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1

Dunkelheit hüllte den engen Gang ein, der durch eine steinerne Wendeltreppe in das Herz des kleinen Schlosses tief unter der Erde führte. Einzelne Fackeln an den Wänden erleuchteten warm die alten Stufen, die hier und da durch Absplitterungen und tiefe Löcher zu wahren Stolperfallen mutierten. Bei meinem Talent für Tollpatschigkeit eine echte Herausforderung.

„Meinst du nicht, hier sollte dringend mal was getan werden?“, fragte ich meinen stattlichen Begleiter, bei dem ich mich an seinem rechten Arm eingehakt hatte.

Langes, nachtschwarzes Haar floss über seine Schultern fast bis auf Ellenbogenhöhe hinab und bildete einen atemberaubenden Kontrast zu dem dunkelroten Hemd, das an Kragen und Knopfleiste mit ebenso schwarzen Schnörkeln bestickt war.

„Wenn das gerade deine einzige Sorge ist, Aline, dann hast du meine volle Bewunderung. Man trifft schließlich nicht jeden Tag zum ersten Mal seine zukünftige Familie.“

Neckisch zwinkerte Daron mir zu, doch konnte er den Hauch Unsicherheit nicht verbergen, der sich hinter dem funkelnden Grün seiner Augen abzeichnete. Er war tatsächlich nervös.

Na, wenigstens einer von uns beiden.

Mit meinem Ellenbogen versetzte ich ihm einen leichten Stoß in die Rippen, während wir die letzten Stufen nach unten nahmen, und hoffte, dass sich seine Anspannung nicht auf mich übertragen würde. Irgendwie tat es mir richtig leid, dass das kommende Event Daron so zu schaffen machte, während ich doch relativ gelassen blieb. Nach einer unerwarteten Begegnung mit dem Tod, der Vergewaltigung durch seinen Bruder und einem beinahe geglückten Suizid konnte mich einfach nichts mehr so leicht aus der Fassung bringen.

Na ja, fast nichts.

Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer mich hinter der schweren Holztür mit den massiven Eisenverschlägen erwartete, die am Ende der Treppe vor uns aufragte – darum machte ich mir keine Sorgen. Es gab nur einen einzigen Namen, der mich, sobald ich an ihn dachte, bis ins Mark erschauen ließ.

Mael.

Einer von Darons großen Brüdern.

Er war es gewesen, der von Anfang an meine Beziehung zu Daron hatte sabotieren wollen und dem dafür wirklich kein Mittel zu schade gewesen war. Er hatte ohne Skrupel gelogen, manipuliert und gemeuchelt, bis ihm schließlich ein Pakt meinerseits mit dem Schicksal Einhalt gebot. Ein Pakt, der mir lediglich eine Fifty-fifty-Chance zu überleben eingeräumt hatte und den ich trotzdem bereit gewesen war einzugehen, um Darons Leben zu retten. Ich hatte Glück gehabt: Das Schicksal war an diesem Tag mit dem rechten Fuß aufgestanden und hatte mein Angebot akzeptiert. Hätte es das nicht … daran mochte ich überhaupt nicht mehr denken.

Mael war derjenige gewesen, der mich erst in diese Situation gebracht hatte. Zu tief war er mit seiner Aufgabe verbunden, als dass er es hätte akzeptieren können, in absehbarer Zeit von einem meiner - noch nicht einmal gezeugten - Söhne abgelöst zu werden. Dabei stand hinter allem Hass und Neid, die sein Innerstes verdarben, nichts anderes als die Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, einer Frau und einer Familie. Ein Wunsch, der ihm nie erfüllt werden konnte, ihm ebenso wenig wie den anderen sieben Männern seiner Linie. Denn nur Daron, mein sanfter Riese, trug die Bürde auf seinen Schultern, die Generation der Ewigen weiterzuführen, indem er seine wahre Liebe fand. Für seine Brüder bedeutete diese schicksalhafte Genverteilung im besten Fall Liebe auf Zeit, im schlimmsten Fall ewige Einsamkeit. Vielleicht täuschte ich mich aber auch gewaltig, und jede Einsamkeit, egal wie lange sie dauerte, war allemal besser als die Aussicht, eines Tages den Menschen, den man liebte, zurücklassen zu müssen.

„Kleines, bist du bereit?“, fragte mich Daron und bedachte mich mit einem Blick aus seinen Smaragdaugen, der mir die Knie weich werden ließ. Noch immer konnte ich nicht fassen, welche Verbindung zwischen diesem maskulinen Hünen und mir bestand. Nie hätte ich gedacht, dass solch ein Bild von einem Mann mich jemals lieben würde. Mich, die Zynikerin mit den wuscheligen, roten Haaren und der vorlauten Klappe, die mich ungebremst in jedes Fettnäpfchen im Umkreis von fünfzig Metern springen und darin suhlen ließ wie ein kleines Ferkel.

Ich gönnte mir einen kurzen Augenblick, in dem ich mir Darons Liebe bewusst wurde, und sog dabei jeden Zentimeter seiner umwerfenden Gestalt in mich auf, betrachtete seine Größe und bewunderte seine breiten Schultern, die unter seinem Hemd verborgen abwärts in einen knackigen Sixpack mündeten, an dessen Ende sich das befand, was mir schon so manche Nacht versüßt hatte. Beim Gedanken daran begann sich ein leichtes Flackern entlang der Nervenbahnen zwischen meinen Beinen auszubreiten, doch bremste ich umgehend das anlaufende Kopfkino und erstickte die auflodernde Flamme im Keim.

Jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für erotische Fantasien.

Ich atmete tief durch, straffte meine Schultern und drückte meinen Busen nach vorn, der eingeschnürt in ein straffes Korsett gleich einem Kinderpo aus dem großzügigen Ausschnitt hervorgepresst wurde. Kleider und Röcke waren so gar nicht mein Stil, aber anlässlich des bevorstehenden Ereignisses hatte ich mich von Daron überreden lassen, ausnahmsweise über meinen Schatten zu springen. Man konnte seinem zukünftigen Schwiegervater beim ersten Kennenlernen einfach nicht in Jeans gegenübertreten. Zumindest nicht, wenn dieser Schwiegervater selber der Linie der Ewigen entstammte und älter war als alles, was man sich vorstellen konnte.

Also war Daron mit mir einkaufen gegangen – oder das, was er so unter „einkaufen“ verstand. Er hatte mich zu seinem persönlichen Lieblingsschneider gebracht, der Maß genommen und mir ein Kleid auf den Leib gezaubert hatte, das meiner Meinung nach etwas zu sehr old fashioned war.

Cremefarbene Seide und Chiffon verschmolzen zu einer pompösen Sinfonie aus Rüschen, die sich um meinen Ausschnitt und um andere Teile des Kleides wölbten, so als wäre ich Marie Antoinette auf ihrer letzten Party. Vielleicht war ich ja auch so was Ähnliches, wer konnte das schon wissen?

Als Daron mich das erste Mal in diesem Kleid mit dem bauschigen Rock gesehen hatte, hatte es ihm die Sprache verschlagen, so begeistert war er von meinem Anblick gewesen. In dem Moment war mir klar geworden, dass es für mich kein Zurück gab, egal wie unwohl ich mich in dem Fummel fühlte. Also hatte ich schön meine Klappe gehalten, mich artig für mein neues Gewand bedankt und Daron sich noch eine Weile an meinem Auftritt als Sahne-Baiser erfreuen lassen, während Gustave, der Hausschneider der McÉags, die letzten Fäden an meinen Trompetenärmeln entfernte.

Trompetenärmel.

Auch das noch.

„Alles klar, Baby, die Show kann beginnen!“, zwinkerte ich Daron aufmunternd zu und gab ihm noch einen kleinen Kuss auf die Wange. Ein Lächeln huschte über sein angespanntes Gesicht und zeigte mir für eine Sekunde die weiten, grünen Auen hinter seiner Iris, welche sich sanft im Wind wiegten.

„Na dann … los geht’s!“

Mit diesen Worten drückte Daron die schwere Eisenklinke herunter und öffnete die Tür.

Mir stockte beinahe der Atem.

Wenn ich auch mit vielem gerechnet hatte – damit ganz bestimmt nicht.

2

Hatte ich nicht gerade noch gesagt, ich wäre nicht nervös gewesen? Dann streichen Sie das bitte.

Und zwar ganz schnell.

Innerhalb von Sekunden machte ich mir schlagartig in den Reifrock, zumindest innerlich. Äußerlich versuchte ich weiterhin den coolen Schein zu wahren. Daron entging meine Reaktion allerdings nicht, und er drückte ganz leicht meine Hand, als wollte er sagen, dass alles gut werden würde. Leider half das auch nicht viel.

Vor mir erstreckte sich ein großzügiger Raum, dessen Wände und Boden aus den gleichen alten Steinquadern bestand wie der Treppenabgang, durch den wir gekommen waren. Hier und da warfen einige Fackeln ihr Licht auf antik aussehende Wandteppiche, und ich fragte mich, aus welchem Ritterfilm der Fünfzigerjahre die wohl stammen könnten. Fast erwartete ich, jeden Moment Robert Taylor als Ivanhoe um die Ecke schreiten zu sehen. Mit den Trompetenärmeln wäre ich jedenfalls glatt als Rebecca durchgegangen.

An den Seiten links und rechts befanden sich je vier Stühle aus dunklem Holz, wobei das nicht annähernd der Bezeichnung entsprach. Ich hätte vielmehr das Wort Thron gewählt, aber das musste ich mir für die Sitzgelegenheit am gegenüberliegenden Ende des Raumes aufsparen. Wie die anderen acht Holzstühle war er mit zahlreichen Schnörkeln und seltsamen Tierköpfen an den Enden der Armlehnen versehen, jedoch um Einiges größer und breiter. Grüner Samt überzog die Sitzfläche und die Rückenlehne, die an sich schon einem Kunstwerk glich. Um die Polsterung schnörkelten sich meisterhaft geschnitzte Ranken, die sich empor schlängelten zu einem gigantischen Drachen mit gespreizten Flügeln, der sich mit offenem Maul bedrohlich über dem darauf Sitzenden erhob.

Ach du dickes Ei.

Doch so imposant dieses Stühlchen auch war – das, was sich darauf befand, ließ mir richtig den Atem stocken.

Unter dem Drachen, beide Arme auf die Lehnen gestützt, saß ein Mann, dessen Anblick mir nur allzu vertraut war. Kurz musste ich blinzeln, weil ich dachte, dass mir meine Sinne einen Streich spielten.

Auf dem Thron saß Daron. Aber nein, das konnte doch nicht sein – schließlich stand Daron links von mir und hielt meine Hand. Ein kurzer Seitenblick aus den Augenwinkeln verschaffte mir Bestätigung: Daron stand wirklich neben mir.

„Tretet näher“, vernahm ich in diesem Augenblick die Stimme des Unbekannten.

Sogleich atmete ich ein klein wenig erleichtert auf. Auch wenn es eine wunderbar voluminöse Stimme war, so tief und felsig wie ein Vulkankrater, so war es nicht die Stimme meines sanften Riesen.

„Ich grüße dich, Vater“, erwiderte Daron neben mir und machte einige Schritte nach vorn, während er mich dabei sanft, aber bestimmt mit sich zog.

Vater?

O Mann, Aline, du hast dich mal wieder voll ins Bockshorn jagen lassen.

Zu meiner Verteidigung musste allerdings gesagt werden, dass mein Liebster mir zwar schon berichtet hatte, wie ähnlich er seinem Vater sah, dabei aber das nicht gerade unwichtige Detail vergessen hatte, dass sie sich fast wie Zwillinge glichen. Darüber würde ich nachher noch ein paar Takte mit ihm reden müssen.

Vor dem Thron angekommen legte sich Daron die Hand, mit der er mich festgehalten hatte, aufs Herz und verbeugte sich kurz. Ein Lächeln glitt über das Antlitz seines Vaters, das sich, wie ich aus der Nähe nun erkennen konnte, doch in manchem von Darons Gesicht unterschied. Seine Züge waren nicht ganz so markant, die Lippen nicht ganz so voll, und die Augen waren von einem so hellen Blau, dass es beinahe silbern wirkte. Ich kannte nur einen der Achtlinge, der noch hellere Augen besaß.

Cayden, auch Satan genannt.

Der Tod des Zornes und ein wahrhaft ehrenwerter Mann.

Weiter kam ich mit meinen Überlegungen nicht, denn gerade als ich die Fältchen studierte, die sich bereits um seine Augen und den Mund gebildet hatten, blickte Darons Vater auf mich herab.

Hitze schoss mir ins Gesicht, und ich war versucht wegzuschauen, doch ich fühlte mich wie hypnotisiert. Ich konnte einfach nicht sittsam die Augen niederschlagen; zu sehr faszinierte mich der geradezu majestätische Anblick des Ewigen. Ich schaffte gerade so noch einen höflichen Knicks, wobei ich mir dabei schon ziemlich affig vorkam. Überhaupt war für mich in diesem Moment alles irgendwie affig. Aline Heidemann, knicksend wie eine Hofdame aus dem 18. Jahrhundert, dazu in diesem Kleid … Nein, das war alles so gar nicht mein Stil. Aber gut, ich saß schließlich nicht daheim auf der Couch, sondern hatte an diesem Abend eine nicht gerade unwichtige Aufgabe zu meistern. Also steckte ich mein aufkommendes Unwohlsein in eine innere Schublade und verschloss sie sorgsam mit einem heimlichen Grummeln. Das hier war nun einmal Teil der offiziellen Einführung in die Familie, und da galt es, sich zusammenzureißen.

Für Daron und unsere Liebe.

Ha!

Als ob ich dafür nicht schon genug Opfer gebracht hatte.

Wenn ich nur ans Cubarium dachte …

„Du bist also Aline“, wandte sich Darons Vater an mich, ohne auch nur für eine Sekunde seinen Blick von mir zu nehmen. Die Hitze fing allmählich an, wie Quecksilber in einem Fieberthermometer von unten nach oben zu schießen. Zumindest fühlte es sich so an. Darons Vater taxierte mich genauestens, aber obwohl sich meine Knie weich wie Butter anfühlten, widerstrebte es mir, die Augen niederzuschlagen. Wenn ich eines gelernt hatte in den letzten Wochen, dann, dass ein guter Bluff in Darons Welt mehr wert war als das ehrlichste Tiefstapeln. Wäre ich dem Blick jetzt ausgewichen, wäre mir das sicher als Unterwürfigkeit ausgelegt worden. Also starrte ich reglos zurück und versuchte derweil, an etwas anderes zu denken, das mich ablenkte.

Kleine, flauschige Kaninchen zum Beispiel.

In Pink.

Ja nee, Aline, is klar!

Meine Kühnheit schien sich offenbar auszuzahlen. Ein amüsiertes Funkeln trat in die Augen meines Gegenübers, und ein wissendes Lächeln offenbarte eine ebenso strahlend weiße wie perfekte Zahnreihe. Verdammt, was war an diesen Kerlen eigentlich nicht perfekt? Allerdings blieb mir keine Zeit, weiter über die offenbar vererbte Makellosigkeit der Ewigen zu grübeln, denn erneut vernahm ich die markante Stimme von Darons Vater.

„Ich bin Luan McÉag. Willkommen auf Schloss Éaleigh, dem Rückzugsort der Ewigen.“

Rückzugsort, ja, das traf es wirklich. Angereist waren wir über die Landstraße hinein ins Nirgendwo, mitten durch zahlreiche kleine Dörfer und Örtchen hindurch, von denen ich mir noch gedacht hatte, wie sehr sie – Verzeihung – am Arsch der Welt lagen. Irgendwann war Daron mitten in einem Waldstück links auf einen unbefestigten Weg abgebogen. Ein kleines, fast völlig überwuchertes Schild mit Pfeil hatte uns zu einem Schloss Rosenhain gewiesen. Während wir in Darons Geländewagen über den Feldweg gerumpelt waren, hatte er mir erklärt, dass dies der offizielle Name für die Öffentlichkeit war. Ein gälischer Schlossname mitten in Süddeutschland, das wäre wahrlich viel zu auffällig gewesen. Ich hatte daraufhin die Frage gestellt, wieso sich die Ewigen ausgerechnet hier niedergelassen hatten, wo es doch so viele schönere Orte auf der ganzen weiten Welt gab. Mir wären da auf Anhieb locker hundert eingefallen. Die Malediven beispielsweise. Oder die Bahamas. Hier war es schließlich vergleichsweise nass, kalt und vor allem langweilig. Daraufhin hatte Daron geschmunzelt und mir das Knie getätschelt. Eben weil es langweilig sei, hätte seine Familie hier garantiert Ruhe und Abgeschiedenheit, erläuterte er mir. Touristen würden so gut wie nie aufs Schloss kommen, und wenn, würden sie bereits am schmiedeeisernen Tor zur Umkehr gezwungen. Ohne Chipkarte und Sicherheitscode gab es nämlich dank der heutigen Technik keinen Einlass. Ja, das konnte ich als Argument für die Platzwahl gelten lassen.

Ein leiser Räusperer Darons ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich war mal wieder abgedriftet. Zugegeben, nicht gerade eine meiner besten Eigenschaften. Hastig beeilte ich mich, Luans Gruß angemessen zu erwidern.

„Habt Dank für die Einladung, Luan McÉag, Vater der Ewigen. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenlernen zu dürfen.“

Das war zwar keine Glanzleistung, aber immerhin erinnerte ich mich an die rituelle Begrüßungsformel, die Daron mir vor unserem Aufbruch eingebimst hatte. Es galt, dem ältesten der Ewigen Respekt zu zollen, und durch mein Starren hatte ich genau genommen gerade die Etikette verletzt. Aber ich konnte einfach nicht anders. Von Darons Vater Luan ging eine derart intensive Ausstrahlung aus, dass ich mich wie eine Büroklammer zu einem Magneten hingezogen fühlte.

Aufmerksam musterte Luan mich weiter, bis er mit einem leichten Nicken meinen Gruß und somit meine Anwesenheit akzeptierte.

Die erste Hürde war geschafft.

Klasse!

Im schlimmsten Fall hätte sich Darons Vater sonst erhoben und wortlos den Saal verlassen. Dann hätte ich später die Nacht mit ihm verbringen und ihm aktiv beweisen müssen, dass ich seines Sohnes würdig war. So ähnlich wie das Recht eines Gerichtsherren auf die erste Nacht mit einer Frischvermählten, bekannt als ius primae noctis, was jedoch – so wusste ich - von den Gelehrten mittlerweile als Mythos enttarnt worden war. Aber ob jetzt wahr oder nicht, Alan hatte mir vor Kurzem mit einem frechen Grinsen im Gesicht von Papa McÉags vermeintlichem Vorrecht erzählt. Auf meine Frage, ob das sein Ernst sei, waren seine Mundwinkel noch weiter gen Norden gewandert, untermalt von einem nichtssagenden Schulterzucken. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob Alan mich nicht verarscht hatte. Zuzutrauen war es ihm allemal. Darons Lieblingsbruder hatte einen mehr als gewöhnungsbedürftigen Humor, aber ich mochte ihn gerade wegen dieser direkten und oftmals nicht ganz protokollgerechten Art. Woher kam mir das nur bekannt vor?

„Bitte nenne mich Luan.“ Mit diesen Worten erhob sich Darons Vater von seinem Platz und schritt die drei Stufen vom Podest hinab. Mein Herz begann Richtung Südpol zu rutschen. Am liebsten hätte ich nach Darons Hand gefasst, doch wusste ich instinktiv, dass mir das ebenfalls als Schwäche ausgelegt werden konnte. Also ballte ich schnell meine linke Hand zu einer Faust und drückte sie eng an meine Seite. Gänsehaut kribbelte mir das Rückgrat hinauf, als sich Luan vor mir aufbaute. Er stand seinem Sohn wirklich in nichts nach, weder in körperlicher Größe noch in der Optik. Wenn das ein Ausblick auf Darons Gestalt in der Zukunft war, dann konnte ich mich wirklich glücklich schätzen. Es war völlig klar, warum Abigail sich einst so haltlos in Luan verliebt hatte.

Nach meinem erzwungenen Selbstmordversuch vor einigen Wochen hatte ich Darons Mutter in der Anderswelt kennengelernt und war beeindruckt gewesen von ihrem geradezu elfenhaften Wesen. Sie war so ganz anders als ich. Leider hatte sie sich zu ihren Lebzeiten nicht mit Luans Berufung und ihrem Schicksal als Bewahrerin anfreunden können. So sehr sie Luan auch geliebt hatte, die Verzweiflung ihres Verstandes hatte letztlich über die Liebe ihres Herzens triumphiert. Sie hatte Darons Vater mit einem anderen betrogen, um hierdurch in nicht gerade rühmlicher Absicht ihr Schicksal zu besiegeln. Eine Bewahrerin konnte zwar weder ihre Reinheit durch ein selbstloses Opfer verlieren noch war es ihr gestattet, sich selbst das Leben zu nehmen, doch ebenso wenig wurde ihr im Falle eines Fehltritts nach ihrer Vermählung Gnade gewährt. Die Sünde, die sie begangen hatte, bedeutete gleichzeitig auch ihr Ende. Da waren die Reglements der Ewigen gnadenlos. Als wäre das nicht schon schlimm genug gewesen, hatte es Kian, dem Tod der Wollust und einem von Abigails acht Söhnen, oblegen, seine Mutter zu holen.

Kian aber war zu schwach gewesen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Entgegen allen Regeln hatte deshalb Mael an seiner Stelle den Auftrag übernommen - um seinen Bruder zu schützen und so noch ein letztes Mal seiner geliebten Mutter zu begegnen. Dieses Erlebnis hatte Mael bis ins Mark erschüttert und seinem ohnehin schon labilen Wesen den Rest gegeben. Abigail hatte mich in der Anderswelt wissen lassen, wie sehr sie es bereute, für den Wahn ihres Sohnes verantwortlich zu sein, und mich gleichzeitig um Vergebung für all seine Taten gebeten. Es war mir zwar nicht leicht gefallen, doch tatsächlich hatte ich Mael verziehen, was mir wiederum die Rückkehr in die diesseitige Welt ermöglicht hatte.

Fragen Sie mich jetzt aber bitte nicht, wie. Die Sache mit den Parallelebenen und deren Gesetzmäßigkeiten konnte schon verdammt verzwickt sein, und bis jetzt hatte ich sie immer noch nicht ganz kapiert. Allerdings ich war erst seit Kurzem eingeweiht, während Daron schon dreihundertzehn Jahre Zeit gehabt hatte, sich an sein Schicksal zu gewöhnen. Das sollte man ruhig mal nebenbei erwähnen.

Da stand ich also nun im Keller eines alten Schlosses irgendwo im Nirgendwo und ließ mich von dem ältesten noch lebenden Ewigen von Kopf bis Fuß mustern. Eine nicht gerade angenehme Situation, zumal er genau genommen auch noch mein zukünftiger Schwiegervater war. Hätte mir das Korsett das Atmen nicht derart erschwert, hätte ich am liebsten laut losgelacht, so surreal erschien mir alles auf einmal.

Gerade als ich diesen Gedanken spann, hob Luan überraschend seine rechte Hand und legte sie mir ohne Vorwarnung auf meinen Ausschnitt, unter dem mein Herz einen gewaltigen Satz machte. Ich war so überrumpelt, dass ich ihm aus Reflex beinahe eine gescheuert hätte. Schwiegervater hin oder her, Grapschen war selbst für einen Ewigen nicht drin. Doch in der Sekunde, in der ich Luan gegenüber protestieren wollte, vernahm ich seine Stimme in meinem Kopf, dumpf wie durch eine dämmende Wand aus Watte.

„Ein solch tapferes Herz und eine noch reinere Seele. Ich sehe, was du erlitten hast, Aline. Ich sehe, was du bereit warst, zu geben, und das, was du noch geben wirst. Ich spüre, wie entschlossen dein Blut durch deine Adern strömt und wie schwer es dir oftmals fällt, dein Temperament zu zügeln. Aber deine Liebe zu Daron ist tief und echt.“

In diesem Moment erfasste mich eine Welle von Erinnerungen, griff mir von hinten ins Genick und drückte mich mit voller Wucht nach vorn. Ich sah meine früheste Kindheit, meinen sechsten Geburtstag, an dem mein geliebter Vater mir eine Porzellanfigur eines sich küssenden Paares geschenkt hatte, die ich bis heute wie einen Schatz aufbewahrte. Ich sah meine Mutter, wie sie uns Pudding kochte, während wir zusammen zum Spielplatz gingen, ich sah meine Schulzeit, meine Pubertät, den ersten Liebeskummer, den Tod meines Vaters, meinen ersten Kuss, mein erstes Mal, meine Begegnung mit Daron, meine schönsten Gedanken und meine peinlichsten Vergehen. Alle Gefühle von Freude über Wut bis zu Trauer und Schmerz durchströmten meine Nervenbahnen wie kochend heißes Wasser und drohten, mich von innen heraus zu verbrühen. Die Flut der Emotionen war so überwältigend, dass ich kaum mehr Luft bekam und mich fühlte, als würde ich in ihrem Strudel ertrinken.

So schnell wie er sie mir aufgelegt hatte, nahm Luan seine Hand wieder von meinem Dekolleté und hinterließ neben dem warmen Abdruck auf meiner Haut eine plötzliche Leere in meinem Herzen. Ich war völlig unvorbereitet innerhalb von Sekunden wie eine Musikkassette aus den Achtzigern durch mein ganzes Leben gespult worden und genauso hart wieder im Hier und Jetzt angekommen. Rewind, Fast Forward, Stop und Play – so schnell, dass ich Mühe hatte, nicht zu straucheln. Mein Kopf surrte von all den abgerufenen Szenen, und leichte Übelkeit begann in meiner Magengegend zu schwelen. Mein Schädel fühlte sich an wie in einen Schraubstock gezwängt, und ich fragte mich, ob Darons Vater gerade eine Art Gehirnwäsche an mir vorgenommen hatte, indem er mich durch sein Handauflegen zu einem ungewollten Seelenstriptease gezwungen hatte. Ein mehr als beunruhigender Gedanke. Es gab so viel Privates, das ihn einfach nichts anging, Ewiger hin oder her. Schließlich wollte ich mich nicht mal selber an alles aus meiner Vergangenheit erinnern. Da hatte ein Zweiter erst recht nichts in meinem Kopf verloren.

Ich kam allerdings gar nicht erst dazu, zu fragen. Noch während ich leise keuchend versuchte, die Contenance zu bewahren, verbeugte Luan sich vor mir und sprach die nächsten Worte laut aus.

„Willkommen in der Familie, Aline, Bewahrerin der Ewigen.“

3

Wie auf Kommando öffnete sich nur einen Augenblick später eine Tür links hinter dem Drachenthron. Sie war so geschickt durch einen der Wandteppiche verdeckt, dass ich sie glatt übersehen hatte.

Nicht zu übersehen waren nun dagegen die sieben stattlichen Hünen, allesamt in Schwarz gekleidet, die einer nach dem anderen durch die Tür in den Thronsaal traten. Einige Gesichter waren mir fremd, doch drei erkannte ich auf Anhieb.

Cayden betrat als Erster den Raum. Seine nahezu weiße Mähne funkelte mit dem Silber seiner Augen im Licht des Feuers um die Wette. Gerade als ich ihn herzlich begrüßen wollte, schoss er mir sekundenschnell einen Blick zu, der mich umgehend innehalten ließ. Nicht jetzt, schien er mir sagen zu wollen, und verwundert blieb ich stehen. Ohne mich weiter anzusehen schritt er zum vordersten Sitzplatz auf der linken Seite und setzte sich.

Okay. Das bedeutete wohl, dass ich die Klappe halten und abwarten sollte.

Auch so eine Sache, mit der ich meine Schwierigkeiten hatte.

Als Nächster folgte ein Mann mit kinnlangen, rotblonden Haaren, die aussahen, als wären sie von einem heftigen Windstoß zerzaust worden. Er würdigte mich keines Blickes, was mich etwas verunsicherte, und setzte sich auf der rechten Seite auf den Stuhl genau gegenüber von Cayden.

Der Dritte, der den Saal betrat, war mir einer der Liebsten. Alan, nie um einen blöden Spruch verlegen und ein wahrhaft treuer Freund in schweren Zeiten, selbst wenn seine Loyalität mir gegenüber die Zerstörung seiner eigenen kleinen Welt bedeutete. Alans ganze Liebe gehörte Franziska, der Hausärztin der McÉags und gleichzeitig zigfachen Urenkelin des einst irrtümlich als Monsterschöpfer bekannt gewordenen Frankenstein. Jener hatte vor unzähligen Jahren einen Pakt mit den Ewigen geschlossen: Wenn sie ihm trotz seiner voranschreitenden Krankheit sein Leben gewährten, würde er seine wertvolle Forschungsarbeit fortan in ihren Dienst stellen. Die Ewigen hatten eingewilligt. Seither war es die Bestimmung jedes Nachfahren der Steins, als Arzt im sogenannten Cubarium die Körper der Ewigen zu bewachen, wenn diese ihre menschliche Hülle verließen, um in der Anderswelt ihren Aufgaben nachzugehen. Alan und Franziska liebten sich von ganzem Herzen, und doch war ihre Liebe von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn Alan war zeugungsunfähig wie alle sieben Sündentode. Ohne Samen kein neuer Spross, kein neuer Nachfahr im Dienste der Ewigen. Nur mein Daron, der reine Tod, besaß die Fähigkeit, Kinder zu zeugen.

Mit einer Bewahrerin.

Also mit mir.

Ja, da hatte ich auch erst mal mächtig geschluckt.

Ehrlich gesagt, kaute ich da noch immer gewaltig dran, denn in meinen Augen war das Ganze furchtbar ungerecht, und Ungerechtigkeit verabscheute ich noch mehr als Lakritze. Während es Daron und mir vergönnt war, unsere Liebe so lange, wie wir wollten, in vollen Zügen zu genießen, waren seine sieben Brüder dazu verdammt, ihr Herz entweder für immer für sich zu behalten oder zu lieben mit dem Wissen, eines Tages gehen zu müssen, ohne jemals wiederzukehren. Auch wenn Franziska als Eingeweihte darüber Bescheid wusste, welches Schicksal ihr bestimmt war, und sie deshalb ihre Beziehung zu Alan geheim hielt, hatte beispielsweise Laurin, Caydens große Liebe, nicht den Hauch einer Ahnung, an wen sie ihr Herz verloren hatte. Und genauso wenig wusste sie davon, dass sie eines Tages nach Hause kommen und ihr Heim verlassen vorfinden würde. Jedem der Ewigen stand die Entscheidung frei, gleich einem Casanova durch sämtliche Betten zu turnen und dabei das Singleleben in vollen Zügen auszukosten, oder sich eine Partnerin auf Zeit zu suchen, mit der sie gemessen an der Dauer ihres eigenen Daseins nur einen Wimpernschlag gemeinsamen Glücks erfahren durften. Irgendwann kam für jeden, der sich für eine feste Partnerschaft entschied, der Zeitpunkt, untertauchen zu müssen. Wie sollte man seiner Partnerin denn auch erklären, dass man nicht alterte, während sie dagegen immer faltiger und gebrechlicher wurde? Ich hatte Laurin zwar bisher noch nicht kennengelernt, doch hatte sie allein bei dieser Vorstellung bereits mein tief empfundenes Mitgefühl. Manche Bestimmungen des Schicksals waren an Grausamkeit einfach nicht zu überbieten.

So bedachte ich Alan mit einem warmen, wenn auch traurigen Blick, als er an mir vorüberging und sich neben Cayden setzte. Ich seufzte kurz, um die Schwere zu verscheuchen, die sich nahezu unbemerkt auf mein Herz gelegt hatte, und widmete meine ganze Aufmerksamkeit den beiden nächsten Männern, die durch die Geheimtür kamen. Der vordere besaß so strahlend türkise Augen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie bildeten einen atemberaubenden Kontrast zu seinen schwarzen Haaren, die er zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Der andere dagegen ließ seine schulterlangen Locken, wie nur die Natur sie zustande brachte, ungebändigt sein Gesicht umrahmen. Mit gesenktem Haupt ging er an mir vorbei. Als er sich neben Alan platzierte, kam mir für einen Moment der Gedanke, er würde mit seinen Haaren sein Gesicht gegen unerwünschte Blicke abschirmen wollen. Keine Ahnung wieso, aber in meinem Magen breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus, das ich schnell wieder zu unterdrücken versuchte. Es gab gerade Wichtigeres, auf das ich mich konzentrieren musste. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass ich hier nun alle von Darons Brüdern kennenlernte.

Ein Stich fuhr mir durchs Herz und ließ es innerhalb einer Sekunde mehrere Takte schneller schlagen. Wenn das wirklich Darons Brüder waren und sie, wie ich vermutete, der Geburtsfolge nach den Raum betraten, dann wusste ich nur zu gut, wer als Nächstes in der Tür erscheinen würde.

Mit schlagartig trockener Kehle wandte ich meinen Blick wie in Zeitlupe in die Richtung, aus der bisher alle Männer gekommen waren. Hatte ich gedacht, ich wäre auf dieses Zusammentreffen vorbereitet gewesen, so musste ich mir eingestehen, dass ich mich gründlich getäuscht hatte.

Mael stand in der Öffnung; seine Haare fielen ihm wie ein Rahmen aus goldenen Wellen über die Schultern fast bis zu den Hüften. Auch wenn er noch einige Meter von mir entfernt war, fühlte ich doch umgehend den stechenden Blick seiner eiswasserblauen Augen auf mir ruhen. Kälte breitete sich in meinem Inneren aus und spendierte mir im Handumdrehen eine Freifahrt ins Gänsehautland.

Langsam setzte Mael sich in Bewegung und ging auf mich zu. Am liebsten hätte ich geschrien, mich auf dem Absatz umgedreht und in Lichtgeschwindigkeit aus dem Staub gemacht, doch war ich zu erstarrt vor Entsetzen, als dass ich auch nur hätte blinzeln können. Während er auf mich zukam, blitzten innerhalb einer Hundertstelsekunde in meinem Hirn all die Szenen auf, die mich mit ihm verbanden.

Wie Mael mich das erste Mal im Traum besucht hatte.

Wie er mich unter der Dusche hatte vergewaltigen wollen.

Wie er mich schließlich im Cubarium tatsächlich missbraucht hatte – mit dem Versprechen, dafür Darons Leben zu schonen.

Und wie er im Anschluss daran trotzdem versucht hatte, Darons Körper mit einer Injektion hoch dosierten Aevums auszuschalten.

Bei dem Gedankenflash an all die schrecklichen Momente, die er mir bereitet hatte, an all die Minuten, die er auf mir gelegen hatte, verkrampfte sich unwillkürlich mein ganzer Körper und ein dumpfer Phantomschmerz schoss mir durch den Unterleib, dort, wo Mael so fest zugestoßen hatte, dass ich heftig geblutet hatte. Selbst jetzt, noch Wochen später, hatte ich leichte Probleme in der Region unterhalb des Bauchnabels. So hatte sich beispielsweise meine Periode seit der Vergewaltigung nicht mehr eingestellt. Franziska führte dies auf die psychischen Nachwirkungen der Vergewaltigung zurück; schließlich nahm ich seit Jahren die Pille, und Mael war sowieso unfruchtbar. Mal ganz abgesehen davon, dass Cayden ihn damals noch vor seinem Erguss von mir herunter gerissen hatte. Untersuchungen hatten ergeben, dass ich körperlich mittlerweile wieder in Ordnung war, wenn man einige kleine innere Hämatome ignorierte, die noch nicht vollständig abgeheilt waren, weshalb Franziska weiterhin auf einer regelmäßigen Kontrolle bestand. Vorsicht war schließlich besser als Nachsicht, wie sie immer sagte, und da musste ich ihr komplett recht geben. Nach außen hin hatte ich die ganze Geschichte zur Verwunderung aller relativ gut weggesteckt – nun ja, zumindest bewusst. Über das Unterbewusstsein maß ich mir dagegen kein Urteil an. Daron befürchtete zwar, dass mir das Ganze doch mehr zu schaffen machte, als ich mir jetzt eingestehen wollte, und dass es mich in einem unerwarteten Moment mit voller Kraft von hinten niederstrecken würde. Ich dagegen glaubte irgendwie nicht daran. Nein, ich war vielmehr der festen Überzeugung, die Halbvergewaltigung gut verkraftet zu haben. Vielleicht, weil ich dem Akt letzten Endes zugestimmt hatte, um Darons Leben zu retten, und weil ich Mael seine Tat inzwischen vergeben hatte.

Ja genau, vergeben.

Aber nicht vergessen.

Der Tiger besaß schließlich immer noch seine Zähne, auch wenn er geschworen hatte, fortan Möhrchen zu knabbern.

Als Mael nun mit der Geschmeidigkeit und dem scharfen Blick jener tödlichen Raubkatze auf mich zukam, fragte ich mich, wie viel Wildheit noch in ihm stecken mochte. Langsam, beinahe majestätisch schritt er an mir vorbei und ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen. Ich versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu lesen, scheiterte jedoch kläglich. Zu gut hatte er sich in der Gewalt, als dass er sich seine Gefühle hätte anmerken lassen. Ich fragte mich, was man in den letzten Wochen, nachdem Cayden ihn mit Gewalt in die Anderswelt befördert hatte, wohl mit ihm angestellt hatte. Mael war, so hatte ich noch vor meiner Vergewaltigung erkannt, nichts anderes als eine verirrte Seele, die sich nichts weiter wünschte, als eine Liebe zu finden, wie sie Daron und ich füreinander spürten, um sie auf ewig festzuhalten. Seine Bestimmung jedoch sah anders aus, und genau das hatte ihn zerbrechen lassen. Das und der Umstand, dass er anstelle seines Bruders Kian ihrer Mutter das Leben hatte nehmen müssen.

Hatte er sich seit seiner Verbannung in die Anderswelt wirklich so sehr in seinem Wesen geändert, wie Daron mir berichtet hatte, und sein Schicksal akzeptiert?

War das überhaupt möglich?

Und, falls ja, was hatte man bloß mit ihm gemacht, dass er sich um ganze hundertachtzig Grad gedreht hatte? Die noch gut erkennbaren Überreste der Prügel, die Mael im Cubarium kassiert hatte, sowie ein nicht ganz akkurat zusammengewachsener Nasenbeinbruch zeigten mir, wie immens allein die physische Gewalt gewesen war, die er in dieser Welt erfahren hatte.

Wozu waren die Ewigen wohl noch fähig? Nein, da wollte ich jetzt gar nicht weiter drüber nachdenken. Manche Dinge blieben besser im Dunkeln. Sonst würden mich nur noch Albträume verfolgen.

Ich straffte meine Schultern und schaffte es trotz meines fast zum Zerspringen klopfenden Herzens, Maels Blick nahezu gleichgültig über mich ergehen zu lassen. Stattdessen richtete ich meine Aufmerksamkeit weiter auf die geheime Öffnung in der Wand, aus der, wie schon geahnt, Kian als Letzter hervortrat. Er sah Mael wirklich zum Verwechseln ähnlich, und hätte er nicht durch seine leicht geduckte Haltung einen merklichen Kontrast zu seinem mächtigen Zwillingsbruder ausgestrahlt, hätte ich sie tatsächlich nicht voneinander unterscheiden können.

Mael mal zwei.

Fast hätte ich mir bei dem Gedanken ins Höschen gemacht, doch wie durch ein Wunder an Selbstbeherrschung gelang es mir, meine im Bauch herumflatternde Panik im Zaum zu halten. Bewusst kontrolliert drehte ich mich zu Daron um, darauf bedacht, jedwede fahrige Bewegung zu vermeiden. Ich wollte einfach nicht zeigen, wie sehr mich das Aufeinandertreffen mit Mael trotz intensiver psychischer Vorbereitung erschüttert hatte. Also achtete ich mehr als üblich auf das, was ich tat, wie ein Betrunkener, der sich betont bemüht, nicht alkoholisiert zu wirken - und es dadurch erst recht tut.

Das aufmunternde Zwinkern, das ich mir als Belohnung von Daron erwartet hatte, wo ich mich doch gerade so wacker geschlagen hatte, blieb zu meiner großen Überraschung allerdings aus. Nichts spiegelte sich in seinem Gesicht, als ich ihn ansah, nicht das kleinste bisschen Aufmunterung. Er betrachtete mich teilnahmslos wie eine völlig Fremde und machte auch keine Anstalten, meine Hand zu nehmen. Mir war, als würde der Boden unter mir zu schwanken beginnen.

Kaum hatte Kian auf dem letzten Thron an der linken Seite Platz genommen, ging Daron kommentarlos zu den anderen hinüber und ließ sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen, auf dem letzten noch verbliebenen Platz nieder.

Er ließ mich allein in der Mitte dieses Kellergewölbes, umrahmt von all seinen Brüdern und seinem Vater, ungewiss, was nun kommen würde. Ich fühlte mich plötzlich wie ein Schaf inmitten eines Rudels hungriger Wölfe.

Scheiße!

Mein Herz pumpte schneller und schneller, und ich brauchte all meine Konzentration, um keinen hysterischen Anfall zu kriegen. Das wäre mir in diesem Korsett auch ziemlich schlecht bekommen, ein Hyperventilieren hätte mich umgehend ausgeknockt und vor versammelter Mannschaft zu Boden geschickt. Nein, diese Blamage konnte ich mir keinesfalls leisten. Wenn ich daran dachte, was ich bereits alles auf mich genommen hatte, um so weit zu kommen, dann würde ich jetzt auch noch mit dem, was mir bevorstand, fertig werden.

Irgendwie.

Also konzentrierte ich mich für zwei Sekunden angestrengt auf meine Atmung und schaffte es, mich ein wenig zu beruhigen. Du packst das, Aline, du packst das!, feuerte ich mich gedanklich selber an. Insgeheim wünschte ich mir, Daron hätte mich besser auf das Familientreffen vorbereitet. Was hatte ich ihn gelöchert, er sollte mir doch um Himmels willen erzählen, was mich hier erwartete. Stattdessen hatte er sich in Schweigen gehüllt und mir versichert, dass es nicht so schlimm werden würde. Pah, von wegen! Gerade jetzt, wo ich ihn am nötigsten brauchte, seine Stärke und seinen Beistand, da ließ er mich einfach stehen wie bestellt und nicht abgeholt, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was von mir erwartet wurde.

Wohl wieder so ein beschissenes Gesetz der Ewigen.

Allmählich ging mir diese Kryptik mächtig auf den Keks.

4

„Nun, Aline, tritt der Reihe nach vor die Ewigen und erbitte ihren Segen!“

Langsam drehte ich mich zu Luan um und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er lächelte nur und wies mich mit einer Hand an, meinen Gang der Unterwerfung zu beginnen. Hatte er soeben tatsächlich in meine Seele gesehen, so wusste er nur zu gut, wie mir ein solches Vorgehen widerstrebte. Nun sollte ich also tatsächlich bei meinen zukünftigen Schwägern um die Akzeptanz meiner Beziehung betteln. Welche Demütigung musste ich eigentlich nicht über mich ergehen lassen?

Nur Daron zuliebe schluckte ich all meine Einwände, die in mir hochkochten, hinunter und ballte sie zu einem massiven Klumpen in meiner Magengrube zusammen. Ein Blick in Luans wissende Augen bestätigte mir meinen Verdacht. Er war sich durchaus im Klaren darüber, was mir dieser symbolische Kniefall abverlangte. Fast schien es, als würde er sich darüber amüsieren. Wie gern hätte ich ihm einen blöden Spruch an den Kopf geworfen, doch Gott sei Dank erlangte meine Vernunft noch rechtzeitig die Oberhand über diesen Impuls. Widerwillig drehte ich mich zu Luans Söhnen um, atmete tief ein, straffte meine Schultern und trat als Erstes vor Cayden.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich tun musste. Hilfesuchend sah ich in Caydens gütige Augen und suchte in ihnen nach einem kleinen Hinweis, suchte irgendetwas in seiner Mimik, das mir helfen würde. Leider vergebens, zu sehr hatte Darons ältester Bruder seine Gesichtszüge unter Kontrolle, als dass sie auch nur den Hauch einer Regung preisgegeben hätten.

Also gut, Aline, dachte ich mir, jetzt gilt es, alles oder nichts.

Bestehen oder versagen.

Hängt ja nur dein Schicksal von ab.

Fieberhaft kramte ich in meinen Hirnwindungen nach Worten, die der Situation angemessen sein mochten und dabei nicht erkennen ließen, wie sehr das Ganze mir in Wahrheit widerstrebte.

„Ich, Aline Heidemann, bitte dich um deinen Segen für die Aufnahme in die Linie der Ewigen.“

Das war das Beste, was mir in diesem Moment einfiel und, ehrlich gesagt, auch das Einzige. Improvisation war einfach nicht mein Ding. Doch offenbar hatte ich diesmal ein glückliches Händchen.

„Ich, Cayden McÉag, heiße dich willkommen, Bewahrerin. Möge deine Liebe aufrecht und dein Schoß fruchtbar sein.“ Mit diesen Worten lehnte sich Cayden nach vorn und legte mir eine Hand auf den Kopf. Wohlige Wärme durchlief meinen Körper bis zur Sohle abwärts von dort, wo er mich berührte, und weckte in mir ein unerwartetes Gefühl des Zuhauseseins. Plötzlich roch es nach Wald und Regen, nach feuchter Erde und Morgentau. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und genoss den Geruch, der mir ein Garant für Freiheit und Beständigkeit zugleich war. Den Duft, den ich zum ersten Mal an Daron wahrgenommen hatte und der mir mehr bedeutete als alle Parfums der Welt. Nur eine Sekunde später zog Cayden seine Hand zurück, und das sinnliche Bouquet des Lebens verschwand so schnell, wie es gekommen war. Unsicher blickte ich auf. Ein kleines Lächeln spielte um Caydens Lippen, und mit einer fast unmerklichen Bewegung seiner silbrig funkelnden Augen bedeutete er mir, mich umzudrehen und die Zeremonie meiner Segnung fortzusetzen.

Folgsam, wenn auch ziemlich verwirrt, gehorchte ich und wandte mich gegenüber an den zweiten der Ewigen, dessen rotblonde Haare wild zerzaust um seinen Kopf spielten. Wenn ich damals in meiner Küche richtig aufgepasst hatte, dann musste dies gemäß der Geburtsfolge Lior sein. Bernsteinfarbene Augen ruhten auf mir, als ich vor ihn trat und mein schwülstiges Sprüchlein erneut aufsagte. Auch Lior hieß mich in der Familie willkommen, indem er mir die Hand auflegte. So weit, so gut, dachte ich mir. Den ersten mir unbekannten Bruder Darons hatte ich soeben überzeugen können.

Als Nächster war Alan an der Reihe, der sich sichtlich Mühe gab, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und keine Miene zu verziehen. Doch als er mir die Hand auflegte, entdeckte ich ein verräterisches Glitzern in seinen Augen. Alan war einfach ein Original und konnte selbst in ernsten Momenten nicht aus seiner schalkhaften Haut. Brav wartete ich seine Segnung ab und ließ ihn mit einem angedeuteten Zwinkern wissen, dass ich mir seines Amüsements durchaus bewusst war.

Anschließend trat ich dem schwarzhaarigen Bran unter seine unglaublich türkisen Augen. Was war ich froh, in McÉag-Kunde gut aufgepasst zu haben. Als ich vor ihm stand, dachte ich, ich würde in die funkelnden Fluten eines karibischen Meeres eintauchen, während der Wind sanft durch die Palmwedel strich und der Privatbutler eine fruchtige Piña Colada direkt an der Strandliege servierte. In dem Moment wurde mir schlagartig bewusst, wie urlaubsreif ich wirklich war. Die letzten Wochen hatten doch mehr an mir gezehrt als bisher gedacht.

Auch Bran hieß mich gemäß der Tradition in der Familie willkommen. Das waren jetzt schon fünf von acht, Daron mit eingerechnet. Insgeheim freute ich mich über das schon mehr als halb volle Glas und feuerte mich leise an, den Rest auch noch zu bewältigen.

Gott, ich war ja so was von naiv.