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Lotte Minck (* 1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.
 
Bereits im Droste Verlag erschienen:
Radieschen von unten – Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs
Print ISBN 978-3-7700-1489-7
eBook ISBN 978-3-7700-4113-8

Lotte Minck

Einer gibt den Löffel ab

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
 
 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© 2014 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung einer Illustration von Ommo Wille, Berlin

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-7700-4114-5

 

www.drosteverlag.de

Kapitel 1

Ein aufregender Tag, an dem alles einfach super ist (na ja – fast alles)

Der hippe Medienbranchen-Berufsjugendliche mit der Nerd-Brille und dem angegrauten, gekonnt zerstrubbelten Haar hieß Stefan. Der Hosenboden seiner Jeans hing irgendwo zwischen Oberschenkeln und Kniekehlen. Obwohl, eigentlich hieß er der Stefan, denn so hatte er sich mir vorgestellt: »Ich bin der Stefan. Wir duzen uns doch?«

Und die junge Frau in seiner Begleitung: »Ich bin die Miriam.«

Wie auch immer – ich war und blieb schlicht Loretta. Ohne Artikel.

Der Stefan klappte das Display aus, warf einen prüfenden Blick darauf, startete den Camcorder und nickte seiner nicht minder hippen, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideten Kollegin zu. »Von mir aus können wir.«

»Super.« Die Miriam lächelte mich beruhigend an. »Einfach ganz natürlich reden, als wäre die Kamera gar nicht da. Und nicht in die Kamera gucken – sieh mich an. So wird das später für die Sendung auch gemacht. Also, Loretta – erzähl mal ein bisschen von dir. Wie alt bist du, was machst du beruflich … Alles, was du von dir erzählen möchtest.«

Wir saßen am Küchentisch: die Miriam und der Stefan auf der einen Seite, ich gegenüber. Die tief stehende November-Nachmittagssonne leuchtete mir direkt ins Gesicht. Zwischen uns standen unsere benutzten Kaffeetassen und Kuchenteller. Von meinem köstlichen Apfel-Schmand-Kuchen, den ich zur Feier des Tages gebacken hatte, war gerade noch die Hälfte übrig; die Sahneschüssel hatte der Stefan eben ausgekratzt. Die beiden waren völlig ausgehungert gewesen, denn ich war nicht ihr erster Termin und würde nicht der letzte sein. Die Miriam und der Stefan klapperten im Auftrag der Produktionsfirma die Verrückten ab, die unbedingt an der Sendung »Gib mir den Löffel!« teilnehmen wollten. Sie inspizierten die Wohnungen auf Fernsehtauglichkeit und nahmen für die Produktionsfirma ein Castingvideo auf.

Ich liebte diese Sendung. Jede Woche traten fünf neue Kandidaten gegeneinander an und kämpften um den Wochensieg. Nacheinander empfing jeder die anderen bei sich zu Hause zu einem Drei-Gänge-Menü, das von den Gästen bewertet wurde. Während der Koch des Tages in seiner Küche schuftete, stromerten seine Besucher durch Wohnung oder Haus und sahen sich um. Zu meiner Verblüffung gab es Kandidaten, die nichts dagegen hatten, wenn sogar in ihre Nachttischschublade geguckt wurde – vor laufender Kamera. Bereits in meinem ersten Gespräch mit der Produktionsfirma hatte ich diesen Punkt angesprochen, aber der Redakteur wusste mich zu beruhigen: Ich allein entschied, welche Räume meiner Wohnung besichtigt und welche Schubladen oder Schranktüren geöffnet werden durften.

Besonders liebte ich die Wochen, in denen der Titel besser »Gib mir Saures!« lauten sollte, wenn ehrgeizige Teilnehmer dabei waren, die ihren Konkurrenten absichtlich wenig Punkte gaben, um die eigenen Gewinnchancen zu erhöhen. Dabei ging es um nichts als die Ehre, eine alberne Urkunde und einen golden lackierten Holzkochlöffel. Jede Kindergartengruppe könnte in einer Bastelstunde Hunderte davon produzieren.

Mir ging es um überhaupt nichts. Ich wollte Spaß haben und war neugierig darauf, wie die Produktion wohl ablaufen würde.

Diana ging es um den Schutz ihrer Privatsphäre, wie ich umgehend erfuhr, als ich ihr beim Essen begeistert von meiner Bewerbung erzählte. Sie ließ fassungslos die Gabel sinken, auf die sie gerade ein Stück Blumenkohl gespießt hatte, und starrte mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Ich will nichts damit zu tun haben!«, fauchte sie. »Und meine Zimmer sind tabu! Was ist bloß in dich gefahren?«

»Du hast doch selbst gesagt, ich soll mich bewerben!«, feuerte ich zurück.

»Das war doch nur ein Scherz! Ich kann doch nicht ahnen, dass du das ernst nimmst.« Sie runzelte die Stirn. »Das ist unsere gemeinsame Wohnung. Wieso hast du nicht vorher mit mir darüber gesprochen, wie ich den Gedanken finde, dass das Fernsehen kommt und in jede Ecke filmt?«

»Das entscheide ich als Gastgeber, was die filmen dürfen und was nicht«, trumpfte ich auf. »Du musst also nicht befürchten, dass irgendwer deine blöden Schlüpfer in die Kamera hält. Stell dich nicht so an.«

Sie schnappte nach Luft, beherrschte sich aber. »Trotzdem, Loretta. Ich fühle mich übergangen. Damit will ich nichts zu tun haben.«

»Das habe ich schon beim ersten Mal verstanden. Und ich kann mir vermutlich die Frage sparen, ob du Lust hast, mir beim Kochen zu helfen?«

Statt einer Antwort stieß Diana ein spöttisches Schnauben aus.

»Und wenn es klappt, dass ich mitmache – falls es klappt –, wird hier einen Tag lang gefilmt, das ist alles«, erklärte ich in der Hoffnung, sie zu besänftigen.

»Falls es klappt? Natürlich werden sie dich nehmen. Du bist nicht auf den Mund gefallen, du kochst genial, und unsere Wohnung ist der Knaller. Die wären ja blöd, wenn sie dich ablehnen würden.«

Oho – hatte sie sich etwa wieder beruhigt? Aber nein, ich hatte mich zu früh gefreut.

»Eben. Das Kind ist längst in den Brunnen gefallen. Ein einziger Tag – das wirst du aushalten, Diana.«

Wieder dieses Schnauben. »Klar, tausend Leute in der Bude, und bis tief in die Nacht hinein wird gefilmt. Und was mache ich? Du bezahlst mir ein Hotelzimmer, meine Liebe«, zischte sie und stieß mit der Gabel nach mir.

Das Blumenkohlröschen löste sich von den Zinken, überquerte in einer eleganten Flugbahn den Tisch und klatschte auf mein rechtes Brillenglas, wo es dank der Soße für einen kurzen Moment kleben blieb, bevor es sich langsam löste und mir auf den dunkelblauen Wollpullover fiel, über meinen Busen abwärts kollerte, wobei es eine Hollandaise-Schmierspur hinterließ, und schließlich in meinem Schoss landete.

»Das geschieht dir recht!«, prustete Diana angesichts meiner verblüfften Miene, und alles war wieder gut.

Nun ja, gut ist möglicherweise etwas übertrieben, aber immerhin piesackte sie mich in den nächsten Tagen nicht andauernd damit, während ich auf den Anruf der Redaktion wartete, ob ich zu denen gehörte, die ins Casting kommen.

Und jetzt war ich im Casting, blinzelte in die Kamera und fragte mich, welcher Teufel mich geritten hatte, mich als Kandidatin zu bewerben. Alles war rasend schnell gegangen: die Anzeige in der örtlichen Tageszeitung, dass noch Leute gesucht wurden – die Telefonnummer der Produktionsfirma – ein mehr als spontanes Telefonat – eine Woche später: Auftritt die Miriam und der Stefan.

Natürlich stand zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht fest, dass ich dabei sein würde, denn die beiden Medienbeauftragten mir gegenüber waren mit dem Auftrag unterwegs, 30 Kandidaten zu besuchen und zu filmen.

Ich hatte sie durch die ganze Wohnung geführt, und sie hatten die Größe meiner Küche wohlwollend zur Kenntnis genommen. Über ihre Frage, ob ich hier auch den Tisch für meine Gäste decken würde, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachgedacht. Wenn ich für Freunde kochte, fand ich es nett, mit ihnen quatschen zu können, während ich in den Töpfen rührte. Solange ich am Herd stand, deckten sie den Tisch oder schnibbelten Tomaten und Gurken für einen Salat.

Aber würde ich das Essen anrichten wollen, während mir fremde Gäste dabei auf die Finger sahen? Die Wohnung war ja groß genug, um den Esstisch in einem anderen Raum aufzustellen.

Nachdem die Besichtigung beendet war und wir Kaffee und Kuchen genossen hatten, war es Zeit für das Casting-Interview.

Ich räusperte mich und zauberte mir ein strahlendes Lächeln ins Gesicht. »Ich bin Loretta, Loretta Luchs, 37 Jahre alt, Single.«

»Das machst du super«, sagte die Miriam. »Wohnst du allein hier, Loretta?«

»Nein, ich teile mir die Wohnung mit meiner besten Freundin, Diana. Seit ein paar Monaten. Vorher …« Ich brach ab.

»Vorher?«

»Tut nichts zur Sache. Vorher habe ich mit jemand anderem hier gewohnt.«

»Aha. Was machst du beruflich, Loretta? Super Name, übrigens. Hört man nicht oft.«

Damit hatte sie mich kurz aus dem Konzept gebracht. Beinahe hätte ich mich verplappert und die Wahrheit über meinen Beruf gesagt. Aber ich kriegte gerade noch die Kurve. »Danke für das Kompliment. Ich arbeite in einem Callcenter. Inbound.«

»Inbound? Was heißt das?«

»Dass ich nicht irgendwelche Leute anrufe, um ihnen etwas anzudrehen. Ich arbeite an einer Hotline.«

»Verstehe. Denkst du, wir dürfen dich bei der Arbeit filmen? Das wäre super.«

Klar – Dennis, mein Chef, würde vor Begeisterung Luftsprünge machen, wenn ich mit einem Kamerateam bei seiner Sexhotline anrückte! Und unsere Kunden erst! Mann, was würden die staunen über die strickenden Hausfrauen, Studentinnen und Rentnerinnen in bequemen Klamotten, die in einem Raum mit 20 Kabinen saßen und sich als Domina in Lack und Leder, feurige Latina im Winz-Bikini oder Schulmädchen im ultrakurzen Faltenrock ausgaben! Köstlich! Ich krümmte mich innerlich vor Lachen und hoffte inständig, dass ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle hatte.

»Das geht leider nicht. Unser Kunde ist eine große Behörde. Da habe ich mit sensiblen, geheimen Kundendaten zu tun. Völlig ausgeschlossen«, sagte ich mit sorgfältig dosiertem Bedauern in der Stimme. »Ist das Voraussetzung für die Teilnahme?«

Die Miriam schüttelte den Kopf. »Da wird uns schon etwas einfallen. Dir traue ich zu, dass du auch ohne deinen Arbeitsplatz genug zu bieten hast. Ich finde dich super. Du hast doch bestimmt ein Hobby.«

Genau – als Hobby überführe ich nämlich Mörder, dachte ich sarkastisch, und ich bringe mich selbst in Gefahr dabei, weil ich total wahnsinnig bin.

»Ich fotografiere gern«, sagte ich.

Ihr Blick ging zu den großformatigen Bildern an der Wand. Fotos, die ich im Schrebergarten gemacht hatte: Blüten, auf denen Bienen, Schmetterlinge oder Hummeln saßen, dekorativ getrocknete Samenstände im Herbst, Heckenrosenzweige voller Hagebutten. Im Wohnzimmer hingen riesige Abzüge aus meinem letzten Urlaub an der Nordsee: nassglänzendes Watt, Dünen, Strand und Wellen.

»Die hast du gemacht? Super! Da haben wir doch schon was. Perfekt.« Sie wandte sich an ihren Kollegen. »Hast du die Fotos gefilmt? Auch die in den anderen Zimmern?«

Der Stefan nickte. »Klar. Super.«

Bitte, gebt mir doch für jedes ›Super‹, das euch aus dem Mund fällt, einen Euro, dachte ich, dann kann ich mir heute Abend ein nagelneues Auto kaufen.

»Jetzt erzähl uns doch mal, warum du dich bei uns beworben hast, Loretta«, sagte die Miriam.

»Das habe ich ganz spontan gemacht. Ich mag die Sendung. Ist doch witzig, mal selbst dabei zu sein.«

»Denkst du, du kannst gewinnen?«

Ich schüttelte lachend den Kopf. »Nö. Wettbewerb ist mir schnuppe. Ich möchte Spaß haben und nette Leute treffen. Mich amüsieren diese von Ehrgeiz getriebenen Kandidaten, die unbedingt glänzen wollen und dann bei den anderen besonders mäkelig sind. Das finde ich affig. Ehrlich gesagt freut es mich dann, wenn bei denen alles schiefgeht.«

»Super. Weiß du schon, was du kochen willst? Du musst vier Menü-Vorschläge einreichen. Mit Rezepten.«

Ja – und genau das war der Haken an der Sache. Ich kochte immer spontan, variierte gern, probierte Neues aus. Ich blätterte zwar leidenschaftlich gern in meinen zahlreichen Kochbüchern, um mir Anregungen zu holen, arbeitete am Herd aber selten die Rezepte buchstabengetreu ab. Ich konnte aus der Hüfte problemlos vier verschiedene Drei-Gänge-Menüs zaubern, aber dafür die Rezepte aufzuschreiben, würde mir sehr schwerfallen.

»Ich koche ja eher so freestylemäßig«, antwortete ich zögernd. »Das Rezept kenne ich erst, nachdem das Essen fertig ist.«

Die Miriam winkte ab. »Ach, das kriegst du hin. Und du kannst dich beruflich so freimachen, dass du alle Termine wahrnehmen kannst? Alle Interviews, die schon tagsüber stattfinden? Du weißt schon – wenn du das Menü erfährst und kommentierst. Oder wir dich über den Abend zuvor befragen. Wir versuchen zwar, das zeitlich möglichst exakt zu planen, aber es klappt nicht immer alles, wie und wann wir wollen. Und abends musst du um spätestens sechs beim Gastgeber sein.«

»Klar, das kriege ich hin. Wann wird denn gedreht?«

Sie sagte mir den geplanten Produktionstermin – eine Woche Anfang Januar –, und ich nahm mir vor, Dennis gleich morgen darauf vorzubereiten, dass ich vielleicht eine Woche Urlaub benötigen würde.

Der Stefan sah auf die Wanduhr und klappte den Camcorder zu. »Miriam, wir müssen los.«

Ehe die Miriam antworten konnte, hörten wir einen Schlüssel in der Wohnungstür: Diana. Sie kam in die Küche gefegt und bremste abrupt, als sie den Besuch sah. Langsam zog sie sich die Pudelmütze vom Kopf. Eine Flut güldener Locken ergoss sich über ihre Schultern und umrahmte weich ihr hübsches Gesicht. Der Stefan reagierte so, wie beinahe jeder Mann auf Dianas Anblick reagierte: Er starrte sie offenen Mundes an.

»Darf ich vorstellen: Diana, meine Mitbewohnerin. Und das sind Miriam und Stefan.« Die Miriam und der Stefan, hätte ich beinahe gesagt, aber ich verkniff es mir.

Diana nickte nur eine stumme, schmallippige Begrüßung, und die Miriam zwitscherte: »Super, dass wir dich noch kennenlernen, wir wollten gerade los. Du hilfst der Loretta doch bestimmt in der Küche, wenn sie bei uns mitmacht. Das wird super. Warte, wir filmen dich kurz, dann …«

Diana hob abwehrend die Hand. »Wenn ihr mich filmt, verklag ich euch.«

Die Miriam fuhr zurück. »Was? Aber …«

Meine beste Freundin und Mitbewohnerin schüttelte ihre Locken und grinste. »Kleiner Spaß. Aber ich möchte tatsächlich nicht gefilmt werden, Herrschaften. Weder jetzt noch sonst wann. Das überlasse ich unserer Loretta hier.«

»Ja, dann … dann gehen wir mal.« Die Miriam holte den Stefan mit einem Rippenstüber aus seiner Erstarrung. »Du hörst dann von uns, Loretta. Du warst super. Wenn es nach mir geht, bist du dabei.«

Diana saß auf der Arbeitsplatte und futterte Apfelkuchen, während ich das Geschirr abspülte.

»Na, die beiden waren aber suuuuper«, sagte Diana. »Echt super, du. Ich wette, er hat die Jeans aus dem Kleiderschrank seines Sohns geklaut. Aber der wird es nicht merken, denn er trägt sie nicht mehr, weil sie längst unmodern sind.«

»Was du schon wieder hast.«

Sie hob die Augenbrauen. »Ich bitte dich – der war mindestens Ende 40.«

»Na und? Du stehst auf Blümchenkleider, und Stefan zieht sich eben gern an wie ein Teenager. Kann dir doch egal sein.«

»Ich fand ihn affig. Allein diese Brille!«

Ich drehte mich zu ihr um. »Diese Brille? Ich trage ebenfalls eine schwarze Hornbrille, falls du das noch nicht gemerkt haben solltest«, sagte ich beleidigt.

»Aber du tust es nicht, weil es gerade hip ist, Nerd-Brillen zu tragen. Du trägst sie, weil sie dir gefällt. Und das schon, bevor sie modern wurden. Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied.«

»Da haste aber gerade noch die Kurve gekriegt, meine Liebe.« Ich widmete mich wieder dem Spülen.

»Und diese Schnepfe in Schwarz fand ich auch affig. Obwohl sie dir ziemlich ähnlich sah.«

»Bist du betrunken? Wo sah die mir denn ähnlich?«

»Klein, kurze Strubbelhaare, Nerd-Brille. Wenn man euch so nebeneinander sieht … ein Kopp und ein Arsch.«

Ich schnappte empört nach Luft, und Diana kicherte.

»Reg dich nicht auf, ich will dich nur ärgern. Trotzdem – typische Vertreter ihrer Branche. Klischees auf zwei Beinen«, sagte sie und nahm sich ein weiteres Stück Kuchen.

»Falsch. Sie entsprachen zufällig deiner Klischeevorstellung von Vertretern dieser Branche.« Mit der Spülbürste spritzte ich Schaum nach ihr, und sie kicherte wieder.

»Nachdem wir das geklärt haben – wie war das Casting?«, fragte sie dann.

Ich zuckte mit den Schultern. »Nett. Und interessant. Sie haben sich alles angeguckt und gefilmt, mich vor der Kamera interviewt … alles Weitere entscheidet die Produktionsfirma, nachdem sie sich dort insgesamt 30 solcher Videos angeguckt haben.«

Diana hüpfte von der Arbeitsplatte, ließ ihren Teller ins schaumige Spülwasser gleiten und nahm ein Geschirrtuch vom Haken, um abzutrocknen. »Du möchtest wirklich gern mitmachen, nicht wahr?«

Ich nickte. »Ja, das möchte ich. Vorhin, als ich da vor der Kamera gesprochen habe, dachte ich für einen Moment, dass es eine total bescheuerte Idee war, mich zu bewerben. Aber jetzt … jetzt habe ich doch Blut geleckt. Ich kann ein bisschen Spaß und Ablenkung gut gebrauchen.«

Sie wusste, wovon ich redete: Keine vier Monate zuvor hatte ich unbedingt schlauer als die Polizei sein wollen und war in die Hände von Personen geraten, denen … nun, denen ein Menschenleben nicht viel bedeutete. Die Erlebnisse einer bestimmten Nacht bereiteten mir noch immer nächtliche Albträume, obwohl ich zweimal wöchentlich zur Therapie ging, um das erlittene Trauma zu bewältigen.

Diana sah mich liebevoll an. »Ich drück dir die Daumen«, sagte sie, und ich wusste, sie meint es ernst.

Kapitel 2

Gesine-Sieglinde Müller-Westerholt lässt nicht locker, und Loretta knirscht mit den Zähnen

Am nächsten Morgen – noch vor Schichtbeginn – stand die nächste Therapiestunde an, bei Frau Müller. Nein, ich sollte korrekt sein: bei Frau Dr. Gesine-Sieglinde Müller-Westerholt. Für mich Frau Müller, wie sie mir zu meiner Erleichterung gleich bei unserer ersten Begegnung gesagt hatte.

Kommissarin Küpper, die nicht nur die leitende Ermittlerin bei den Vorfällen in der Schrebergartenkolonie Saftiges Radieschen, sondern gleichzeitig das Patenkind meines guten Freundes Erwin war, hatte mir den Platz bei Frau Müller vermittelt. Freundlicherweise hatte die Therapeutin ihren Terminkalender für mich erweitert und empfing mich morgens um acht, eine Stunde vor ihrem üblichen Arbeitsbeginn.

Mit Frau Müller konnte ich alles besprechen, was mich quälte – und das war eine ganze Menge. Nicht nur die Vorkommnisse im Schrebergarten hatten mich traumatisiert und mein Leben gehörig durcheinandergebracht. Parallel dazu war meine langjährige Beziehung zu Tom in die Brüche gegangen – und auch daran hatte ich zu knacken.

Die Therapiestunde begann stets damit, dass Frau Müller mich fragte: »Gibt es etwas Bestimmtes, über das Sie mit mir reden wollen?« Auf ihrem Schoß lag der Block, auf dem sie sich während unserer Gespräche mit einem edlen Kugelschreiber Notizen zu machen pflegte, manchmal zu fast allem, was ich sagte, an anderen Tagen schrieb sie nur wenig mit.

Sie saß in einem bequemen Sessel, ich ebenfalls. Der Blick durch die bodentiefen Fenster des freundlich und unaufgeregt eingerichteten Raumes ging in einen kleinen Hinterhofgarten mit Ziergehölzen und modernen Gartenlaternen. Die kahlen, mit Raureif überzogenen Äste glitzerten in ihrem Licht, denn die Sonne war noch nicht aufgegangen. An den Wänden des Zimmers hingen ruhige Landschaftsfotos, hier und da stand eine hochgewachsene Topfpflanze, ein schöner Kelim bedeckte den gewachsten Dielenboden, Standleuchten sorgten für angenehmes Licht.

Frau Müller sah mich durch ihre randlose Brille freundlich an. Alles an ihr war von schlichter Zurückhaltung: Kleidung, Frisur, Ausdrucksweise. Sie sprach mit weicher, leiser Stimme und war – das wusste ich von Kommissarin Küpper – auf Traumapatienten spezialisiert. Also war ich hier genau richtig, und ich fühlte mich in diesem Raum und bei ihr sicher und geborgen.

Frau Müller überließ es stets mir, einen der Sessel auszuwählen – je nachdem, ob ich nach draußen, auf das riesige Foto eines lichtdurchfluteten Frühlingswaldes oder zur Gruppe aus unterschiedlich großen Birkenfeigen mit dem leise plätschernden Zimmerbrunnen in ihrer Mitte sehen wollte. Heute hatte ich mich für den Blick in den glitzernden Garten entschieden.

»Demnächst werde ich vielleicht bei einer Fernsehsendung mitmachen«, sagte ich.

Frau Müller verzog keine Miene. Natürlich nicht – das tat sie nie, sie hielt sich mit Reaktionen zurück. »Interessant. Eine Quizsendung?«

Ich schüttelte belustigt den Kopf. Das fehlte mir noch: ich auf dem heißen Stuhl in einer Show, in der ich um Geld spielte! In meinem Hirn würde gähnende Leere herrschen, komplette Amnesie, dessen war ich mir sicher.

»Nein, ich habe mich bei ›Gib mir den Löffel!‹ beworben. Gestern waren zwei Leute von der Produktionsfirma bei mir, um mich zu interviewen und die Wohnung zu begutachten. Alles wurde gefilmt.«

»Und wie war das für Sie?«

Ich dachte nach, dann zuckte ich mit den Achseln. »Ich war ganz entspannt.«

»Sehr gut. Warum haben Sie sich bei der Sendung beworben?«

»Keine Ahnung. Das war ganz spontan. Ich las einen Aufruf in der Zeitung, ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht.«

»Hm.« Sie schrieb etwas auf, dann sah sie mich an. »Ich möchte meine Frage wiederholen: Warum haben Sie sich beworben?«

Und schon ging es los: Mit Larifari-Antworten wie Keine Ahnung ließ Frau Müller sich nicht abspeisen, nein, sie würde keine Ruhe geben, bis wir der Sache auf den Grund gegangen waren. Es hatte schon Sitzungen gegeben, bei denen ich mich schwarzgeärgert hatte, bestimmte Themen angesprochen zu haben. Besonders, wenn es um Tom ging. Warum haben Sie dies getan, warum haben Sie das getan, wie waren Ihre Gefühle dabei … Bohren, Bohren, Bohren. Mühsam lernte ich, dass das, was ich für Gefühle hielt, oftmals nur Bewertungen waren. Wenn ich auf eine Frage nach meinen Gefühlen mit mies oder beschissen antwortete, ging es prompt zur Sache. Mies war kein Gefühl, mies war eine Bewertung. Wie ich mich fühle, signalisiert mein Körper. Wie ist die Atmung? Verliere ich die Kontrolle über mich, über meinen Körper? Schießt bei bestimmten Themen Adrenalin durch meine Adern und beeinflusst meine Reaktion?

Ich spürte, wie sich bei mir Widerstand aufbaute, und ich musste den Drang bekämpfen, bockig meine Arme zu verschränken und die Unterlippe schmollend vorzuschieben – allzu deutliche Körpersprache. Ich wollte nicht darüber nachdenken, warum ich mich beworben hatte.

»Merken Sie, wie Ihr Körper reagiert?«, fragte sie. »Meine Frage ist Ihnen unangenehm. Warum ist das so?«

Grrrrr … Ich hätte schreiend rausrennen können. Soviel dazu, wie geborgen ich mich bei ihr fühlte …

Als ich verbissen schwieg, sagte sie: »Für alles, was Sie tun oder entscheiden, gibt es einen Grund. Selbst wenn er aus Ihrem Unterbewusstsein kommt. Lassen Sie uns herausfinden, warum Sie bei dieser Sendung mitmachen wollen. Sie werden fünf Tage lang täglich im Fernsehen zu sehen sein, richtig?«

Wenn es für mich unbequem wurde, verwandelte sich die nette Frau Müller, bei der ich mich doch eigentlich so wohlfühlte, in die ›nervige Psychotante‹, die mir tierisch auf den Keks ging.

Natürlich war ich wie ein offenes Buch für sie. »Befürchten Sie, ich könnte denken, dass Sie sich ins Rampenlicht drängen? Nach Aufmerksamkeit suchen?«

Widerwillig nickte ich. »Vielleicht.«

»Kann ich verstehen, Frau Luchs. Immerhin haben Sie mir erzählt, wie unangenehm Ihnen die Öffentlichkeit war, der Sie vor einigen Monaten unfreiwillig ausgesetzt waren.«

Mir traten Tränen in die Augen. »Das war schrecklich.«

Allerdings – das war es. Die Zeitungen schrieben über die Morde, und sie schrieben über mich, auch wenn ich in der Berichterstattung immer nur Loretta L. war und mich verbissen geweigert hatte, mich fotografieren zu lassen. Hundertmal täglich verfluchte ich die Tatsache, dass ich keinen Allerweltsnamen wie Sabine oder Birgit hatte. Wer hieß schon Loretta? Außer mir, meine ich? Jeder, der meinen Namen kannte, wusste, dass es in den Berichten um mich ging. Jeder quatschte mich darauf an und wollte die Geschichte von mir hören. Diese ekelhafte Mischung aus Sensationslüsternheit und Pseudo-Mitleid widerte mich an. Und wenn man erlebt hatte, was mir passiert war … darüber wollte ich mit niemandem sprechen. Und schon überhaupt nicht immer und immer wieder.

Außer mit Frau Müller, denn aus diesem Grund war ich hier.

Ich seufzte. »Also gut. Finden wir heraus, warum ich mich bei der Sendung beworben habe.«

Frau Müller lächelte. »Versuchen wir es. Steht es schon fest, dass Sie teilnehmen werden?«

»Nein. Das entscheidet die Produktionsfirma, wenn sie alle Castingvideos gesichtet hat.«

»Wie viele sind das? Wissen Sie das?«

»Insgesamt 30. Die beiden Mitarbeiter, die gestern bei mir waren, sagten allerdings, dass ich gute Chancen hätte.«

Frau Müller schrieb etwas auf, dann fragte sie: »Hat es Sie gefreut, dass die Leute Ihnen gute Chancen attestiert haben?«

»Ja, sie haben damit gesagt, dass ich interessant bin.« Ich lächelte verlegen. »Die beiden sind immerhin vom Fach.«

»Aha.« Wieder schrieb sie etwas auf den Block. »Das ist ein interessanter Punkt: Bedeutet Ihnen dieses Kompliment von den Fachleuten, wie Sie sie nennen, mehr als von jemand anderem? Ihrer Mitbewohnerin, zum Beispiel?«

»Ich … ich weiß nicht. Ja, vielleicht. Immerhin treffen die durch ihre Tätigkeit viele Menschen. Jeden Tag begutachten sie mehrere potenzielle Kandidaten für die Sendung. Manche sind langweilig, andere nicht.« Ich verstummte.

»Und deshalb können sie besser beurteilen, ob Sie ein interessanter Mensch sind, Frau Luchs?«

Hm – jetzt, wo sie es aussprach, wurde mir klar, wie bescheuert das klang. Und genau das war Frau Müllers große Kunst: dass sie mich dazu brachte, den Blödsinn zu erkennen, mit dem ich mir manchmal das Leben schwermachte.

»Die Meinung der anderen sollte mir egal sein«, murmelte ich. »Wäre ich selbstbewusst und mit mir zufrieden, wäre mir das Urteil zweier wildfremder Leute vollkommen schnuppe.«

Frau Müller nickte. »Zeugt es Ihrer Meinung nach von Selbstbewusstsein, dass Sie sich bei dieser Sendung beworben haben?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Finde ich nicht.«

»Aber Sie werden fünf Tage lang gefilmt und dann im ganzen Land im Fernsehen zu sehen sein.«

»Schon, aber ich werde vor der Kamera etwas machen, das ich gut kann: kochen und reden.«

Sie sagte nichts, sondern hob nur die Brauen.

»Also fühle ich mich sicher und damit selbstbewusst«, fuhr ich fort, als ich kapierte, worauf sie hinausgewollt hatte. »Trotz der Öffentlichkeit habe ich keine Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ich kann ganz ich sein, ohne mich verstellen zu müssen.«

»Genau. Ist es Ihnen wichtig, zu gewinnen?«

»Was denken Sie?«, fragte ich zurück.

Frau Müller lächelte. »Was ich denke? Sie wissen, dass Sie von mir darauf keine Antwort bekommen, Frau Luchs.«

»Natürlich weiß ich das. Nein, es ist mir nicht wichtig, ob ich gewinne. Glauben Sie mir das?«

»Glauben Sie sich das?«

Auf jede meiner Fragen antwortete sie mit einer Gegenfrage – daran sollte ich mich eigentlich allmählich gewöhnt haben. Aber man kann es ja mal versuchen … Ich hätte sie wirklich zu gern mal ausgetrickst.

»Ja, das tue ich. Konkurrenzkampf interessiert mich nicht, dazu fehlt mir der Ehrgeiz. Und es ist verschwendete Energie, finde ich. Ich möchte nette Leute kennenlernen, sie bewirten und von ihnen bewirtet werden. Darauf freue ich mich.«

»Gut.« Sie nickte und ließ mir ein wenig Zeit, nachzudenken. Dann fuhr sie fort: »Und jetzt noch einmal die Frage: Warum haben Sie sich beworben?«

»Weil ich Spaß haben möchte. Weil ich neugierig darauf bin, wie diese Woche wird. Und weil ich endlich etwas anderes zu erzählen haben möchte als …«

Ich brach ab und starrte sie an. Sie erwiderte ruhig meinen Blick, sagte aber nichts.

»Das ist es in Wirklichkeit, oder?«, fragte ich leise. »Endlich ein anderes Gesprächsthema, und zwar eines, das so spektakulär und spannend ist, dass ich über die andere Sache nicht mehr reden muss. Eines, das wirklich das Potenzial hat, meine Rolle in der anderen Sache zu überstrahlen, das mir die Hoffnung gibt, dass die andere Sache vergessen wird.«

Ich brach in Tränen aus. Sie beugte sich vor und reichte mir die Box mit den Papiertaschentüchern, die stets auf dem Tisch zwischen den Sesseln bereitstand. Ich heulte, weil mir bewusst wurde, wie sehr ich noch belastet war. Und weil ich erkannte, dass ich Frau Müller wirklich brauchte.

Aber irgendwann würde ich mit ihrer Unterstützung bestimmt auch in der Lage sein, meine Erlebnisse in der Schrebergartenkolonie nicht mehr die Sache zu nennen.

Als ich von Frau Müllers Praxis zum Callcenter ging, genoss ich die kalte Novemberluft und hoffte, dass sie die Spuren meines Weinkrampfes verschwinden lassen würde. Sollte meine Nase noch rot und geschwollen sein, konnte ich es zudem lässig auf den eisigen Wind schieben. Diana hatte mir angeboten, mich abzuholen, aber ich mochte es, ein paar Schritte zu laufen, wenn ich aus der Therapiestunde kam. So konnte ich mich noch ein wenig sammeln und in Ruhe über das nachdenken, was dort passiert war, bevor ich mein Headset aufsetzte und mich dem ersten Kunden des Tages widmete. Dabei hatten Sorgen und Probleme nichts zu suchen, und da es durch die Gespräche mit Frau Müller bei mir oft genug ans Eingemachte ging, brauchte ich den Spaziergang dringend, um mein Gleichgewicht wiederzufinden.

Ich schlug den Kragen hoch, vergrub die Hände in den Jackentaschen und stapfte unverdrossen gegen die Böen an, die mich mit Wucht von vorn trafen.

Wie meistens nach einer Sitzung mit Frau Müller war ich zwar erschüttert und nachdenklich, aber gleichzeitig auch erleichtert und befreit, als ich mich von ihr verabschiedete. Sie hatte mich weinen lassen und keine Fragen mehr gestellt; dafür war ich ihr dankbar. Die Erkenntnis, warum ich mich bei ›Gib mir den Löffel!‹ beworben hatte, war mit Wucht über mich hereingebrochen. Es war keineswegs so, dass ich jetzt an meiner Entscheidung dazu zweifelte oder sie hinterfragte, aber es war ein gutes Gefühl, den Grund dafür zu kennen.

»Na, wie war es bei Frau Meier-Wienerwald?«, rief Diana mir entgegen. Sie stand vor dem Eingang des Callcenters und wartete auf mich.

»Müller-Westerholt, Diana. Sie heißt Gesine-Sieglinde Müller-Westerholt.«

Mit dieser Antwort folgte ich unserem mittlerweile fest etablierten Ritual. Sie verballhornte den Namen meiner Therapeutin, den sie natürlich kannte. Ihr Ideenreichtum dabei nötigte mir echte Hochachtung ab. Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie sich schon einmal wiederholt hätte. Außerdem erfüllte das kleine Spielchen stets seinen Zweck: Es lenkte mich ab und brachte mich zum Lachen. Diana kannte mich gut genug, um meine Gemütsverfassung immer zu erkennen – ihr hätte ich niemals weismachen können, nicht geweint zu haben.

Sie winkte ab. »Los, erzähl schon! Was hat Gondola-Shanaya Muli-Wachtendonk zu deiner zukünftigen Vielleicht-Fernsehkarriere gesagt? Ich will alles wissen.«

»Später.«

Sie hakte mich unter, und wir gingen kichernd hinein.

Der Alltag hatte mich zurück, und ich durfte gespannt sein, wie viele Namensvariationen Diana sich für meine Therapeutin noch ausdenken würde.

Kapitel 3

Mach die Augen zu und denk an England
(viktorianische Empfehlung vor der Hochzeitsnacht)

Beinahe alle Arbeitsplätze waren bereits besetzt, als Diana und ich hereinkamen. Die Stimmen meiner Kolleginnen und vereinzelten Kollegen füllten den Raum. Sie gurrten und säuselten, flüsterten lockend oder stöhnten leidenschaftlich, während sie den Kunden am anderen Ende der Leitung dabei halfen, die Erfüllung ihrer sexuellen Fantasien zu erleben. Diana war die einzige Vollzeit-Domina bei der Hotline – ausgerechnet sie, die engelhafte Diana! Obwohl ich es täglich live erlebte, fand ich es immer wieder faszinierend, wie sie es allein durch ihre Stimme schaffte, das Bild einer strengen Herrin in Lack und Leder entstehen zu lassen.

»Und du?«, hatte sie geantwortet, als ich es ihr einmal gesagt hatte. »Du bist viel besser als ich. Mein Talent ist höchst einseitig, ich kann nur die Domina. Aber neben mir sitzt mal eine heiße Sambaschnecke, mal eine Hausfrau, von der Sekretärin oder dem französischen Zimmermädchen ganz zu schweigen. Völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, die allein durch deine Stimme in der Fantasie der Anrufer entstehen.«

Ich fuhr den Rechner hoch und loggte mich an meinem Telefon ein. Kaum hatte ich mein Headset aufgesetzt, als es auch schon klingelte. Auf dem Monitor öffnete sich ein Fenster und zeigte mir den Namen des Anrufers, HerrLehrer98. Die Zahl hinter seinem Pseudonym sagte aus, dass er der 98. Mann in unserer Datenbank war, der gern mit Herr Lehrer angesprochen werden wollte, was wiederum etwas über die Fantasiebegabung unserer Kunden aussagte.

HerrLehrer98 war einer von der Sorte, mit denen das Gespräch nach festen Regeln ablief. Mir war lieber, wenn zwar Eckdaten feststanden, die Interaktion sich aber spontan entwickelte – das war einfach spannender und machte mir mehr Spaß. Ich verstand mich als Akteurin in einem Improvisations-Hörspiel und mochte es, meine Kreativität herauszufordern. Mein Ehrgeiz, auch Stammkunden immer neue Erlebnisse zu verschaffen, hatte mich bei den Anrufern zu einer der beliebtesten Mitarbeiterinnen gemacht. Ich mochte meine Arbeit, denn ich wusste nie vorher, was der Tag mir bringen würde. Aber um Missverständnissen vorzubeugen: Kein einziges Gespräch hat mich je sexuell angetörnt, aber ein wenig Abwechslung und Kreativität an einem langen Arbeitstag konnten wahrlich nicht schaden.

Mit HerrLehrer98 war es allerdings wie in einer Endlosschleife: Er war Lehrer, ich war Schülerin, wir waren nach Schulschluss allein in einem Klassenzimmer. Es war wie bei einer Schallplatte mit Sprung – wir spielten jedes verdammte Mal exakt dieselbe Szene durch. Bei unserem ersten Kontakt hatten wir uns darüber unterhalten, welche Fantasie er mit mir erleben wollte, und das von ihm gewünschte Lehrer-Schülerin-Szenario war nichts Ungewöhnliches. Aber dann sagte er, meine Rolle solle die einer 11-jährigen Schülerin sein, und ich hatte nach Luft geschnappt. Als er meine Ablehnung spürte, hatte er das Alter auf 16 hochkorrigiert und gesagt, er hätte sich vorher nur versprochen.

Nun mag man über die moralische Reife eines Mannes diskutieren, den es nach Unzucht mit Abhängigen verlangt, aber das war nur eine Variante dieses Spiels, das andere Männer zwischen Chef und Sekretärin, Hotelgast und Zimmermädchen oder Polizist und Raserin spielen wollten. Darüber hatte ich nicht zu befinden. Aber bei Unzucht mit Kindern hörte der Spaß für mich auf.

Ich atmete tief durch, nahm das Gespräch an und säuselte: »Hallo, Herr Lehrer.«

Er kam sofort zur Sache. »Du weißt hoffentlich, warum du nachsitzen musst?«

»Ja, Herr Lehrer. Ich habe meinen Platz nicht aufgeräumt und Müll zurückgelassen.«

»Und?«

»Und ich habe während des Unterrichts geschwatzt.«

»Genau! Du hast wieder einmal den Unterricht gestört! Glaubst du, ich stehe zum Spaß hier? Nein, ich will euch Gören etwas beibringen!«, bellte er so laut, dass ich eilig am Headset die Lautstärke nach unten korrigierte.

»Ich weiß, Herr Lehrer.«

»Offensichtlich weißt du das nicht, sonst müsste ich mich nicht immer wieder über dich ärgern.«

In Gedanken sprach ich jedes Wort mit. Ehrlich, selbst wenn man mich mitten in der Nacht aus tiefstem Schlaf wecken würde, könnte ich den Dialog fehlerfrei runterbeten. An dieser Stelle hatte ich betreten zu schweigen, bis er weitermachte.

»Und was ist mein Motto?«, verlangte er schließlich herrisch zu wissen.

»Kein Schmutz, kein Lärm«, erwiderte ich demütig.

»So ist es. Kein Schmutz, kein Lärm, so hat man es gern. Wiederhole das!«

»Kein Schmutz, kein Lärm, so hat man es gern.«

»Geht doch. Warum kannst du es dir dann nicht merken, hm? Los, an die Tafel. Und jetzt schreibst du: Kein Schmutz, kein Lärm, so hat man es gern. Oben anfangen. So lange, bis ich sage, dass du aufhören kannst.«

In seiner Fantasie ging ich zur Tafel, und sie war weit hochgeschoben.

»Bitte, kann ich die Tafel herunterziehen? Ich komme kaum oben dran, Herr Lehrer.«

»Streng dich an.«

Ich musste mich also auf die Zehenspitzen stellen und mich weit nach oben strecken – und was passierte dabei mit meinem kurzen Faltenröckchen? Eben.

Ich reckte und streckte mich also, beschwerte mich lauthals darüber, dann brach mir auch noch die Kreide ab. Der von Sekunde zu Sekunde schwerer atmende HerrLehrer98 sah sich leider gezwungen, mich für meine Widerborstigkeit zu bestrafen.

»Ich glaube fast, du machst das extra«, knurrte er.

»Und wenn? Was wollen Sie dann machen?«, musste ich laut Drehbuch frech zurückgeben.

»Das wirst du schon sehen. Komm her! Zieh dein Höschen aus!«

Und dann legte er mich, also seine Schülerin, übers Knie und versohlte mir den nackten Hintern. Ich klatschte rhythmisch in die Hände und flehte bei jedem ›Schlag‹ lauter um Gnade. In Gedanken zählte ich mit: Genau 25 Schläge auf den nackten Hintern, dann hatte er genug. Dass ich wieder ein artiges Mädchen war, durfte ich ihm dann beweisen, indem ich mich mit seinem Dingdong beschäftigte, bis von ihm schließlich das kam, was das Ende nicht nur meiner kleinen Session mit HerrLehrer98, sondern im Optimalfall jeder Interaktion mit einem Kunden bedeutete:

»Uuuuuunnnnghhhhh.«

Danke fürs Gespräch, Herr Lehrer.

In meiner Frühstückspause ging ich zu meinem Chef, um ihn auf meinen eventuellen Bedarf an einer Woche Urlaub im Januar vorzubereiten.

»Schon wieder?«, maulte er prompt, als ich mein Ansinnen vortrug.

»Schon wieder? Das letzte Mal war im Juli!«, gab ich zurück. »Ich weiß, dass du es nicht magst, aber es muss sein.«

Er seufzte und tippte auf seiner Tastatur herum, um die Urlaubspläne aufzurufen. »Wann denn genau?«

»Das … äh … das weiß ich noch nicht genau. Wahrscheinlich in der ersten Januarhälfte. Und vielleicht brauche ich die Woche auch überhaupt nicht.«

Noch während ich sprach, wurde mir klar, wie dämlich sich das anhörte. Ich brauche unbedingt Urlaub, aber nur vielleicht, und wann genau, weiß ich auch nicht … Was sollte mein Chef damit anfangen? Aber mir blieb nichts anderes übrig, sonst müsste ich meine Bewerbung bei der Sendung zurückziehen.

Prompt lehnte er sich in seinem Chefsessel zurück, wippte damit vor und zurück, während er mich durchdringend anstarrte. »Wie bitte? Kannst du mir erklären, was ich jetzt eintragen soll? Wenn jeder von meinen insgesamt 45 Leuten so ankäme, um mich nach Vielleicht-Urlaub ohne genaue Zeitangabe zu fragen, würde hier das totale Chaos …«

»Genialer Pullover«, unterbrach ich ihn, ehe er sich in Rage reden konnte. »Und der Gürtel – Hammer.«

Dennis Karger stand modisch auf die 70er-Jahre und kleidete sich gern wie ein Zuhälter aus der Zeit, selbst seine Vokuhila-Frisur mit den mächtigen Koteletten war authentisch. Während er im Sommer hemmungslos und ohne Rücksicht auf seine Umwelt seine Leidenschaft für Hemden mit riesigen Kragen und psychedelischen Mustern auslebte, trug er im Winter knallenge Rollkragenpullover im Rippenstrick unter einer – falls möglich – noch engeren Lederjacke aus cognacfarbenem Leder. Ich unterstellte ihm, dass seine Hemden maßgeschneidert waren, aber seine Schlaghosen und vor allem die Pullover konnte er nur secondhand finden, dessen war ich sicher. Vermutlich hing seine Telefonnummer an den Pinnwänden sämtlicher einschlägiger Läden im Ruhrgebiet.

Sein Pullover war rehbraun, und darüber trug er um die Hüfte ein dunkelbraunes Monstrum von geflochtenem Gürtel, dessen untertassengroße Schnalle mit Sicherheit tödliche Wunden zufügen konnte. Dennis war eitel, und mit einem Kompliment für sein Outfit konnte ich ihn immer kriegen.

So auch diesmal. Er sah selbstgefällig an sich herunter und sagte: »Der Gürtel ist wirklich der Hammer. Ich bin dafür bis nach Düsseldorf gefahren.«

»Super. Um auf meinen Urlaub zurückzukommen …«

»Genau. Also: Was hat es damit auf sich? Warum kannst du mir keinen genauen Termin sagen?«

Ich rang kurz mit mir, dann erzählte ich ihm, worum es ging.

Seine Reaktion kam unerwartet: Er war begeistert.

»Echt? Du machst bei ›Gib mir den Löffel!‹ mit? Wahnsinn! Meine Freundin guckt das jeden Tag, aber sie traut sich nicht, sich zu bewerben. Du musst unbedingt vorbeikommen und alles erzählen.«

»Noch bin ich nicht dabei. Ich hatte ein Casting, und jetzt entscheidet die Produktionsfirma.«

Nun war er erst recht neugierig. »Casting? Erzähl mal.«

Bisher hatte ich vor seinem Schreibtisch gestanden, jetzt zeigte er auf den Besucherstuhl. Zögernd setzte ich mich. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, meine gesamte Frühstückspause in seinem Büro zu verbringen.

Ich berichtete ihm also von der Miriam und dem Stefan, wobei Dennis mich ständig mit Zwischenfragen unterbrach.

Schließlich kam ich zum Ende. »… und deshalb weiß ich noch nicht genau, wann.«

Er unterbrach mich mit einer lässigen Handbewegung. »Ist doch kein Ding. Ich trage optional mal zwei Wochen im Januar ein. Natürlich wirst du genommen. Die wären ja blöd, wenn nicht. Du bist witzig, charmant, klug und hast die schönste Stimme, die ich kenne.«

Ach ja?, dachte ich verdutzt. Du findest mich witzig, charmant und klug?

»Vielen Dank, aber eine schöne Stimme ist vielleicht nicht gerade ein Kriterium, nach dem die Auswahl getroffen wird, Dennis.«

Das brachte ihn zum Lachen. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: »Glaub mir, Loretta: Deine Stimme wird eins der Kriterien sein, todsicher. Jedenfalls dann, wenn Männer das entscheiden. Oder wissen die vielleicht, wie gut du kochst?«

»Nein, natürlich nicht. Ich könnte denen sonst was erzählen.«

»Siehst du? Guck dir die Allerwelts-Langweiler an, die sonst meist Kandidaten sind, da sind bunte Vögel doch die Ausnahme. Die Leute, die das produzieren, werden jubeln, wenn sie dein Video sehen. Und warum? Weil du anders bist, ungewöhnlich und spannend. Ich verwette meinen Escort, dass du genommen wirst.«

Huch? Dennis setzte sein heiß geliebtes Gefährt ein? Ich durfte mich geschmeichelt fühlen.

Diana blickte von ihrer Illustrierten auf, als ich mich wieder neben sie setzte. Sie vertrieb sich die Zeit mit Lesen, während der Kunde, den sie gerade am Telefon hatte, sich daran ergötzte, von ihr mit eisigem Schweigen bestraft zu werden. Drehbuch: Er bettelt darum, dass sie mit ihm redet – sie sagt kein Wort. Zehn Minuten lang, manchmal länger. Verrückt.

Sie griff nach ihrem Notizblock, malte ein Fragezeichen aufs erste Blatt und hielt mir den Block entgegen.

Ich hob beide Daumen: Ja, Dennis spielt mit.

Ihr Mund formte ein tonloses »Wow!«, dann schrieb sie: Hässlichen Pulli gelobt?

Ich kicherte und schüttelte den Kopf, nahm den Block und kritzelte darunter: Den Gürtel!!!

Sie steckte sich den Finger in den Hals und tat so, als müsste sie sich übergeben. Dann presste sie schnell beide Hände auf den Mund, um nicht laut loszulachen.

Ich loggte mich ein, und sofort erschien der nächste Anrufer auf meinem Monitor: CharmingBusinessman. Ich checkte rasch sein Profil: Geschäftsmann auf Reisen, First-Class-Hotel in Paris, das kokette Zimmermädchen kommt herein, als er gerade die Dusche verlässt. Hingerissen von seiner virilen Attraktivität, bettelt sie geradezu darum, ihn verwöhnen zu dürfen. Eine ganz alltägliche Szene also, wie sie ständig in First-Class-Hotels passiert …

Nach Feierabend standen Diana und ich noch mit Doris vor dem Callcenter, gegen die Kälte eingepackt in dicke Jacke, Schal und Mütze. Vergeblich, muss ich dazusagen, denn die eisige und feuchte Luft des Novemberabends kroch uns trotzdem in die Glieder. Mich zog es auf dem schnellsten Weg nach Hause und ins Warme, aber Doris hatte uns aufgehalten.

»Du machst bei dieser Sendung mit?«, fragte sie aufgeregt. »Du hast gar nicht erzählt, dass du dich beworben hast!«

»Dafür habe ich ja Diana, das wandelnde Informationsleck«, erwiderte ich und warf meiner Mitbewohnerin einen strengen Blick zu. Sie ignorierte mich geflissentlich und konzentrierte sich intensiv auf die Glut der Zigarette, die sie in der zitternden Hand hielt. »Eigentlich wollte ich das noch für mich behalten, bis feststeht, ob ich überhaupt dabei bin.«

Doris’ Augen glitzerten mit ihrer silbernen Steppjacke und den dazu passenden Lurex-Leggings um die Wette. Wie üblich war sie gekleidet, als wäre sie auf dem Weg in eine 80er-Jahre-Disco. Bei der Wahl ihrer Outfits und ihren gewagten Frisuren hielt sie sich keineswegs an die nach wie vor herrschende Meinung, dass man mit über 70 allmählich zu gedeckteren Farben greifen sollte – und das war gut so. Doris war ein bunter, funkelnder, fröhlicher Paradiesvogel und würde das hoffentlich noch viele Jahre bleiben.

»Weißt du schon, was du kochen willst?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Darüber denke ich erst nach, wenn ich eine Zusage habe. Ich habe dann noch Zeit, vier Vorschläge einzureichen.«

»Vier Vorschläge? Ich dachte, das Menü hat drei Gänge.«

Ich seufzte. »Vorschläge für vier Menüs mit jeweils drei Gängen, wie ich auch erst gestern erfahren habe. Und vom ausgewählten Menü dann noch die Rezepte.«

»Rezepte? Du?« Sie legte mir mitfühlend die Hand auf den Arm, denn sie kannte meine Art zu kochen: immer locker aus der Hüfte und stets experimentierfreudig. »Ich helfe dir dabei. Aber wieso vier Vorschläge?«

»Damit wollen sie verhindern, dass es an drei Tagen hintereinander Rinderrouladen mit Klößen oder Entenbrust mit Rotkohl gibt. Ich kann aber mein favorisiertes Menü angeben. Das darf ich kochen, falls es keine Überschneidungen mit den anderen gibt.«

»Hm-hm.«

Sie hatte noch etwas auf dem Herzen, wollte aber nicht so recht damit raus, das sah ich ihr an. Sie grinste beinahe verlegen und murmelte wie zu sich selbst: »Ich würde ja zu gern mal sehen, wie die Dreharbeiten so ablaufen …«

Aha – darum ging es also.

»Ich könnte nachmittags eine Hilfe beim Kochen gebrauchen. Wenn du also Lust hast …«

Doris’ Gesicht strahlte vor Freude, verdüsterte sich aber wieder, als Diana gespielt empört rief: »Waaas? Das hast du mir schon versprochen!«

Ich boxte sie gegen den Arm. »Du kannst es einfach nicht lassen, oder?« Dann wandte ich mich an die enttäuschte Doris. »Diana würde sich eher beide Arme abhacken. Natürlich bist du dabei, wenn du magst.«

Ein Auto fuhr auf den Vorplatz, und der Fahrer ließ eine gellende Melodiehupe erschallen. Doris drehte sich um und stöckelte auf den Wagen zu. »Erwin! Eeeeerwin! Ich komm ins Fernsehn!«

Ihr Gatte kurbelte die Seitenscheibe herunter und streckte seinen Minipli-Kopf aus dem Fenster. »Wat? Ins Fernsehn? Wieso dat denn, Täubchen?« Er winkte Diana und mir zu. »Hallo, ihr beiden! Schönen Feierabend!«

Wir winkten zurück, und Diana murmelte: »Da hast du aber jemanden sehr glücklich gemacht!«

»Hoffentlich klappt es auch …«

Doris erreichte den Wagen und beugte sich zu Erwin, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen. Dann umrundete sie die Motorhaube, während sie glücklich plapperte: »Die Loretta macht bei dieser Sendung mit, die wir uns jeden Tach angucken, und sie hat gesagt, ich darf ihr helfen! Und dabei werd ich gefilmt! Wat soll ich denn bloß anziehen? Und zum Friseur muss ich auch …«

Sie stieg ein, die Beifahrertür klappte zu, und mit einer erneuten Vorführung von Erwins nervtötender Hupe fuhren sie los.

Kapitel 4

Vorsicht! Bissiger Humor!
Betreten auf eigene Gefahr!

Während der nächsten zwei Wochen wartete ich darauf, dass die Produktionsfirma sich endlich bei mir melden würde. Ständig checkte ich mein Mailkonto und mein Handy auf Nachrichten, und in meiner Freizeit zog ich mir jede Kochsendung rein, die ich im Fernsehprogramm finden konnte – allen voran natürlich »Gib mir den Löffel!«. Bisher war die Sendung für mich reine Unterhaltung gewesen, aber ab sofort schenkte ich meine ganze Aufmerksamkeit den Details. Wenn ich eine Folge verpasste, sah ich sie mir im Internet an: Was kochten die Kandidaten? Wie waren die Tische dekoriert, wie das Essen angerichtet? Was kam bei den Gästen an, was nicht? Konnte man als Gastgeber mit einem Unterhaltungsprogramm während der Pausen zwischen den Gängen punkten?

Nur bedingt, wie ich feststellte.