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  Brennan Manning– Kind in seinen Armen | Gott als Vater erfahren– SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christliche Medien

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ISBN 978-3-417-22722-2 (E-Book)
ISBN 978-3-417-20751-4 (lieferbare Buchausgabe)

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ABBA’S CHILD bei NavPress, einer Abteilung von The Navigators, USA

Deutsch von Barbara Trebing

7. Taschenbuchauflage 2013

INHALT

Straße meines Lebens

1. Aus dem Versteck herauskommen

2. Der Schwindler

3. Der Geliebte

4. Abbas Kind

5. Der Pharisäer und das Kind

6. Der Auferstandene und Gegenwärtige

7. Die Wiederentdeckung der Leidenschaft

8. Auf eigenen Füßen stehen

9. Der Herzschlag des Rabbis

Anmerkungen

Über den Autor

Mein tiefer Dank gilt Lillian Robinson, M. D., und Arthur Epstein, M. D., die mich in einer sehr schwierigen Phase meines Lebens durch die Dunkelheit ans Licht begleitet haben.

Meiner Frau Roslyn danke ich für ihre Geduld und Ausdauer.

Sie ist das größte Geschenk, das ich je bekommen habe.

Straße meines Lebens

Am 8. Dezember 1956 wurde ich in einer kleinen Kapelle in Loretto im Bundesstaat Pennsylvania von Jesus von Nazareth überwältigt.

Die Straße, auf der ich in den mehr als vierzig Jahren, die seitdem vergangen sind, gereist bin, ist gekennzeichnet von katastrophalen Siegen und großartigen Niederlagen, von ungesunden Erfolgen und hilfreichem Versagen. Zeiten von Treue und Verrat, Trost und Elend, Begeisterung und Apathie sind mir nicht unbekannt. Und es gab Zeiten,

– in denen ich die Nähe Gottes deutlicher spürte als den Stuhl, auf dem ich saß;

– in denen das Wort wie ein zurückgeworfener Blitz bis in die hintersten Winkel meiner Seele hineinleuchtete;

– in denen ein heftiges Verlangen mich an Orte trieb, die ich vorher noch nie besucht hatte.

Es gab auch Zeiten,

– in denen ich ein Unschuldslamm war, und dann hat mein weißes Fell Flecken bekommen;

– in denen das Wort so schal war wie zerflossene Eiskrem und reizlos wie eine fade Wurst;

– in denen das Feuer in meiner Brust noch einmal kurz aufflackerte und dann erlosch;

– in denen ich saft- und kraftlose Begeisterung für die Weisheit des Alters hielt;

– in denen ich jugendlichen Idealismus als reine Naivität abtat;

– in denen ich billige Glasstücke der kostbaren Perle vorzog.

Wenn Ihnen das alles nicht ganz fremd vorkommt, dann lohnt es sich für Sie vielleicht, einen Blick in dieses Buch zu werfen, innezuhalten und ganz neu zu entdecken, was es bedeutet, ein Kind des Vaters zu sein.

Brennan Manning

1. Aus dem Versteck herauskommen

Der Gott der Truthähne

Die Hauptperson der Kurzgeschichte Der Truthahn1 von Flannery O’Connor ist ein kleiner Junge namens Ruller – ein ausgesprochener Antiheld. Er hat ein ziemlich schwaches Selbstbewusstsein, denn alles, was er anfasst, geht schief.

Eines Abends, als er schon im Bett liegt, hört er, wie seine Eltern sich über ihn unterhalten. »Ruller ist ein seltsamer Junge«, sagt sein Vater. »Warum spielt er immer allein?«

»Woher soll ich das wissen?«, erwidert seine Mutter.

Eines Tages entdeckt Ruller im Wald einen verwundeten wilden Truthahn. Sofort beginnt er die Verfolgungsjagd. »Oh, wenn ich ihn nur fangen könnte!«, ruft er. Und er würde ihn fangen, und wenn er ihn bis in den nächsten Bundesstaat verfolgen müsste! Er sieht sich schon triumphierend ins Haus marschieren, den Truthahn über der Schulter, und hört die ganze Familie rufen: »Seht nur, Ruller mit einem wilden Truthahn! Ruller, woher hast du denn diesen Vogel?«

»Oh, ich habe ihn im Wald gefangen. Soll ich euch auch einmal einen besorgen?«

Aber dann schießt ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: »Wahrscheinlich lässt Gott mich den ganzen Nachmittag umsonst hinter dem elenden Truthahn herjagen.« Er weiß, er sollte nicht so von Gott denken. Aber was kann er dagegen machen, wenn ihm so zumute ist? Und er fragt sich, ob er wirklich seltsam ist.

Schließlich erwischt er den Truthahn, als dieser seiner Schusswunde erliegt und tot zusammenbricht. Er hievt ihn auf die Schulter und macht sich auf den Triumphzug zurück in die Stadt. Dabei fällt ihm ein, was er alles Schlimmes gedacht hat, bevor er den Vogel hatte. Das tut ihm jetzt sehr Leid, denn er sollte Gott doch dankbar sein. »Danke, Gott. Das war sehr nett von dir. Der Truthahn wiegt bestimmt zehn Pfund. Du warst mächtig großzügig.«

Vielleicht war es ein Zeichen, dass ich den Truthahn erwischt hab, denkt er. Vielleicht will Gott, dass ich Pastor werde. Er will etwas für Gott tun, aber er weiß nicht, was. Wenn jetzt irgendwer an der Straße stünde und Akkordeon spielte, würde er ihm seine zehn Cent geben. Es ist zwar das einzige Zehncentstück, das er besitzt, aber er würde es glatt weggeben.

Zwei Männer kommen auf ihn zu. Als sie den Truthahn sehen, pfeifen sie durch die Zähne. Sofort rufen sie ein paar andere herbei, die an der Ecke herumstehen. »Was meinst du, was der wiegt?«, fragen sie.

»Mindestens zehn Pfund«, antwortet Ruller.

»Wie lange hast du ihn gejagt?«

»Etwa eine Stunde«, sagt Ruller.

»Das ist wirklich erstaunlich. Da musst du schrecklich müde sein.«

»Nein, aber ich muss jetzt gehen«, entgegnet Ruller. »Ich hab’s eilig.« Er kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

Er wünscht sich, er würde jemanden betteln sehen. Plötzlich betet er: »Herr, schick mir einen Bettler. Schick mir einen, ehe ich zu Hause bin.« Gott hat ihm den Truthahn geschenkt. Da wird er ihm bestimmt auch einen Bettler über den Weg schicken. Er weiß es ganz sicher; weil er ein seltsames Kind ist, interessiert sich Gott für ihn. »Bitte, jetzt gleich«, und im Augenblick, wo er es sagt, kommt eine alte Bettlerin direkt auf ihn zu. Das Herz hämmert ihm in der Brust. Er springt auf die Frau zu. »Hier, hier«, ruft er, drückt ihr seine zehn Cent in die Hand und eilt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Allmählich beruhigt er sich, und auf einmal spürt er ein ganz neues Gefühl – wie wenn man glücklich und beschämt zugleich ist. Vielleicht, denkt er, sollte er ihr sein ganzes Geld geben. Er meint, er müsste auf Wolken schweben.

Dann bemerkt er eine Gruppe Bauernjungen, die hinter ihm herschlurfen. Er dreht sich um und fragt großzügig: »Wollt ihr meinen Truthahn sehen?«

Sie starren ihn an. »Wo hast du den Truthahn her?«

»Ich hab ihn im Wald gefunden. Ich hab ihn zu Tode gejagt. Guckt, hier unter dem Flügel hat er einen Schuss.«

»Lass mich mal sehen«, sagt einer der Jungen. Ruller gibt ihm den Truthahn. Hart trifft ihn der Kopf des Vogels, als der Junge ihn hoch in die Luft schleudert und ihn sich über die Schulter schwingt. Er dreht sich um und schlendert mit den anderen Jungen davon.

Sie sind schon einige hundert Meter gegangen, als Ruller sich aus seiner Starre löst. Bald sind die Jungen so weit fort, dass er sie nicht mehr sehen kann. Ruller schleicht nach Hause. Er geht erst ganz langsam, doch als er merkt, dass es schon dunkel wird, beginnt er zu rennen. Flannery O’Connors Geschichte endet mit den Worten: »Er rannte immer schneller und schneller, und als er in die Straße zu seinem Haus einbog, da schlug sein Herz so schnell, wie seine Beine liefen, und er war sich sicher, dass irgendetwas Schreckliches mit harten Armen an ihm zerrte und ihn mit seinen gierigen Fingern packen wollte.«

So wie Ruller denken viele Christen über Gott. Unser Gott, so kommt es uns vor, ist einer, der gern »Truthähne« verteilt, sie aber auch ohne Vorwarnung wieder wegnimmt. Gibt er sie, dann ist das ein Zeichen dafür, dass er sich für uns interessiert und Freude an uns hat. Wir fühlen uns nah bei ihm und sehnen uns danach, großzügig zu sein. Wenn er seine Geschenke wegnimmt, dann zeigt das sein Missfallen und seine Ablehnung. Wir fühlen uns verstoßen. Gott ist also launenhaft und unberechenbar. Er baut uns nur auf, um uns dann wieder fallen zu lassen. Er denkt an unsere vielen Sünden und zahlt sie uns heim, indem er uns die »Truthähne« Gesundheit, Wohlstand, innerer Frieden, Kinder, Macht, Erfolg und Freude entreißt.

Dabei übertragen wir unbewusst die eigene Haltung und die Gefühle, die wir für uns selbst haben, auf Gott. Blaise Pascal hat einmal geschrieben: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, und der Mensch erwiderte das Kompliment.« Wenn wir uns selbst verabscheuen, dann nehmen wir an, dass auch Gott uns hasst.

Aber wir können nicht einfach davon ausgehen, dass er für uns genauso empfindet wie wir selbst – es sei denn, wir würden uns ganz intensiv und ohne Vorbehalte lieben. Jesus hat uns gezeigt, wie Gott ist. Er hat unsere falschen Vorstellungen als das entlarvt, was sie sind – nämlich Götzenbilder – und uns gezeigt, wie wir davon frei werden können. Gott liebt uns mit hartnäckiger Herzlichkeit und Liebe und zwar so, wie wir sind – nicht trotz unserer Sünden und Fehler (das wäre keine völlige Liebe), sondern mit ihnen. Obwohl Gott das Böse nicht entschuldigt oder gutheißt, hält er seine Liebe zu uns nicht zurück, weil noch Böses an uns ist.

Weil wir jedoch anders für uns empfinden, fällt es uns manchmal schwer, das zu glauben. Wir können die Liebe eines anderen Menschen nicht annehmen, wenn wir uns selbst nicht lieben. Und noch weniger können wir begreifen, dass Gott uns lieben könnte.

Einer meiner Freunde fragte eines Abends seinen behinderten Sohn: »Daniel, wenn du dir vorstellst, dass Jesus dich ansieht, was siehst du dann in seinen Augen?«

Nach einer kleinen Pause erwiderte der Junge: »In seinen Augen stehen Tränen, Dad.«

»Wieso, Dan?«

Wieder Schweigen, diesmal länger. Dann: »Weil er traurig ist.«

»Und warum ist er traurig?«

Daniel starrte auf den Boden. Als er schließlich aufsah, schimmerten auch in seinen Augen die Tränen: »Weil ich mich fürchte.«

Gott ist bekümmert, weil wir ihn fürchten, weil wir das Leben fürchten und uns selbst. Er leidet unter unserer Selbstbefangenheit. Richard Foster schreibt: »Das Herz Gottes ist heute eine offene Wunde der Liebe. Ihn schmerzt unsere Entfremdung, unsere Überbeschäftigung. Er klagt darüber, dass es uns nicht näher zu ihm zieht. Er trauert, weil wir ihn vergessen haben … Er sehnt sich nach unserer Gegenwart.«2

Gott ist bekümmert, weil wir uns weigern, zu ihm zu kommen, wenn wir gesündigt und versagt haben. – Ein Rückfall ist für den Alkoholiker ein schreckliches Erleben. Das zwanghafte Kreisen von Gedanken und Körper um den Stoff überfällt ihn so heftig wie ein Frühjahrssturm. Nach dem Rückfall ist er verzweifelt. Als ich einen Rückfall hatte, hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte mich wieder neu den Schuldgefühlen, der Angst und den Depressionen hingeben, oder ich konnte in die Arme meines himmlischen Vaters fliehen. Entweder als Opfer meiner Krankheit leben oder auf Abbas unveränderliche Liebe vertrauen.

Es ist eine Sache, sich von Gott geliebt zu fühlen, wenn alles glatt läuft und unsere Sicherheitssysteme funktionieren. Dann ist es relativ leicht, sich selbst anzunehmen. Wir können sogar behaupten, wir würden allmählich anfangen, uns selbst zu mögen. Wenn wir stark sind und obenauf, wenn wir die Dinge im Griff haben und gut in Form sind, dann entsteht so etwas wie ein Gefühl der Sicherheit.

Was aber passiert, wenn der Boden unter uns wegbricht? Was geschieht, wenn wir sündigen und versagen, wenn unsere Träume zerbrechen, unsere Aktien in den Keller fallen, wenn man uns mit Misstrauen begegnet? Was passiert, wenn wir uns dem wahren Zustand unseres Ichs gegenübersehen?

Fragen wir doch einmal Menschen, die gerade eine Trennung oder Scheidung hinter sich haben. Haben sie das Gefühl, es sei alles in Ordnung? Wo ist ihre Selbstsicherheit? Was ist mit ihrem Selbstwertgefühl? Kommen sie sich noch immer vor wie ein geliebtes Kind? Oder liebt Gott sie nur, wenn sie »gut« sind, aber nicht in Armut und Zerbruch?

Juliana von Norwich, eine Mystikerin des vierzehnten Jahrhunderts, hat gesagt: »Unser liebenswürdiger Herr will nicht, dass seine Diener verzweifeln, weil sie so oft und kläglich fallen; denn unser Fallen hindert ihn nicht daran, uns zu lieben.«3

Die eigene Armut lieben lernen

Unsere Skepsis und unsere Schüchternheit halten uns davon ab, das zu glauben und anzunehmen. Dabei hassen wir nicht Gott, sondern uns selbst. Das geistliche Leben aber beginnt damit, dass wir unser verletztes Ich annehmen.

Thomas Merton redet uns zu: »Überlass deine Armut dem Herrn und gestehe ein, wie nichtig du bist. Ob du es begreifst oder nicht, Gott liebt dich. Er ist in dir, er lebt in dir, er wohnt in dir, er ruft dich, rettet dich und begegnet dir mit einem Verständnis und Mitgefühl, die mit nichts zu vergleichen sind, was du je in einem Buch gefunden oder in einer Predigt gehört hast.«4

Gott ruft uns auf, uns nicht länger zu verstecken, sondern zu ihm zu kommen. Er ist der Vater, der dem verlorenen Sohn entgegenlief, als er humpelnd nach Hause kam. Gott weint über uns, wenn er sieht, wie Scham und Selbsthass uns lähmen. Doch wir geraten schnell in Panik, wenn wir uns selbst ansehen, und versuchen uns zu verstecken. Adam und Eva verbargen sich und wir machen es ihnen in der einen oder anderen Weise nach. Warum? Weil uns nicht gefällt, was wir sehen. Es ist unbequem oder unerträglich, sich dem eigenen Ich gegenüberzusehen.

»Und so fliehen wir vor der eigenen Wirklichkeit wie entlaufene Sklaven oder zimmern uns ein falsches Selbst zurecht, das vor allem bewunderswert, ein bisschen schmeichelhaft und oberflächlich gesehen glücklich wirkt. Wir verbergen, was wir sind (weil wir annehmen, es sei unannehmbar und nicht liebenswert), hinter einer Fassade, die, so hoffen wir, besser gefällt. Wir verstecken uns hinter schönen Gesichtern, die wir für das Publikum aufsetzen. Und mit der Zeit vergessen wir sogar, dass wir uns verstecken, und meinen, das aufgesetzte, schöne Gesicht sei unser wahres.«5 (Simon Tugwell)

Aber Gott liebt uns so, wie wir sind – ob wir das mögen oder nicht. Er fordert uns wie Adam auf, aus dem Versteck herauszukommen. All unsere »geistlichen Verschönerungsversuche« können uns ihm nicht angenehmer machen. Thomas Merton schreibt: »Der Grund, warum wir nie die tiefsten Tiefen unserer Beziehung zu Gott ausloten, besteht darin, dass wir so selten unsere absolute Nichtigkeit vor ihm eingestehen.«6 Seine Liebe, die uns ins Leben gerufen hat, ruft uns nun auch, aus dem Selbsthass herauszukommen und in seine Wahrheit einzutreten.

»Komm jetzt zu mir«, sagt Jesus. »Nimm an, was ich für dich sein will: ein Erlöser voll grenzenlosem Mitgefühl, unendlicher Geduld, unerträglicher Vergebungsbereitschaft und einer Liebe, die nicht über deine Fehler Buch führt. Hör auf, deine eigenen Gefühle auf mich zu übertragen. Dein Leben ist wie ein geknicktes Rohr, und ich werde es nicht zerbrechen; wie ein glimmender Docht, aber ich werde ihn nicht auslöschen. Bei mir bist du in Sicherheit

Es ist einer der schockierendsten Widersprüche in vielen christlichen Gemeinden, dass so viele Nachfolger Jesu sich selbst so wenig leiden können. Es käme ihnen nie in den Sinn, die Fehler anderer Menschen in einem so schlechten Licht zu sehen wie ihre eigenen. Aber ihre eigene Mittelmäßigkeit hängt ihnen zum Hals heraus, und ihre Inkonsequenz ekelt sie an. David Seamands schrieb:

»Ein bedrängendes Gefühl der Selbstverdammung schwebt über vielen … Christen … Sie sind niedergestreckt von der stärksten psychologischen Waffe, die Satan Gläubigen gegenüber anwendet. Diese Waffe wirkt wie eine tödliche Rakete. Ihr Name? Geringes Selbstwertgefühl! Ein bedrückendes Gefühl von Minderwertigkeit, von Nicht-Bestehen-Können und niedrigem Selbstwertgefühl. Es hält viele Christen in Fesseln, obwohl sie herrliche Glaubenserfahrungen gemacht haben und Gottes Wort kennen. Obwohl sie sich ihrer Stellung als Söhne Gottes bewusst sind, sind sie mit Stricken an ein schreckliches Minderwertigkeitsgefühl gefesselt. Sie liegen an der Kette eines tiefen Gefühls eigener Wertlosigkeit.«7

Es gibt die Geschichte von einem Mann, der den berühmten Psychologen C. G. Jung aufsuchte, weil er unter chronischen Depressionen litt. Jung riet ihm, die vierzehn Stunden seines Arbeitstages auf acht zu reduzieren, auf direktem Wege nach Hause zu gehen und den Abend still und für sich in seinem Arbeitszimmer zu verbringen. Wie empfohlen ging der depressive Mann jeden Abend in sein Arbeitszimmer, schloss die Tür hinter sich zu, las ein bisschen Hermann Hesse oder Thomas Mann und spielte ein paar Chopin-Etüden oder Mozart-Sonaten.

Wochen später suchte er C. G. Jung erneut auf und klagte, er könne keine Besserung beobachten. Als Jung erfuhr, wie der Mann seine Zeit verbrachte, sagte er: »Aber Sie haben mich nicht richtig verstanden! Ich wollte nicht, dass Sie sich mit Hesse oder Mann, Chopin oder Mozart beschäftigen. Ich wollte, dass Sie wirklich allein sind.« Der Mann blickte ihn entsetzt an und erwiderte: »Aber ich könnte mir keine schlimmere Gesellschaft vorstellen.«8

Er hasste sich selbst. Viele Christen tun das auch. Das erstickt ihr geistliches Wachstum. Ein melancholischer Geist verfolgt sie und quält ihr Gewissen. Negative Stimmen aus der Familie: »Aus dir wird nie etwas«, das Gefühl, nicht so zu leben, wie sie leben sollen, Moralvorschriften der Kirche und der Druck, erfolgreich sein zu müssen, machen aus den erwartungsfrohen Pilgern auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem eine mutlose Reisegruppe mürrischer Hamlets und verängstigter Rullers. Alkoholismus, Arbeitssucht, insgesamt zunehmendes Suchtverhalten und eine steigende Selbstmordrate sind ein Hinweis auf die Größe des Problems. Henri Nouwen bemerkt dazu:

»Im Lauf der Jahre bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die größten Fallen in unserem Leben nicht der Erfolg sind, nicht die Berühmtheit und nicht die Macht, sondern die Verachtung seiner selbst. Berühmtheit und Macht können tatsächlich eine große Versuchung darstellen, doch werden sie oft nur dadurch zu so starken Verführern, dass sie im Dienst der viel größeren Versuchung stehen, sich selbst gering zu schätzen. Wenn wir schließlich den Stimmen glauben, die uns unnütz und nicht liebenswert heißen, leuchten uns Erfolg, Berühmtheit und Macht leicht als anziehende Lösungen auf. Aber die wirkliche Falle ist die Verachtung seiner selbst. (…) Sobald mir jemand etwas vorwirft oder mich kritisiert, sobald ich mich abgelehnt, allein gelassen oder vergessen fühle, kommen mir Gedanken wie: ›Ich hab’s ja schon immer gewusst, dass ich nichts bin.‹ (…) [Mein Schatten sagt:] ›Ich tauge nichts, es geschieht mir gerade recht, wenn ich beiseite geschoben, vergessen, abgelehnt, verlassen werde.‹ Die Verachtung seiner selbst ist der größte Feind des geistlichen Lebens, denn sie sagt das gerade Gegenteil davon, was die Stimme vom Himmel her sagt: ›Du bist ein geliebter Mensch.‹ Dass wir geliebte Wesen sind, ist die Kernwahrheit unseres Seins.«9 (Hervorhebung B. M.)

Wir können lernen, gütig zu uns selbst zu sein, wenn wir die tiefe, innige Liebe Jesu erleben. In dem Maß, wie wir es zulassen, dass die hartnäckige Liebe Jesu unsere innere Festung einnimmt, werden wir von den Bauchschmerzen wegen uns selbst frei. Christus möchte unsere Einstellung zu uns selbst ändern und erreichen, dass wir gemeinsam mit ihm gegen unsere eigene abwertende Einschätzung angehen.

Im vergangenen Sommer machte ich einen entscheidenden Schritt auf meiner inneren Reise. Ich zog mich für zwanzig Tage in eine entlegene Hütte in den Rocky Mountains zurück, um Stille und Einsamkeit zu suchen und mich gleichzeitig einer Therapie zu unterziehen. Früh am Morgen traf ich mich mit einem Psychologen, der mir half, mich lange verdrängten Erinnerungen und Gefühlen aus meiner Kindheit zu stellen. Den Rest des Tages verbrachte ich allein in meiner Hütte, ohne Fernseher, ohne Radio und ohne irgendeine Art von Lektüre.

Während die Tage so verstrichen, ging mir mit einem Mal auf, dass ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr fähig war, wirklich etwas zu empfinden. Ein traumatisches Erlebnis in jener Zeit hatte die Erinnerung für die nächsten neun Jahre und die Gefühle für die nächsten fünf Jahrzehnte ausgelöscht.

Als ich acht war, wurde der Schwindler, mein falsches Ich, als Abwehr gegen den Schmerz geboren. Der Schwindler in mir flüsterte: »Brennan, du kannst nie mehr so sein, wie du wirklich bist, weil dich so niemand mag. Erfinde ein neues Ich, das alle bewundern und das niemand richtig kennt.« So wurde ich ein braver Junge – höflich, wohlerzogen, unaufdringlich und rücksichtsvoll. Ich lernte fleißig, bekam hervorragende Noten, erhielt ein Stipendium – und wurde in jedem wachen Augenblick von der Angst verfolgt, verlassen zu werden … und von dem Gefühl, im Grunde keinen Menschen zur Seite zu haben.

Ich lernte, dass eine möglichst vollkommene Verstellung mir die Anerkennung und Bestätigung brachte, nach der ich mich so verzweifelt sehnte. Ich bewegte mich in einer gefühllosen Zone, in der ich Furcht und Scham in sicherem Abstand halten konnte. Wie mein Therapeut bemerkte: »Eine dichte Stahltür hat in all den Jahren Ihre Gefühle verschlossen und Ihnen den Zugang zu ihnen verwehrt.« Der Schwindler hingegen, den ich der Öffentlichkeit präsentierte, gab sich die ganze Zeit nonchalant und pflegeleicht.

Die große Trennung zwischen Kopf und Herz dauerte während meines gesamten Dienstes an. Achtzehn Jahre lang verkündigte ich die gute Nachricht von Gottes leidenschaftlicher und bedingungsloser Liebe – vom Kopf her völlig überzeugt, aber in meinem Herzen spürte ich nichts davon. Eine Szene in dem Kinofilm Postcards from the Edge bringt treffend zum Ausdruck, was in mir vorging. Ein Hollywoodstar (Meryl Streep) hört von ihrem Regisseur (Gene Hackman), was für ein wundervolles Leben sie doch habe und wie jede Frau sie um ihren Erfolg beneiden müsse. Streep erwidert: »Ja, ich weiß. Aber wissen Sie was? Ich spüre überhaupt nichts von meinem Leben. Ich habe mein Leben und all diese guten Sachen nie wirklich spüren können.«

Am zehnten Tag meiner Bergeinsamkeit brach ich plötzlich in ein heftiges Schluchzen aus. Ein großer Teil meiner Gefühllosigkeit und scheinbaren Unverwundbarkeit rührte daher, dass ich mich weigerte, über das Fehlen zärtlicher Worte und liebevoller Berührungen Trauer zu empfinden.

Doch als ich aus dem »Kelch der Trauer« trank, geschah etwas Bemerkenswertes: Von fern hörte ich plötzlich Musik und Tanz. Ich selbst war der verlorene Sohn, der nach Hause gehumpelt kam, nicht Zuschauer, sondern Teilnehmer. Der Schwindler verschwand, und ich lebte plötzlich wieder mein wahres Ich – ich war ein Kind, das zu Gott zurückkehrte.

Bislang hatte ich mich meiner selbst nie sicher gefühlt, solange ich nicht fehlerfrei funktionierte. Mein Wunsch, perfekt zu sein, war größer als mein Verlangen nach Gott. Tyrannisiert von einer Alles-oder-nichts-Mentalität deutete ich Schwäche als Mittelmäßigkeit und Inkonsequenz als Folge schwacher Nerven. Mitleid und Selbstannahme hielt ich für völlig unpassende Reaktionen. Meine verzerrte Vorstellung von mir selbst als Versager und gänzlich unzulänglicher Mensch ließ mich alle Selbstachtung verlieren, wodurch ich in Phasen von leichter Depression und starken Angstattacken geriet. Und ganz unbewusst hatte ich meine Gefühle für mich selbst auf Gott projiziert. Ich fühlte mich nur dann bei ihm sicher, wenn ich mich selbst als edel, großzügig und liebenswürdig sehen konnte, ohne Narben, Ängste oder Tränen. Mit einem Wort: Perfekt!

Doch an jenem strahlenden Morgen in einer Hütte tief in den Bergen von Colorado verließ ich mein Versteck. Jesus hob den Schleier der perfektionistischen Anstrengungen, und erlöst und von der Schuld befreit lief ich zu ihm nach Hause. Jetzt wusste ich, dass jemand für mich da war. In der Tiefe meiner Seele gepackt, die Wangen tränenverschmiert, nahm ich endlich all die Worte, die ich selbst über die hartnäckige, unnachgiebige Liebe gesagt und geschrieben hatte, für mich ganz persönlich in Anspruch und konnte sie zum ersten Mal wirklich spüren. An jenem Morgen begriff ich, dass Worte im Vergleich zur Wirklichkeit nur Stroh sind. Ich war nicht mehr jemand, der Gottes Liebe verkündigte, sondern ein Mensch, an dem Abba seine Freude hat. Ich sagte den Angstgefühlen Ade und Schalom zum Gefühl der Sicherheit. Am selben Nachmittag schrieb ich in mein Tagebuch:

Sich sicher fühlen heißt aufhören, mit dem Kopf zu leben, und sich tief in das eigene Herz versenken, sich gemocht und angenommen fühlen … sich nicht mehr verstecken und mit Büchern, Fernsehen, Filmen, Eiskrem, oberflächlichen Unterhaltungen ablenken müssen … in der Gegenwart bleiben und nicht in die Vergangenheit fliehen oder die Zukunft herbeisehnen, jetzt wach und aufmerksam sein … entspannt sein und nicht nervös und rastlos … Es ist nicht mehr nötig, andere zu beeindrucken oder zu blenden oder die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken … Unbefangen in die Welt zu treten, mit einer ganz neuen Art, mit mir selbst umzugehen … ruhig, frei von Angst, keine Bedenken, was als Nächstes passieren könnte … geliebt und geachtet … sich einfach bei sich selbst wohlfühlen.

Thomas Merton sagte einmal zu einem Mönchsbruder über diese selbstvergessene, freie Art zu leben: »Wenn ich irgendetwas daraus mache, dass ich Thomas Merton bin, dann bin ich tot. Und wenn du irgendetwas daraus machst, dass du für die Schweine zuständig bist, dann bist du tot.« Mertons Lösung? »Hör auf, überhaupt Buch zu führen, und überlass dich mit all deiner Sündhaftigkeit Gott, der weder die Punkte noch den Schiedsrichter sieht, sondern nur sein durch Christus versöhntes Kind.«10

Schon vor sechshundert Jahren schrieb Juliana von Norwich: »Manche von uns glauben, dass Gott allmächtig ist und alles tun kann; und dass er weise ist und alles tun könnte; aber dass er auch Liebe ist und alles tun wird – davor scheuen wir zurück. Diese Unsicherheit, so scheint mir, ist das größte Hindernis für alle, die Gott lieben.«11

Doch es gibt noch mehr Hindernisse. Alle die Dinge, derer wir uns schämen und die wir deshalb versuchen, in unserm Inneren zu vergraben. Gott will sie in seiner Liebe ans Licht holen und sie uns vergeben, damit sie uns nicht länger beherrschen können. Denken wir nur an die Worte des Apostels Paulus: »Alles, was aufgedeckt ist, wird vom Licht erleuchtet. Alles Erleuchtete aber ist Licht« (Epheser 5,13-14; Hervorh. B. M.).

Gott vergibt und vergisst nicht nur unsere schändlichen Taten, er macht sogar aus ihrem Dunkel Licht. Alle Dinge müssen denen, die Gott lieben, zum Besten dienen (Römer 8,28), »selbst«, so fügte Augustinus hinzu, »unsere Sünden«.

In dem Einakter von Thornton Wilder: Der Engel, der das Wasser bewegte (The Angel That Troubled the Waters), geht es um die Heilkraft des Wassers im Teich von Bethesda, wenn ein Engel von Zeit zu Zeit das Wasser bewegte (vgl. Johannes 5,1-4). Es wird aber nur der geheilt, der als erster hineinsteigt. Ein Arzt kommt regelmäßig zum Teich und hofft, einmal der Erste zu sein und von seiner Melancholie befreit zu werden.

Schließlich kommt der Engel, aber er hält den Arzt fest, als er ins Wasser steigen will. Stattdessen befiehlt er ihm zurückzutreten, denn er sei nicht an der Reihe. Der Arzt fleht mit gebrochener Stimme um Hilfe, aber der Engel bleibt dabei, dass eine Heilung für ihn nicht vorgesehen sei.

Das Gespräch geht hin und her – dann kommt das prophetische Wort des Engels: »Wo wäre deine Kraft ohne deine Wunden? Deine Melancholie ist es, die deine Stimme zittern und zu den Herzen von Männern und Frauen sprechen lässt. Selbst die Engel können die armseligen und ungeschickten Menschenkinder auf der Erde nicht so überzeugen, wie ein Mensch es kann, der selbst am Leben zerbrochen ist. Im Dienst der Liebe können nur verletzte Soldaten dienen. Arzt, tritt zurück!«

Der Mann, der dann als erster in den Teich steigen darf und geheilt wird, freut sich über sein Glück. Doch später sagt er zu dem Arzt: »Bitte, komm zu mir. Es ist nur eine Stunde bis zu meinem Haus. Mein Sohn wird von dunklen Gedanken bedrückt. Ich verstehe ihn nicht. Nur du konntest je seine Stimmung aufhellen. Nur eine Stunde … Da ist auch meine Tochter. Seit ihr Kind starb, sitzt sie im Dunkeln. Auf uns hört sie nicht, aber auf dich wird sie hören.«12

Christen, die ihre Schatten verstecken, leben weiter in der Lüge. Wir leugnen die Wirklichkeit unserer Sünde. Vergeblich versuchen wir, unsere Vergangenheit auszulöschen, und enthalten damit der Gemeinschaft unser eigenes Geschenk vor, mit dem wir anderen zur Heilung helfen könnten. Wenn wir aus Angst oder Scham unsere Wunden verbergen, kann unsere innere Finsternis weder erhellt noch zu einem Licht für andere werden. Wir klammern uns an unsere schlechten Gefühle und quälen uns selbst mit der Vergangenheit, wo wir sie einfach loslassen sollten. Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt, Schuld sei ein Götze. Wenn wir es dagegen wagen, als Menschen zu leben, denen vergeben wurde, dann gesellen wir uns zur Schar der verwundeten Helfer und kommen näher zu Jesus.

Henri Nouwen hat dieses Thema in seinem Klassiker Geheilt durch seine Wunden ausführlich und sehr einfühlsam behandelt. Er erzählt die Geschichte von dem Rabbi, der den Propheten Elia fragte, wann der Messias komme. Elia erwiderte, der Rabbi solle den Messias direkt fragen, er werde ihn im Stadttor sitzen finden. »Wie soll ich ihn erkennen?«, fragte der Rabbi. Elia erwiderte: »Er sitzt über und über mit Wunden bedeckt, unter den Armen. Die anderen legen all ihre Wunden auf einmal frei und verbinden sie wieder. Er aber nimmt immer nur einen Verband ab und legt ihn sofort wieder an, denn er sagt sich: Vielleicht braucht man mich; wenn ja, dann muss ich immer bereit sein und darf keinen Augenblick säumen.«13

Der leidende Gottesknecht bei Jesaja kennt seine Wunden. Sie werden zu einer Quelle der Heilung für die Menschen.

In Geheilt durch seine Wunden kommt zum Ausdruck, dass Gnade und Heilung letztlich von Männern und Frauen weitergegeben werden, die selbst vom Leben geschlagen und zerbrochen sind. Im Dienst der Liebe können nur verletzte Soldaten dienen.

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