Judith Brandner

ZUHAUSE IN
FUKUSHIMA

Das Leben danach:
Porträts

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00916-4
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
unter Verwendung eines Fotos von Katsuhiro Ichikawa
Typografische Gestaltung, Layout: Kurt Hamtil, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALT

Eine Reise nach Fukushima

F U K U S H I M A

Die Biobäuerin Sachiko Sato

Der Komponist und Dirigent Takehito Shimazu

Die Waldorfkindergärtnerin Sadako Monma

Der Biobauer Kei Kondo

Der Arzt und Diplomat Ryohei Suzuki

M A T S U M O T O

Die Familie Hashimoto

K Y O T O

Das neue Leben von Yuko Nishiyama

Die Umweltaktivistin Aileen Mioko Smith

T O K Y O

Der Undercover-Journalist Shun Kirishima

Der Maler und Künstler Naoto Nakagawa

Der Journalist Yasumi Iwakami

Der Fotograf Katsuhiro Ichikawa

Epilog

Danksagung

Das Gedächtnis der Menschen ist mit einem bestimmten Ort, einem bestimmten Flecken Erde verbunden. Und jetzt wurde diese Erde, die sich in die Erinnerung der Menschen

eingegraben hat, verseucht. Sie können nicht mehr zurückkehren.

Das verursacht einen Schmerz, der alles durchdringt.

Yasumi Iwakami

EINE REISE NACH FUKUSHIMA

Am Tag meiner Ankunft in Tokyo fegt ein gelblicher Sandsturm über die Stadt. Es ist März 2013. Der Himmel hat sich in den Hochhäusern verfangen. Novembernebel in Beige. Tokyo in Pastell. Die Menschen tragen Masken und eilen gesenkten Kopfes dahin. Es ist beinahe finster, mitten am Nachmittag. Eine Staubschicht wird auf den Blättern der Bäume und Sträucher und auf den Steinfiguren im japanischen Garten des Hotels zurückbleiben. Niesreiz.

„Der Sand kommt aus China“, sagt die Verkäuferin im Designerladen, bei der ich ein Set aus sieben silbrig-roten Knöpfen in Fischform kaufe. Fischknöpfe aus Japan – bei jeder Nachrichtenmeldung über das Wasser, das aus den Auffangbecken mit dem verseuchten Kühlwasser ins Meer sickert, nehme ich sie aus der Schatulle und sehe sie mir an. Aufgenäht habe ich sie bisher nicht. Die Kleider in der Boutique sind aus edlen Seidenstoffen, inspiriert von japanischen Kimonos, und sie sind teuer. Die Verkäuferin hat Silberfäden im Haar, sie wiegt bedenklich den Kopf und ihr Blick sagt alles: „Aus China!“ Später werde ich in der Zeitung die China-These bestätigt finden. Der Sand ist mit winzigen Partikeln in Bakteriengröße vermischt, die bis in die Lungenbläschen gelangen können: Feinstaub, PM 2,5 ist der Fachausdruck dafür. PM 2,5 wird in den nächsten Wochen das mediale Thema im Land sein, auch dann, wenn der Sandsturm längst vorüber ist. Der importierte Feinstaub ist, so scheint es, ein willkommener Stoff, um die hausgemachte Radioaktivität aus dem Bewusstsein zu verdrängen.

Tags darauf weckt mich kurz nach fünf Uhr früh ein Erdbeben. Es ist der Tag meiner Reise nach Fukushima. Es gelingt mir nicht, den Fernseher in Betrieb zu nehmen. Radio. Die japanische Rundfunkgesellschaft NHK bringt Nachrichten. Die Frauenstimme erzählt von der Kirschblüte. Nach einer gefühlten Ewigkeit eine Unterbrechung: Eine dunkle Männerstimme meldet das Beben, fügt hinzu, dass keine Tsunamigefahr bestehe, und verliest eine lange Liste von Orten, an denen das Beben zu spüren war und in welcher Intensität. Es war nur leicht. Kein Mensch wird es erwähnen.

Ich breche auf nach Fukushima. Auf dem Weg zum Bahnhof tritt aus dem Nebel ein Mann auf mich zu, als habe er auf mich gewartet. Er trägt mehrere Schichten schmutziger Kleidung, Lappen um die Füße, einen Plastiksack in der Hand. Er legt eine Hand auf seinen Bauch, hält die andere zu einer Schale gekrümmt nach oben. Er habe heute noch nichts gegessen. Der erste Bettler in Japan, der mich anspricht, seit ich das Land vor fast dreißig Jahren zum ersten Mal betreten habe. Ich drehe mich abrupt und wortlos von ihm weg und laufe fort, bis mich der Bahnhof verschluckt hat. Der Gedanke an meine merkwürdige Reaktion wird mich die ganze Reise über verfolgen.

Auf dem leeren Sitz neben meinem reservierten Platz im Zug hat jemand ein Buch vergessen: „Einhundert Erzählungen von einhundert Menschen aus Fukushima“. Ich nehme den Band zur Hand und sehe das Projekt, das ich im Kopf habe, von einem japanischen Kollegen schon realisiert. Der Journalist und Gründer der Internetplattform Independent Web Journal, Yasumi Iwakami, hat einhundert Menschen danach gefragt, wie sich ihr Leben durch die atomare Katastrophe verändert hat, und sie legen Zeugnis ab vom Geschehenen und sprechen über ihr Leben im unsicheren Heute. Aus diesen Mosaiksteinen entsteht ein Bild der menschlichen Tragödie von Fukushima, die ebenso schwer wiegt wie die unsichtbare radioaktive Gefahr.

Unter den Porträtierten ist auch Sachiko Sato, die ehemalige Biobäuerin aus Kawamata-Machi, Gründerin der NGO „Fukushima Netzwerk zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität“, die ich in ein paar Tagen in Fukushima-Stadt treffen werde. Eine ernüchterte Sachiko Sato wird mir gegenübersitzen, und dennoch sagen: „Ich kämpfe gegen die Atomenergie, bis ich sterbe!“ Auf den Fotos, die der Fotograf Katsuhiro Ichikawa auf ihrem Bauernhof machen wird, steht sie verloren inmitten wuchernder Vegetation. Von ihr erfahre ich zum ersten Mal von den schwarzen Plastiksäcken in der Landschaft. Auf ihrem Laptop zeigt sie mir Bilder der Säcke, die sich am Waldesrand in der Nähe ihres verlassenen Hofs türmen, vollgestopft mit verstrahltem Erdreich, Zweigen, Blättern. So sehen heute in Fukushima Zwischenlager aus. Die Flora von Fukushima ist zu radioaktivem Müll geworden. Die Säcke werden mir auf meiner Reise überall begegnen – als Mahnmale einer untergehenden Technologie.

Weil in der Präfektur ganze Landstriche vergreisen und veröden, setzen Regierung und Behörden alles daran, die Leute aus ihren Behelfsquartieren an ihre Heimatorte zurückzuführen. Dekontaminierung ist dabei das Zauberwort. Die bisherigen Evakuierungszonen werden wieder und wieder neu eingeteilt. Immer mehr verseuchte Gemeinden werden für Rücksiedler freigegeben. Als zusätzliche „Motivation“ für eine Rückkehr streicht Tepco den Betroffenen ein Jahr nach Aufhebung des Rückkehrverbots die monatliche Zuwendung, die sie als Kompensation für den Stress der Aussiedelung bekommen haben. Gleichzeitig sprechen nun auch hochrangige Politiker aus, was ohnehin jeder weiß: dass manche Gegenden für immer unbewohnbar sein werden.

Die Japan Times bringt eine Bevölkerungsstatistik von Fukushima: Immer noch sind rund hundertfünfzigtausend Menschen displaced, mehr als ein Drittel davon außerhalb der Präfektur. Das Wort weckt Assoziationen an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa: Die Befreiten aus den Konzentrationslagern, die nicht mehr in die einstige Heimat zurück konnten oder wollten, die nirgendwo mehr hingehörten, weil es auf der Welt keinen Platz mehr für sie gab. Menschen auf der Reise, das sind auch die Evakuierten aus Fukushima und jene zahlreichen Menschen, die „freiwillig“ weggezogen und nicht statistisch erfasst sind.

Einige von ihnen bekommen auf meiner Reise ein konkretes Gesicht: Masako und Kaya Hashimoto etwa, denen ich bis in die japanischen Alpen nachreise, um ihre Geschichte aufzuzeichnen. Oder die Kindergärtnerin Sadako Monma, die ihren Waldorfkindergarten an einen weniger verstrahlten Ort in der Präfektur Fukushima übersiedelt hat. Nun ist sie zwar in sicherer Umgebung, aber es kommen keine Kinder mehr zu ihr. Die Geschichten der Flüchtlinge ähneln einander: Mutter mit Kind oder Kindern weggezogen, Vater zurückgeblieben, um zu arbeiten. Psychische und finanzielle Probleme aufgrund der Trennung. Der Vater versteht die Angst der Mutter nicht, hält ihre Flucht für eine überzogene Reaktion, weil er den beruhigenden Worten der Behörden glaubt, sie jedoch nicht. Streit um die tatsächliche Gefahr. Entfremdung. Scheidung. Schulischer Leistungsabfall bei Kindern und Jugendlichen. Gewalt, Depression, Rückzug, Alkoholmissbrauch. Vereinzelt aber auch Fälle von Frauen, die aus der Trennung von ihren Partnern neues Selbstbewusstsein schöpfen, ein neues Leben aufbauen und genießen, wie das Beispiel von Yuko Nishiyama in Kyoto zeigt, die ich gegen Ende meiner Reise treffen werde.

Ich verlasse den Bahnhof. Vor dem Ostausgang sitzt ein Klavierspieler aus Bronze. Jede Stunde erklingt aus seinem mechanischen Inneren ein anderes Lied. Um 17 Uhr ist es die „Fukushima Serenade“. Eine dünn und blechern klingende, aber fröhliche kleine Melodie. Nach dem 11. März 2011 scheint es obszön, an diesem Ort etwas anderes als ein Requiem zu spielen. Doch Fukushima tut, als wäre nichts gewesen. „Besuchen Sie Fukushima!“, werben bunt bebilderte Prospekte mit den Sehenswürdigkeiten und kulinarischen Köstlichkeiten der Region im Tourismuskiosk am Bahnhof. Die Mädchen in der Stadt tragen Miniröcke, die knapp unter dem Po enden, dazu Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen, geschätzte zehn bis fünfzehn Zentimeter, in den unglaublichsten Farben und Stilen: rosa Lack ist in, auch mehrfarbige Plateaus oder roter Lack in Kombination mit Kunstpelz.

Die Angestellte an der Hotelrezeption in ihrer Uniform, deren blasses Braun-Rosa an die Farben der öffentlichen Toilettenanlagen erinnert, ist von einer penetranten Geschäftstüchtigkeit. Ehe ich nachdenken kann, bin ich Mitglied der Hotel-Billigkette. Das Foto für die Plastikkarte wird sofort gemacht, es zeigt mich mit fischförmig verzogenem Gesicht, von oben strahlend weiß angeleuchteten und struppig ins Gesicht fallenden Haaren. Die Clubkarte gilt in allen Hotel-Filialen in ganz Japan und bei jedem Aufenthalt werden Punkte gutgeschrieben. Am Ende meiner Reise werde ich bereits eine Gratisübernachtung bekommen.

In der Lobby des Hotels, neben dem Aufzug, werden täglich die Schildchen mit den Radioaktivitätswerten aktualisiert. Am Tag meiner Ankunft sind es in der Lobby 0,06 Mikrosievert, in den Zimmern 0,05. Innerhalb der nächsten vierzehn Tage steigen die Werte um jeweils einen hundertstel Prozentpunkt.

Schräg gegenüber vom Hotel hat das japanische Umweltministerium ein Informationsbüro zum Fortgang der Dekontaminierungsarbeiten eingerichtet. Puraza nennt sich das auf Japanisch, und der für japanische Ohren exotische Klang dieses Wortes weckt Bilder sonnenüberfluteter, mittelalterlicher Plätze in Europa, auf denen fröhliche Menschen in Straßencafés sitzen und Cappuccino trinken. Im Inneren der puraza, die große Auslagen zur Straße hin hat, langweilen sich zwei Mädchen in grüner Uniform. Zu sehen sind PCs, die niemand benützt, Schautafeln mit Fotos, die Menschen bei der Dekontaminierung zeigen, Plakate mit Auflistungen von Zahlen und Orten. Wann immer ich in den nächsten Tagen vorbeigehen werde, wird der Laden leer sein. Egal mit wem ich über die puraza spreche, die Reaktion ist immer ein verächtliches Schnauben und eine wegwerfende Handbewegung. Die Institution spiegelt exemplarisch das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten wider: mit Hochglanzbroschüren und Zahlen, die keiner nachvollziehen kann, werden Aktivitäten „im Sinne der Bevölkerung“ vorgegaukelt. Niemand vertraut der Einrichtung, niemand traut ihr etwas zu, aber sie legitimiert die Existenz der Bürokraten.

Ein Flugblatt weist auf eine kommende Informationsveranstaltung für die Bürgerinnen und Bürger hin. Zwei Professoren staatlicher Universitäten werden über Risikokommunikation sprechen, anschließend gibt es eine Diskussion. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung wird gebeten. Ich melde mich einmal per E-Mail an, und zur Sicherheit noch einmal persönlich, bei einem Mädchen in Grün am Info-Schalter, das alle Daten notiert und eifrig nickt. Am Abend der Veranstaltung scheint mein Name unter den Reservierungen trotzdem nicht auf, drei Angestellte des Umweltministeriums suchen und blättern und zappeln nervös herum, entschuldigen sich und schreiben schließlich nach mehrmaligem Nachfragen meinen Namen auf. Eine ältere Dame in grauem Hosenanzug und mit strengem Haarknoten, die hier das Regiment führt, ist entsetzt über die Frage, ob ich bei der Veranstaltung Tonaufnahmen machen darf. Unter keinen Umständen und ganz sicher nicht und ganz und gar nicht, flattert sie herum und hängt mir eine Tafel um den Hals, auf der in dicken Buchstaben Press aufgemalt ist. Es gebe schließlich eine Diskussion mit den Bürgern und es gehe um den Schutz ihrer Persönlichkeit. Wie lächerlich der Hinweis auf den Persönlichkeitsschutz ist, zeigt sich am Ende der Veranstaltung. Die BürgerInnen schreiben ihre Fragen nämlich anonym auf Kärtchen, die sie bei einer Art Zeremonienmeister abgeben. Der wiederum liest sie vor, ein anderer schreibt sie auf die Tafel, die Professoren antworten.

Während ich mich setze und mir die Tafel vom Hals nehme, einen Schreibblock auf den Tisch lege und die Unterlagen ordne, die mir beim Eingang in die Hand gedrückt worden sind, umkreist mich die Dame in Grau. Ich zähle etwa fünfzehn Teilnehmer. Die meisten tragen schwarze Businessanzüge und sehen selbst wie Bürokraten aus. In einer Ecke steht eine Japanerin vor einer auf einem Stativ montierten Filmkamera, eine Tafel mit den Lettern Press umgehängt. Die Vortragenden sind ein emeritierter Professor der staatlichen Universität Kyoto und ein Professor der medizinischen Fakultät der staatlichen Universität Fukushima. Einige Tage später werde ich ihm auf einer anderen Veranstaltung abermals begegnen, so wie ich nach vierzehn Tagen Aufenthalt in Fukushima-Stadt mit ihren immerhin zweihunderttausend EinwohnerInnen überhaupt das Gefühl habe, bald alles und jede/n zu kennen. Sie sprechen also über Risikokommunikation und ich frage mich, an wen sich ihre Vorträge eigentlich richten, geht es darin doch vor allem um die Fehler, die die Behörden bei der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern machen, und um die Frage, welche Inhalte und Wahrheiten den Menschen zuzumuten seien. Das Wort Risikokommunikation, das beschreibt, was in Japan so wenig funktioniert, wird hier zu risukomi. Der Professor aus Kyoto stellt einen Zusammenhang zwischen gut funktionierender Demokratie und funktionierender risukomi her und zitiert aus einer Umfrage über das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen: Das größte Vertrauen haben die JapanerInnen mit sechzig Prozent in die Selbstverteidigungsstreitkräfte jieitai, die in Japan anstelle eines Heeres das Land verteidigen. Weit abgeschlagen rangieren die Medien und an letzter Stelle die Politiker (Lachen im Saal), denen mehr als fünfzig Prozent gar nicht vertrauen.

Nach der Veranstaltung schreibe ich ein Mail an das Büro von Gouverneur Sato mit der Bitte um ein Interview. Der Komponist Takehito Shimazu, dem ich bei unserem Treffen am nächsten Tag davon erzähle, verwendet sich in all seiner Prominenz für mich. Freudestrahlend berichtet er mir vom Besuch des Gouverneurs bei seinem letzten Konzert und von dessen eindeutigen Worten gegen die Atomenergie. Das Büro des Gouverneurs wird meine Anfrage mit großem Bedauern ablehnen: Dem Herrn Gouverneur sei der Kontakt zu ausländischen JournalistInnen überaus wichtig, da er jedoch dieser Tage sehr beschäftigt sei, hätte eine derartige Anfrage zeitgerechter gestellt werden müssen, um Aussicht auf Erfolg zu haben, und auch die Fragen hätten gleich in schriftlicher Form beigelegt werden müssen.

Ich fahre durchs Land. Die Verbindungsstraße zwischen Fukushima-Stadt und dem an der Pazifikküste gelegenen Minamisoma führt durch eine der schönsten Gegenden Japans. Die Wälder sind eine Mischung aus Bambus, Laub- und Nadelbäumen, dazwischen satte Reisfelder und stolze Bauernhöfe mit riesigen Khakibäumen davor, deren orangefarbene Früchte bis in den Winter hinein leuchten. Iitate-Mura heißt das Gebiet. Die Gegend ist Evakuierungszone und die Straße geht mitten durch. Minamisoma ist einer der sterbenden Orte in der Präfektur. Im Krankenhaus von Minamisoma treffe ich den Arzt Ryohei Suzuki, der alles tut, um die verbliebenen Menschen aus ihrem Seelentief zu holen und sie gesund zu erhalten. Dr. Suzuki hat nach langen Jahren im Dienst des japanischen Außenministeriums die Diplomatenlaufbahn gegen den Arztkittel getauscht, um in Fukushima eine nützliche Rolle zu spielen. Sein furusato, seinen Heimatort, hat er für immer an die ionisierende Strahlung verloren. Der Ort liegt unmittelbar neben dem Kraftwerk. Minamisoma ist das Krankenhaus, das seinem Geburtsort und dem AKW am nächsten ist.

Auf der Rückreise. Der Linienbus nach Fukushima-Stadt kommt abrupt zu einem Halt. Gerade erst hat die Sonne die Wälder rosa eingefärbt, und im nächsten Augenblick schon ist es stockfinstere Nacht. In Japan verschluckt die Nacht die Sonne in nur wenigen Minuten. Ein kleiner, weißer Pick-up blockiert die Straße. Es herrscht reger Gegenverkehr und ich frage mich, warum jemand um diese Zeit in Richtung Meer, in Richtung Zerstörung, unterwegs sein mag. Es dauert eine Weile, ehe der Bus den Pick-up passieren kann. Ein Mann läuft daneben auf und ab, ein Telefon am Ohr. Direkt vor seinem Wagen liegt ein Wildschwein reglos auf der Straße. Seit die Bauern Iitate-Mura, ihr Land, ihr Dorf, verlassen haben, erobert sich die Natur das Terrain zurück. Die Wildschweine, die Kühe, die Affen, die Hunde, die Katzen, die Gräser, die Schlingpflanzen. Die Wildschweine und die Affen nehmen überhand, erzählt man sich, und tatsächlich ziehen sich Klauenabdrücke rund um die verlassenen Häuser, galoppiert ein Keiler übers brachliegende Reisfeld, turnt eine Horde Affen in der Dämmerung aus dem Wald heraus und vergnügt sich im ehemaligen Gemüsegarten der Bäuerin. Die Wildschweine paaren sich mit den zurückgelassenen Hausschweinen, erzählen die Bauern, daraus sei eine besonders fruchtbare Kreuzung entstanden. Keiner schießt die Wildschweine mehr ab, weil die Bauern nicht mehr auf die Jagd gehen, so wie früher, weil die Bauern überhaupt keine Bauern mehr sind, sondern Evakuierte und ewig Wartende. Und selbst wenn sie noch jagten, was tun mit der Beute, die sich aus dem Becquerel-Dreck ernährt hat? Das erzählen die Bauern, die tagsüber nach Iitate zurückkehren, weil sie in den Stadtwohnungen, in die sie ausgesiedelt wurden, nichts mit sich anzufangen wissen, und sie erzählen auch, dass Verkehrsunfälle mit den wilden Schweinen an der Tagesordnung seien. Der Kadaver auf der Straße ist hellbraun, relativ klein, so viel lässt sich beim Vorbeifahren erkennen, es ist eine Bache, vielleicht schon eine Vertreterin der neuen Herrscherinnen hier, im Dorf Iitate, das ein Geisterdorf ist.

Schon sind die Bagger da und schlagen tiefe Schneisen in den Wald für eine Autobahn, die durch das Gebiet gehen wird, damit man schneller von Fukushima-Stadt an die Küste kommt, vor allem schneller durch den verseuchten Landstrich, und nicht allzu lange mit dem Gedanken beschäftigt ist, welch prachtvolle Gegend einst hier war. Daran, wie es früher einmal war, erinnern zwei Steinfiguren vor dem Rathaus von Iitate-Mura. Wenn man über ihren Kopf streicht, beginnt Musik zu spielen und ein Kinderchor singt: „Oh wie schön sind die Berge in Iitate, oh wie klar ist das Wasser, wie grün sind die Felder, wie wunderbar ist es in unserer Heimat Iitate.“ Ihre Stimmen klingen über den großen Platz vor dem Rathaus, der nicht ganz fertig gepflastert werden konnte. Die restlichen Pflastersteine liegen noch auf einem Haufen da, als würden morgen die Arbeiter in ihren blauen Anzügen zurückkommen und die Steine verlegen. Auch im Rathaus wartet alles auf die Rückkehr des Bürgermeisters. Die Akten liegen bereit, ebenso die Stempel, und leise erklingt Musik aus einem Transistorradio. Ein, zwei Beamte halten die Stellung. Um da zu sein, wenn das Wunder geschieht, und der Himmel zurücknimmt, worum niemand gebeten hat?

In Begleitung eines pensionierten Physikers und seiner Frau besuche ich Iitate-Mura. Die beiden sind Helfer. Freiwillige. Sie haben die NGO „Fukushima Resurrection“ gegründet und wollen die Gegend neu beleben. Vor allem er – ein vor Energie übersprudelnder, hagerer Mann, der wie von einer Mission getrieben scheint – verbringt den größten Teil seiner Zeit hier, führt Messungen und Analysen durch und entwickelt neue Dekontaminierungsmethoden.

Dekontaminieren. Wie technisch dieser Begriff klingt. In der Praxis heißt das: Häuser abwaschen, Blätter von Bäumen schneiden, Bäume fällen, Erdreich abtragen, das verseuchte Material in Plastiksäcke verpacken und irgendwo abstellen. „Wir verpacken die von den Feldern abgetragene Erde nicht in Säcke, sondern vergraben sie in tiefen Löchern und sammeln wissenschaftliche Daten darüber, wie sich das auswirkt“, erzählt der Physiker. Das Hauptproblem ist das Cäsium 137 mit seiner Halbwertszeit von dreißig Jahren. Der Physiker kennt jeden Flecken und ist mit allen Bauern befreundet. Mit einem alten, grünen Toyota und drei Geigerzählern durchkreuzen wir den Ort, der sich über ein Gebiet von mehr als zweihundertdreißig Quadratkilometer erstreckt. Fünfundsiebzig Prozent davon sind Wald. Die Geschäfte sind geschlossen, die Häuser fest verriegelt, die Reisfelder verwildern, und in den Gewächshäusern, in denen einst Blumen für den Verkauf gezüchtet wurden, wächst meterhoch das Gras.

Einsam bewachen zwei steinerne Wölfe den verlassenen Ortsschrein Yamatsumi Jinja. Eine alte Frau ist aus der Stadt zurückgekommen und hat sich in einem Nebengebäude des Schreins einquartiert, um nach dem Rechten zu sehen. Der Schrein ist berühmt für seine Wölfe, ein Tier, das in Japan längst ausgestorben ist. Die Decke der Haupthalle zieren zweihunderteinunddreißig Gemälde mit Wölfen, auf dem Gelände des Schreins finden sich zahlreiche Statuen weißer Wölfe. Der Berggott, so heißt es, habe vor langer Zeit den Bauern einen Wolf geschickt, zur Hilfe gegen die Bestien, die ihre Felder verwüsteten: Affen und Wildschweine.

An einem versperrten Gitter endet die Straße. Dahinter liegt die Sperrzone, in die nur mehr ehemalige Anrainer mit Sondererlaubnis hinein dürfen. Tatsächlich hält, während wir da stehen und ungläubig auf unsere Geigerzähler starren, ein Wagen mit drei auffallend dicken jungen Leuten. Eine Frau mit einem Schlüsselbund in der Hand steigt aus und sperrt das Gitter auf. Ich gehe auf sie zu und frage, weshalb sie in die Zone fahre. Sie sieht das Mikrofon und schüttelt wortlos den Kopf. Der Geigerzähler hat schon im Wagen 4,71 Mikrosievert pro Stunde angezeigt. Draußen klettert die Anzeige rasch weiter nach oben und bleibt schließlich bei 30 Mikrosievert stehen – ein Hotspot. Die zulässige Jahreshöchstbelastung wird hier um mehr als ein Hundertfaches überschritten. Wir tragen keine Schutzkleidung, deshalb halten wir uns nicht lange an der Stelle auf. Das havarierte AKW ist etwa dreißig Kilometer entfernt.

Die Behörden haben nach der Katastrophe vom 11. März auf einer Karte einen Zirkel an der Stelle des Kraftwerks eingestochen und die Gegend rundherum in konzentrische Kreise eingeteilt, in Zonen mit abgestuften Gefahreneinschätzungen. Das Gebiet von Iitate liegt in der Zone, die zwischen dreißig und fünfzig Kilometer vom Kraftwerk entfernt ist, und damit in einer Distanz, für die nach Ansicht der Behörden zunächst nicht die Notwendigkeit einer Evakuierung bestand. Doch der radioaktive Fallout hielt sich nicht an die konzentrischen Kreise, sondern verteilte sich unregelmäßiger und weiter. Am 15. März 2011, vier Tage nach dem Ereignis, brachte starker Wind radioaktive Substanzen hierher. Mit Schnee und Regen rieselten die Partikel auf das Gemeindegebiet herab. Die Behörden ließen sich mit der Aussiedelung der Bevölkerung Zeit, ja, sie brachten zunächst sogar noch Flüchtlinge aus der näheren Umgebung des Kraftwerks hierher. Erst im Juni 2011 war die Evakuierung abgeschlossen. Seither leben die einstigen Bewohner in provisorischen Quartieren an verschiedenen Orten außerhalb der Gemeinde. Fast alle Bewohner – denn es gibt eine kleine Enklave im Zentrum von Iitate, die weiter besteht, als wäre nie etwas geschehen: das Altersheim. Gleich am Eingang macht ein Schild darauf aufmerksam, dass Medienbesuche unerwünscht sind. Nach hartnäckigem Nachfragen bei den Empfangsdamen dürfen wir bis in die Lobby vordringen, freilich nicht ohne vorher die Schuhe auszuziehen. Bewohner sind nicht zu sehen. Ein Arzt kommt vorbei. Es seien derzeit fünfundsiebzig Insassen hier, sagt er, die meisten zwischen sechzig und neunzig Jahre alt. Das Personal pendle ein, aus Orten außerhalb der Zone. Weshalb das Altersheim nicht evakuiert wurde? „Die Evakuierung so alter Menschen hätte ein zu großes Risiko bedeutet. Daher kamen wir zum Schluss, dass es besser für die Menschen ist, hier zu bleiben.“ Die wenigsten Insassen wüssten darüber Bescheid, was am 11. März 2011 geschehen ist, sagt der Arzt auch noch und erzählt Unglaubliches: „Es gibt eine Warteliste von rund neunzig Personen, die gerne zu uns ins Altersheim möchten! Aber wir können niemanden mehr aufnehmen, weil wir zu wenig Personal haben.“