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Die Talentsuche

Von Ines Possemeyer

Zusatzinfos:

Leben mit besonderen Talenten: sechs Porträts

Förderung – für wen?

Interview mit der Philosophieprofessorin Kirsten Meyer

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Die Talentsuche

Künstlerin zu werden, Sportass, Mathematikgenie oder Sternekoch – dem einen ist’s gegeben, dem anderen nicht? Bei Lehrern, Wissenschaftlern und Meistern ihres Faches hat GEO nachgeforscht, wie sich Begabungen entdecken und entfalten lassen

Von Ines Possemeyer

„Was müsste ich eigentlich tun, um hier aufgenommen zu werden?“, fragte ich Ludwig, als wir in der Abendsonne über das Schulgelände schlenderten. Ich war begeistert von der prachtvollen Bibliothek, den modernen Werkstätten und Laboren in St. Afra, einem Internat für Hochbegabte in Meißen. Zwischen duftenden Wildblumenwiesen liegen dort Unterkünfte im Bauhaus-Stil, aus dem klassizistischen Hauptgebäude schallte an diesem Tag Theater-Applaus. Ludwig Schrameyer, mein ältester Freund, ist Musiklehrer in St. Afra. Er antwortete: „Zum Beispiel müsstest du ein rohes Ei so verpacken, dass es heil bleibt, wenn du es aus dem dritten Stock wirfst.“

Das Ei ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Diese höchst komische Versuchsanordnung soll einen Hinweis auf Begabung geben? Und – was ist das überhaupt, Begabung? Gibt es wirklich Naturtalente? Ist manchen Menschen eine Gabe für Zahlen oder Sprachen, für Musik oder Malerei schon in die Wiege gelegt? Und wie spüren wir sie auf? Vielleicht schlummerte ja auch in mir noch eine Begabung, die sich, wenngleich spät, entfalten ließe …

Ludwig und ich haben unsere Grundschulzeit in den 1970er Jahren teils in Baracken verbracht. Von unserem Gymnasium fiel eines Tages die Fassade ab, der Schulhof war in Beton eingefasst. Begabtenförderung gab es nur im Osten. In der Bundesrepublik galt sie als zu elitär.

Aber jetzt werden überall Talente gesucht. Das Weltwirtschaftsforum hat sie zur „wichtigsten Ressource moderner Staaten“ erklärt; für die Bund-Länder-Kommission hängt die „Beherrschung zukunftsweisender Prozesse“ im Wesentlichen davon ab, „Begabungen zu erkennen und zu fördern“. Meist ist heute sogar von der gesteigerten Form, der Hochbegabung, die Rede. Die beginnt, so heißt es, bei einem Intelligenzquotienten von mindestens 130.

Den haben zwei Prozent der Bevölkerung.

Um zu prüfen, ob ihr Kind dazugehört, finden Eltern auf der Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine Checkliste. Die Nachfrage nach professioneller Diagnostik boomt. Schulen werben mit „Akzelerations“- und „Enrichment“-Programmen. Eltern gründen Privatschulen, schicken ihre Kinder in Feriencamps des Hochbegabtenvereins Mensa, der seine Mitgliederzahl in den vergangenen Jahren verdoppeln konnte. Wer Sorge hat, sein Kind könnte den Anschluss verpassen, fängt noch früher an: mit musikalischer Früherziehung ab drei Monaten, zweisprachigem Krippenbesuch ab zwei Monaten oder „vorgeburtlichem Unterricht“ – für den Fötus.

Ressource, Enrichment, Akzeleration? Eine Managementsprache, die für mich so gar nicht zu dem klangvollen Wort „Begabung“ passt, zu Persönlichkeitsbildung und Selbstentfaltung. Auch musikalische Wunderkinder, Schachgenies, Sportskanonen oder Zeichentalente, die uns doch alle in ihren Bann schlagen, kommen im aktuellen Boom kaum vor.

Es geht nur um eine Begabung: die kognitive. Vielleicht, weil uns außer unserer Gesundheit nichts so wichtig ist wie Intelligenz. Und im globalen Wettkampf ist die kostbarer denn je. Vorsprung durch Köpfchen.