische Hauptstadt nicht genau auf der originalen Strecke zurücklegen können.

Um mehr von den einzelnen Orten sehen zu können, war ich insgesamt etwas länger unterwegs als Franz Ferdinand, vom 21. bis zum 30. Juni. Fast immer betrug aber meine Abweichung von FFs Reiseplan nicht mehr als 24 Stunden. Dennoch gebe ich im Folgenden meine Fahrt im Zeitschema des Thronfolgers wieder, alles andere wäre zu kompliziert.

Habe ich Angst vor der Fahrt? Nein doch, ich bin nicht abergläubisch. Auch nicht wegen der ähnlichen Namen Franz und Frank. Obwohl … Dass man in Bosnien, wie es scheint, nicht einmal zum Pinkeln in die Büsche gehen darf, will man nicht riskieren, mit einem Bein weniger wieder daraus hervorzukommen (wegen Landminen), beunruhigt mich nicht wenig. Sicherheitshalber mache ich mein Testament. Meine Frau will nicht mitfahren, sie habe zu viel Arbeit, sagt sie, doch ich glaube, dass sie Bosnien nicht gerade als Traumziel betrachtet. Dass bekanntermaßen auch Franz Ferdinands Frau Sophie beim Attentat getötet wurde, dürfte ihre Reiselust zudem nicht unmittelbar gefördert haben.

Nach dem Besuch bei der Weißen Gams fahre ich von der Salzburger Innenstadt zum Flughafen, um meinen Mietwagen abzuholen. Es ist furchtbar heiß, 35 Grad oder mehr. Der Bus bekommt ein Problem mit den Türen, die nicht mehr ordentlich öffnen und schließen. An einer Haltestelle, in der Sonne, steht der Bus zehn Minuten still, es werden 15. Eine Durchsage gibt es nicht. Hinter uns hält der Folgebus an, ich steige um.

Als Franz Ferdinand am Morgen des 23. Juni 1914 am Bahnhof von Chlum seinen Salonwagen in Richtung Wien besteigen wollte, entströmte einem Radlager Qualm; es war heiß gelaufen. Der Wagen wurde aus dem fahrplanmäßigen Zug ausgekoppelt, FF musste mit einem Normalabteil vorlieb nehmen. Laut seinem Dienstkämmerer (persönlichem Assistenten) Andreas Freiherr von Morsey sagte er, an seine Frau gewandt: „Siehst du, so fängt es an, zuerst ein heiß gelaufener Waggon, dann ein Attentat in Sarajevo, und wenn das alles nichts hilft, eine Explosion am Viribus.“

Immerhin hat mein Bus nicht gequalmt.

22. JUNI: CHLUMETZ, BÖHMEN

Ein überflüssiges Schloss. Das Liebesleben des Franz Ferdinand. Tschechen kontra Habsburger.

Einen Kleinwagen hatte ich bestellt, einen BMW habe ich bekommen. Ein kostenloses Upgrade von drei Stufen! Die nette Tat entpuppt sich später als kalkulierte Aktion: Bis zum heutigen Tag erhalte ich Werbemails, in denen die Firma mir vorschlägt, doch übers Wochenende eine Nobelkarosse zu chartern. Anscheinend hat mich ein System-Algorithmus des Vermieters eingeordnet in die Kategorie: „Reifer Herr mit dem noch uneingestandenen Bedürfnis, ab und zu mit einem Imponierfahrzeug herumzukurven.“

Jetzt rolle ich mit dem schwarzen Gefährt in ein sehr kleines und sehr bescheidenes tschechisches Städtchen ein, Chlum u Třeboně; zu Franz Ferdinands Zeiten hieß es Chlumetz bei Wittingau. Manche Häuser sind renoviert, manche zeigen noch das typische Grauocker des Ostblocks.

In dieser Region und in der etwas größeren Stadt Třeboň, vormals Wittingau, war ich zufällig vor einem Jahr bereits gewesen – eine flachwellige, hübsche Gegend, ideal zum Radfahren, dazu die schöne Altstadt von Třeboň.

In riesigen Fischteichen werden die Weihnachtskarpfen für ganz Tschechien herangefüttert und im Herbst, nach dem Ablassen der Gewässer, aus dem Schlamm gezogen. Auch in Chlum gibt es einen großen Teich, an dessen Rand sich gerade Badegäste und Camper tummeln. Wenn ich länger auf die moorig-bräunliche Wasserfläche starre, sehe ich die Flossen von mutmaßlichen Karpfen aufblitzen.

Das Schloss liegt etwa 50 Meter vom Ufer entfernt, versteckt hinter einer Baumreihe. Kein Schild weist darauf hin und wem es einst gehörte. Der umliegende Garten ist als Stadtpark frei zugänglich.

Ich frage mich, wie Franz Ferdinand und die Familie die vielen Zimmer nutzten. Das Gebäude ist rund 50 Meter lang und 20 Meter tief, an der Längsseite zähle ich auf drei Etagen (dazu kommt noch ein Dachgeschoss) je 16 Fenster, an der Breitseite je sieben. Es müssen viele Gäste gekommen und viele Hausangestellte beschäftigt worden sein, damit es hier je einmal voll werden konnte. Welche Verschwendung für die paar Wochen im Jahr, die die Familie hier jeweils verbrachte! Nun, soziale Distinktion, auf die die Habsburger allergrößten Wert legten, geschieht auch durch die Zurschaustellung von sinnlosem Luxus.

Das Anwesen erbte, zusammen mit weiterem Großgrundbesitz und Kunstgegenständen, FF mit zwölf Jahren von seinem kinderlos gestorbenen, entfernten Verwandten Franz V. von Österreich-Este. Den hatten die Italiener aus seinen norditalienischen Besitzungen Modena und Este, einer kleinen Residenzstadt bei Padua, vertrieben. Bedingung der Erbschaft: FF musste seinem „von Österreich“ ein „Este“ anhängen – was er nur widerstrebend tat, weil er fürchtete, nun für einen „Katzelmacher“ gehalten zu werden (ein bayerisch-österreichisches Spottwort für Italiener, mit der Bedeutung „Kesselflicker“). In der Tat wurde er später von Feinden und Spöttern als „der Este“ gehänselt, freilich weniger mit der Assoziation „Italien“ als jener zu „Osten“ oder „Estland“, das Bild eines fremdartigen Außenseiters evozierend.

Immerhin war er nun ziemlich reich und damit unabhängig von der Habsburger Familienkasse, über die Onkel Franz Joseph wachte. Möglicherweise fiel es ihm deshalb besonders leicht, später Eigensinn an den Tag zu legen.

Statt Chlumetz zu seinem Hauptsitz zu machen, kaufte FF 1887 das Schloss Konopischt/Konopiště in Mittelböhmen und ließ es aufwändig umbauen. Wahrscheinlich war ihm Chlumetz zu klein und zu wenig herausragend, architektonisch und topografisch, und zu weit entfernt von den Metropolen des Reichs; Konopischt liegt auf einer Anhöhe ungefähr 40 Kilometer südöstlich von Prag.

In der sozialistischen Tschechoslowakei war im Schloss von Chlum offenbar ein Ferienheim untergebracht gewesen, davon ist aber heute noch weniger zu sehen als von der früheren Bestimmung. Das Gebäude ist verschlossen; der Blick durch die Fenster des Erdgeschosses fällt in leere, staubige Räume. Immerhin scheint die Fassade vor einigen Jahren renoviert worden zu sein, prangt recht hübsch in Hell-Ocker und Weiß und zeigt nur wenige rissige Stellen. Unter einer Uhr, die funktioniert, ist in römischen Ziffern das Jahr 1901 zu lesen, eventuell das Jahr eines Umbaus durch Franz Ferdinand. Zwei künstlerische Darstellungen sind erhalten, die Hinweise geben auf den ehemaligen Besitzer. Ein Wandbild im zweiten Stock zeigt Sankt Hubertus, dem der Hirsch mit dem Kreuz zwischen den Hörnern erscheint – Hubertus’ Züge ähneln entfernt Franz Ferdinand.

Weniger Harmonisches präsentiert indes das Standbild, das vor dem Hauptportal steht: Zwei riesige Bluthunde haben einen Hirschen halb niedergerissen und gehen ihm an die Gurgel. Nicht sicher, aber naheliegend ist, dass beide Werke noch aus der Epoche des fanatischen Waidmanns FF stammen. Vielleicht steht die blutrünstige Szene für den jägerischen Radikalismus des Erzherzogs in Chlumetz: Laut einem Bericht des Assistenten Morsey hat er in den Wäldern um das Schloss – der gesamte Besitz war etwa 90 Quadratkilometer groß – sämtliches Reh- und Rotwild abgeschossen. Den Besitz sollte einmal sein Sohn Ernst erben, und um die Wälder besonders profitabel zu halten, wollte er jegliche Schäden durch Wildverbiss vermeiden.

Am 19. Juni 1914 war Franz Ferdinand noch zu Gast auf Schloss Namiest bei Brünn gewesen, das einem Graf und einer Gräfin Haugwitz gehörte. Dort jagte er Tauben und Wachteln; der Franz-Ferdinand-Biograf Joachim Remak zitiert die Schlossherrin Jella von Haugwitz mit einer Bemerkung, der Thronfolger habe auf sie „ungewöhnlich deprimiert“ gewirkt und sei „voll von Vorahnungen“ gewesen.

Am 20. Juni traf FF mitsamt Familie auf Chlumetz ein. Einen Tag später erlegte er dort das letzte Tier seines Lebens. Der britische Biograf Gordon Brook-Sheperd schildert den Vorgang so: „Als sie im Wagen saßen, erschien eine Katze auf der Wiese. Der Erzherzog zielte mit der Pistole, die er stets zur Hand hatte, und indem er seinen Arm auf den Rücksitz stützte, tötete er sie mit einer Kugel. Es war der letzte Schuss, den er in seinem Leben abfeuern sollte; nicht gerade der Aufregendste zu guter Letzt.“

Leider bleibt uns Brook-Sheperd den Kontext schuldig: Hatte die Katze in Franz Ferdinands Wäldern Wilddiebstahl betrieben? Oder war sie ums Schloss geschlichen und der Besitzstörung schuldig geworden? Oder hatte FF einfach Lust aufs Ballern, egal, auf welches Tier? Auch ob die Katze bei den 274.899 vom Erzherzog zur Strecke gebrachten Tieren mitgezählt wird oder das 274.900ste war, muss offen bleiben.

Ein bemerkenswertes Fotodokument hat sich aus den letzten Tagen in Chlumetz erhalten: An der Seite seiner lächelnden Frau Sophie steht ein entspannter, ja fast glücklich wirkender FF. Von bösen Vorahnungen offenbart das Bild nichts, mit etwas Kühnheit könnte man gar vermuten, das Paar habe gerade einen erfreulichen Morgen im Ehebett verlebt. Fotos oder andere Bilddarstellungen zeigen in der Regel einen ernsten oder sogar finster dreinblickenden Mann, schon deshalb ist die Aufnahme außergewöhnlich.

Sophie hat ihn glücklich gemacht; doch Sophie war auch der Fehler seines Lebens. FFs ehemaliger Vertrauter Max Wladimir von Beck sagte nach dessen Tod: „Hätte Franz Ferdinand eine Ehe geschlossen, wie sie für einen Thronfolger vorgeschrieben war – die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen.“ Mit einer anderen Frau hätte der Thronfolger im Jahr 1914 bereits Kaiser sein, dem Attentat in Sarajevo entgehen und dann den Ersten Weltkrieg (vorerst?) verhindern können.

Dass Habsburger Herrscher im hohen Alter abdankten, war nichts Ungewöhnliches; Franz Joseph zählte Mitte 1914 schon 83 Jahre, kränkelte und wurde auch nach Ansicht ihm wohlgesonnener Beobachter langsam senil. Dass er dem Neffen die vorzeitige Thronbesteigung verwehrte, hatte zum einen den Grund, dass er diesen für politisch zu radikal hielt, zum anderen, dass er ihm die Ungeheuerlichkeit zutraute, nach seinem, Franz Josephs, Tod das Hausgesetz der Habsburger so zu verändern, dass FFs unstandesgemäße Frau Sophie Kaiserin und deren Söhne Thronanwärter hätten werden können. Dabei war Franz Ferdinand ein mindestens ebenso glühender Habsburger wie Franz Joseph – doch durch seine Missheirat hatte er es sich mit dem Onkel verdorben. Einer Absetzung als Thronfolger entging er wahrscheinlich nur, weil sich der nächste Kandidat, FFs Bruder Otto, durch eine Orgie mit nackten Gespielinnen im Hotel Sacher, bei der er selbst unbekleidet gesichtet worden war, unmöglich gemacht hatte. Und der nächste Kandidat, Ottos Sohn Karl, war noch ein Knabe.

Dabei hatte auch Franz Ferdinand den ersten Teil seiner Jugend mit „Wein, Weib und Gesang“ verbracht, wie er später selbst formulierte. Die praktische Einführung in die Sexualität gehörte durchaus zum Bildungsprogramm der Habsburger Erzherzöge, vom strengen Katholizismus der Dynastie waren sie insoweit dispensiert. Schließlich stellte es ihre oberste Aufgabe dar, später durch Anstelligkeit im ehelichen Schlafgemach den Fortbestand des Geschlechts zu sichern. Den jungen Prinzen wurden zum Üben von ihren Hofmeistern geeignete Frauen aus dem Volk zugeführt, die vorher noch auf Geschlechtskrankheiten untersucht worden waren; Freiwillige hat es wohl in ausreichender Zahl gegeben, auch Geschenke werden eine Rolle gespielt haben.

Dass auf diese Weise mancher „Bastard“ in die Welt gesetzt wurde, nahm man als unvermeidlich hin. Biograf Gerd Holler führt zwei voreheliche Söhne Franz Ferdinands auf (von unterschiedlichen Müttern), für die Alimente bezahlt worden seien.

Nach dem Suizid von Kronprinz Rudolf, einem noch regeren Frauenhelden, wird FF, nun auf einmal Kaiser in spe, etwas vernünftiger und scheint sich eine Dauergeliebte geleistet zu haben; jedenfalls durfte eine blonde Schauspielerin namens Mila Kugler in einem seiner Häuser in Wien mietfrei wohnen. Solche Damen, die das hoffentlich Angenehme mit dem Nützlichen verbanden, wurden damals „Kokotten“ genannt.

Noch in seinem Weltreisetagebuch von 1892 und 1893 kehrt Franz Ferdinand den Frauenkenner heraus, taxiert Australierinnen und Japanerinnen als schön, Inderinnen und Südseeinsulanerinnen als hässlich, findet auch immer wieder lüstern-ironische Bemerkungen dafür, dass ihm Landestöchter gemäß ihrer Stammessitte entkleidet gegenübertreten („sehr decolletiert“, „in Evas Costüme“).

1894 wird alles anders. Franz Ferdinand begegnet Sophie Chotek von Chotkowa – und wird erotisch seriös. Auf einer „Soirée dansante“ in Prag sollen sie sich begegnet sein. Ihr adeliger Vater hatte als k. u. k. Diplomat die unglückliche Ehe Rudolfs mit Stephanie arrangiert, der Tochter des belgischen Königs Leopold II., des Schlächters vom Kongo. Sophie war mütterlicherseits eine Kinsky, ebenfalls alter böhmischer Adel. Ein Cousin Sophies, Karl Graf Kinsky, hatte FF auf dessen Weltreise begleitet. (Der Schauspieler Klaus Kinski, aus Danzig stammend, trug einen Künstlernamen und hat mit den böhmischen Kinskys nichts zu tun.)