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Meir Shalev

Zwei Bärinnen

Roman

Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2013 bei Am Oved, Tel Aviv,

erschienenen Originalausgabe:

›Schtaim Dubim‹

Copyright © 2013 by Meir Shalev

Im Roman werden einige Zeilen

aus den Gedichten Birg mich unter deinen Schwingen

und Der Weiher von Chaim Nachman Bialik zitiert

(In: Ausgewählte Gedichte, aus dem Hebräischen übertragen

von Ernst Müller, Wien und Leipzig 1922)

sowie aus dem Gedicht Salbedrit von Kadja Molodowsky,

das hier nach der beliebten hebräischen Nachdichtung

des jiddischen Originals wiedergegeben wird

Covermotiv: Illustration von Peter Wilson,

›Snake Head‹, 1996 (Ausschnitt)

Copyright © Peter Wilson/Bridgeman Images

 

Begebenheiten und Dorfgeschichten, die vielleicht noch

in Erinnerung sind, liegen einem Teil dieses Buches zugrunde.

Es ist jedoch keineswegs als dokumentarisches Werk zu betrachten,

sondern vielmehr als frei erfundenes Stück Literatur,

allein der Schriftstellerkunst verpflichtet.

 

 

Für Abraham Yavin

in Liebe und Dankbarkeit

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24353 6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60440 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Das Telefongespräch

Das Handy klingelte. Der große, kräftige Mann warf einen Blick darauf und sagte zu der Frau, mit der er zu Abend aß: »Ich muss rangehen. Bin gleich wieder da.«

Er trat auf die Straße, bemüht, seinen kleinen Bauch einzuziehen. An den hatte er sich noch nicht gewöhnt, er überraschte ihn immer aufs Neue: vor dem Spiegel, unterm Gürtel, in den Blicken seiner Partnerin, wenn er auf ihr ruckelte.

»Hallo?«

Die vertraute Stimme antwortete: »Neun Klingelzeichen habe ich gezählt. Du hast mich warten lassen.«

»Entschuldige. Ich bin im Restaurant und kurz rausgegangen.«

»Wir haben ein Problem.«

»Ich höre.«

»Ich werde es dir mit Verstand und Vorsicht erklären, und versuche mir bitte genauso zu antworten.«

»Okay.«

»Erinnerst du dich an unseren Ausflug in die Natur?«

»Heute Morgen?«

»Was hatte ich gerade gesagt? Mit Verstand und Vorsicht. Ohne Zeitangaben, ohne Tage, ohne Stunden.«

»Verzeihung.«

[6] »Es war ein schöner Ausflug.«

Schweigen.

»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es war ein schöner Ausflug.«

»Hab’s gehört.«

»Du hast mir keine Antwort gegeben.«

»Du hast Verstand und Vorsicht von mir verlangt. Was soll ich denn da drauf wohl antworten?«

»Was heißt ›was soll ich denn da drauf‹? Wie redest du mit mir? Sag: Was hätte ich darauf antworten sollen.«

»In Ordnung.«

»In Ordnung reicht nicht. Sag: Was hätte ich darauf antworten sollen.«

Der Mann zog den Bauch noch weiter ein, ließ aber gleich wieder locker: »Was hätte ich darauf antworten sollen.«

»Du hättest sagen sollen, ob du meinen Worten zustimmst oder nicht.«

»Worüber?«

»Über unseren Ausflug in die Natur.«

»Ich stimme zu. Es war ein sehr schöner Ausflug in die Natur.«

»Du hättest gleich antworten müssen. Zwei Mal hast du mich warten lassen. Erst beim Klingeln und jetzt beim Antworten.«

»Verzeihung.«

»Lass mich niemals warten.«

»In Ordnung.«

»Erinnerst du dich an das Versteck, in dem wir am Ende des Ausflugs gesessen haben?«

[7] »Sicher. Im Wadi, unter dem großen Johannisbrotbaum.«

»Was hatte ich gesagt? Mit Verstand und Vorsicht. Ohne Zeit- und Ortsangaben, ohne Namen.«

»Ich habe keine Namen genannt.«

»Du hast doch Johannisbrotbaum gesagt, oder nicht?«

Der Mann ballte behutsam die rechte Hand und betrachtete sie. Sie hatte einen weißen Verband, aus dem nur die Fingerspitzen hervorlugten. Seine Augen, klein und engstehend, schlossen sich einen Moment und öffneten sich wieder, wie bei einem Schmerz, der auflebt, wenn man an seine Ursache denkt. Ich stelle ihn mir im Geist vor. Wie er vor dem Lokal steht, auf seine Stiefel starrt, den linken Unterschenkel etwas anhebt, die blanke, kantige Stiefelspitze am rechten Hosenbein reibt.

Und ich höre seinen Gesprächspartner weiterreden: »Hättest du einfach nur Johannisbrotbaum gesagt – na gut. Einfach nur groß – halb so schlimm. Aber der große Johannisbrotbaum, Substantiv und Adjektiv und dazu noch der bestimmte Artikel – das ist wie auf dem Präsentierteller. Guten Appetit, greift bitte zu. Nicht einfach nur Baum: Johannisbrotbaum. Nicht einfach nur Johannisbrotbaum: großer Johannisbrotbaum. Und nicht einfach nur irgendein Johannisbrotbaum: der große Johannisbrotbaum im Wadi. Das ist eine Bezeichnung, die kaum Auswahlmöglichkeiten lässt. Genau dafür wurde die Sprache erfunden, um die Dinge klarzustellen, aber für uns ist Klarheit sehr schlecht, verstehst du?«

»Ja, Entschuldigung.«

»Genug der Entschuldigungen. Pass einfach auf.«

»In Ordnung.«

[8] »Gut. Jetzt zur Sache. Es geht darum, dass wir dort etwas vergessen haben.«

»Den Gasbrenner, auf dem du uns Tee gemacht hast?«

»Was Wichtigeres.«

»Den Zuckerlöffel?«

»Würden wir so ein Gespräch über Teelöffel führen? Denk gut nach, dann wird es dir wieder einfallen. Streng dein Gehirn einmal ordentlich an. Auch ein kleines Gehirn taugt etwas, wenn man es richtig in Gang setzt. Und falls es dir einfällt, sag nicht, was es ist. Sag nur: Ich weiß, wovon du sprichst.«

»Ich denke nach.«

Schweigen.

»Wieder lässt du mich warten.«

Schweigen.

»Jetzt fällt’s mir ein. Ich weiß, wovon du sprichst.«

»Dann fahr hin, such, bis du es gefunden hast, und bring es mir.«

»Wie dringend ist es?«

»Wenn jemand es vor uns findet, wäre das sehr schlecht.«

»Eine halbe Minute, und ich geh los. Ich such mit der Taschenlampe.«

»Ein hoffnungsloser Fall, das bist du. Ein hoffnungsloser Fall. Erst ›was soll ich denn da drauf‹ und jetzt ›ich geh los‹ und ›ich such‹? Sag: Ich werde losgehen, und ich werde suchen. Man muss das Futur benutzen. Ich will dich endlich mal richtig reden hören.«

»Ich werde losgehen, und ich werde suchen.«

»Und ärgere mich nicht mehr.«

»Entschuldigung.«

[9] »Und mach dich jetzt nicht mit der Taschenlampe auf den Weg. Jetzt ist es dunkel. Jemand könnte das Licht von weitem sehen. Steh morgen früh auf.«

»Gleich morgens.«

»Bei Sonnenaufgang. Und parke nicht an der üblichen Stelle. Such dir einen anderen Platz, geh ein Stück weiter zu Fuß, komm beim ersten Tageslicht an, und nimm die Suche auf.«

»In Ordnung.«

»Was macht die Hand?«

»Okay.«

»Tut sie weh?«

»Bisschen weniger.«

»Hast du sie verbunden?«

»I wo.«

»Dass du uns nicht noch Tollwut bekommst.«

»Nein.«

»Und entspann endlich den Bauch. Ich spüre es ja bis hierher, sogar ohne dich zu sehen. Los, schick deine Freundin nach Hause und geh schlafen. Du musst morgen früh aufstehen. Sie braucht nicht zu wissen, um welche Uhrzeit du abgefahren bist.«

[10] 2

Vorbereitungen

I

Wie hart würde die Rache sein, und wie schlicht und leicht waren die Vorbereitungen. Der Frau des Rächers, die hinter ihm stand, jede Einzelheit sah und begriff, erschienen sie wie die Vorbereitungen zu einem Ausflug, wie seine Vorbereitungen zu den Ausflügen, die sie vor Jahren gemeinsam unternommen hatten: das kräftige Ausschütteln des Rucksacks, der sich freute, mal wieder aus dem Abstellraum herauszukommen. Der prüfende Zug an den Schnürsenkeln der Wanderschuhe, die beinah schon alle Hoffnung aufgegeben hatten. Der Anwesenheitsappell der Knöpfe am Arbeitshemd.

Und auch die Unterschiede sah sie: Anstelle der Delikatessen, die er auf die damaligen, die gemeinsamen Ausflüge mitgenommen hatte, um ihr Herz zu erfreuen, packte er jetzt wenige, einfache Lebensmittel ein: ein paar Scheiben Brot, harte Eier, ungeschälte kleine Gurken, einen Becher saure Sahne. Das Wort »asketisch« fiel ihr unwillkürlich ein.

Und weitere Dinge bemerkte sie: Die Eier pellte er hier in der Küche, damit keine Schalenkrümel im Gelände zurückblieben und die Anwesenheit eines Menschen verrieten. Die Salami, eine ständige Begleiterin bei den [11] gemeinsamen Ausflügen von einst, signalisierte ihm, dass sie gern mitkommen würde, wurde jedoch übergangen. Ihr Geruch konnte Hunde anlocken, und dem Hund folgte womöglich sein Herrchen. Den schwarzen Kaffee, registrierte sie, kochte er noch hier im Haus und goss ihn in die alte Thermoskanne. Ein Lagerfeuer, einen Gasbrenner, frischgekochten Kaffee sieht und hört man, und ihr Geruch trägt weit.

Und sie erinnerte sich: Früher, bei den gemeinsamen Ausflügen, hatte er den Kaffee auf seinen kleinen, perfekt geschichteten Feuerchen gekocht. Hatte ihn aufwallen lassen, umgerührt, eingeschenkt, ihn ihr wie ein ausnehmend galanter Kellner serviert. Sie hatten damals einen kleinen Stieltopf, der auf jeden Ausflug mitkam. Aber auch der – wo ist er?, fragte sie sich unvermittelt, schon zwölf Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen – kam jetzt nicht in den Rucksack.

Sie wusste: Etwas Großes und Schlimmes stand bevor. Vergeltung würde geübt, Blut gerächt werden, es würde jemand sterben, vielleicht mehr als einer. Und doch trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, als empfände sie Mitleid mit dem Stieltopf: »Dich Schüchternen und Verrußten nimmt er nicht mit? Macht nichts. Auch mich lässt er zurück« – wie einst David die zweihundert Mann zurückließ, die beim Tross blieben, als er mit gezücktem Schwert zu Nabal zog, Rachegedanken im Herzen.

Sie trat näher an ihn heran. Spürte er sie? Besaß er noch jene erschreckende und anziehende Fähigkeit zu spüren, was hinter seinem Rücken vorging? Ob ja oder nein, er drehte sich nicht um, schenkte ihr keinen Blick. Sie trat noch näher, fühlte angenehm deutlich die zwei Zentimeter [12] Größenunterschied zwischen ihnen und lächelte im Stillen: In der ganzen Moschawa gab es keinen Mann, der kleiner als seine Frau war, und erst recht keinen, dem das auch noch gut gefiel.

Früher, vor dem Unglück, als sie noch gemeinsam auf der Straße gingen – was für ein schönes Paar, sagten damals alle –, legte er ihr sogar den Kopf auf die Schulter, ein Rollentausch, der Beobachter irritierte, ihr selbst aber großes Vergnügen bereitete. »Das ist sehr wichtig, seine Liebste zum Lachen zu bringen«, sagte er damals oft. In ihren privaten zehn Geboten, die er verfasst und im Schlafzimmer an die Wand gehängt hatte, lauteten das dritte, das vierte und das neunte Gebot einhellig: »Du sollst deine Frau zum Lachen bringen.«

»Wo hat er bloß die biblischen Wendungen her?«, hatte sie damals gestaunt, als sie die Worte erblickte, und staunte sie nun, als sie ihr wieder einfielen. An einem besonders schlimmen Morgen, vor ein paar Jahren, hatte sie diese zehn Gebote von der Wand gerissen, zerfetzt und in den Mülleimer geworfen. Neue hatte er ihr nicht geschrieben, aber die alten waren unvergessen – sie hingen noch an den Wänden ihres Herzens.

»Sein Rücken ist so viel breiter geworden«, sagte sie sich jetzt.

Bei den einstigen, gemeinsamen Ausflügen waren sie immer nebeneinander gegangen, aber wenn der Weg schmal wurde, hatte sie das Tempo verlangsamt, um ihn vorzulassen. Dann hatte sie seinen knabenhaft schmalen Rücken angeschaut, und er hatte sich ab und zu umgewandt und gesagt: »Warum gehst du hinter mir? Übernimm du die Führung.«

[13] »Ich weiß nicht, wohin.«

»Folge dem Weg, er bringt dich schon ans Ziel.«

»Er ist nicht markiert.«

»Er ist markiert, aber nicht mit Farbe, sondern mit Spuren, mit zertretenem Gras, mit verschobenen Steinen, mit blanken Stellen am Fels. Man muss nur hinschauen und sehen. Und er hat auch seine eigene Logik, das ist das wichtigste Zeichen. Wege haben ihre Logik. Wenn man die erkennt, findet man sich leicht zurecht.«

»Ich habe heute frei. Ich hab keine Energie für neue Erkenntnisse und keinen Sinn für Logik. Versteh du den Weg, und ich genieße die Landschaft.«

»Wieso? Ich geh hinter dir her und guck auf deinen Po. Das ist viel schöner, und ich darf auch mal genießen.«

Obwohl er ihr Ehemann ist, betrachtet sie ihn so, wie Mütter ihre heranwachsenden Söhne ansehen: mit Verständnislosigkeit, Hoffnung, Angst, Belustigung und Neugier. Sie hat nie einen heranwachsenden Sohn gehabt, und seit dem Unglück weiß sie, dass sie auch nie einen haben wird, aber sie unterrichtet schon viele Jahre lang an der Oberschule der Moschawa und kennt daher diesen Blick, den Mütter auf ihre Söhne werfen und mit dem sie nun ihren Ehemann bedenkt.

Ich spüre das Flattern in meinem Innern: »Habe ich etwa im Leib noch Söhne? Habe ich noch Hoffnung?«

Diese schönen biblischen Worte pulsieren zwischen Gebärmutter und Herz: »Ja, wenn ich noch diese Nacht einem Mann gehörte und gar Söhne bekäme?« – Einem Mann? Meinem Mann? Dir?

[14] II

Sie hatten oft Ausflüge gemacht. Anfangs zu zweit, dann mit ihrem Sohn. Zuerst hatte er in ihrem Bauch geschaukelt und geschwommen, dann in einem Tragetuch vor ihrer Brust geschlummert, danach in einer Trage gesessen, die sein Vater ihm in der Rucksacknäherei seiner Reserveeinheit genäht hatte. In diesem selbstgefertigten Beutel hatte er ihn auf dem Rücken getragen, eben diesem Rücken, den er ihr jetzt zuwendet.

Ihre immer rasch tränenden Augen werden nun überschwemmt von Bildern: der Sohn als kleiner Reiter auf den Schultern seines Vaters. Der Vater trabt, wiehert wie ein Pferd, die Mutter läuft hinterher: »Pass auf! Ich bitte dich. Er ist ganz verängstigt. Er fällt gleich runter. Pass auf!«

Aber ihre Prophezeiung bewahrheitete sich nicht. Das Kind war zwar verängstigt, genoss es aber, nach Kinderart. Der Kleine lachte. Wuchs. Konnte stehen. Tat seine ersten Schritte. Purzelte um wie ein Baby und stand wieder auf wie ein Baby. Schon damals ließ er die Leichtfüßigkeit seiner Eltern erkennen – in seinem Gang, seinem Straucheln, seinem Lächeln, seinem Aufrappeln.

Zuerst waren sie in der nächsten Umgebung gewandert, zu den mit Klatschmohn und Chrysanthemen gesprenkelten Macchia-Flächen östlich der Moschawa und den rosa Flachsflecken am Hügel hinter der Avocadopflanzung. Später dann zu dem verborgenen Weiher im Norden, dem bescheidenen, weltabgeschiedenen Gewässer, das sie in der Sommerhitze aufsuchten und in dem ihr Bruder ihr Schwimmen und Tauchen beigebracht hatte, da war er ein [15] großer Junge gewesen und sie ein kleines Mädchen. Und als das Kind sicherer ging, nahmen sie es auch mit zu Opa Seevs Wadi, so nannten sie das trockene Bachbett, in dem der große Johannisbrotbaum stand – Großvaters großer Johannisbrotbaum, genauer gesagt.

Dort, in jenem Wadi, waren sie und ihr Bruder als Kinder mit ihrem Großvater gewandert. Dort hatte er ihnen beigebracht, Wildblumen zu bestimmen, ihre Samen zu markieren und zu sammeln. Unter jenem Johannisbrotbaum hatte er ihnen eine Geschichte erzählt, die sie später für ihren Sohn aufschrieb: die Geschichte vom Steinzeitmenschen, der einst in der nahen Höhle wohnte, der Höhle mit der tiefen Zisterne, in die manchmal ein verirrtes Tier – ein Schaf oder eine Ziege – fällt und alsbald zum Himmel stinkt.

Und von diesem Wadi wanderte sie später mit ihrem Ehemann weiter in die parallelen Schluchten, auf und ab stiegen sie – »wir schnüren nordwärts«, nannte er es im Stil seiner Soldaten – und erreichten Orte, an denen sich kein Mensch außer ihnen blicken ließ. Sie liebten sich gern in freier Natur und hatten da ein paar Lieblingsplätze. Und von dort weiter und höher, auf den Bergzug, bis sich ihnen der Ausblick auf die andere Seite bot, für sie beide eine vertraute und beglückende Landschaft und für ihren Sohn eine fremde und ferne, lockende und wunderbare Welt: Komm her, näher ran, fass an, riech mal, füll die wartenden Schubladen deines Gedächtnisses.

Und später zogen die beiden, nur Vater und Sohn, auch ohne sie los.

»Männertouren«, sagte er, und eines Tages setzte er obendrauf: »Die Mädels sind nicht eingeladen.«

[16] So hat er es gesagt, und ich habe bloß aufgelacht. Ahnte nicht, was kommen würde. Ich hatte nie diese berühmte Intuition, diese Vorahnung, die Frauen, und besonders Müttern, nachgesagt wird. Auch am Tag des Unglücks habe ich nichts gespürt.

Männertouren. Nur die beiden allein. Der kleine Junge soll von dem großen Jungen all den Unsinn lernen, den ein Vater seinem Sohn beibringen muss: ein Lagerfeuer anzünden, die Pflanzen erkennen, deren Blätter man zu Tee aufbrühen kann, barfuß laufen – was Mädels oft spöttisch oder ängstlich kommentieren: »Und was, wenn er auf eine Glasscherbe tritt?« Und: »Was, wenn eine Schlange kommt?« Und: »Sogar Opa Seev geht immer mit hohen Schuhen.«

»Wenn eine Schlange kommt, werden wir sie wegjagen, nicht wahr, Netta?« – so hatten wir ihn genannt, unseren Sohn, der später, als er größer war, dagegen aufbegehrte: »Im Kindergarten lachen sie mich aus. Warum habt ihr mir einen Mädchennamen gegeben?«

»Lach zurück.«

Und den Polarstern finden, und den alten Pick-up fahren – Netta auf Papas Schoß, seine drei-, vier-, fünf-, sechsjährigen Hände aufgeregt am Lenkrad –, und einen Webeleinenstek knoten, und nachts schärfer sehen, indem man den Blick ein klein wenig abwendet, und all das entdecken und kennenlernen, was das Ohr hört und der Finger fühlt und die Nase riecht und das Auge sieht: »Dieser Stachel stammt von einem Stachelschwein, und das hier ist eine Schlangenhaut, fass sie an und fühl mal, wie dünn und fein sie ist. Fass an, Netta, du brauchst keine Angst zu haben, das ist nur ihre Haut, die Schlange selbst ist nicht mehr drin, [17] hat sich gehäutet und ist weitergekrochen, und auch wenn sie da wäre – ich bin hier und pass auf dich auf.«

»Hörst du, Netta? Hör gut hin – das ist der Schrei eines Eichelhähers und das der Ruf eines Falken und da kreischt ein Triel und da zirpt eine Streifenprinie und das ist das Schnickern eines Rotkehlchens – jedes Jahr kommt so ein Rotkehlchen auf unseren Hof, immer auf denselben Baum. Wir haben diesen Baum gepflanzt, schon richtig, aber der Vogel betrachtet ihn als seinen Baum. Jetzt schnupper mal: Dieser Strauch heißt Dittrichia viscosa. Deine Mama mag den Geruch nicht. Riech dran und sag mir, wie du ihn findest. Nicht so. Mach die Augen zu. Man schnuppert mit geschlossenen Augen. Nur mit der Nase. Gerüche behält man besser im Gedächtnis als Bilder und Geräusche. Dieser Geruch stammt von der Dittrichia viscosa, das hier ist Raute, hier riecht es nach einer Mastix-Terebinthe, hier nach Thymian, und nun der Höhepunkt – Salbei. Der Salbei ist ein Freund. Wenn du all die Namen behältst, erzähl ich es Opa Seev, und er wird sich sehr freuen. Vielleicht nimmt er dich dann auch mit zu dem großen Johannisbrotbaum in seinem Wadi und zu der Höhle am Hang, und erklärt auch dir die Pflanzen und ihre Namen, und erzählt auch dir von dem Steinzeitmenschen, der dort mal gewohnt hat, und schnitzt auch dir einen Stock, für den Fall, dass ein böser Hund oder eine giftige Schlange oder ein schlechter Mensch auftaucht. Und wenn du etwas größer bist, wird er dir auch beibringen, mit seinem alten Mauser zu schießen und haarscharf ins Ziel zu treffen.

Das hier sind die Spuren einer Hyäne, wie ein großer Hund sieht sie aus, mit niedrigem Arsch und hohen [18] Schultern. Schau, Netta: Die Spuren der Vorderläufe sind größer als die der Hinterläufe. Was lachst du? Papa hat Arsch gesagt? Sag du auch Arsch. Wir sagen’s zusammen: Arsch, Arsch, Arsch, Arsch.

Und hier ist noch was, was sehr Interessantes: dieser Stein. Jeder Stein auf freiem Feld hat eine Unterseite und eine Oberseite, die Seite der Erde und der Dunkelheit und die Seite der Sonne und des Lichts. Siehst du das? Die Unterseite ist glatt. Nur ein paar Erdkrümel und Spinnweben haften daran. Aber an der Oberseite, wo das Licht hinkommt, ist er rauh. Fass an, dann fühlst du’s. Die nennt man Flechten. Wenn ein Stein mit den Flechten nach unten liegt, ist das ein Zeichen, dass jemand ihn umgedreht hat. Er hat ihn aufgehoben und nicht wieder richtig rum hingelegt.«

»Die Natur sieht aus wie ein einziges großes Kuddelmuddel«, hatte er ihr oft gesagt, »aber das ist sie nicht. In der Natur ist alles an seinem Platz« – und sie lächelte, wenn sie daran dachte, denn das Wort hatte er auch benutzt, wenn sie sich liebten: »Was für ein Kuddelmuddel hier im Bett! Ein Bein hier, ein Bein dort, und dieser kleine Freund, was macht der denn hier? Komm, wir stecken ihn da rein, wo er hingehört. So. Fühlt sich doch gleich viel besser an, wenn alles schön aufgeräumt ist.«

»Also komm, Netta, legen wir den Stein an seinen Platz zurück. Da, hier war er. Siehst du diese zarten Keime? Dass sie hier ganz weiß sind und nur am Ende grün? Sie sind unter dem Stein gekeimt und zur Seite gekrochen, um rauszukommen, und erst als sie es ans Licht geschafft haben, sind sie grün geworden. Alles, was weiß ist, war unter dem Stein, und alles, was grün ist, war schon draußen. Und das [19] besagt noch etwas – dass man den Stein erst vor kurzem verlegt hat. Das ist doch interessant, was, Netta? Wir sind wie Polizeidetektive.«

»Männertouren«, hatte er zu ihr gesagt. Er hatte den Sohn, der Sohn ihn angeschaut, und beide – wie leutselige Sieger – sie. Wer kommt gegen so ein Männerteam an, gegen Vater und Sohn, die einander anlächeln wie zwei Verschwörer? Männertouren in die Hügel im Süden, Männertouren in die großen Maisfelder im Norden der Moschawa, wo sie junge, noch süße Kolben klauten, die sie so gern aß.

»Wir rösten sie für Mama auf dem Feuer. Komm, ich zeig dir, wie’s geht.«

»Hab ich dir mitgebracht, Mama, schmecken sie dir?«

»Iss, extra für dich.«

Ich habe sie gegessen. Hab’s genossen. Bin wütend geworden.

Und Männertouren entlang der Steilküste und in die Felsen hinter der Kreuzritterfestung, wo die Alpenveilchen schon zu Chanukka blühen. »Schau dir bitte dieses Wunder an«, sagte Opa Seev, als er noch lebte und ich ein kleines Mädchen war, »diese Alpenveilchen blühen schon, und die grünen Blätter sind noch gar nicht aus der Erde gekommen. Das gibt’s nur hier bei uns. So nahe an der Moschawa, und kein Mensch weiß davon. Nur du und ich.«

Und eine Männertour in die Wüste, zum ersten und letzten Mal, vor genau zwölf Jahren, der Ausflug, nach dem wir nicht mehr wandern waren, nicht die Männer allein und nicht mit mir zusammen, und ehrlich gesagt, haben wir danach nichts mehr gemeinsam unternommen. Zwölf Jahre sind seither vergangen, und mir kamen sie vor wie hundert.

[20] III

Ich sehe ihn bei den Vorbereitungen für den Aufbruch: Ich kenne ihn und auch wieder nicht, registriere im Stillen die Veränderungen, die seither bei ihm eingetreten sind. Wäre das Unglück, das sie ausgelöst hat, nicht gewesen, könnte ich fröhlich lächeln. Ich bin – trotz der Zeit und allem, was in ihrem Verlauf geschehen ist – äußerlich jung geblieben, sehe mich strahlend im Spiegel, reflektiert in den Augen meiner Schüler, verdichtet in den Augen ihrer Eltern, neblig in den Augen der Männer und Frauen auf der Straße. Und er, du, mein Mann, mein Ehemann, bist ein anderer Mensch geworden, dein gutes Aussehen ist dahin.

Ich weiß: Man kann das nicht nur mit dem Altern abtun. Das Altern schreitet langsam voran, bewahrt dabei immer ein paar jugendliche Züge, die zunächst das Herz erfreuen und später, wenn klar wird, dass sie nur zur Erinnerung und zum Hohn belassen wurden, einfach nerven. Aber du hast eine grundlegende Verwandlung durchgemacht, wie die Metamorphose von Insekten.

Ich schaue ihn an und zähle noch einmal auf: Sein Lächeln ist vergangen. Sein Feuer, die ewige Flamme, ist erloschen. Seine goldschimmernde Haut, die meinen Fingern und Augen gefiel, ist verblichen, abgekühlt, matt geworden. Sein Duft, die Myrrhe unserer Jugend, ist verflogen. Sein einst knabenhafter Körper ist nun plumper und massiger. Nicht dick und schlaff, sondern mächtig, stark. Seine Arme, einst wohlgeformt und treffsicher und behende, sind jetzt schwerfällig wie Bärenpranken, und ihre Umarmung ist fürchterlich.

[21] Mein Mann, mein erster Ehemann, goldschimmernd und schlank, ist weg und verschwunden. Ein zweiter Ehemann – blass und massig und anders – ist an seine Stelle getreten. Seine Masse ist ganz und gar Kraft. Seine Blässe ist Totenblässe. Die Sonne bräunt ihn nicht, die Augen der Menschen können nicht bräunen.

Ich erinnere mich: Eines Tages hatte er sich geschnitten und blutete am Finger. Er sah mich nicht mal an, als ich ihn verband, aber ich freute mich: Er lebt. Sein Blut ist so rot wie früher. Am liebsten hätte ich diesen bleichen und fremden zweiten Ehemann gepackt und aufgeschlitzt, um jenem anderen Ehemann, dir, auf die Welt zu helfen.

IV

Ich beobachtete ihn bei den Vorbereitungen für den Aufbruch: Ich vertraute auf seine Gründlichkeit beim Packen, freute mich, dass die kleinen Dinge ihm wieder in den Sinn und in die Hände kamen. Den Proviant tat er in zwei Plastikdosen, die er aus dem Küchenschrank geholt hatte. Die Dosen steckte er in den Rucksack, stellte zwei Wasserflaschen dazu, und dann tat er etwas Neues und Bemerkenswertes, das er vor unseren einstigen gemeinsamen Ausflügen nie getan hatte – er notierte alles, was er mitnahm, auf einem Zettel, wie auf einer Einkaufsliste: sechs Scheiben Brot, zwei Gurken, drei Müsliriegel, ein Becher saure Sahne, zwei harte Eier. Und auch: zwei Plastikdosen, eine Thermosflasche, ein Teelöffel, zwei Wasserflaschen, ein Rucksack, Toilettenpapier, dieser Zettel, ein Stift.

[22] Den Zettel und den Stift steckte er in die Hosentasche, und dann tat er noch etwas Überraschendes: Er holte die dicke, kleine Matte aus dem Badezimmer, auf die man sich nach dem Duschen stellt, und trug sie und den Rucksack in die Gärtnerei.

Ich ging ihm nach: Die Ehefrau, die die kommenden Dinge kennt, die Mutter, die sie errät, die Enkelin, die ihnen entgegenfiebert – kommt, ihr kommenden Dinge, belebt unsere ausgetrockneten Gebeine –, sieht und behält jede Einzelheit. Von der Werkzeugwand in der Gärtnerei nahm er weitere Geräte und Gegenstände, die man auf einen normalen Ausflug nicht mitnimmt: eine zusammenklappbare Handsäge von der heimtückischen Sorte, die man als »kleiner Japaner« bezeichnet, eine Baumschere, eine Rolle grünes Klebeband.

Sein langsames, zielstrebiges Vorgehen beschleunigte sich auf einmal. Weitere Dinge kamen auf die Liste und in den Rucksack: eine Rolle dünner Bindfaden, ein Taschenmesser und natürlich der treue Kamerad: die kleine Hacke, die an sich zum Ausgraben von Zwiebeln und Knollen dient, in seinen Händen jedoch, wie ich wusste, auch zur schrecklichen Waffe werden kann. All das schrieb er mit auf den Zettel, fügte seiner Liste noch die Autoschlüssel hinzu, ehe er sie einsteckte, ging hinaus zu dem Pick-up, der im Verschlag wartete, und legte den Rucksack auf den Rücksitz.

Nun kehrte er zurück zur Werkzeugwand, nahm die große Schere herunter und zerschnitt die Badezimmermatte in zwei gleiche Teile. Er stanzte an den Rändern Löcher ein, fädelte dünnen Bindfaden hindurch und legte die beiden [23] Hälften neben den Rucksack. Von dem Stapel in der Ecke des Verschlags zerrte er eine verblichene, grüne Abdeckplane mit metallenen Ösen an den Rändern hervor, durch die er ebenfalls Bindfäden zog. Die Plane legte er in den Laderaum des Pick-ups, warf noch einen Laubrechen und einen kleinen Reisigbesen darauf. Dann spülte er die Sprühflasche aus, um sie von eventuellen Flüssigkeitsresten zu reinigen, füllte sie mit Wasser, hob und senkte den Zerstäuber, sprühte ein wenig Wasser auf den Boden. Dann drehte er den Zerstäuber ab, öffnete den Behälter, goss Plastikkleber ins Wasser, drehte wieder zu, schüttelte und setzte den Zerstäuber wieder auf, stellte die Sprühflasche in den Laderaum und fügte sie der Liste auf seinem Zettel hinzu, mitsamt der Abdeckplane, dem Rechen, dem Besen und einem Paar Schafschuhe. Was Schafschuhe sind und wozu man sie anzieht, begriff ich erst am nächsten Tag, als er von seinem Zielort und der Tat, zu der er aufgebrochen war, heimkehrte.

Jetzt ging er zu dem alten Schuppen im Hof, der kleinen Holzhütte, einem Relikt aus den ersten Tagen von Großvater Seev und Großmutter Ruth in der Moschawa, und kam wenige Minuten später wieder heraus, ein Bündel in der Hand: Es war etwas Längliches, eingewickelt in eine alte Decke mit verblichenen Blumenstickereien und an beiden Enden mit Bindfäden verschnürt, wie eine Leiche, der man den Totenschleier um Fesseln und Hals festgebunden hat.

Er legte das Bündel auf den Boden vor den Rücksitz des Pick-ups, schrieb auf seine Liste noch Bindfaden, Decke, das Gewehr – ja, genau so, mit bestimmtem Artikel. Er bückte sich und stellte die Naben der Vorderräder fest, wie [24] echte Kerle es tun, ehe sie zu Männertouren ins Gelände fahren, stieg ein und setzte sich auf den Fahrersitz, und als wäre es ihm erst jetzt eingefallen, griff er in seine Hemdtasche, zog die Zigarettenschachtel heraus, die in den letzten Jahren dort ihren Stammplatz gehabt hatte, und warf sie zielsicher in den Mülleimer.

Ich war verblüfft: Etwas an seiner Handbewegung erinnerte mich plötzlich an seine alte Leichtigkeit.

»Etan«, sagte ich.

Er tat, was er schon zwölf Jahre nicht mehr getan hatte: Er schaute mir in die Augen.

»Etan, wo fährst du hin?«, fragte ich.

Er gab keine Antwort.

»Sei unbesorgt. Ich sag es keinem weiter.«

Schweigen.

»Soll ich mitkommen? Kannst du noch Auto fahren? Du bist schon zwölf Jahre nicht mehr gefahren.«

Schweigen. Anlassen.

Er kann es noch, sicher kann er’s noch, beruhigte ich mich. Ein Mann wie er vergisst so was nicht. Nicht das Fahren, nicht das Wandern auf schmalem Pfad. Nicht das Tarnen, das Auflauern, das Scharfschießen.

»Etan«, sagte ich noch einmal.

Er sah mich wieder an.

»Ich weiß, wo du hinfährst. Ich weiß, was du vorhast. Du sollst wissen, dass ich dabei hinter dir stehe, aber sei bitte vorsichtig.«

Der Pick-up fuhr an, passierte das Tor der Gärtnerei.

»Und komm rechtzeitig wieder«, rief ich. »Hörst du? Wir haben morgen eine Beerdigung.«

[25] Er fuhr davon. Nicht nach rechts auf die Landstraße, sondern nach links in die Felder.

V

Ich vermute: Auf die Straße ist er erst ein paar Kilometer weiter gefahren, und die Abzweigung zum Wadi hat er gegen Sonnenuntergang erreicht. Er hat die Scheinwerfer des Pick-ups nicht eingeschaltet, ist noch ein paar hundert Meter langsam weitergefahren, bis zum parallelen Trockental. Hier hat er einen Gang runtergeschaltet, und noch einen, ist dann ohne zu bremsen oder zu blinken rechts auf den kurzen Feldweg abgebogen, der zur Pumpstation am Rand des Bachbetts hinaufführt. Er hat verlangsamt, den Schalthebel fachmännisch, ohne den Wagen anzuhalten, in den kurzen zweiten Gang geschoben und ist ganz langsam und leise vorangekrochen, damit der Pick-up keinen Lärm machte und keine Steinchen sprühte und die Fahrrillen nicht vertiefte.

Ich male mir aus: Ein paar Dutzend Meter vor der Pumpstation ist er hinter das Grüppchen Eichen gefahren und hat durch sanftes Ziehen der Handbremse angehalten. Er hat den Schalter der Innenbeleuchtung auf Aus gestellt, die Tür aufgemacht, beide Beine rausgedreht, und so, mit beiden Füßen in der Luft, hat er sich die Hälften der Badezimmermatte um die Schuhe gelegt. Die dünnen Bindfäden, die er vorher durch ihre Ränder gezogen hatte, schnürte er kreuzweise darum fest, ehe er mit umwickelten Schuhen aus dem Wagen stieg. Den Rucksack und die Sprühflasche hängte er [26] an einen Eichenast, das Gewehr – wie eine Schlange in der Decke verborgen – an einen Ast daneben. Er hob ein paar Steine auf, verteilte sie um den Pick-up und deckte ihn völlig mit der Plane ab.

Der Abendschein verblasste zusehends, und er arbeitete schneller. Er schlang die Bindfäden am Rand der Plane um die Steine, die er rings um den Wagen gelegt hatte, besprühte die Plane mit der Klebstofflösung, warf ein paar Handvoll Erde und trockene Blätter darüber, die sofort haften blieben. Mit dem Laubrechen verwischte er flink jede Spur eines versetzten Steins sowie Fuß- und Reifenabdrücke, danach hob er die Plane ein Stückchen an und schob die Sprühflasche und den Rechen darunter. Er trat einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk, schulterte dann den Rucksack, packte das eingewickelte Gewehr, verließ das Eichendunkel und ging das Bachbett hinauf.

Seit Jahren war er nicht mehr so gegangen, auf schmalem, dunklem Felsenpfad, den keine Spitzhacken und Bulldozer gebahnt und keine Walzen planiert hatten, nur die Füße von Tieren, die Schuhe von Menschen und die Klauen der Zeit. Aber seine Füße erinnerten sich sogleich an die Kunst des sicheren, stummen Voranschreitens, das keine Spur hinterließ, außer auf seinem Gesicht: ein altes, undurchschaubares Lächeln, leicht verkrampft, da seine Gesichtsmuskeln schon zwölf Jahre lang nicht gelächelt und nicht geküsst und nicht gesprochen hatten, nur ein wenig gegessen und ein wenig getrunken und die Zähne zusammengebissen.

Ich kenne die Strecke. Bin sie oft genug gegangen. Nach anderthalb Kilometern, an der dritten Biegung des Bachbetts, ist er den niedrigen Hang gen Süden hochgestiegen, [27] hat sich kurz auf den Bauch gelegt, gehorcht und gespäht, hat den Kamm langsam und geduckt in schräger Linie überquert und ist auf der Gegenseite abgestiegen. Bald war er bei der Mastix-Terebinthe und der Kermes-Eiche, die dicht beieinander ein paar Dutzend Meter über der scharfen Biegung des Nachbartals wachsen. Der Eichbaum ist höher und ausladender als die Terebinthe, die – ihrer Art gemäß – niedrig und kompakt ist und deren eng an eng stehende, duftende Zweige bis zum Boden reichen.

Hier blieb er stehen, legte das Gewehr und den Rucksack auf einen nahen Felsblock, drehte sich um und betrachtete den wohlvertrauten großen Johannisbrotbaum, der im Wadi unter ihm wuchs. Im Dunkeln sah der Baum aus wie ein mächtiger, schwarzer Klumpen, der sich schärfer abhob, wenn er den Blick etwas abwandte, und wieder mehr mit seiner Umgebung verschmolz, wenn er ihn direkt anstarrte. Ein paar Stunden später, in dem Versteck, das er sich einrichten würde, das Gewehr in der Hand und die Sonne im Rücken, würde er alles deutlich sehen, während der Mann, dessen Namen und Aussehen er zwar nicht kannte, aber den er erwartete und dessen Leben er zu nehmen gedachte, von ihren Strahlen geblendet werden würde, sobald er in seine Richtung blickte.

Er löste die Bindfäden von der Decke und zog das Gewehr heraus: ein altes Mauser, schwer und präzise und über hundert Jahre alt, mit dem schon deutsche Soldaten und türkische Soldaten und Großvater Seev geschossen hatten, und auch er selbst viele Male. Das schob er nun zwischen die Zweige der Terebinthe und stellte es dort auf den Kolben. Dann holte er die kleine Hacke aus dem Rucksack und [28] legte sie auf einen nahen Stein, breitete die Decke aus und setzte sich darauf, nahm die Hüllen von den Schuhen und legte sie auf den Boden.

Er zog die Schuhe aus, stellte sie auf die Hüllen, rollte die Socken zusammen und stopfte sie hinein, damit kein Skorpion und keine Schlange hineinschlüpften. Er legte sich auf die eine Hälfte der Decke, deckte sich mit der anderen Hälfte zu, streckte tastend die Arme aus, um sicherzugehen, dass er mit der Linken ans Gewehr und mit der Rechten an die Hacke kam, zerrte sich einen Feldstein unter den Kopf und atmete tief durch. Er hatte mehrere Stunden Dunkelheit vor sich und hoffte, die Schlaflosigkeit würde ihn diese Nacht verschonen.

Ich füge die Puzzleteilchen zusammen: Menschen sind hier nachts nicht unterwegs, Wildtiere werden ihm nicht nahe kommen. Wenn keine streunenden Hunde auftauchen, keiner den Pick-up entdeckt, der getarnt in der Nähe steht, dann wird alles glattlaufen. Auch der einzelne Schuss, den er morgen früh abgeben wird, muss ihm kaum Sorgen bereiten: Es gibt Jäger in der Gegend und Soldaten auf Urlaub, die im Wald nahe ihrem Dorf schießen. Kein Mensch wird rausgehen und nachsehen, und kein Mensch wird wegen eines einzelnen Schusses die Polizei anrufen, und selbst wenn, wird kein Polizist sich herbemühen.

Er vertraute darauf, die Vogelstimmen vor Sonnenaufgang zu hören, merkte sich zur Sicherheit aber noch die Uhrzeit, zu der er aufwachen wollte, damit auch die Vögel in seinem Leib ihn weckten. Trotz des Bevorstehenden verspürte er Erleichterung, sogar ein längst vergessenes, überraschendes Wohlgefühl. Gut zu wissen, dass er bald das [29] Richtige tun würde, das, was getan werden musste. Gut zu wissen, dass alles Nötige dafür in seinem Rucksack und in seinen Fähigkeiten lag. Gut, auf der Erde zu liegen und sie zu spüren, so hart und doch so weich zugleich, die Augen unter freiem, dunklem Himmel zu schließen, Luft zu atmen, die ihm durch die Sternenlöcher aus einem anderen Himmelsgewölbe zuwehte. Und gut, wieder Wohlgefühl empfinden zu können – »da bin ich wieder, die hier, das bin ich«, wie er mir immer, in weiblicher Form, sagte, wenn er mich mit einer Umarmung von hinten überraschte, wenn er ins Haus kam, ins Bett, in meinen Leib. So hat er es immer gesagt: Da bin ich wieder. Die hier, das bin ich.

Ich spüre: Sein Kopf ruht auf dem steinernen Kissen, seine Augen erfassen die Weite des Weltalls. Der Himmel wölbt sich über ihm wie eine Frau. Gleich wird er sie durch die geschlossenen Lider und die fallenden Vorhänge der Dunkelheit berühren. Sein Körper wird schwer und weich. Er ist eingeschlafen. Zum ersten Mal nach zwölf Jahren so mühelos, ohne Träume, die den Schlaf zerreißen.

Zur festgesetzten Stunde wachten wir auf. Ein paar Sekunden lagen wir stumm da, Etan dort, auf der Erde, oberhalb des großen Johannisbrotbaums in Großvater Seevs Wadi, und ich hier, in unserem Haus, im Bett. Er hielt die Augen geschlossen, die Ohren offen, horchte auf die Abfolge der vertrauten Laute am Ende der Nacht – gab es da eine Veränderung? Eine Störung? – Und ich wartete auf seine Heimkehr, die Augen ebenfalls geschlossen, und auch meine Ohren horchten: ferne Lautsprecher eines Muezzins, ein Rudel Schakale, die mit begeistertem Heulen einstimmten, und dann die nahen Geräusche – die Freudenschreie [30] der Triele, die ihre Tänze zum Ende der Nacht aufführten, und kurz danach die Eichelhäher aus dem Bachbett drunten und unsere Amseln hier, in der Gärtnerei.

Es ist schön, beim Aufwachen Vogelstimmen zu hören. Die Augen unter freiem, dunklem Himmel aufzuschlagen, wenn der östliche Horizont erblasst, bevor er golden erglüht. Es ist angenehm, die winzige, gewaltige Bewegung unter dem Rücken zu spüren. Es ist die Erdkugel, die sich ein wenig um ihre Achse dreht, den rosigen Fingern der Morgenröte einen neuen Längengrad präsentiert. Noch ein Lächeln trat auf seine Züge. Zwölf Jahre ohne ein Lächeln und nun plötzlich – zwei innerhalb von vierundzwanzig Stunden.

Wir setzten uns gleichzeitig auf. Meine Füße spürten die Kühle der Bodenfliesen. Seine Füße schlug er auf der Decke unter, die er über den Erdboden gebreitet hatte. Er nahm eine Wasserflasche hervor, goss etwas daraus in die hohle Hand und wusch sich die Augenlider, schüttelte die Socken aus und zog sie an, drehte die Schuhe um und rüttelte sie in der Luft, zog sie an und schnürte die Schafschuhe wieder darum. Er tappte ein paar Meter beiseite und pinkelte auf einen Zwergstrauch, eine Dornige Bibernelle, damit man kein Plätschern hörte und die Lache nicht sah. Den Stein, den er sich unter den Kopf gelegt hatte, trug er an seinen Platz zurück. Dann nahm er das Gewehr und stieg ab zum Johannisbrotbaum. Er untersuchte den Boden darunter, warf schnüffelnd einen Blick in die kleine Höhle an der Böschung des Bachbetts und in die Zisterne darin.

Es wurde langsam heller. Etan stieg wieder zu seinem Versteck hinauf und trank etwas Kaffee aus seiner [31] Thermosflasche. Ich stand auf und schaltete den Wasserkocher ein, ging unterdessen ins Badezimmer. Er schraubte die Thermosflasche zu und steckte sie wieder in den Rucksack, holte das Toilettenpapier heraus, nahm das Gewehr und die Hacke mit, entfernte sich etwa dreißig Meter und grub sich eine Mulde. Dann ging er zurück an seinen Schlafplatz, zog die kleine japanische Säge, die Baumschere und das Klebeband heraus und ging zur Mastix-Terebinthe.

Ich machte mir Tee. Beim Trinken sah ich aus dem Fenster auf unsere Gärtnerei. Der große Maulbeerbaum ragte dunkel dahinter auf. Bald, wenn es etwas heller wurde, würde er ergrünen. Etan hob und spreizte zwei niedrige Äste, die bis zum Boden reichten, kroch so tief wie möglich darunter, sägte sie nahe am Stamm ab, schräg nach unten, damit das helle Innere nicht leuchtete und Aufsehen und Neugier erregte. Dann schob er sie nach außen, kroch wieder unter das entstandene Blätterdach und schnitt mit der Baumschere im Innern kleine Zweige ab, steckte sie zwischen die anderen und schuf so einen größeren Raum als Versteck.

Leichter Wind kam auf, weitere Vögel stimmten in das Morgenlied ihrer Brüder ein. Er schnitt Stückchen von dem grünen Klebeband ab und klebte sie auf die Schnittstellen der Äste. Die Baumschere in der Hosentasche verstaut, kroch er hinaus, packte die Säge und das Klebeband wieder in den Rucksack und schob ihn und das Gewehr in den Hohlraum, den er geschaffen hatte. Er kroch hinein, zerrte die Decke hinter sich her, breitete sie, so gut es ging, aus, kniete sich darauf und zog die beiden abgesägten Äste zu sich heran, die belaubte Seite nach außen.

[32] Nun setzte er sich in dieses Kämmerlein, Wände und Dach aus Laub und Zweigen, der Boden eine mit Blumen bestickte Decke auf der Erde, und begann zu essen und zu trinken. Als er fertig war, strich er den Becher saure Sahne, ein Ei, zwei Scheiben Brot, eine Gurke und einen Müsliriegel von seiner Liste. Den Zettel und den Stift steckte er wieder in die Hosentasche, die Verpackung des Müsliriegels, den leeren Sahnebecher und den Teelöffel schob er in eine Seitentasche des Rucksacks.

Hinter ihm erhellte sich der Horizont. Er schob den Gewehrlauf ins Laub, blickte durchs Visier. Auf diese Entfernung brauchte er kein Scharfschützengewehr. Dafür genügte ihm das alte Mauser mit seiner gewöhnlichen Zielvorrichtung und seiner berühmten Genauigkeit, gepaart mit seiner eigenen Erfahrung. Er holte die Baumschere heraus, schnitt behutsam, Stück für Stück, ein paar Blätter ab, die ihm die Sicht behinderten, und steckte die Schere in den Rucksack.

Bald würde die Sonne aufgehen. Er lugte wieder durch das Laub ins Bachbett und zu dem großen Johannisbrotbaum darin. Jetzt musste er einfach warten. Die Warterei war hart, einlullend, langweilig, aber er wusste, sie würde nicht lange dauern. Er hatte schon länger warten müssen, in weit schwierigeren und gefährlicheren Situationen. Und tatsächlich spürte er um halb sieben, dass es gleich so weit war. Zuerst in seinem erwartungsvollen Bauch, dann in seinen horchenden Ohren: Ein Stein löste sich, stieß gegen einen anderen und klirrte in der Stille, eine Sohle rutschte, ein ärgerlicher Mund stieß einen Fluch aus.

Der Mann tauchte auf, anders von Gestalt, als er sich [33] ausgemalt hatte: groß, kräftig, die rechte Hand verbunden. Sein Hals dick und stark, der Bauch dagegen weich und etwas schwabbelig unter dem enganliegenden Hemd, einer der Menschen, deren Füße etwas kleiner sind, als man erwarten würde, und deren dunkle Sonnenbrille ihre Augen mehr verbirgt als schützt.

Der Mann trug eine schwarze Hose, ein hellgelbes Hemd und eine offene, schwarze Lederjacke, die wie ein Jackett geschnitten war. An den Füßen hatte er lederne Halbstiefel mit kantiger Spitze und dünnen Ledersohlen, was von Unerfahrenheit der übelsten Sorte zeugte, jener, die mit übertriebener Selbstsicherheit und schlichter Trägheit einhergeht. Etan sah keine Waffe in seiner Hand, an seinem Gürtel oder unter seiner offenen Jacke, aber über seiner Schulter hing eine kleine Ledertasche, in der eine Pistole stecken konnte.

Er beobachtete ihn aus seinem Versteck, verscheuchte Hass und Heimtücke aus seinem Sinn, damit das Opfer seine Nähe und Absicht nicht spürte, sagte sich wieder, dass die Tat, die er gleich begehen würde, nichts Schlechtes war. Bosheit strahlt weit aus, und wer sie im Herzen trägt, spürt mühelos die Bosheit im Herzen seines Nächsten. Aber gute und richtige und ehrbare Absichten sind still und verborgen und verraten ihren Besitzer auch dann nicht, wenn er ganz in der Nähe ist.

Der Mann rutschte wieder auf den taufeuchten Steinen, und bei jedem Straucheln fluchte er lauthals. Etan folgte ihm mit dem Blick und dachte sich, nur so sollte man einem Dreckskerl von seiner Sorte begegnen – zum ersten und zum letzten Mal, in seinen allerletzten Minuten. Er ließ ihn [34] an den großen Johannisbrotbaum herankommen, sah, dass er sich suchend niederbeugte, und wusste, dass er es war, auf den er gewartet hatte.

Der Mann kniete nieder, kroch auf allen vieren, drehte Steine um und verschob sie – Etan wusste, dass er sich nicht die Mühe machen würde, sie an ihren alten Platz zurückzulegen. Und als er das Suchen aufgab – er hatte gewusst, dass er es aufgeben würde – und ein Handy aus der Jackentasche zog – er hatte gewusst, dass er seinem Auftraggeber etwas mitteilen wollen würde –, gab er den Schuss ab, für den er gekommen war.

[35] 3

Es klingelt an der Tür.

Ruta steht auf, geht an die Tür, öffnet sie.

Ruta: »Guten Tag, bist du Warda?«

Warda: »Ja, sehr angenehm.«

Ruta: »Ich bin Ruta Tavori, du hast mit mir telefoniert. Warda wie weiter?«

Warda: »Warda Canetti.«

Ruta: »Gleichfalls angenehm. Gehörst du zur Familie von Elias Canetti?«

Warda: »Wie bitte?«

Ruta: »Anscheinend stammst du nicht aus seiner Familie. Sonst wüsstest du es.«

Warda: »Canetti ist der Name meines Mannes. Der hat eine große Familie. Ich kenne nicht alle seine Verwandten.«

Ruta: »Ich liebe ihn sehr. Nein, nicht deinen Mann, Verzeihung, Verzeihung, versteh mich nicht falsch, deinen Mann kenne ich ja gar nicht. Den Schriftsteller Canetti liebe ich sehr, das heißt, ich bin nicht sicher, den kenne ich auch nicht. Seine Bücher liebe ich. Komm rein. Wir setzen uns in die Küche, wenn es dir nichts ausmacht. Die Küche ist mein Lieblingsplatz in diesem Haus. Nicht dass ich so eine großartige Köchin bin, aber ich mag es einfach, in der Küche zu sitzen, in der Küche zu schreiben, in der Küche Gäste zu empfangen, in der Küche Hefte zu korrigieren. Hefte korrigieren, weil ich Lehrerin bin, wie dir sicher jeder, den du [36] hier in der Moschawa getroffen hast, schon gesteckt hat, Klassenlehrerin der Elften und Lehrerin für Bibelkunde. Ich rede zu viel, was? Dann erinner mich mal an den Grund unseres Treffens.«

Warda: »Ich schreibe eine Forschungsarbeit über die Geschichte des Jischuw und interviewe hier Leute aus den Gründerfamilien der Moschawa.«

Ruta: »Die Geschichte des Jischuw im Allgemeinen oder speziell dieser Moschawa?«

Warda: »Der Moschawot des Barons Rothschild. In dreien davon treffe ich mich mit Einwohnern.«

Ruta: »Schön. Ich weiß nicht, welche Siedlungsgeschichte du in den beiden anderen Moschawot findest, aber bei uns wirst du nicht enttäuscht werden. Das Dorf ist nichts Besonderes, aber die Geschichten sind richtig gut. Also setz dich. Mach’s dir bequem. Der Tisch ist groß, du kannst schreiben, aufnehmen, Tee trinken. Wenn du bis zum Abend bleibst, kriegst du auch was zu essen. So ist das bei uns in der Moschawa. Gäste werden gehörig bewirtet. Sie wollten hier eine hebräische Moschawa gründen, und herausgekommen ist ein arabisches Dorf. Mit Gastfreundschaft, Clans, Ehre, Boden, Rache. Und nach viereinhalb Generationen sind hier auch alle miteinander verwandt, und jede Familie hat einen Zitronenbaum im Garten, einen Weinstock, einen Granatapfel- und einen Feigenbaum, und ein großer Pekannussbaum muss auch da sein. Nur sind unsere Granatapfelbäume meist von der Sorte Wonderful und bei den Arabern von der normalen Sorte. Und Tauben auf dem Dach und Hühner im Hof. Verzeihung, falsch. Ich habe eben Pekan gesagt, aber bei uns ist der [37] Pekannussbaum ein Maulbeerbaum. Und auch hier liegen unter allen Häusern Waffenlager, von der Türkenzeit bis heute, aber wir ballern bei Hochzeiten nicht in die Luft.

Ja, ja, du hast richtig gehört. Waffenlager. Hier gibt’s ein Jagdgewehr, und Beutewaffen und alle möglichen Antiquitäten. Mein Großvater hatte ein altes tschechisches Gewehr, noch aus vorstaatlicher Zeit. Ein Glück, dass er schon tot ist. Wenn er hören würde, dass ich sein altes Mauser tschechisch nenne, wäre er außer sich. So was gibt’s gar nicht, ein tschechisches Gewehr!, hat er mich mal angeschrien. Was die Dussel hier als tschechisches Gewehr bezeichnen, ist ein Mauser, und das ist deutsch.

Entschuldige, Warda, du stehst ja immer noch. Setz dich, nimm Platz. Nicht hier. Setz dich auf diesen Stuhl, dann siehst du mich von meiner Schokoladenseite. Du hast mir noch nicht gesagt, was genau dein Thema ist, der Titel deiner Studie.«

Warda: »Gender-Fragen in den Moschawot des Barons.«

Ruta: »Ein guter Titel.«

Warda: »Ich habe schon mit ein paar Leuten hier gesprochen, mit älteren, und alle haben mir gesagt, dass es über deinen Großvater – Seev Tavori, nicht wahr? – ein paar höchst interessante Geschichten gibt.«