Christian Pinter

Helden des Himmels

Geschichten vom Kosmos und seinen Entdeckern

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00937-9
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil
unter Verwendung eines Fotos von akg-images
Lektorat: Marie-Theres Pitner
Typografische Gestaltung, Satz: Ekke Wolf, www.typic.at
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALT

VORWORT

DER HIMMEL ALS BILDERBUCH

Fabelwesen der Sonnenbahn

In den Sternbildern des Tierkreises findet sich jeder wieder. Doch wie gelangen Löwe, Jungfrau oder Steinbock tatsächlich ans Himmelszelt?

Europa und der Stier

Das Wintersternbild Stier ist vermutlich ein Geschichtsbericht. Es erzählt von Aufstieg und Fall der ersten Hochkultur Europas.

Ein Held am Firmament

Griechische Astronomen verdrängen Wissen, das ihnen unbequem ist. Die Mythen um die Sternbilder Perseus & Co. legen dies nahe.

Das ABC der Himmelslichter

Der Augsburger Johannes Bayer gibt 1603 einen epochalen Himmelsatlas heraus. Darin schenkt er den Sternen Vor- und Familiennamen.

Unter fremden Sternen

Nicolas de Lacaille füllt Lücken am Südhimmel aus. Er setzt »Luftpumpe«, »Indianer« oder »Grabstichel« ans Firmament.

Leitgestirn mit Ablaufdatum

Shakespeare irrt, als er seinen Julius Cäsar vom Nordstern schwärmen lässt; dieses Gestirn gab es in der Antike nicht.

DAS KLEINE UNIVERSUM

Der Himmel über Babylon

Sternzeichen, Astrologie, Omenkunde. Was treibt die Priesterastronomen des Zweistromlands an?

Ein Kosmos voller Geometrie

Die Griechen schenken dem Kosmos eine Perspektive.
Ihre Erkenntnisse befruchten und hemmen seine Erforschung.

Das Erbe der Römer

Die römische Astronomie hinterlässt vertraute Namen und Begriffe. »Hundstage« inklusive.

Die schweigenden Chroniken

Klosterchroniken verheimlichen die Supernovae des 11. und 12. Jahrhunderts. Doch aus welchem Grund?

Ein verhängnisvoller Irrtum

Eine Mondfinsternis rettet Christoph Kolumbus das Leben. Und sie bestärkt ihn im Irrglauben, Indien erreicht zu haben.

ALLES NUR HYPOTHESE

Des Domherrn einziger Schüler

Nikolaus Kopernikus trägt eine revolutionierende Kosmologie im Kopf. Ohne den Vorarlberger Joachim Rheticus ginge sie wohl nie in Druck.

Der Herr der Himmelsburg

Tycho Brahe will die Astronomie ohne Widerspruch zur Bibel reformieren. Er zimmert sich ein höchst eigentümliches Weltbild zusammen.

Auf unendliche Weise unendlich

Giordano Bruno nimmt in seinen Gedanken viele modern anmutende Erkenntnisse vorweg. Er stirbt auf dem Scheiterhaufen.

ALTE DOGMEN UND NEUE GESETZE

Das Ringen mit Mars

Am Höhepunkt seines Schaffens kämpft Johannes Kepler mit dem Kriegsgott. Er nimmt ihn gefangen und entlockt ihm die Planetengesetze.

Die Sterne der Medici

Galileo Galilei tritt an, Kopernikus mit dem Fernrohr zu beweisen. Er wirbelt gehörig Staub auf.

Mondtraum und Hexenwahn

Johannes Kepler macht die Leser reif für den großen Perspektivenwechsel. Er setzt dabei auf Science-Fiction.

Sehnsucht nach Harmonie

Der Schwabe Johannes Kepler sucht nach Gleichklängen.
Er findet sie im Kosmos, selten jedoch auf Erden.

Alle Wahrheit liegt in Rom

Ausgerechnet Galileis Engagement für die neue Lehre beschleunigt deren Verbot. Und es bringt den Forscher in Lebensgefahr.

Die letzte Reise

Johannes Kepler stirbt auf Besuch in Regensburg.
Nicht einmal die letzte Ruhe ist ihm vergönnt.

IM BANN DER ANZIEHUNGSKRAFT

Astronomie als Staatsaffäre

Im Zeitalter der kolonialen Seefahrt wird die Himmelskunde zum Politikum. Astronomen wissen das zu schätzen.

Der niederländische Kosmopolit

Bilder der Delft-Schule inspirieren den Himmelsforscher Christiaan Huygens. Er denkt über das Licht nach.

Wunderbare Welt der Schwerkraft

Eigentlich soll Isaac Newton eine Wette entscheiden.
Auf Drängen Edmond Halleys schreibt er jedoch gleich eine neue Physik.

Die kosmische Partitur

Wilhelm Herschel und seine Schwester Karoline liefern Entdeckung um Entdeckung ab. Ihre Gedanken lassen Zeitgenossen schaudern.

KOSMISCHE TRIUMPHE

Ein Mann und seine dunklen Linien

Josef Fraunhofer testet Glassorten für Fernrohrlinsen. Dabei stößt er auf verräterische Striche im Sonnenspektrum.

Der himmlische Tachometer

Zug fahrende Trompeter sollen Christian Dopplers Effekt beweisen. Ohne ihn stünde die Astronomie heute armselig da.

Pariser Himmelsmechaniker

Dank Urbain Le Verrier taucht Neptun aus dem Meer der Gestirne auf. Sein Planet »Vulkan« erweist sich jedoch als Trugbild.

Das Ende der großen Debatte

Harlow Shapley bläst unsere Milchstraße gewaltig auf. Doch Edwin Hubble degradiert sie zu einer unter vielen Milliarden ähnlicher Sterneninseln.

IM ZAUBERREICH VON LICHT UND FARBE

Des Mondes Silberschein

Das Mondlicht kann verzaubern. Man muss ihm bloß einen neugierigen Blick gönnen.

Im Schlund des Drachens

Ab und an leistet sich Frau Luna einen Fehltritt. Dann errötet sie vor Scham.

Abenteuer im Erdschatten

Die Dämmerung ist ein Naturwunder ersten Ranges. Nur leider viel zu alltäglich.

Nordisches Himmelsdrama

Aurora trägt ein rotes Top und einen kurzen grünen Rock.
Es dauerte Jahrhunderte, um ihr auf die Schliche zu kommen.

VORWORT

Die Sterne erzählen Geschichten – von der Architektur des Himmelszelts, den Gefühlen seiner Betrachter und den Motiven seiner Entdecker. Anfangs suchten Priesterastronomen in den Bewegungen der Wandelgestirne nach göttlichen Fingerzeigen. Dann umrankten Poeten die Sternbilder mit fantastischen Legenden. Der Himmelsdom hielt nun die Taten oder Untaten der Helden und Götter lebendig – und geriet dabei zur Projektionsfläche der eigenen Ängste, Hoffnungen und Begierden.

Später ließen Naturphilosophen ihren Geist in die Weiten des Raums entfliehen. Sie kehrten beflügelt von ihren himmlischen Ausflügen heim. Viele ihrer Gedanken überdauerten Jahrhunderte. Manche erstarrten jedoch zu bleiernen Dogmen und hemmten so die Neugierde nachfolgender Generationen. Wer aber überkommene Anschauungen überwand, der zwang seine Zeitgenossen, neuerlich über den Bauplan der Natur nachzudenken. Er schrieb Geschichte, wurde mitunter zum Helden.

Astronomen brachten nicht immer nur gute Nachrichten von ihren nächtlichen Entdeckungsreisen mit. So widersprach die herumwirbelnde Erde des Kopernikus dem einfachen Sinneseindruck – und stellte damit den »gesunden Menschenverstand« in Frage. Außerdem riss der Frauenburger Domherr die Menschheit gleichsam aus dem Schoß der Schöpfung, stieß sie aus der kosmischen Mitte. Am ehesten ließen sich solche Kränkungen ertragen, wenn man seine Lehre zur reinen mathematischen Hypothese erklärte. Doch Kopernikus dichtete keine »Possen« – davon waren Giordano Bruno, Johannes Kepler und Galileo Galilei überzeugt. Bruno spann den Faden am weitesten. Er setzte uns an einer höchst beliebigen Stelle im All ab, sprach von einem Kosmos ohne Grenzen. Und darin sollte es womöglich sogar noch bessere Bewohner geben als die Menschheit!

Vor genau 400 Jahren kämpfte Kepler mit den Mitteln der Geometrie, der Mathematik und der Fiktion für den kopernikanischen Perspektivenwechsel. Dabei schwankte er noch zwischen scharfsinnigster Logik und Mystik. Gleichzeitig zerschlug Galileo Galilei mit dem neuen Fernrohr Glaubenssätze, an denen sich die Gegner des Kopernikus festhielten. Erst als die neue Lehre mehr zu scheinen drohte als eine »mathematische Grille«, schritt Rom gegen sie ein. Luther hatte Kopernikus schon lange zuvor angegriffen.

Bald fahndete der Engländer Isaac Newton nach jener Kraft, die diese Welt zusammenhält. Astronomen suchten überall nach den Fingerabdrücken von Newtons Gravitation – am Rand des Planetensystems ebenso wie weit draußen in der Milchstraße. In den Riesenteleskopen Wilhelm Herschels spiegelte sich das Universum. Er sprach von Räumen und Epochen, die seine Zeitgenossen schlichtweg schaudern ließen.

Angesichts irdischer Wirrnisse galt das Sternenzelt vielen Gelehrten seit der Antike als erhabener Gegenpol, als Hort der Erbauung. Tycho Brahe sah die astronomische Wissenschaft weit entrückt von allen Niederungen dieser Welt. Johannes Kepler war sogar überzeugt, dort oben Gottes Handschrift lesen zu können. Doch obwohl sich Astronomen oft als Priester oder zumindest als Diener der Natur empfanden, blieben sie doch eingebettet in den philosophischen, sozialen und politischen Kosmos ihrer Zeit. Der Streit der Konfessionen, die Machtgier der Herrscher und die Suche nach Dienstherren rieben sie auf; Armut, Krankheit und mitunter auch Aberglaube bedrohten ihre Existenz.

Schon deshalb spielte sich die Erforschung der »oberen Hälfte unserer Umwelt« nie im Elfenbeinturm ab. Die Himmelskunde war vielmehr Teil der Kulturgeschichte. Sie wurde von ihr geprägt und prägte sie wider. Das belegen die Lebenswege jener Astronomen, die sich den Sternen mit Leib und Seele verschrieben haben.

Das vorliegende Werk fußt auf einer Auswahl jener mehr als 220 Artikel, die ich bislang für die traditionsreiche »Wiener Zeitung« verfassen durfte. Sie sind hier teils mehr, teils weniger überarbeitet und ergänzt, um die Vorzüge eines Lesebuchs voll auszuschöpfen. Die älteste Tageszeitung der Welt hat meine Arbeit seit 1991 entscheidend geformt. Für sie zu schreiben, war mir stets eine besondere Freude. Ich wünsche Ihnen, liebe Leser, das gleiche Vergnügen bei der Lektüre dieses Buchs.

Für Ermunterung, Anregungen und Geduld danke ich besonders Redakteur Gerald Schmickl vom »extra« der »Wiener Zeitung«, Thomas Weiland, Christine Schwarz, Susanne Janes, Eva Lang, Edith Flatz, Maria Schickermüller, Kurt Grafl und Roswitha Mesli.

DER HIMMEL ALS BILDERBUCH

Fabelwesen der Sonnenbahn

Der liebeshungrige griechische Gott Zeus täuscht Alkmene in Gestalt ihres Gemahls. So schenkt sie ihm Herakles. Zeus legt den Säugling an die Brust seiner Gattin Hera. Die stößt ihn erbost zurück; dabei spritzt göttliche Milch übers Sternenzelt und gerinnt zum zarten Band der Milchstraße. Im Altgriechischen heißt die Milch »gala«. Deshalb nennen Astronomen unsere Milchstraße »Galaxis« und andere Milchstraßensysteme »Galaxien«.

Die Römer verehrten den starken Herakles später unter dem Namen »Hercules«. Er ist gleich mit drei der zwölf Tierkreissternbilder verknüpft. Das himmlische Dutzend, das genau genommen sogar aus 13 Konstellationen besteht, bildet eine Art Rennbahn. Darauf laufen die Wandelgestirne – Sonne, Mond und Planeten – um die Wette.

Um deren Lauf abzustecken, setzten Astronomen des Zweistromlands die helleren und schwächeren Sterne entlang der himmlischen Rennbahn sehr früh zu Bildern zusammen. Die Griechen übernahmen viele der mesopotamischen Motive und verwoben sie mit ihren eigenen Mythen. Die Tierkreisbilder legen anschaulich Zeugnis von der reichen Legendenwelt der Antike ab. Über das Konstrukt der Sterndeutung findet sich jeder Mensch in einer dieser Himmelsfiguren wieder – obwohl die von den Astrologen so strapazierten Sternzeichen längst nichts mehr mit den am Nachthimmel tatsächlich sichtbaren Sternbildern zu tun haben.

Krebs, Löwe, Stier

Im Schoß der Erde hauste die schönwangige Echidna, deren untere Körperhälfte einem schlangenhaften Untier glich. Der Riese Typhon liebte sie. Aus seinen Schultern ragten hundert Schlangenhäupter, die Flammen und Lava spieen. Die Wasserschlange Hydra war Kind des seltsamen Paares. Auch sie besaß hundert Köpfe. Schlug man einen ab, wuchs er doppelt nach. Die Göttin Hera zog die Hydra nahe der Stadt Lerna groß, wo sie bald über das Vieh herfiel. Herakles wollte sie töten. Um den verhassten Sohn ihres Gatten zu schwächen, entsandte Hera einen riesigen, unbarmherzigen Krebs. Dessen scharfe Scheren bohrten sich ins Bein des kämpfenden Helden. Er siegte trotzdem.

Der zertretene Krebs (lat.: Cancer) wurde als gleichnamiges Sternbild ans Firmament gesetzt. Vor 2000 Jahren erreichte die Sonne diese Konstellation zu Sommerbeginn. Bei Ovid glühen die Scheren des Himmelskrebses deshalb in der Sonnenhitze. Für Seneca ist es tatsächlich seine Glut, welche die Saaten reifen lässt.

Noch bevor Herakles die Hydra tötete, pflanzte sie sich fort. Ihr Enkel war ein schrecklicher Löwe, dessen hartes Fell unverwundbar machte. Hera zog ihn bei Nemea auf. Die Stadt lag nur wenige Gehstunden von Mykene entfernt, wo man um 1250 v. Chr. das berühmte Löwentor errichtete. Heras reißendes Tier geriet zur Landplage, bis es erwürgt wurde – natürlich von Herakles. Fortan diente ihm die Löwenhaut samt der dichten Mähne und dem leuchtenden Rachen als Umhang. Um den Mut seines Sohnes aller Welt vor Augen zu führen, hob Zeus das erlegte Raubtier als Sternbild Löwe (Leo) an den Himmel.

Um 150 n. Chr. taufte der Alexandriner Claudius Ptolemäus die himmlischen Lichtpunkte nach ihrer Lage in der jeweiligen Konstellation. Sein Werk wurde zunächst ins Arabische und später von dort ins Lateinische übersetzt. Auch deshalb tragen viele Sterne heute arabische Eigennamen. Jene des Löwen heißen etwa Duhr (Rücken), Subra (Mähne), Aldhafera (Haarsträhne), Denebola (Schwanz) oder Kabeleced (Herz). Letzterer Stern wird aber meist Regulus (lat.: kleiner König) genannt. Wie Astronomen mittlerweile herausfanden, rotiert er extrem schnell um seine Achse. Es fehlte nicht viel und die Fliehkraft risse den Löwenstern auseinander.

Die griechische Zwei-Euro-Münze erinnert an die Geschichte der phönizischen Königstochter Europa. Einst kletterte sie arglos auf den Rücken eines anmutigen Stiers. Der trabte mit ihr zum Ufer, schwamm durchs Mittelmeer und setzte sie an Kretas Küste ab. Dort erst gab sich Zeus zu erkennen und zeugte den mächtigen König Minos. Später tauchte nochmals ein strahlend weißer Stier auf Kreta auf, der mit Wahnsinn gestraft war. Herakles überwältigte ihn – und geriet so einmal mehr zum Inbegriff für Macht und Stärke.

Im Sternbild Stier (Taurus) erblickten die alten Griechen einen der beiden kretischen Stiere. Der leicht orangefarbige Stern Aldebaran bildet sein blutunterlaufenes Auge. Daran schließt die lockere Sterngruppe der Hyaden an. Am Stiernacken schimmern die kleineren Plejaden. In der Antike sah man in den Sternen beider Haufen Schwestern. Damit lag man gar nicht so falsch. Tatsächlich werden Sterne im All meist nicht einzeln, sondern in ganzen Familienverbänden geboren. Jeweils einige Dutzend oder gar Hunderte von jungen Sonnen bilden einen sogenannten »Offenen Sternhaufen«. Am Himmel formen die beiden Sternhaufen das Goldene Tor: Die Sonne schreitet jedes Jahr um den 25. Mai zwischen Hyaden und Plejaden hindurch.

Fische, Steinbock, Wassermann

Einmal stieg der schon erwähnte Riese Typhon aus der Erdentiefe und jagte den Göttern Angst ein. Sie nahmen allerlei Truggestalten an und flohen an die Gestade des Nils. Zeus verwandelte sich in den gehörnten Anführer einer Schafherde, Artemis in eine Katze, der schnelle Hermes (röm.: Merkur) in einen geflügelten Ibis, Hera in eine schneeweiße Kuh, Aphrodite (röm.: Venus) in einen Fisch. Der griechische Mythos versuchte zu erklären, warum die Ägypter ihre Götter mischgestaltig sahen. Ammon besaß dort tatsächlich gewundene Hörner, Bastet ein Katzenhaupt, Thot einen Ibiskopf. Die Kuh war Symboltier der ägyptischen Hathor, während die altägyptische Hatmehit einen Fischkopf trug.

Womöglich tauchte die flüchtende griechische Liebesgöttin Aphrodite aber auch unverwandelt in die Fluten – gemeinsam mit ihrem Sohn Eros. Zwei Fische trugen die beiden davon. Zum Dank erhielten diese einen Platz am Firmament.

Um das Sternbild Fische (Pisces) rankt sich noch eine andere Legende. Unter den einäugigen Kyklopen, so erzählt Homer, war Polyphem der riesigste. Als er sich in die milchweiße Galateia verliebte, stutzte er sich den Bart mit der Sichel und kämmte sein borstiges Haar mit dem Rechen. Die Meeresnymphe ignorierte sein Werben und zog den hübschen Akis vor. Polyphem erschlug den Mitbewerber. Vielleicht entkam Akis jedoch und sprang mit der schönen Galateia ins Meer. Dort verwandelten sich die Liebenden in Fische – und tauchten gemeinsam ab.

Der Wald- und Hirtengott Pan mischte sich gern unerkannt in die Herden, um dort Schrecken zu verbreiten – daher das Wort »Panik«. Als der vielhäuptige Typhon den Olymp stürmte, ergriff ihn jedoch selbst panische Angst. Sowieso schon bockshörnig und bocksfüßig, tarnte sich Pan als Ziege. Weil er gleichzeitig ins Wasser sprang, verwandelte sich sein Unterleib in einen muskulösen Fischschwanz: Alte Himmelskarten zeigen das Sternbild Steinbock (Capricornus) tatsächlich noch als Ziegenfisch. Das eigentümliche Mischwesen stammt ursprünglich aus Mesopotamien. Es ähnelt dem Symbol des sumerischen Süßwassergottes Enki, den die Babylonier Ea nannten.

Eine andere babylonische Legende erzählt: Einst vermehrten sich die Menschen viel zu rasch und störten die Götter mit ihrem Lärm. Diese fassten den Beschluss, die Störenfriede ohne Ausnahme mit einer großen Flut zu ertränken. Der weise Enki durchkreuzte jedoch den Plan seiner Götterkollegen. Er riet einem Sterblichen zum Bau eines mehrstöckigen Schiffes. Damit rettete wenigstens dieser Mann seine Familie, Tiere und Habe. Er wurde zum Stammvater eines neuen Menschengeschlechts. Es war weniger fruchtbar – und entsprechend leiser.

Aus dem alten Griechenland kennt man einen vergleichbaren Mythos. Als auf Erden das Eiserne Zeitalter angebrochen war, wühlten Menschen in den »Eingeweiden der Erde«. Bodenschätze wie Eisen und Gold wurden Anlass für Zwietracht, Raub und Krieg. Überall regierten Habgier, Heimtücke und Gewalt. Zeus beschloss, die frevelnde Menschheit auszulöschen. Die Flussgötter öffneten die Schleusen der Quellen; entfesselte Ströme wälzten sich zum Meer. Bald wohnten Delfine in den Wäldern, während Meeresnymphen die versunkenen Städte bewunderten. Nur zwei Menschen retteten sich auf einem kleinen Floß: Deukalion, der das Recht mehr liebte als jeder andere, und seine gottesfürchtige Gemahlin Pyrrha. Nachdem Zeus den Rückzug der Fluten befohlen hatte, folgte das Paar einem Orakelspruch und warf die »Gebeine« der Mutter Erde – Steine – hinter sich. Aus diesen entsprang ein neuer Menschenschlag, hart und ausdauernd. Er legt davon Zeugnis ab, woraus wir entstanden sind, resümiert Ovid. Im Herbststernbild Wassermann (Aquarius) ist der griechische Stammvater Deukalion verewigt. In den Händen hält er einen schweren Krug, aus dem sich ein Strom Wasser ergießt.

Jungfrau, Waage, Skorpion

Typhons frecher Himmelssturm musste scheitern. Der Riese wurde überwältigt. Die Götter warfen Sizilien auf ihn. Manchmal versucht er noch, die Massen abzuwälzen. Dann beben Berge und Städte. Speit Typhon Feuer, brennt der Ätna. Selbst der Unterweltgott Hades fürchtet, die Erde würde aufreißen; Sonnenstrahlen könnten dann zu den blutleeren Schatten der Toten vordringen. Deshalb fährt Hades mit seinem schwarzen Gespann prüfend um die Insel.

In der Unterwelt wirkt Aphrodites Zauber nicht. Das kränkt die Liebesgöttin. Sie sorgt dafür, dass Hades in Leidenschaft zur Zeus-Tochter Persephone verfällt. Er entführt die Jungfrau, reißt sie hinab in sein Schattenreich und macht sie, so Vergil, zur »Herrin der Tiefe«. Der Raub erschüttert Persephones Mutter, die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter. In Zorn und Trauer zerbricht sie die Pflüge und befiehlt den Äckern, die Saat zu unterschlagen. Als Rinder und Bauern verhungern, spricht Zeus ein Machtwort: Persephone darf einen Teil des Jahres mit ihrer Mutter auf dem Olymp verbringen; dann tragen die Felder Ähren. Muss sie zurück in den Hades, fallen die Blätter von den Bäumen. Seither verändert sich die Vegetation in alljährlichem Rhythmus.

Im Sternbild Jungfrau (Virgo) erblickte man entweder die Fruchtbarkeitsgöttin Demeter oder ihre Tochter Persephone. Schon bei Aratos trug die himmlische Jungfrau eine schimmernde Ähre in der Hand; alte Himmelskarten stellen sie noch so dar. Der Name des hellen Hauptsterns Spica (lat.: Ähre) spiegelt ebenfalls die Verbindung zum Ackerbau wider. Einst nutzten griechische Bauern die Spica wohl als Kalendergestirn. Heute fahren Teleskopbesitzer reiche Ernte in der Jungfrau ein: Im Norden der Konstellation liegt, 55 Millionen Lichtjahre von uns entfernt, ein Teil des berühmten Virgo-Galaxienhaufens. Jeder seiner matt schimmernden Nebel ist ein sternreiches Milchstraßensystem ähnlich dem unseren.

Ein anderer Mythos sieht in diesem Sternbild die jungfräuliche Gerechtigkeitsgöttin Astraea. Als das frevlerische Eiserne Zeitalter anbrach, verließ sie »als Letzte der Himmlischen die blutgetränkte Erde« (Ovid). Uns ist die römische Justitia als Personifikation des Rechts vertrauter. Zu deren Attributen zählt die Waage. Tatsächlich grenzt das Tierkreissternbild Waage (Libra) direkt an das der Jungfrau an. Es wurde gern als Sinnbild der Gerechtigkeit betrachtet. Johann Gottfried Herder brachte die Himmelswaage im 18. Jahrhundert sogar mit dem Jüngsten Gericht in Verbindung.

Die Bewegungszone der Wandelgestirne heißt traditionell Zodiakus. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort »zoion« ab, das nicht »Tier«, sondern »Lebewesen« bedeutet. Im sogenannten »Tierkreis« ist demnach sehr wohl auch Platz für Mischwesen, Menschen oder menschengestaltige Gottheiten. Die Waage bildet dort allerdings den einzigen Gegenstand. Das nährt Gerüchte, wonach sie erst spät Aufnahme in den Zodiakus fand. Vielleicht griffen antike Astronomen hier aber doch auf einen uralten ägyptischen Mythos zurück.

Am Nil maß man den Ernteertrag schon 2000 v. Chr. mit Waagebalken und Waagschalen. Damals erreichte die Sonne den fraglichen Himmelsabschnitt zu Herbstbeginn. An diesem Termin steigt sie exakt im Osten auf und geht genau im Westen unter. Tag und Nacht sind gleich lang. Wahrscheinlich empfand man das als besonderes Zeichen kosmischer Balance. Gewogen wurde auch beim ägyptischen Totengericht, und zwar das Herz des Verblichenen gegen die Straußenfeder der Ma’at. Sie war die Begleiterin des Sonnengottes Re auf seiner täglichen Fahrt mit der Sonnenbarke. Die Göttin stand für die kosmische und weltliche Ordnung. Wer weiß: Womöglich entspringt auch die Himmelswaage letztlich der ägyptischen Religion.

In ihrer unteren Schale ruht jedenfalls der Stern Alpha Librae. Manche Menschen trennen ihn bereits ohne optisches Gerät in zwei Lichtpunkte. Die meisten brauchen dazu allerdings ein Opernglas oder einen Feldstecher. Das Teleskop zeigt etliche solcher Doppelsterne. Deren Komponenten ziehen jeweils um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. Der leichtere Stern übt weniger Anziehungskraft aus; er muss beim Tanz den längeren Weg zurücklegen. Aus dem Bewegungsspiel lassen sich also die Massen der beiden Sonnen ermitteln. Es ist, als hielten Astronomen eine Sternenwaage in Händen.

Alpha Librae wird auch Zuben Elgenubi genannt. Dieser aus dem Arabischen stammende Name bedeutet »südliche Schere«: Denn einst dehnte der angrenzende Skorpion (Scorpius) »seine Glieder über den Raum von zwei Tierkreiszeichen« aus (Ovid). Dann erst wurde ihm die Himmelswaage in die Scheren gedrückt. Später stutzte man seine Fangarme gar zurecht, um die Waage zu isolieren. Sobald dieser Skorpion am Himmel erscheint, flieht das Sternbild Orion. Das giftige Spinnentier wurde nämlich von der Erdgöttin ausgesandt, um den hünenhaften Jäger Orion zu töten. Der hatte zuvor leichtfertig geprahlt, alles Wild auf Erden erlegen zu können.

Am Herz des himmlischen Skorpions funkelt ein heller Lichtpunkt. Seine Farbe erinnerte die Griechen an jene des Planeten Mars, der ihnen als Gestirn des Kriegsgottes Ares galt. Deshalb tauften sie den Stern »Antares«. Rückte man ihn an die Stelle unserer Sonne, verschwänden Merkur, Venus, Erde und Mars in seiner Gashülle. Antares hat sich nämlich schon zum Roten Riesen aufgebläht. Dabei sank die Oberflächentemperatur auf 3000 Grad C. Seither ist er deutlich kühler als unsere eigene Sonne und glänzt daher in leicht orangefarbigem Ton. Damit bildet er einen hübschen Gegensatz zur Spica in der Jungfrau. Dort mischt sich, bei 20 000 Grad C, ein Schuss Blau ins Sternenweiß. Der Blick zum Nachthimmel macht unser Auge zum kosmischen Thermometer: Aus den Pastelltönen der hellsten Fixsterne lassen sich deren Oberflächentemperaturen abschätzen.

Schütze, Widder, Zwillinge

Auf einem Berg in Thessalien liebte Gott Kronos (röm.: Saturn) die Okeanos-Tochter Philyra. Um den Ehebruch vor seiner Gattin Rheia zu verbergen, vollzog er ihn in Gestalt eines Hengstes. So entstand der weise, unsterbliche Kentaur Chiron, halb Pferd, halb Mensch. Er unterrichtete Göttersöhne und Helden – auch im Umgang mit dem Bogen. Herakles verletzte ihn versehentlich mit einem Giftpfeil. In unsagbarem Schmerz sehnte Chiron den Tod herbei. So wurde er schließlich als Sternbild Schütze (Sagittarius) in den Tierkreis aufgenommen.

Im Himmelsschützen verschmolzen wohl ältere Motive aus Ägypten und Mesopotamien. Dort hatte man in seinen Sternen eine Reitergestalt bzw. einen Bogenschützen erblickt. In Sommernächten zielen heute Tausende Fernrohre in seine Richtung. Der Schütze ist nämlich reich an interessanten Himmelsobjekten. Der Omeganebel zählt zu den Emissionsnebeln. Diese weiten Wolken aus leuchtendem Gas sind kosmische Kreißsäle, in denen gerade neue Sterne geboren werden. Aus dem Lagunennebel guckt bereits ein ganzer Haufen von Sternenkindern hervor. Sie sind erst wenige Millionen Jahre alt. Ein Fernglas genügt, um sie zu grüßen.

Einst trachtete die böse Stiefmutter den Königskindern Helle und Phrixos nach dem Leben. Die beiden konnten gerade noch fliehen – und zwar auf dem Rücken eines goldwolligen, flugfähigen Widders. Auf der luftigen Reise verlor Helle den Halt. Sie stürzte über den Dardanellen ab. Deshalb taufte man diese Meerenge »Hellespont«. Phrixos landete sicher im heutigen Georgien. Dort nahm ihn der Bruder der Pasiphae auf. Das fliegende Tier wurde geopfert und als Sternbild Widder (Aries) ans Firmament gesetzt. Sein Fell, das Goldene Vlies, verblieb in Kolchis. Chirons Schüler Jason stach mit den Argonauten in See, um es zu rauben.

Einst verführte Zeus die Leda in Gestalt eines Schwans. Noch am selben Tag empfing sie ein zweites Kind, diesmal von ihrem königlichen Gatten. So brachte sie schließlich Zwillinge zur Welt: den unsterblichen Polydeukes, den Vergil »Pollux« nennt, und den sterblichen Castor. Die Brüder schlossen sich Jasons Argonauten an. Nach ihrer Rückkehr aus Kolchis wurden sie zu einer Hochzeitsfeier eingeladen – und raubten die Bräute. Im folgenden Kampf fiel Castor. Pollux wollte auf seine Unsterblichkeit verzichten und ihm in die Unterwelt folgen.

Die Bitte seines Sohns rührte Zeus (röm.: Jupiter). Er erlaubte den Zwillingen, abwechselnd auf dem Olymp und dann wiederum im Hades zu weilen. Die beiden wechselten fortan gemeinsam zwischen Licht und Dunkel, Leben und Tod. Auch das Tierkreissternbild Zwillinge (Gemini) steigt täglich in den Himmel auf, um 16 Stunden später wieder unter die Erde zu sinken.

Die Namen der Brüder sind auf die beiden Hauptsterne des Sternbilds übergegangen. Auf den ersten Blick muten sie gleich hell an; erst bei genauerem Hinsehen verrät Pollux seine »göttliche Abstammung«. Er glänzt kräftiger. Der 34 Lichtjahre entfernte Stern besitzt sogar einen eigenen richtigen Planeten: Solche Exoplaneten entziehen sich dem teleskopischen Blick und sind nur unter Einsatz komplizierter Verfahren nachweisbar. Dafür entlarvt schon das Amateurfernrohr Castor als Doppel- bzw. Dreifachstern. In Wahrheit besteht er wahrscheinlich sogar aus sechs Sonnen.

In den Zwillingen schimmert außerdem ein kleines, rundliches Nebelscheibchen. Im großen Teleskop erinnert es an einen Inuit mit Pelzkapuze. Objekte wie dieser Eskimonebel zählen zu den sogenannten »Planetarischen Nebeln«. Sie haben mit Planeten aber nichts zu tun. Vielmehr sind das die Reste jener Gashüllen, die Sterne am Ende ihres Lebens ins All blasen. In einigen Milliarden Jahren gibt unsere Sonne wohl mit einem ähnlichen Nebelgebilde Kunde von ihrem Ableben.

Und dann noch der Schlangenträger

Apollon war der Gott des Lichts, der Weissagung und der Dichtkunst. Er verliebte sich in das schönste Mädchen Thessaliens: Als ihm Koronis untreu wurde, schoss er ihr einen Pfeil in die Brust. Mit schwacher Stimme gestand sie ihm, sein Kind im Leib zu tragen. Jetzt reute Apollon die Untat. Doch all seine Heilkunst versagte, Koronis starb. Schließlich riss er den ungeborenen Sohn aus ihrem Leichnam. Der weise Kentaur Chiron zog das Kind auf.

Dank Chirons Unterricht wurde Apollons Sohn Asklepios – wir nennen ihn »Äskulap« – zu einem grandiosen Arzt. In Epidauros verehrten ihn Kranke wie einen Gott. Als das pestgeplagte Latium seine Hilfe benötigte, wollten ihn die Stadtväter nicht ziehen lassen. Daher schiffte sich Asklepios in Schlangengestalt ein, zischend und züngelnd. Sein Stab, von der Schlange umwunden, wurde später zu einem Symbol der Heilkunde. Asklepios versuchte, den vom Skorpion gestochenen Jäger Orion zu retten. Später holte er sogar einen Toten ins Leben zurück. Das war Frevel und Zeus erschlug den allzu erfolgreichen Heiler. Am Sommerhimmel lebt er jedoch als Sternbild Schlangenträger (Ophiuchus) weiter.

Zu seinen Schätzen zählen etliche Kugelsternhaufen, wie z. B. M 10 und M 12. Mit einem Alter von mehr als zwölf Milliarden Jahren beherbergen Kugelhaufen die Sternengreise unserer Galaxis. Bis zu einer Million solcher Methusalems drängen sich dort jeweils in einem Raumgebiet von wenigen Dutzend Lichtjahren zusammen. Der M 12 pendelt häufig durch die dichte Zentralebene unserer Milchstraße. Er hat dabei bereits die allermeisten Sonnen eingebüßt. Nur 200 000 sind ihm noch geblieben. Deshalb mutet sein Sterngetümmel im Liebhaberfernrohr untypisch locker an. Alle ärztliche Kunst wäre hier vergebens: M 12 magert zum Skelett ab. Er wird sich schließlich auflösen.

Der untere Abschnitt des Schlangenträgers wurde einst dem Skorpion zugeteilt. Tatsächlich ruht ein Fuß des Heilers triumphierend auf dem Spinnentier. Aber auch sein zweites Bein ragt in die Sonnenbahn hinein. Somit bildet der Schlangenträger das 13. Bild im Tierkreis. Die Sonne durchläuft es zwischen dem 30. November und dem 18. Dezember.

Europa und der Stier

Was auf den ersten Blick wie ein Märchen klingt, ist wahrscheinlich ein geschichtlicher Bericht, obschon ins Legendenhafte entrückt: Die Mythen um das Sternbild Stier (lat.: Taurus) erzählen wohl vom Aufstieg und Untergang der ersten europäischen Hochkultur auf Kreta. Auch das Sternbild Nördliche Krone ist damit verknüpft.

Die griechische Rheia wird einmal mehr von ihrem Göttergatten Kronos (röm.: Saturn) geschwängert. Aus Angst, entmachtet zu werden, verschluckt der jedoch jeden seiner Nachkommen. Nur der kleine Zeus (Jupiter) entgeht diesem Schicksal: Auf Rat der Erdgöttin Gaia gebiert ihn Rheia auf der Insel Kreta; das Kind wird in einer Höhle des Ida-Gebirges verborgen.

Rasch erwacht im jungen Zeus die Liebestollheit. Sein Blick fällt auf die phönizische Prinzessin Europa. Heimtückisch erscheint er ihr in Gestalt eines anmutigen Stiers – mit Hörnern, die laut Ovid durchscheinender sind als Edelsteine. Nach anfänglichem Zögern steigt Europa sogar auf den Rücken des friedfertigen Tiers. Kaum ist das geschehen, setzt der Stier seine Hufe ins Wasser, taucht in die Meeresfluten ein und entführt die Phönizierin nach Kreta. Dort liebt Zeus die Schöne – im Schatten jener Platane, die noch heute zwischen den Ruinen von Gortys aufragt.

Europa wird schwanger und von Zeus verlassen. Sie heiratet den kinderlosen kretischen König und erfreut sich bald solch großer Beliebtheit, dass man einen ganzen Kontinent nach ihr tauft. Ihr Sohn Minos hält Zwiesprache mit seinem göttlichen Vater und steigt bald selbst zum mächtigen König auf. Der herrscht, wie Homer erzählt, vom großen Knossos aus über neunzig weitere Städte Kretas. Minos streckt seine Hände aber auch nach fernen Gestaden aus. Sein Einfluss reicht bis aufs griechische Festland. Um allen seine Macht zu zeigen, erbittet er das neuerliche Erscheinen eines weißen Stiers. Der Meeresgott Poseidon (Neptun) erfüllt ihm diesen Wunsch. Er trägt ihm aber auch auf, den prächtigen Bullen zu opfern. Doch Minos betrügt ihn – und schlachtet einfach ein anderes Tier.

Poseidon schäumt ob dieses Frevels und straft den Bullen mit Wahnsinn. Er soll sich zur Landplage entwickeln, Kretas Felder verwüsten. Erst der Zeus-Sohn Herakles, ursprünglich als Herrscher von Mykene vorgesehen, wird ihn zu bändigen wissen.

Zuvor jedoch lässt Poseidon noch Minos’ Gattin Pasiphae in wilde Leidenschaft zum Stier entflammen. Sie schlüpft in eine Kuhattrappe, um sich bespringen zu lassen. Das Resultat dieser unsäglichen Affäre ist ein doppelgestaltiges Ungetüm, Mensch und Stier zugleich. Sein Name – Minotauros – setzt sich aus »Minos« und dem griechischen Wort für »Stier« zusammen. Der König sperrt das seltsame Wesen in einem eigens errichteten dunklen Labyrinth unter seinem Palast ein.

Der gedemütigte Minos schlägt die Athener im Krieg und zwingt sie fortan, regelmäßig Jungfrauen und Jünglinge nach Kreta zu senden. Die wirft er Minotauros zum Fraß vor. Prinz Theseus will das Morden beenden. Er mischt sich unter die Todgeweihten, schifft sich mit diesen in Athen ein. Auf Kreta angekommen, verliebt sich ausgerechnet die schöne Minos-Tochter Ariadne in den Helden. Sie schenkt ihm ein Knäuel. Theseus dringt in den Irrgarten vor und spult es dabei ab. Nachdem er den Minotauros getötet hat, folgt er dem Faden und findet so wieder aus dem Labyrinth heraus.

Das Liebespaar flieht, will Athen erreichen. Doch auf der Insel Dia (Naxos) verlässt Theseus seine Ariadne – wohl auf Geheiß des Dionysos, Gott des Weins und der Fruchtbarkeit. Der tröstet die Verlassene geschickt. Dionysos nimmt der Prinzessin die Krone vom Haupt und wirft sie, so weiß Ovid, zum Himmel – um die Geliebte durch ein ewig sichtbares Gestirn berühmt zu machen. Seither schmückt das Sternbild Nördliche Krone (lat.: Corona Borealis) das Firmament. Als weiteres Zeichen der Ehrerbietung wird die europäische Raumfahrtagentur ESA später immer wieder Ariane-Raketen ins All entlassen.

Labyrinth der Spekulationen

Zypressen- und Eichenwälder krönen Kreta, als kleinasiatische Einwanderer die Insel bevölkern. Letztere stehen in regem Warenaustausch mit Anatolien, den Kykladen, mit Zypern, Syrien, Ägypten und Libyen. Um 2000 v. Chr. errichten sie gewaltige Paläste. Jener in Knossos wird später von Arthur Evans freigelegt werden: Natürlich kennt der englische Archäologe die Berichte Homers über den mythischen Kretakönig Minos und dessen Geschlecht; er wird deshalb von einer »minoischen« Kultur sprechen.

Fresken aus Knossos zeigen ein recht idyllisches Bild: Statt Kriegszenen dominieren Naturmotive. Sie widmen sich der Pflanzenwelt der Insel oder den Bewohnern des Meeres. Frauen treten in nobler Pose auf. Es scheint, als huldigen die Minoer vor allem einer Mutter- bzw. Erdgöttin. Sie verehren sie nicht nur in den Palästen, sondern auch in Bergheiligtümern, Höhlen und Grotten. Die herausragende Rolle der Göttin lässt manche Forscher später an eine primär von Frauen geprägte Gesellschaft denken. Die prominent in Szene gesetzten Damen auf den Fresken stützen diese Idee. Sie bleibt allerdings umstritten.

Jedenfalls stößt man immer wieder auf die Doppelaxt. Sie ist aus Ton geformt, aus Bronze, Silber oder Gold; sie mag ein kleines Schmuckstück sein oder hoch wie eine Säule. Zudem finden sich immer wieder Darstellungen eines Stierhaupts. Manchmal ragt die Doppelaxt aus dem Schädel. Stilisierte Stierhörner zieren auch den Dachfirst von Palästen. Offenbar markieren sie heilige Stätten. Wie Fresken erzählen, sind die minoischen Paläste auch Schauplatz ritueller Stierspiele. Dabei springen weibliche und männliche Akteure über einen Bullen – eine höchst riskante Übung.

Stierhörner sind selbst in die Steinwände von Knossos geschnitten, wo die Doppelaxt eine besondere religiöse Wertschätzung genießt. Sie heißt »labrys«. Wahrscheinlich leitet sich der Begriff »Labyrinth« von ihr ab. Der Palast besteht aus Hunderten von Räumen, die sich über mehrere Geschosse verteilen. Auf einen staunenden Besucher mag er wie ein Labyrinth wirken.

Die Minoer verfügen über eine große Flotte von Handelsschiffen. Sie unterhalten Stationen auf dem griechischen Festland und selbst auf Sizilien. Ihr kultureller Einfluss auf die Bewohner des Mittelmeers ist unübersehbar. Doch letztlich ist ihr Reich dem Untergang geweiht. Der Ausbruch des nahen Vulkans Thera (Santorin), Erdbeben und Flutwellen ziehen Kreta in Mitleidenschaft. Der einstige Handelspartner Mykene gewinnt an Macht und erobert letztlich die Insel. Am Ende wird auch Knossos zerstört. Griechen üben jetzt die Kontrolle aus. Sie bringen ihre eigenen Götter mit. Die Tempel sind nun Zeus, Hera, Artemis, Athene, Demeter oder Apollon geweiht. Die Palastruine gilt als Hain der Rheia.

Kreta hat seine einzigartige Stellung verloren, doch minoische Vorstellungen prägen die Kultur der Griechen mit – auch die von Mykene. In griechischen Legenden finden sich etliche Hinweise auf die einstige Bedeutung der Insel. So wächst der griechische Göttervater Zeus ausgerechnet in den Kulthöhlen Kretas auf. Die Geschichte der entführten Phönizierin Europa deutet die fremde Herkunft der Minoer an. Die Fabeln um die beiden weißen Bullen spiegeln wohl den einstigen Stierkult wider. Die Sage vom wütenden Minotauros mag auf dem gefährlichen Stierspringen fußen; vielleicht haben sich auch Athener daran beteiligt.

Der Sieg des Griechen Theseus über den Minotauros stünde dann symbolisch für die neuen Machtverhältnisse; ebenso der Triumph des Herakles (Herkules) über den rasenden weißen Stier. Wohl nicht zufällig wird Kretas Hauptstadt schließlich Iraklio (Heraklion) getauft. Diese »Stadt des Herakles« liegt vor den Toren von Knossos.

Das Wintersternbild Stier (Taurus) weist offensichtlich auf Kreta und seine Geschichte hin: Das belegen alte Beinamen wie »Verräter der Europa«, »Fährmann der Europa« oder »Liebhaber der Pasiphae«. Vor seinem einstigen Bezwinger nimmt sich der himmlische Bulle übrigens noch immer in Acht: Taucht das Sternbild Herkules im Osten auf, schickt sich der Stier im Westen lieber zum Untergang an.

Ein Held am Firmament

Jedes Jahr gelangt ein mythologisches Drama am herbstlichen Abendhimmel zur Aufführung. Vom Himmelszelt schauen die Sternbilder Perseus, Andromeda, Cassiopeia, Cepheus, Pegasus und Walfisch herab. Sie erinnern an die Abenteuer eines legendären griechischen Helden – und erzählen vielleicht von Erkenntnissen, die viele Jahrhunderte lang verdrängt wurden.

Akrisios, König von Argos, blickt mit Furcht in die Zukunft. Das Orakel hat ihm prophezeit, einst durch die Hand eines Enkels zu sterben. So sperrt er seine Tochter Danae ein, um sie von Männern gänzlich fern zu halten. Zeus gelangt dennoch zu ihr – in Gestalt goldenen Regens, der durch Ritzen und Fugen des Gemachs dringt. So bringt Danae schließlich Perseus zur Welt. Akrisios setzt Mutter und Sohn auf dem Meer aus. Die hölzerne Kiste treibt ans Ufer von Seriphos, wo der grausame Inselkönig Polydektes Gefallen an Danae findet.

Da seine Nachstellungen erfolglos bleiben, will Polydektes den mittlerweile erwachsenen Perseus in den sicheren Tod jagen: Er soll das Haupt der Gorgo Medusa holen. Das hat noch niemand geschafft, denn Medusas Blick versteinert. Zeus sorgt sich um seinen Sohn. Er sendet den Götterboten Hermes (röm.: Merkur), der Perseus ein besonders hartes Schwert überreicht. Die weise, aber kriegerische Athene leiht ihm ihren spiegelnden Schild. Zudem kommt Perseus noch in den Besitz von geflügelten Schuhen.

Am Westrand der Welt stößt er schließlich auf das Reich der Gorgonen. Die drei geflügelten Ungeheuer gelten als unbezwingbar. Die furchtbaren Münder tragen nadelspitze Zähne, die Haut ist von stahlharten Schuppen bedeckt. An Stelle der Haare wachsen Schlangen aus den Häuptern. Sie zischen wild, als sich Perseus den Schwestern nähert. Er betrachtet sie bloß im polierten Schild der Athene. Solchermaßen geschützt, holt er mit dem Schwert zum Schlag aus und schlägt das Haupt der Gorgo Medusa ab. Sofort steckt er den Kopf in einen Sack und ergreift mit seinen Flügelschuhen die Flucht.

Mittlerweile entspringt aus dem Körper der Enthaupteten ein geflügeltes Ross, der Pegasus. Einst gezeugt vom Meeresgott Poseidon (röm.: Neptun), soll Pegasus selbst Heldentaten vollbringen. So hilft er etwa, die dreiköpfige Chimaira zu bezwingen. Der Name dieses Feuer schnaubenden Mischwesens aus Ziege, Löwe, Schlange oder Drache steht unserem Begriff »Schimäre« – Trugbild, Hirngespinst – Pate.

Auf dem Heimflug trägt der Wind Perseus weit in den Süden, wo er Zeuge einer Tragödie wird. Hier hat sich Königin Cassiopeia