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Nadja Klinger

High Fossility

Der Sound des Lebens

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Nadja Klinger

Nadja Klinger, geboren 1965 in Berlin, hat lange Jahre Porträts und Reportagen für den «Tagesspiegel», die «tageszeitung» und «GEO» geschrieben und lebt als freie Autorin in Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen gehören «Ich ziehe einen Kreis» (1997), «Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland» (2006, zusammen mit Jens König) und „Über die Alpen. Eine Reise“ (2010).

Über dieses Buch

«Wer in unserem Rock-und-Pop-Chor singen will, muss über sechzig sein.» Kaum mehr stand in der Anzeige, doch bald fanden sie zusammen, 2010 in Berlin-Neukölln: Martin, der früher mit Geiselnehmern verhandelt hat. Ursula, die einst in Hamburg einen Mann ziehen ließ, den bald die ganze Welt begehrte. Bernd, der für Rudi Dutschke aus dem Fenster seines Kinderzimmers sprang – und all die anderen, ehemalige Stahlarbeiter und Bürofräulein, Stones-Fans und Altrockerinnen.

Nadja Klinger erzählt von der verwegenen Gründung des Chores «High Fossility»: wie die Musik aus Fremden eine Gemeinschaft macht, Tage im Tonstudio zur Zerreißprobe werden und eine Konzertreise zum Wunder von Frankfurt gerät. Und sie erzählt die Geschichten seiner Mitglieder: Sie sind in den Ruinen zerbombter Städte geklettert und dem Muff der fünfziger Jahre entkommen, ihre Jugend prägten Mauerbau, Studentenbewegung, Kommunen, Woodstock, Rock, Reggae und Pop. All das legen sie nun in ihre Stimmen, die nicht perfekt sein müssen, denen man anhören darf, was sie erlebt haben. Ein bewegendes Buch darüber, wie das Leben seinen Rhythmus findet und seinen Klang, ein Buch über die zerbrechliche Freundschaft mit dem Altsein und die Kraft, die man daraus ziehen kann.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt·Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Frank Ortmann

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-87134-756-6 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-11691-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-11691-7

Für K.

Vorweg

Ich weiß nicht mehr, wann das angefangen hat. Ich hielt mich öfter als bislang vorm Spiegel auf und beobachtete, wie die Versprechungen aus meinem Antlitz verschwanden: feine Äußerlichkeiten der körperlichen Veränderung, die sich mit meinem Befinden nicht deckten. Ich kenne mich länger, als ich wohl noch Zeit mit mir verbringen werde. Habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wer ich eigentlich bin, nur nach Wegen gesucht, und die Begabung, sie zu gehen, nahm zu.

Wir werden älter, aber nicht alt. Gestörte Wahrnehmung. Das Pfeifen im dunklen Wald. Und mein Spiegelbild fragt: Wer verschwindet da?

Irgendwann stand etwas in der Zeitung: dass sie über sechzig sind, dass manche von ihnen in ihrem Leben kaum gesungen haben, dass sie jetzt ein Chor sein wollen. Schon wieder Fragen: Welche Tonlage hätte ich zu bieten? Habe ich, wenn ich meiner Wege ging, die Stimme verstellt, um durchzukommen? War ich zu leise, weil ich mich fürchtete? Zu laut, um jemanden zu bezwingen? Habe ich das Sprechen gewagt oder mich ins Schweigen geflüchtet?

Noch bin ich nicht so alt wie sie. Aber wenn ich es wäre, würde ich dann einen Ort aufsuchen, an dem sich nicht vertuschen ließe, wer ich geworden bin, was ich unterlassen habe und dass es zu spät ist, das zu ändern? In den letzten Lebensjahrzehnten schwinden die Fähigkeiten, die man zum Singen braucht. Das verrät das Spiegelbild gewiss nicht.

Ich habe ein Jahr bei den Alten in Berlin-Neukölln verbracht und nach dem Chorkalender gelebt: Probenraum, Bühne, Tonstudio, das waren die verlässlichen Termine. Das Unverlässliche jedoch überwog. Jedes Mal, wenn ein Song absolviert wurde, klang er anders; manche Töne, die der Chorleiter an der Klaviatur aus dem Flügel fischte, gelangten wochenlang nicht in den Gesang; Skepsis triumphierte übers Wohlsein; war eine Aufgabe erledigt, stellte sie sich bald von neuem. Trotzdem kamen alle zur nächsten Probe wieder.

Ich war dabei und wiederum nicht. Das wahrhaftige Dasein: frei davon, auf die Versprechungen des Jungseins zu setzen, ohne den Drang zu verheimlichen, wer ich bin und was ich nicht kann. Ich aber pfeife noch im dunklen Wald.

Teil Eins

Use your voice!

Patti Smith

Heimat, damals

Geschichte unserer Leben I

Ute kam im Februar zur Welt, als die Tage spürbar länger wurden. Langsames Auftauen. Das war im Jahr 1943, es war Krieg, und sie begann zu atmen.

Sie hat sich ihre Zeit nicht ausgesucht, sie hat sich bedient: die unbekümmerten Jahre nicht gezählt, die traurigen mit sich mitgeschleppt. Manche Ereignisse haben ihr so viel Glück beschert, dass sie bis heute davon zehrt. Erfreulicherweise. Denn erst jetzt, im Alter, stellt sich heraus, dass Ute an ihrer Jahreszeit hängt, dass sie eben ein Februarkind ist, eine tatkräftige Person, die dennoch das Frühjahr braucht, die Aussicht auf Licht und Wärme, und dass sie diese Aussicht wohl nicht mehr bekommt.

Ihr Vater starb, da war sie gerade drei Jahre alt. Sie wuchs bei der Großmutter in Görlitz auf. Die Stadt in der niederschlesischen Oberlausitz wurde den Krieg nicht los. Auf der Flucht vor der Roten Armee hatte die Wehrmacht die Brücken über der Neiße gesprengt, der Fluss schoss durch sein breites Bett. Nun wurde er Staatsgrenze; Vertreibung, Verlust, Wehmut – Görlitz war nur noch die Hälfte seiner selbst, die andre Hälfte hieß von jetzt an Zgorelec und gehörte zu Polen. Viele Häuser aus der Spätgotik, dem Barock und der Renaissance, 1944 und 1945 schwer beschädigt, hielten sich aufrecht an den Gassen, durch die Ute zur Chorprobe in den Rathaussaal lief. Einmal produzierte der Görlitzer Kinderchor eine Rundfunkaufnahme:

Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer.

Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald.

Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld

Und die Vögel in der Luft, und die Tiere der Erde

Und die Fische im Fluss sind die Heimat.

Die zarte, aber reißfeste Solostimme war die von Ute. «Und wir lieben die Heimat, die schöne», sang sie im Radio, «und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.»

Dann schickte man sie fort. Ende der fünfziger Jahre. Bald würde es eine weitere Staatsgrenze geben, eine Mauer; Ute sollte die sowjetische Besatzungszone verlassen und zur Mutter nach Westberlin gehen. Sie war vierzehn. Ihr Schulabschluss würde im Westen nicht anerkannt werden. Sie jammerte, flehte, wollte bleiben, studieren, Architektin werden, und überhaupt: Ute und die Großmutter liebten einander über alles. Kaum in Westberlin angekommen, machte die Enkelin darum kehrt und nahm den Weg zurück. Die Zonengrenze war kein Fluss, ein paar Schritte hätten genügt, aber das Leben war drauf und dran, Ute beizubringen, das Kraft und Entschlossenheit allein nicht immer ausreichen. Zwei Volkspolizisten, ein Mädchen, nicht Zeit genug für Gefühle und Argumente. Bei der zweiten Flucht nahm sie das Fahrrad und nur eine leichte Aktentasche als Gepäck, trat kräftig in die Pedale, aber auch diesmal kam sie nicht an den Grenzhütern vorbei.

Das waren sie für Ute, die sechziger Jahre, in denen, was hier erzählt werden wird, seinen Anfang nahm. Sie musste sich mit einer neuen Heimat begnügen. Schon wieder lebte sie in einer geteilten Stadt. Beendete die Schule und suchte, noch nicht einmal volljährig, was alle Erwachsenen brauchen: einen Lebensunterhalt. Sie fand einen Platz bei Siemens am Fließband, man nannte das «im Akkord arbeiten». Mit Musik, mit Singen hatte es nichts zu tun.

*

Mona brach Anfang Juni 1967, mit zwanzig, zum ersten Mal nach Westberlin auf. Sie nahm in Mainz einen billigen Propellerflug für fünfundsechzig Mark und stieg in Tempelhof aus. Die Stadt umarmte sie nicht, stand auf gerissene Weise steif, hatte Haltung, war irgendwie politisch. Offenbar scherte sich niemand um das ordnungsgemäße Arrangement von Äußerlichkeiten. Die Leute waren anders, vom Kragen bis zu den Schuhen, und Mona spürte, dass sie eines Tages hier bei ihnen leben würde.

Gleich am Abend der Anreise geriet sie in eine Demonstration. Sie verließ den Gehweg, ihre Füße setzten auf, Neugierde schob sie weiter voran über den Asphalt, obwohl ringsum gekreischt und geschrien wurde, und sie begriff: Das ist Straßenkrieg. Menschen rannten an ihr vorbei und rempelten sie an, sie wich der berittenen Polizei aus, stand zum ersten Mal in ihrem Leben einem Wasserwerfer gegenüber. «Sofort auflösen!», röhrte es aus einem Lautsprecher.

Sie blieb stehen. In einem Schaufenster ihr Spiegelbild, dahinter ein Polizist zu Pferde, der mit dem Knüppel ausholte. Wie ein Stromschlag zuckte die Angst durch ihren Körper, sie schnellte herum und sank auf die Knie: «Bitte nicht! Ich bin nur auf Besuch!» Erst später sollte sie erfahren, dass soeben, an diesem Abend, ein paar Straßen entfernt der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden war. «Dann verschwinde!», schrie der bedrohliche Mann auf dem Pferd. «Hau sofort ab!» Und sie rannte.

*

An dem Tag, an dem Mona noch einmal mit dem Schrecken davonkam, war Martin schon seit drei Jahren in der Ausbildung bei der Berliner Polizei. Sein Vater, Oberkommissar in Berlin, war während der Studentenrevolte ständig im Einsatz; und nun gab es einen Toten. Es musste dringend anders ablaufen, wenn Staat und Bürger mit ungleichen Meinungen aufeinandertrafen, doch die paramilitärisch organisierte Polizei hatte keine Erfahrung mit Deeskalation; und es gab auch keine Ideen.

Es gab Martins Vater. Am Protesttag gegen den Vietnamkrieg im Oktober 1967 stand der direkt vor den Studenten, die den Kurfürstendamm blockierten. Ebenfalls ohne Plan, aber denkwürdig klar im Kopf, gebrauchte er das Mikrophon des Einsatzwagens auf ungewöhnliche Weise. Für den Fall, dass die Straße nicht geräumt werde, kündigte er «die Vorführung von Wasserspielen» an, empfahl, «Bademäntel und Badehosen bereitzuhalten»; er verwickelte die Stimme der Staatsmacht in einen lustigen Schlagabtausch mit den Studenten, gab die Spielergebnisse der Bundesliga bekannt und entschuldigte sich dafür, die Lottozahlen nicht parat zu haben. Im Archiv der Berliner Polizeigeschichte heißt es, Martins Vater habe eine dreistündige Unterhaltungsshow gegeben.

Der Sohn hat von ihm einiges mitbekommen. Martin fällt gern schwere Entscheidungen; er weiß, wie und wann man besser ein Spaßvogel ist; er kann sich Mikrophone zunutze machen. Vor allem jedoch ist vieles, was in seinem Leben geschah, durch unsichtbare, aber reißfeste Bänder mit den Zuständen und Ereignissen im Berlin der sechziger Jahre verbunden.

*

Im Sommer 1967 tanzte Elke auf ihrer eigenen Verlobung: auf einer bunten Party im Garten ihrer Eltern unweit der Bahnlinie am Südkreuz in der General-Pape-Straße. Zehn Monate später heiratete sie Martin. Weil sie noch nicht ganz einundzwanzig war, mussten ihre Eltern zustimmen: Das war kein Problem – nicht weil Elke schon jahrelang, schon seit der Schule, mit dem zwei Jahre älteren Martin zusammen war, nicht weil sie es ernst meinte, sondern weil es bei aller Liebe drum ging, es recht zu machen: weil Liebe ohne Ehe nicht ordnungsgemäß war.

Ein paar Jahre zuvor war das Paar in den Skiurlaub gefahren. Bayerisch Eisenstein direkt an der tschechischen Grenze, eine kleine Pension, der Kuppelparagraph; dem Wirt war es nicht erlaubt, sie in ein und demselben Zimmer unterzubringen. Deshalb hatte Martin sie als Ehepaar angemeldet und mit Elke geübt, beim Grüßen seinen Nachnamen zu nennen. In der Pension hatte sie zum «Guten Tag!» sogar noch ein Lächeln aufgesetzt und dann, gut erzogen, wie sie war, nicht seinen, sondern ihren Namen genannt. Im Abenddunkel bremste ein Polizeiauto vorm Haus. Elke stand starr am Fenster des Doppelzimmers, das der Wirt ihnen – schwerhörig oder mutig, jedenfalls gesetzeswidrig – überlassen hatte. Vor ihrem Mund bewegte sich die Gardine: «Martin, jetzt werden wir alle geholt!»

Ein halbes Jahrhundert später sind Elke und Martin immer noch zusammen. Sie fahren jeden Donnerstag zur Chorprobe und überlegen, ob sie «Forever Young» fürs Repertoire vorschlagen sollten. Bob Dylan. Der hat jahrelang ohne feste Adresse in Manhattan gehaust, bis er Anfang der Sechziger durch einen Plattenvertrag zu Geld kam und sich eine Wohnung in Greenwich Village nahm, doch seine Freunde hinderten ihn daran, mit dem minderjährigen Mädchen einzuziehen, das er liebte, weil das ein Vergehen war, das zur Anklage reichte.

May you grow up to be righteous,

May you grow up to be true,

May you always know the truth

And see the lights surrounding you.

Das sang Dylan ein paar Jahre später.

May you always be courageous,

Stand upright and be strong,

May you stay forever young!

*

Marianne landete Ende der sechziger Jahre in der Sozialamtskanzlei des Karlsruher Rathauses. Der Vater hatte eine Ausbildung zur Bürofachgehilfin besorgt. Sie war mit klassischer Musik aufgewachsen, mit Bach, Brahms, Beethoven und Chopin, mit einer großen Sammlung Schellackplatten; und mit Liebe. Die Eltern hatten dran festgehalten, dass ihre Tochter genau so viel wert war wie andere Kinder: wie die, bei denen die Zensuren stimmten. In der Schule jedoch hatte der Lehrer andere Tatsachen geschaffen. Rechts hatten seine Besten gesessen, denen in der Mitte hatte er hin und wieder das Wort erteilt, links war Marianne untergekommen. «Mit euch rede ich nicht», hatte er in ihre Richtung gehöhnt, «ihr seid die Schwachstromabteilung.»

Nun lernte sie an der Schreibmaschine, bekam jeden Monat dreihundertsechzig Mark Lohn, nach zwei Jahren hatte sie einen Beruf und packte die Koffer für Berlin. Sie war nicht auf der Flucht, sondern reiste zum Angestelltenaustausch mit dem Senat und nahm die Gewissheit mit, jederzeit in ein gutes Zuhause zurückkehren zu können. Nach einem Vierteljahr ersuchte sie drum, ihren Aufenthalt verlängern zu dürfen, noch ein Vierteljahr später wandten sich die Kollegen an sie. Marianne aus der Karlsruher Schwachstromabteilung war so gut, dass man sie bat, ihren Arbeitsplatz in Berlin nicht mehr zu verlassen.

*

Auch Bernd wurde im Rathaus ausgebildet: in Berlin-Neukölln. «Rudi Dutschke!» und «Demokratie auch für Auszubildende!»

Bernd war Juso, dann half er, eine linke ÖTV-Jugend aufzubauen; die Achtundsechziger-Bewegung brachte ihn auf Trab. Er hängte sich an einen Arbeitskollegen, wenn der zum Diskutieren zur APO-Gruppe ging, nahm an Schulungen teil, an Demos, er agitierte, mischte sich in Gespräche ein, redete über antiautoritäre Erziehung. Weil er vorhatte, an der Neuköllner Maidemonstration teilzunehmen, sperrten die Eltern ihn in sein Zimmer ein. Bislang war Bernd nie besonders mutig gewesen und würde es auch später nicht sein, damals aber sprang er auf der Flucht vor Bevormundung mit der roten Fahne aus dem Fenster.

*

Ursula fand zu Karl Marx. Und zu anderen Männern. Sie trugen zum Beispiel diese Namen: Lenin, Hofmann, Korsch, Marcuse. Sie waren ein Revolutionär, ein Sozialökonom, zwei Sozialphilosophen und schrieben über Kommunismus, Sozialismus, Sozialökonomie und Arbeiterbewegung. Ihre Bücher standen auf der endlos langen Literaturliste, die Rudi Dutschke den Revolutionären anempfahl. Ursula saß in Gießen und arbeitete diese Liste ab, um die Aufnahmeprüfung des SDS zu bestehen. Sie hatte Ausdauer, unter anderem; vor allem hatte sie sich längst entschieden. Als Kinder hatten sie und ihre Zwillingsschwester im Hafenviertel von Hamburg genug gehungert und gefroren. Auf der Suche danach, welche Chancen ein Mädchen in den Nachkriegsjahrzehnten in Sankt Pauli hatte, kamen sie nur zu dieser Erkenntnis: Es konnte Prostituierte werden. Sie beschlossen, diese Chance nicht zu nutzen, sondern unbedingt eine andere. Ursula war neunzehn, da stand ein smarter junger Mann an dem Lebensweg, den sie selbstsicher eingeschlagen hatte. Er warf ein Auge auf sie. «Mich zu verlieben, das habe ich nicht zugelassen. Mein Plan sah nicht vor, mich abhängig zu machen, ich wollte eine emanzipierte Frau werden», sagt sie heute. Sie ist weitergegangen, damals, und dort angekommen, wo sie hinwollte. Und der junge Mann war Paul McCartney.

Im Jahr 1962 verbrachte Ursula jeden zweiten Abend im Star-Club an der Großen Freiheit in Sankt Pauli. Auf der Bühne standen die Beatles, vier niedliche Briten mit dünnen Beinen und schneeweißer Haut. In den Musikpausen stiegen sie von der Bühne und gesellten sich zu den Tanzenden. Sie waren nett, sie soffen, sie schluckten Zeug, das sie wach hielt; sie kamen aus Liverpool, das war auch eine graue Hafenstadt, und das Leben, das die Hamburger Mädchen und Jungen führten, war ihnen nicht unbekannt. Sie steckten in Jacketts und sahen genau so verkleidet aus wie Ursula, die ihre bescheidene Kindheit mit Vogelnesthochsteckfrisur, Tulpenrock und kariertem, kragenlosem Jäckchen verscheuchte. Zu Weihnachten schenkten sie und ihre Freunde den Beatles bunte Teller. Auf jedem stand eine Bierflasche, drum herum lagen Kekse.

John war der netteste der vier Jungen und der Ansager in der Band; Ringo war so dünn, dass sie fürchteten, er werde eines Abends auf der Bühne wie ein Halm einfach knicken; Ursulas Schwester schwärmte für den kindlichen George; sie selbst stand mit Paul auf der Tanzfläche rum. Hin und wieder gingen die Zwillinge mit den Beatles in Sankt Pauli Kartoffelpuffer essen. Sie alberten zu sechst rum. Die Mädchen verstanden nicht viel von dem, was die Jungen sagten, und wagten nicht, mit Hilfe des komisch klingenden Englisch, das man ihnen in der Schule beigebracht hatte, nachzufragen. Sie schoben Ringo immer ein paar Bissen mehr unter, sie genossen die Leichtigkeit, die das Dasein mit den Melodien der Beatles angenommen hatte, obgleich die Zeit, da sie mit den Rolling Stones eine rockigere Gangart einschlagen würden, schon spürbar vor ihnen lag; und eines Tages bekam Ursula beim Kartoffelpufferessen ein Foto zugesteckt. Als die Band kurz darauf die Stadt verließ, schrieb sie mit dem Kugelschreiber über die Köpfe der abgebildeten Jungen deren Vornamen. Sie fürchtete, sie zu vergessen. Auf der Rückseite stand: «To Ursula, love from Paul.»

Anfangen

2006 bis 2010

Den neuen Nachbarn von obendrüber hat Birgit schon ein paar Mal gesehen. Im Treppenflur. Und vorm Haus, auf dem Gehweg an der Schillerpromenade im Berliner Stadtteil Neukölln. Ein großer Mann, viel größer als sie. Er wurde, das ist ihr aufgefallen, von seinen Eltern mit den gleichen Haaren ausgestattet wie sie, Haare, die sich aus der Kopfhaut ans Licht drehen, Haare, die man auch Korkenzieherlocken nennt. Obwohl ein Korkenzieher doch ein sinnvolles Werkzeug ist, während sich Birgits störrische Locken immer gegenseitig in die Quere gekommen sind. Jetzt, 2006, lebt sie schon über sechs Jahrzehnte mit ihnen und lässt sie einfach wachsen, und so türmen sich die langen Korkenzieher auf ihrem Kopf eher zu einem Dach als zu einer Frisur. Sie sitzt unter ihrem Haar, das seine Farbe fast ganz verloren hat, doch nichts von seiner Pracht.

Gepolsterte Wangen. Falten, die sich früher von den Mundwinkeln nach oben zogen, liegen jetzt als Gräben in der weichen, dünner werdenden Haut. Die Brille: zwei runde Fenstergläser, durch die sie die Ereignisse betrachtet, mit der Aufgeräumtheit desjenigen, der vieles, so vieles schon mal in der Hand gehabt, gewendet und bedacht hat. Birgit, geboren in Mecklenburg, die meiste Zeit ihres Lebens wohnhaft in Berlin, seit einigen Jahren Neuköllnerin, zum zweiten Mal verheiratet, Mutter, Großmutter, Psychologin kurz vor der Pensionierung – ist alt. Eine Tatsache, die sich überschminken, aber nicht unterschlagen lässt, weshalb sie Ordnung geschaffen hat hinter der Brille und den Kopf lieber in die Sonne hält, denn Sonnenlicht verabreicht nicht nur Rouge. Sondern wahres Wohlsein.

Sie ist noch nicht fünfzig gewesen, erinnert sie sich, als sie sich eines Tages einen Ruck gegeben hat. Sie blieb kurz stehen und sah dem kleinen, miesen Giftzwerg, der ihr seit einer Weile auf den Fersen war, in die Augen. Er sprach es aus.

«Die längste Zeit deines Lebens hast du hinter dir!»

«Das ist alles, was du mir zu sagen hast?», erwiderte Birgit. Und ging weiter.

Der Zwerg, der sich in die Gedanken drängt und einem das Altwerden versauert. Ihn weiterhin zu ignorieren hätte nichts gebracht. Und Birgit hat das Gegenmittel gefunden: einen Plan, nichts Schriftliches, einfach nur eine Frage und eine Anweisung. Nämlich: Was willst du in deinem Leben unbedingt noch tun? Dann mach, denn ab jetzt kann nichts mehr aufgeschoben werden! Seitdem hat sie das Ende im Blick. Sie kommt ihm näher, aber nach dem Sofortprinzip ihres Plans ist es für nichts, was sie sich noch wünscht, zu spät.

Sie raucht. Zurückgelehnt. Vor ihr, auf dem flachen Tisch, liegt die Blechdose mit den Selbstgedrehten, die sie immer bei sich trägt. Der Raum um sie herum ist hoch und zweckmäßig, was sie begehrt, wohnt dicht beieinander. Von draußen drängt der Innenhof ins Zimmer, das Strauchwerk ist dicht und dunkelgrün, die Fassaden der Häuser lehnen sich vor und verdecken, wenn Birgit von ihrem Platz im Parterre nach oben guckt, den Himmel. Sie zieht an der Zigarette, und es knistert. Sie stößt mit dem Zeigefinger die Asche ab, und es ploppt. Und noch etwas ist zu hören. Seit der neue Nachbar über ihr wohnt, macht ihre Zimmerdecke Musik. Heute Nachmittag: ein Stück aus der «Johannes-Passion» von Johann Sebastian Bach. Birgit hat sich einen Kaffee gekocht. Sie weiß genau, an welcher Stelle das Klavier da oben in der Wohnung gerade ist, und sie weiß auch ungefähr, was noch kommt. Sie schließt die Augen.

Der neue Nachbar … könnte ihr Sohn sein. Obgleich ein schlanker Mann mit schmalem Gesicht, hat er etwas Rundes an sich, rund wie vollgetankt, randvoll mit Jugend: wie der über holprige Gehwegplatten tänzelt, trunken von der Zeit, die ihm bevorsteht, wie er grüßt, als hieße er eine Gelegenheit willkommen, auf den Wangen unter seinen weit geöffneten Augen die rosigen Möglichkeiten! Doch auf seinem Kopf übernehmen schon graue Haare das Kommando. Er spielt mit der Mähne, rafft sie im Nacken mit einem Gummi zusammen, aber die Mähne spielt nicht mit. Am Hinterkopf leuchtet eine kahle Stelle.

Noch eine Zigarette. Knisternder erster Zug. Sie lehnt sich wieder zurück. Und wo ist die Musik? Sie schaut hoch. Das war doch noch nicht alles, ruft ihr Blick, da fehlt doch noch was! Sie wartet.

Da knallt oben die Wohnungstür.

Jemand kommt die Treppe herunter.

Der Abend sackt in die grünen Büsche und verwandelt sie in eine graue Mauer. Birgit steht auf, um die Wäsche zu machen, sortiert Kleidungsstücke, dosiert das Waschmittel, drückt Knöpfe, alles geht ihr von der Hand, doch es bringt nichts, es spannt den Kopf nicht ein. Sie zieht weiter in die Küche, schneidet und rührt, sucht Gewürze zusammen, schmeckt ab, aber Kochen nützt auch nichts. Der Kopf bleibt besetzt.

Tage vergehen. Immer wieder passiert dasselbe: Die Zimmerdecke musiziert, Birgit erkennt das Stück, die Musik bricht ab, und sie weiß nicht, wie sie damit klarkommen soll.

Irgendwann steht sie im Flur und hört im Treppenhaus Absätze klackern. Sie lauscht, er kommt näher. Eigentlich peinlich, was sich da anbahnt: Rechthaberische Alte lauert Nachbarn auf. Still spricht sie ein paar ermahnende Sätze zu sich selbst. Der letzte: ‹Aber du hältst das nicht aus!›

Sie öffnet, tritt aus der Wohnungstür und stellt sich genau dorthin, wo er die Treppe hochmuss.

*

Ah, die Frau vom Parterre. Jeans und weite Pullover. Tiefe Stimme, nicht mehr die Jüngste, unverschämt viele Haare. Seit Michael in diesem Haus lebt, in dem sich alle duzen, versucht er, bei jeder Begegnung im Treppenflur schnell etwas ausfindig zu machen, eine individuelle Note, einen Klang. Nichts Offenbares ist in den Augen dieser Frau. Der Schatten eines Blicks zuckt: beharrliche Präsenz hinter Brillengläsern. Er grüßt im Rhythmus seiner Schritte.

«Gu-ten-A-bend!»

«Guten Abend …»

Ah. Kein Punkt hinter den Wörtern, ein Auftakt. Michael stoppt und lächelt.

«Könntest du, was du beginnst, bitte auch mal zu Ende spielen? Neulich zum Beispiel, die ‹Johannes-Passion›, mittendrin war auf einmal Schluss. Das läuft dann in meinem Schädel weiter. Als Endlosschleife. Und all die anderen Stücke. Ich weiß doch, wie sie weitergehen, ich kann das nicht stoppen.»

Er lächelt noch, als er schon wieder auf der Treppe ist. Was hat er geantwortet? «‹Johannes-Passion›, mittendrin? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.» Aber hat er dann wirklich mit dem Kopf genickt? Er grinst. Hat er sich tatsächlich verbeugt, stets zu Diensten, Frau Parterre? Er klingelt. Seine Frau öffnet.

«Vorsicht», sagt er zu ihr, «unter uns wohnt eine skurrile Person!»

Das war, meinte er später, der Anfang: dieser Abend im Jahr 2006, als Birgit und er aufeinandergetroffen sind; er brauchte sie, das war ihm noch nicht ganz klar, doch hat er auch nicht versucht, diese Frau, die ihm den Weg versperrte, beim Reden zu unterbrechen. Und sie? Hinter ihrem Auftritt steckte mehr: das Wissen um die Bedeutung der eigenen Stimme, die Bekanntschaft mit dem langen Leben, das Alter. Sie hat es gewagt, ihn, den Musiker, zu belehren, dass Musik nicht seine Privatangelegenheit ist, sondern allen gehört.

*

Diese Geschichte, die in der Gegenwart spielt, hat schon vor über zweihundert Jahren begonnen, an Abenden Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Herren im Gehrock liefen durch die spärlich beleuchteten Straßen Berlins oder nahmen den Pferdewagen, um andere Herren zu treffen und mit ihnen zu singen. Nichts aus dem dicken Gesangsbuch. Nicht im Regiment eines Kantors. Sondern erstmals außerhalb der Kirche, nach Lust und Laune.

Überall in deutschen Ländern wurden damals Liedertafeln gegründet, daran saßen sie: hoch Angesehene, die das Wort führten, und Einflusslose, denen auch mal eine Bemerkung gelang, Männer mit diversen Berufen und Stellungen. Sie besprachen, was in Kirchen niemals besprochen wurde, diskutierten, fühlten sich verbündet; und dann wurde angestimmt. Die Sänger am Tisch waren Künstler und Publikum zugleich, sie waren die Musik.

Niemals traten Liedertafeln und andere Gesangsvereine jener Zeit öffentlich auf. Gelegentlich begaben sie sich auf ein Foto, standen während der langen Belichtungszeit stramm wie eine Garde, Kinnbart neben Kinnbart, ein jeder mit einem Weinglas in der Hand. Nannten sich: die Aktiven. Daheim bestickten ihre Frauen die Vereinsfahne.

Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verschwanden Aktive, um gegen Napoleon zu kämpfen, kehrten Jahre später als Patrioten aus den Befreiungskriegen in die gehobene Geselligkeit der Liedertafeln zurück. Nun wurde heftiger diskutiert; zu später Stunde erhob man sich, stimmte freiheitliche Lieder an, und die Musik war jetzt eine andere.

Dann kamen Frauen auf die Idee, dass Gesangsvereine nicht männlich sein müssen. Auf manchen Fotografien standen plötzlich zwei, drei waghalsige Damen in der Garde, die langen Haare fest an die Köpfe gesteckt, die Kleider weiß und hochgeschlossen. Mit der Sing-Akademie zu Berlin, die 1791 gegründet wurde, gab es den ersten gemischten Chor, jedoch war es erst ein gutes Jahrhundert später wirklich üblich, Frauen mitsingen zu lassen.

Anfang der neunziger Jahre hat Michael sein Heimatdorf in der Eifel verlassen, um Kirchenmusik, Schulmusik und Philosophie zu studieren. Zur Jahrtausendwende ist er nach Berlin gekommen und wurde Chordirigent. In Deutschland singen über drei Millionen Menschen in über sechzigtausend Chören. Wenn du irgendwo eintriffst, gibt es dort schon einen Chor, und wenn du wieder gehst, wird deine Stimme durch die Stimme eines anderen ersetzt. Ein Chor ist eine Lebensform, ein Techtelmechtel mit dem zweiten Ich, eine reale Möglichkeit. Gemischte Chöre musizieren in allen Stimmlagen. In gleichstimmigen Chören singen nur Frauen oder nur Männer, nur Mädchen, nur Knaben, nur Kinder oder nur Senioren.

Kirchenchöre stehen wie Orgelpfeifen. Kammerchöre passen in eine Kammer. Wenn Großchöre sich verbeugen, sieht es aus, als kippe eine Wand. Gospelchöre kommen in schwingenden Gewändern daher, im Polizeichor trägt man Uniform. Es gibt singende Bergarbeiter, Krankenschwestern, Eisenbahner, Lehrer, Briefträger, Matrosen und Häftlinge, Chöre für Obdachlose und einen Chor für Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes.

Die Liebe zum Gesang ist eine Chance; für ein Lied kommen Mensch und Mensch leichter zusammen, das läuft immer noch so wie vor zweihundert Jahren, nur nicht im Pferdewagentempo, und die Belichtungszeiten sind auch kürzer. Es ist etwas Großes aus dieser Liebe geworden, etwas Schnelles mit allem Drum und Dran, eine Chorwelt mit Hell und Dunkel, die, so wie andere Welten, niemandem garantiert, wo er bleibt. Chorfeste nehmen ganze Städte in Beschlag. Mit Chormessen bemüht sich das Singen um den Absatz am Markt. Man kann sich über Rankinglisten nach oben singen, und da es diverse Wettkämpfe gibt, sind viele Chöre die allergrößten. Chormusiker von heute werden dazu verleitet, sich Gedanken über die künstlerische Qualität ihres Gesangs zu machen.

Michael unterrichtet an der Berliner Universität der Künste.

Er reist mit Chören nach Frankreich, in die USA, nach China und Indonesien, er hat einen Nerv für Konzerte, ein Händchen für die ideale Besetzung, bewegt sich ausdauernd und akribisch durch musikalische Vorlagen, beherrscht seine Jazz- und Popchöre wie der Leistungssportler seine Disziplin und gewinnt Wettbewerbe. Sein Chorleiterdasein geht so: Da ist ein Musikstück, der Komponist stellt die Bedingungen, und Michael sorgt dafür, dass sie erfüllt werden.