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  Nicola Vollkommer– Wie ich lernte, das Chaos mit Gottes Augen zu sehen | Andachten für Mütter– SCM R.Brockhaus

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999
Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)

Inhalt

Vorwort

Einführung

1. Das große Gekrabbel

Glücksmomente

Abschied von einer Illusion

Powerpaket für moderne Mütter

Die Schlecktüte

Ein Erbe, das es in sich hat

Gottes Unikate

Eltern – Erzieher der Spitzenklasse

2. Spaß mit Kleinkindern

Der Bastelabend

In der Wilhelma

Segen, der ansteckt

Das Vaterunser einer Mutter

Dem Lachen auf der Spur

Ein Kind, das das Weite sucht

Vom Bügeln und Beten

Von der Freude, Dinge zu besitzen

Wann sind wir endlich da?

Allein und glücklich

3. Die Schulzeit winkt

Loslassen

Kurzes Wort, langer Weg

„Ich habe eine gefährliche Mutter“

Gottes Festtafel

Gott sperrt sich aus

Ich und mein Haus

Was sind deine Hobbys?

Was uns ein Garten lehrt

Von Mücken und Kamelen

Nachmittagsspaß Hausaufgaben

Gottes Notenschlüssel

Der Anruf vom Lehrer

Der Gott, der Vögel mag

Was ist ein gut erzogenes Kind?

Die Kraft der unerfüllten Wünsche

Das Wunschkind

Die Großfamilie, die Kirche heißt

4. Die turbulenten Jahre

Bücher und Beziehungen

Party feiern – mal anders

Gottes Liebeskummer

Kaderschmiede für Superstars

Gott mutet es uns zu

Mit Humor gegen das große Schweigen

Karriere auf dem Reiterhof

Die digitalen Miterzieher

Großes Kino mit der Liebe Gottes

„Tolle Kinder hast du!“

Klothilde Hipp zieht ein

Wahre Schönheit

Sexgeplauder ohne Tabu

5. Das Leben danach

Den Segen wuchern lassen

Die Ernte

Midlife-Wellness

Das Nest leert sich

Wenn die Uhr abläuft

Vorwort

Kinder, Küche, Kirche – um diese drei Begriffe für die moderne Frau mit Leben, Lachen und Charme zu füllen, bedarf es einer gehörigen Portion Mut und Kreativität!

Dass Nicola Vollkommer davon genug aufbringt, zeigen ihre Erzählungen. Sie hat sich bewusst für das Leben als Mutter entschieden und sieht in dieser Berufung nicht nur eine einzigartige Chance, ihre Umgebung auf positive Weise zu prägen, sondern findet darin eine tiefe persönliche Erfüllung.

Wie jede andere Mutter ringt sie immer wieder um die richtige Einstellung. Wie jede andere Mutter hat auch sie mit Verletzungen, Ratlosigkeit und Frustration zu tun. Aber sie weiß, wo sie damit hingehen muss: zu Gott.

Mit der Bibel auf den Knien – mitten im Chaos der Kindererziehung! – bewältigt sie ihren Alltag. Darin liegt wohl das Geheimnis der Zuversicht, die diese Texte in jedem Mutterherz wecken können: dass es Zeiten gibt, in denen eine Mutter alles stehen und liegen lassen muss und besser zu Jesu Füßen sitzt und zuhört. Und wenn das absolut nicht geht, betet die Autorin beim Zusammenlegen der Wäsche über den T-Shirts und Turnhosen für das jeweilige Kind. Sogar die vereinzelten Socken geben ihr eine Inspiration, für die einsamen Menschen aus ihrem Bekanntenkreis zu beten. Sie tauscht sich mit ihren Freundinnen über die Teenagerphase ihrer Kinder aus und lernt das gemeinsame Beten und Lachen zu schätzen. Sie kümmert sich um Mütter, die mit ihren Aufgaben alleine stehen, und setzt sich für sie ein. Dabei kämpft sie gegen ihre eigenen Schwächen und hat keine Angst, ihre Leser daran teilhaben zu lassen.

Antworten auf die ganz alltäglichen Situationen im Leben findet sie in der Bibel. Damit vertritt sie Einstellungen, die in der heutigen Zeit altmodisch klingen mögen, beweist aber mit ihrem eigenen Leben, dass es sich lohnt, gegen den Strom zu schwimmen!

Krista Gerloff, Jerusalem, Israel,

Mutter von fünf Kindern, Autorin und begeisterte Bibelleserin

Juni 2013

Einführung

„Wessen Sohn bist du, junger Mann?“ (1.Samuel 17,58), fragte einst ein erleichterter König in Israel, nachdem ein unbekannter Jüngling mit einer einfachen Steinschleuder und einer Menge Mut und Gottvertrauen den Erzfeind Goliath besiegt hatte. Die gleiche Frage, nur dieses Mal an eine junge Frau gerichtet, hatte viele Jahre davor der Diener Abrahams gestellt, nachdem er bei der Suche nach einer Braut für den Sohn des Patriarchen am Wasserbrunnen der Stadt Nahors auf die anmutige und hilfsbereite Rebekka gestoßen war (1.Mose 24,23): „Wessen Tochter bist du? Sage es mir doch!“ Und weiter: „Gibt es im Haus deines Vaters Platz für uns zu übernachten?“

In der jüdischen Kultur der Antike ließen gut geratene junge Menschen offensichtlich auf kompetente Eltern schließen. Dennoch waren diese Familien alles andere als frei von Problemen. Hinter diesen beiden biblischen Gestalten standen Mütter, die zeitweise, genau wie wir, guten Grund gehabt haben müssen, an ihren Erziehungsfähigkeiten zu zweifeln. Über den Isai-Clan aus Bethlehem, aus dem David stammte, erfahren wir von heftigen Spannungen unter den Brüdern (1.Samuel 17,28). Als Rebekka Isaak heiratete, brachte sie eine Familienkultur voller Intrigen und Hinterhältigkeit aus ihrer Herkunftsfamilie mit, die ihr Sohn Jakob wohl in vollen Zügen erbte (1.Mose 31). Und dennoch ging ein Segen von diesen Häusern aus, der offensichtlich eine viel tiefere Grundlage hatte als die der reibungslosen pädagogischen Abläufe. Das macht Mut!

Das vorliegende Buch ist daher der Versuch, diesem Segen etwas mehr auf die Spur zu kommen. Dabei wollen die Alltagsepisoden keineswegs ein fachmännischer Ratgeber zum Thema Kindererziehung sein. Sie sind ein ehrlicher Streifzug durch die verschiedenen Phasen des Mutterdaseins mit seinen vielen Herausforderungen und Chancen – von der Geburt bis zum Auszug der Kinder –, der Fragen zur Erziehung im Licht biblischer Wahrheiten reflektiert.

In meinen eigenen Aufgaben als Mutter, Pastorenfrau und Lehrerin erlebe ich täglich, welchen Spannungsfeldern heutige Eltern in einer Gesellschaft ausgesetzt sind, die das Thema Mutterschaft auf ein Nebengleis stellt und als Beschäftigung abwertet, die mit dem optimalen Lebensglück nicht vereinbar ist. Gleichzeitig fordert sie eine Fürsorge – so wird uns vermittelt –, die der Hilfe einer Heerschar von Fachleuten bedarf. Und selbst dann ist es noch reine Glückssache, ob man damit gut fährt oder nicht. Diesen Erziehungstrend möchte ich mit großer Überzeugung und Freude infrage stellen!

Mein Gebet ist, dass unsere Familien und Kirchen wieder Orte werden, in denen die jungen „Davids“ und „Rebekkas“ unserer Zeit von ihren Müttern, Vätern und Mentoren lernen, auf den Gott der Bibel zu setzen, und dadurch in ihrer Generation Trendsetter zum Guten werden. Orte, in denen „Reisende“ unserer heutigen Welt, wie einst der Diener Abrahams, uns fragen: „Gibt es im Haus deines Vaters Platz für uns?“ Orte, in denen unser Lebensvermächtnis nicht in Reichtum oder Ansehen besteht, sondern – wie bei unseren jüdischen Vorbildern – im Wesen der jungen Generation, die wir prägen durften.

Die vier kleinen Charaktere Deborah, Stefan, Daniel und Jessica, die immer wieder in diesem Buch vorkommen werden, sind inzwischen erwachsene Menschen. Die zwei ältesten sind verheiratet. Mein Dank gilt ihnen für ihre Bereitschaft, Anekdoten aus ihrer Kindheit „freizugeben“, und meinem Mann, der diese Geschichten überhaupt erst möglich machte. Eine wunderbare Gemeinde lieferte mir den Beweis dafür, dass wir es gemeinsam zu viel mehr bringen, als wenn wir versuchen, als christliche Einzelkämpfer auf dem Feld der Kindererziehung zu bestehen.

Manche Namen habe ich geändert. Moni, Leonie, Gideon und Kerstin, Beatrice, Jane, Tim und Yannick, wie auch meine eigene Familie natürlich, gibt es aber in echt!

Nicola Vollkommer

Reutlingen

Juni 2013

1. Das große Gekrabbel

Babyfläschchen

Glücksmomente

Ich preise dich darüber, dass ich auf eine erstaunliche, ausgezeichnete Weise gemacht bin.

PSALM 139,14

Schnuller

In der Kopfform wittert man die Konturen von Onkel Otto, der Schmollmund ist ohne Zweifel der von Oma Emilie, und in den langen Klavierfingern erkennt man ein Gen des musikalischen Vaters. Diese Szenen kennen wir alle gut. Selten finden wir vernünftige Erwachsene so vergnügt und außer sich vor Glück wie nach der Geburt eines Kindes. Als Unbeteiligte empfinden wir das ganze Treiben als albern – bis es uns selbst überrollt. Denn welches menschliche Ereignis ist so alltäglich, aber gleichzeitig so einzigartig, dass alle Betroffenen sich für kurze Zeit in einem rauschähnlichen Zustand befinden und sich so benehmen, als ob es eine Geburt noch nie gegeben hätte? Genau das ist der Hauch des Übernatürlichen an der Sache. Die Schöpfungsgeschichte mit ihrer phänomenalen Gewalt – in Kleinformat im Kreißsaal des örtlichen Krankenhauses, für ein paar unvergessliche Augenblicke direkt in deinen, meinen Alltag hineinimportiert.

Es dauert allerdings nicht lange, bis Oma Emilies süßer Schmollmund Milchflecken auf der feinen Bluse hinterlässt, Papas Klavierfinger schwarze Schuhcreme in den neuen Teppich reiben, und Onkel Ottos elegante Kopfform auf ganz schön doofe Gedanken kommt. Auch dieser Teil der Schöpfungsgeschichte bleibt uns nicht erspart. Evas Dickkopf. Adams Feigheit. Viel zu schnell verfliegt die anfängliche Euphorie, die Glückshormone tauschen den Platz mit Migränen.

Oder ist es doch möglich, Augenblicke dieser Geburtsmagie in der Hitze des Gefechts wieder einzufangen? Ist die Schöpfung eines kleinen Menschen, an der wir Mütter teilhaben dürfen, weniger wundersam geworden, nur weil dieser kleine Mensch Zähne bekommt und ununterbrochen schreit?

Dort, wo Gefühle keine Tragkraft mehr besitzen, bleibt uns trotzdem – wenn wir es so wollen – die Macht guter Gewohnheiten erhalten. Kleine Rituale, die auch ohne Glückshormone funktionieren. Die richtige Gestik kann unter Umständen die „richtigen“ Gefühle wieder in die Gänge bringen.

Wenn ich zum Beispiel:

√ alles fallen lasse und mein Kind in den Arm nehme, wenn es vom Sportnachmittag oder vom Kindergeburtstag nach Hause kommt. Egal, wie dreckig und schlecht gelaunt es ist.

√ mein Kind – auch ohne konkreten Anlass – mit lieben Worten begrüße, sobald es morgens schläfrig im Bad erscheint, und es mit einem Ich-liebe-dich verabschiede, wenn es seinen Schulranzen schnappt und zur Haustür hinausgeht.

√ mich bewusst auf ein Grundmaß von Chaos in meinem Leben einstelle und diese Aussicht als abenteuerlich und interessant vermerke.

√ diese unaufwendigen Gewohnheiten gerade dann beachte, wenn ich schon wieder über Legosteine und Wäsche stolpere, die unaufgeräumt auf der Treppe liegen.

Nicht ohne Grund wurde das jüdische Volk dazu angehalten, die Taten des Herrn nicht zu vergessen. Die Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens wurde für alle Zeiten in der Liturgie des Passahmahls festgehalten. Die Erinnerung an Gottes Einbrüche in die Biografie seines Volkes war zu jeder Zeit präsent. Die Worte „und vergiss nicht all seine Wohltaten!“ (Psalm 103,2) hallen wie ein immer wiederkehrender Refrain in den Kapiteln der Schriften wider, immer mit der Aufforderung verknüpft, der jungen Generation davon zu erzählen.

Gott weiß nur zu gut, wie vergesslich wir sind und wie leichtfertig wir uns an den Segen Gottes gewöhnen oder ihn gar als Last empfinden. Immer noch stöhnt der Adam in uns, „Herr, es war die Frau, die du mir gegeben hast“ oder, übertragen auf unsere Familiensituationen: „ … die Kinder, die du mir gegeben hast.“

In Gottes Schule lernen wir aber fortwährend, die Dinge als Geschenk wahrzunehmen, die sich nicht immer wie ein Geschenk anfühlen. Menschen als Geschenke zu behandeln, die sich nicht wie Geschenke verhalten. Das Glück der ersten Tage festzuhalten.

Ein Vater in der Bibel hat es uns vorgemacht. Er „fiel ihm (seinem Sohn) um den Hals“ (Lukas 15,20), überglücklich und erleichtert – nachdem dieser ihm eine regelrechte Odyssee des Leidens zugemutet hatte. Es dauerte nicht lang, bis der heruntergekommene Junge, der in die Arme eines sehnsüchtigen Vaters geschlossen wurde, sich wieder wie ein Geschenk verhielt.

Dieser Vater hatte die ersten Augenblicke seines Elternglücks offensichtlich nicht vergessen, und wurde zum Symbol für jenen Vater aller Väter, „von dem jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden benannt wird“ (Epheser 3,14) und der jedes Kind „auf eine erstaunliche und ausgezeichnete Weise“ geschaffen hat!

Zum Nachdenken:

• Welche Gefühle hatte ich, als ich jedes meiner Kinder zum ersten Mal im Arm hielt? Am besten gleich aufschreiben!

• Welche Möglichkeiten habe ich am heutigen Tag, meinen Kindern von diesen Gefühlen zu erzählen?

Abschied von einer Illusion

Auch der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für sich, wo sie ihre Jungen hingelegt hat – deine Altäre, Herr der Heerscharen, mein König und mein Gott!

PSALM 84,4

Schnuller

Die Glasscheibe, die mich von dem Handvoll Mensch auf dem weißen Verbandmull trennte, kam mir wie eine dicke Betonwand vor. Anfassen durfte man, aber nur mit sterilisierten Händen. Was heißt anfassen. Viel zum Anfassen gab es nicht. Unter dem Gewirr von Kabeln und Schläuchen verriet nur das leise Zittern einer winzigen Fläche roter durchsichtiger Haut, dass da etwas lebte.

Im Vorfeld hatte ich mir viele Gedanken über das Muttersein gemacht – vor allem darüber, wie ich nicht sein wollte. Auf keinen Fall die klassische Schmusemama, die auf heißen Kohlen sitzt und beim kleinsten Pieps aus dem Kinderwagen in Aufregung gerät. Besonnen und nüchtern wollte ich sein. Konsequent, mit einem Mix aus Strenge und Kuschelfaktor, ja kein ständiges Geplapper über Windeln und Milchzähne. Goethe und Zeitromane müssten doch auch mit Wickelkommoden vereinbar sein.

Und jetzt saß ich am Brutkasten und jede Zelle meines Wesens hing an diesem 1 Kilo leichten Haufen Leben auf der anderen Seite der Glasscheibe. Ich schlief nachts mit dem Gebet ein, dass sie doch bis zum nächsten Tag leben würde. Ich wachte morgens mit der dumpfen Angst im Herzen auf, dass ich auf die Intensivstation gehen würde, und sie wäre nicht mehr da. Dem Baby neben ihr waren die Versorgungskabel ausgeschaltet worden, und ich hatte das Schluchzen gehört, als den Eltern die schlechte Nachricht offenbart wurde.

Irrationale Leidenschaften stiegen in mir hoch, von denen ich nie geahnt hatte, dass ich sie besaß. Den Satz, „ihr Zustand ist stabil“, konnte ich nicht mehr hören. Das sagten die Ärzte doch immer, wenn sie sich nicht festlegen wollten.

Unsere Einführung in die Welt der Elternschaft war eine Bauchlandung mit Schockeffekt. Ein Schweigen aus dem Bekanntenkreis deutete auf Ratlosigkeit. Glückwünsche oder Beileid? Lieber abwarten. „Deborah“ nannte wir sie, wie im Falle eines Mädchens schon geplant. „Nicole“ – „die Überwinderin“ – als zweiter Name. Zynismus oder Glaube? Wusste ich nicht. Mein Mann Helmut hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, dass das Kind leben würde und dokumentierte mit seiner Kamera die ersten zerbrechlichen Tage. Später würden wir diese Fotos schätzen, meinte er. Er las ihr stundenlang Psalmen vor, während er ihre winzigen Fingerchen durch das Loch des Brutkastens hindurch streichelte.

Die Vorgaben der Erziehungsbücher, die wir als Eltern im Wartestand studiert hatten, trieben mir durch den Kopf. Körpernähe nach der Geburt: ein Muss. Die Tragetücher waren im Trend. Vollstillen war das Gebot der Stunde. Unverzichtbare Schritte auf dem Weg zum rundum ausgeglichenen Kind. Bei uns waren nun schon alle guten Anfangsbedingungen verpatzt, bevor es überhaupt losgegangen war.

Am dritten Abend nach Deborahs Ankunft blätterte ich halbherzig in den Psalmen auf der Suche nach einem Funken Trost. Gott ein Versprechen abzuringen, dass mein Kind gesund sein würde, kam mir vermessen vor. Die Eltern neben uns hatten ihr Baby verloren. Auch sie hatten nach Hilfe geschrien. Warum sollte Gott uns bevorzugen? Meine Augen stolperten über den 84. Psalm.

„Auch der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für sich, wo sie ihre Jungen hingelegt hat – deine Altäre, Herr der Heerscharen, mein König und mein Gott!“ (Vers 4).

Die Altäre – Ort des Blutvergießens. Seltsam. Ausgerechnet dort bauen die Vögel ihre Nester. Ich blieb bei diesem Gedanken hängen und schrieb neben den Vers: „Der Ort des Opfers ist der Ort der Sicherheit“ und „Gottvertrauen von den Vögeln lernen“. Ein neues Bild ging mir kurz und flüchtig durch den Kopf. Meine Tochter, befreit von Geräten und Kabeln und vom Beatmungsschlauch, friedlich schlafend in der Hand Gottes, während er sich über sie beugte und sanft auf ihr winziges Gesicht blies.

Mir wurde schmerzhaft klar, dass das Kind seins, nicht meins, war. Mir ausgeliehen – für wie lange, das hatte er zu entscheiden. Der Ort des Opfers. Dort löst sich die Trennwand zwischen Zeit und Ewigkeit auf, und der Himmel bricht ein. Ich schlief ein und träumte von Engeln.

Am nächsten Tag schleppte ich mich drei Stockwerke hoch zur Intensivstation. Ängstlich, aber gefasst. „Unser“ Brutkasten stand nicht am üblichen Platz. Mein Herz raste. Jetzt war es so weit: Wir waren an der Reihe. Oder doch nicht? Die Schwester deutete grinsend auf einen Brutkasten weiter unten im Saal. Keine piepsenden Maschinen, kein Beatmungsgerät. Deborah lag auf ihrem Bauch, wie zusammengerollt, ein rosa Strickjäckchen bedeckte sie bis über die Füße, die winzige Windel bis zu ihrem Kinn. Wie eine kleine Schildkröte, dachte ich. Sie streckte ein Bein nach hinten und öffnete ein Auge. Zum ersten Mal begrüßte ich sie mit ihrem Spitznamen: „Debbie“.

Manchmal wird das Leben zurückgeschenkt. Manchmal nicht.

Der Abschied von Träumen und Hoffnungen muss nicht immer so dramatisch sein. Bauchlandungen gibt es in vielen Variationen und selten bleibt ein Elternpaar von ihnen ganz verschont. Man stellt sich voller Freude auf den kleinen Wonneproppen ein und bekommt stattdessen einen Schreihals mit Dauerblähungen. Man wollte unbedingt ein Mädchen – ein fünfter Sohn wird einem in die Arme gelegt. Man sehnte sich nach der Heimkehr vom Krankenhaus – das Baby muss auf die Intensivstation, weil die Herztöne nicht stimmen. Allesamt kleine Erinnerungen daran, dass unsere Kinder nach Gottes Ebenbild und nicht nur nach unserem geschaffen sind. Genau so, wie er sie haben wollte. Nicht, wie unsere Fantasie es vorschreibt. Wichtig ist, dass wir es so machen wie die Vögel: unser Nest in der Nähe seiner Altäre bauen. Denn dort sind unsere Kinder in Sicherheit. Nicht was für ein Kind ich bekomme, entscheidet über seine und meine Zukunft, sondern wem ich es anvertraue.

Zum Nachdenken:

• Hadere ich insgeheim damit, dass mein Kind nicht so ist, wie ich es haben wollte?

• Was könnte Gott mir dadurch sagen wollen?

Powerpaket für moderne Mütter

Gebt ihr von der Frucht ihrer Hände.

SPRÜCHE 31,31

Schnuller

Wer zu viel auf moderne Meinungsmacher hört, kann zum Ergebnis kommen, dass Muttersein eine Zumutung ist, die die schlanke Linie ramponiert, freie Abende sabotiert und die wüstesten aller Körpernarben hinterlässt: Schwangerschaftsstreifen.

Zugegeben: Eine Mutter zu belehren, dass Mutterschaft das höchste Glück ist – während ihr kleiner Schreihals laut brüllend eine Schneise der Verwüstung durch die Wohnung zieht –, das ist eine Zumutung.

Trotzdem lässt mich der weitläufig verpönte Dreierpack „Kinder, Küche, Kirche“, der in der Vorstellung des modernen Menschen grauenvolle Gespenster der mittelalterlichen Versklavung heraufbeschwört, nicht mehr los. Nehmen wir uns die drei Ks einmal vor – und zwar aus einem positiven Blickwinkel heraus.

K wie Kinder: Die offensichtliche Tatsache, dass eine Gesellschaft ohne Kinder nicht überlebensfähig ist und eine Kultur, in der Elternschaft wenig gefördert wird, ihren eigenen Untergang vorprogrammiert, ist für manche schwer zu begreifen. Es gibt jedoch über die Erhaltung der Spezies Mensch hinaus weitere Gründe, die für das Kinderkriegen sprechen:

Wenn es eine Kraft gibt, die den Bann der Selbstsucht im Leben eines Menschen brechen kann, ist es ein Kind. Denn der moderne Kult der Ich-Entfaltung ist in der Tat ein Fluch. Das Streben nach der Optimierung der eigenen Lebensqualität war noch nie der Schlüssel zum Glück. Wahres Glück entgeht dem, der es um seinetwillen sucht. Es ist nur als Nebenprodukt eines höheren Ziels erreichbar. Und nichts lenkt uns mehr von der Besessenheit mit unserem eigenen Ich ab als die Rund-um-die-Uhr-Anwesenheit von kleinen Wesen, die von alleine nie auf den Gedanken kommen, von sich aus ihre Spielautos in den Schrank zu räumen oder ihre Zähne zu putzen. Eigentlich sollten wir dankbarer sein. Wer kein eigenes hat, soll sich zu den Kindern anderer Zugang verschaffen. Kinder haben eine anmutige Art, uns von uns selber abzulenken und, wenn wir es wollen, aus uns bodenständige, zumutbare Menschen zu machen.

Und für diejenigen, die ihr Umfeld positiv beeinflussen wollen, sind Kinder Türöffner par excellence. Wer ein Kind hat, kommt immer und überall ins Gespräch.

K wie Küche: Nicht die Ketten am Herd, sondern die unzähligen Tischrunden, bei denen Jesus hungrigen Herzen und lauschenden Ohren seine Vision vom Reich Gottes erzählte. Die Feste, an denen soziale Außenseiter in seiner Nähe Heimat fanden, Sünder Vergebung und Gelehrte Unterweisung bekamen. Die Brotvermehrung am Berg der Seligpreisungen. Die Aufforderung an die Eltern des vom Tode erweckten Mädchens: „Gebt Ihr was zu essen!“ Gott mit einer Schürze um die Hüfte, einer Wasserschüssel in der Hand. Das Passahmahl kurz vor der Kreuzigung mit seinen unvergesslichen Worten: „Ich habe mich danach gesehnt, dieses Mahl mit euch zu feiern.“ Das Grillfrühstück am Seeufer nach der Auferstehung.

Verdummung? Unterdrückung menschlichen Potenzials? Weit gefehlt! Hier am Küchentisch Gottes musste man nicht erst etwas beweisen, nicht erst gut „ankommen“. Hier war man schon angekommen, hier war das Leben in seiner erfüllendsten Form, verkörpert in der Person Jesu Christi. Hier wird Individualität nicht gedämpft und Weiblichkeit nicht gönnerhaft belächelt. Sondern Menschen – auch und gerade Frauen – blühen auf und werden frei und wirksam.

Hier finden sowohl Männer als auch Frauen ihre wichtigste Identität, und zwar die, „in Christus“ gefunden zu werden. Von Christus bedingungslos geliebt, durch ihn belebt und befähigt. Die ersten, die vom Leben und Wirken einer 3-K-Mutter profitieren, werden ihre Kinder sein. Die „Frucht ihrer Hände“ wird sich sehen lassen können.

„The hand that rocks the cradle is the hand that rules the world“ („Die Hand, die die Wiege schaukelt, ist die Hand, die die Welt regiert“), schrieb einst der Dichter William Ross Wallace. Keine sentimentale Floskel aus einer verjährten Heimatidylle, sondern brandaktuelle Realität.

K wie Kirche: Im schlimmsten Fall unbequeme Kirchenbänke, blutleere Predigten, harmlose Kinderstunden mit Requisiten aus den Fünfzigern, alles etwas muffig. Zeitvertreib für weltfremde Traditionshüter. Im besten Fall und in ihrer nobelsten Form: Kirche als Wiege der Kreativität und der schöpferischen Innovation. Namen wie Bach, Händel und Paul Gerhardt kommen einem in den Sinn. Inspiration für gesellschaftliche Reform – Martin Luther, Elisabeth von Thüringen. Kirche, die für Gespräche sorgt, eine ganze Gesellschaft auf den Kopf stellt. Von wegen irrelevant. Kirche als Ort, an dem Menschen über sich selber hinauswachsen und zu Helden werden. Wer ist besser in der Lage, dazu etwas beizutragen, als Mütter?

Zum Nachdenken:

• Muss ich meine Sicht der Begriffe „Kinder, Küche, Kirche“ revidieren?

• Habe ich Jesus eingeladen, der Gastgeber an meinem Küchentisch zu sein und ihn zu einem Ort der Freude und der positiven Lebensgestaltung zu machen?

Die Schlecktüte

Doch wenn du willig auf seine Stimme hörst und wenn du alles tust, was ich sage, dann werde ich Feind deiner Feinde sein und deine Bedränger bedrängen.

2. MOSE 23,22

Schnuller

„Ja, wir besuchen den englischen Opa. Ja, mit dem Flugzeug.“

Debbies Augen leuchteten auf.

„Und Baby Stefan?“

„Der kommt natürlich mit.“

Ihre Augen schauten wieder ernst drein. Meine auch.

Eineinviertel Stunden im Flieger, eingesperrt mit einem kleinen Wirbelwind: Wenn das nicht der ultimative Test für elterliche Nerven war! Nicht weil Kinder sich in einem Flieger schlechter als sonst benehmen, sondern weil es dort keinen Fluchtweg gibt, dafür ein aufmerksames Publikum. Allein der Gedanke daran löste in mir eine beklemmende Platzangst aus. Wie machen es bloß Eltern, die zwölf Stunden fliegen müssen? Im Vergleich dazu war ein Flug nach England ein Zuckerschlecken.

Das Ganze wurde erst mit Stefans Ankunft ein Problem. Debbie war von Anfang an leicht zu parken. Man setzte sie hin, drehte sich für ein paar Sekunden um, und fand sie nachher an exakt der gleichen Stelle wieder. Außerdem hörte man immer, wo sie war. Denn sie kommentierte ihre Umgebung lautstark und ununterbrochen. Schwer zu orten – auch aus der Entfernung – war sie also nicht.

Nicht so Stefan. Egal wo der Kerl hingesetzt wurde, in einem Bruchteil von einer Sekunde war er weg. Er robbte jede Fläche entlang, über jedes Hindernis, um jede Kurve herum, nicht nur in einer rekordverdächtigen Geschwindigkeit, sondern auch in die kleinsten Löcher und Winkel hinein. Ihn auch in normalen Umständen zu bewachen, war ein schweißtreibendes Geschäft.

Eine Freundin tröstete mich: „Ganz verlieren kannst du ihn im Flieger nicht.“

„Aber beinahe“, erwiderte ich.