image

Ein Heimsieg per Post

Kurioses aus 50 Jahren Bundesliga mit Borussia Mönchengladbach

image

Markus Aretz (Hrsg.)

Christoph Baumeister

Andreas Cüppers

Michael Lessenich

VERLAG DIE WERKSTATT

Fotonachweis:

Horstmüller Pressebilderdienst: 25, 28, 42, 66, 141, 163, 171
imago sportfoto: 9, 14, 17, 21, 34, 39, 44, 59, 61, 69, 95, 97, 101, 109, 117, 121, 137, 147, 153, 157, 179, 184
Johannes Kruck: Cover, 189, 193 / Walter Strucken: 51, 53, 89 /
Dieter Wiechmann: 77, 81, 87, 105, 113, 125, 129, 133, 151, 165, 173, 181

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2013
Copyright © 2013 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-7307-0072-3

Inhaltsverzeichnis

images

1963|64

Mehr Sportabzeichen als Punkte

Es gibt einige Kenner der Borussia-Geschichte, die nicht allein Hennes Weisweiler für den wundersamen Aufstieg der Fohlenelf verantwortlich machen, sondern auch dessen Vorgänger Fritz Langner einen gehörigen Anteil an der Talentschmiede vom Bökelberg zusprechen. Langner kam 1962 von Westfalia Herne, das er drei Jahre zuvor zum Meister der Oberliga West gemacht hatte, zur Borussia. Seinen Beinamen „Eiserner Fritz“, zurückzuführen auf seine Trainingsmethoden, brachte er da schon mit. „Langner hat uns getriezt bis zum Gehtnichtmehr“, erinnert sich der spätere VfL-Torjäger Herbert Laumen an seinen ersten Trainer im Profifußball. „Er hat uns gedrillt, aber auch fußballerisch einiges in unsere junge Mannschaft reingebracht. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass es ideal war, erst ihn als Trainer zu haben und danach Hennes Weisweiler.“

Unter Fritz Langner trainieren zu müssen, war nicht immer eine Freude. „Er war einer der härtesten Trainer, die es gab“, sagte Rudi Assauer, der Spieler bei Langner war, als der im Anschluss an seine Zeit in Mönchengladbach als Bundesligatrainer bei Schalke 04 arbeitete. An seinen Trainingsmethoden rieb man sich auch bei Borussia, als Anfang der Saison 1963/64 der gewünschte Aufschwung ausblieb und die Mannschaft nicht an der Spitze der Regionalliga West mitspielte, sondern ins Mittelfeld abrutschte. Der Vorstand hatte als Saisonziel den Aufstieg in die Bundesliga ausgegeben und war unzufrieden mit der Entwicklung der neu formierten Mannschaft, in der es junge, vielversprechende Talente wie Günter Netzer, Horst-Dieter Höttges und Rudi Pöggeler gab. Die Stimmung im Verein sickerte durch in die Zeitungen. „Man glaubt bei Borussia, dass Langners Trainingsmethodik zwar erfolgreich, aber in der Konsequenz nicht individuell genug ist“, schrieb die Westdeutsche Zeitung im Oktober 1963. Langner indes reagierte auf das Grummeln der Bosse mit eiserner Hand, prangerte das „unkameradschaftliche Verhalten einzelner Spieler“ an und warf der Mannschaft vor, zu viel „das süße Leben“ zu genießen.

Verschiedentlich war zu sehen, welch geschliffene Spielweise in der Borussen–mannschaft steckt. Sie ist technisch beschlagen und wird in Zukunft sicher ihren Weg machen.“

Bundestrainer Sepp Herberger, nachdem er am Bökelberg die 1:2-Niederlage der Gladbacher gegen Schwarz-Weiß Essen verfolgt hatte.

image

Schwergewicht beim Kugelstoßen: Borussias Torwart Manfred Orzessek.

Man stritt sich also ein wenig in jenen Tagen am Bökelberg, kein Streitpunkt war indes die Fitness der Mannschaft. Die Spieler fühlten sich körperlich sogar so prächtig, dass sie selber auf die Idee kamen, den Leichtathleten nachzueifern, die sie beim Training in der Süchtelner Waldkampfbahn beobachtet hatten. „Das können wir auch“, sagten sich die Borussen und schlugen ihrem Trainer vor, die Übungen für das Sportabzeichen zu absolvieren. Gesagt, getan, an einem Nachmittag im Dezember 1963 konnte man Borussias Fußballer dabei beobachten, wie sie sich im Weitsprung, Kugelstoßen, 100-Meter-Lauf und 5.000-Meter-Lauf versuchten. Alles innerhalb einer Stunde. Eine Woche später ging’s dann noch ins Schwimmbad zur 300-Meter-Schwimmprüfung.

SAISONVERLAUF

NETZERS ERSTES JAHR, AUFSTIEG WIRD VERFEHLT Nachdem Borussia Mönchengladbach bei der Gründung der Bundesliga im Sommer 1963 nicht zu den 16 auserwählten Klubs für die neue Eliteliga des deutschen Fußballs gehört hat, nimmt man sich am Bökelberg den schnellen Aufstieg aus der Regionalliga West vor. „Im Mittelpunkt unseres Strebens ist der Aufstieg in die Bundesliga“, sagt Vorstandsvize Helmut Grashoff vor der Saison 1963/64. Doch die junge Mannschaft, in der der 18-jährige Günter Netzer seine ersten Spiele für den VfL bestreitet, legt nicht die nötige Konstanz an den Tag, um tatsächlich ernsthaft um einen der ersten beiden Tabellenplätze mitzuspielen. Es gibt eine Reihe von sehr ansehnlichen Spielen wie zum Beispiel einen 5:1-Auswärtssieg bei Rot-Weiss Essen, doch auch immer wieder Rückschläge. Nach einer Serie von vier Siegen hintereinander tut sich im Frühjahr zwar doch noch mal die Chance auf den Aufstieg auf, doch in den letzten sieben Saisonspielen gelingt der Mannschaft kein einziger doppelter Punktgewinn mehr. Auf die immer lauter werdende Debatte um die Amtsführung von Trainer Fritz Langner reagiert dieser schließlich mit der Bekanntgabe seines bevorstehenden Wechsels zu Schalke 04. Borussias Vereinsführung braucht nicht lange, um einen Nachfolger zu finden: Hennes Weisweiler, vorher sechs Jahre lang bei Viktoria Köln, übernimmt am 30. April 1964 – zwei Spieltage vor dem Saisonende – das Ruder. Borussia beendet die Saison als Achter, das Unternehmen Aufstieg muss auf die nächste Spielzeit verschoben werden.

„Da wollte sich natürlich keiner eine Blöße geben, und unser Trainer hatte Spaß, weil sich keiner schonen konnte“, so Herbert Laumen. Fritz Langner durfte dann auch zufrieden sein, denn alle seine Schützlinge schafften die nötige Punktzahl, so dass 20 Borussen mit dem bronzenen Sportabzeichen ausgezeichnet wurden. In der Presse wurde der Seitensprung der Fußballer indes mit einem Seitenblick auf die mittelmäßige Tabellensituation süffisant kommentiert. „Mehr Sportabzeichen als Punkte“, lautete die Überschrift in der Rheinischen Post, die auch ein Bild von der Aktion brachte und sich eine Anspielung auf die Körperfülle von Torwart Manfred Orzessek – im Verein „der Dicke“ genannt – nicht verkneifen konnte: „Unser Bild aus Süchteln hat den schwergewichtigen Torhüter Orzessek beim Kugelstoßen festgehalten, in dem er 10,75 Meter hinlegte.“

PERSONALIE

KEINE VERTRAGSGESPRÄCHE MIT DEM BESTEN TORJÄGER Eigentlich ist er mit 27 Jahren im besten Fußballeralter und seine Torquote ist auch vom Feinsten. Auch in dieser Saison trifft Uli Kohn wieder wie am Fließband: jeweils vier Tore beim 6:1 gegen den Lüner SV und beim 5:2 gegen die SpVgg Herten, drei Treffer beim 4:0 gegen den STV Horst-Emscher. Insgesamt sind es am Ende der Saison 22 Tore, damit ist Kohn der mit Abstand beste Schütze der Borussen. Doch in der Ungewissheit um die weitere Besetzung des Trainerpostens versäumt die Vereinsführung es, Vertragsgespräche mit Uli Kohn zu führen. Borussias erfolgreichster Torschütze der vergangenen fünf Jahre (90 Tore in 156 Pflichtspielen) schaut sich deshalb anderweitig um, immerhin buhlen Bundesligisten wie der 1. FC Kaiserslautern und Preußen Münster um seine Dienste. Erst als Hennes Weisweiler als neuer Trainer im Amt ist, bemüht man sich um Kohn. Zu spät, denn der hat sich mittlerweile für Arminia Bielefeld entschieden, will dort den Aufstieg in die Bundesliga schaffen. Eine doppelte Fehlentscheidung – Borussia verliert einen herausragenden Stürmer und Kohn verpasst es auf diese Weise, noch zum Bundesligaspieler zu werden.

images

1964|65

Günter Netzer, der Star-Trompeter

Das hat sich die Redaktion des „Aktuellen Sport-studios“ im ZDF irgendwie anders vorgestellt. Einen ausgelassen feiernden und glänzend aufgelegten Aufsteiger in die Bundesliga wollte sie ihrem Publikum eigentlich präsentieren, als sie die komplette Mannschaft Borussias in die Sendung am 19. Juni 1965 eingeladen hat. Doch dieser Plan geht schief: Denn das Team von Trainer Hennes Weisweiler kommt in der Aufstiegsrunde bei Holstein Kiel trotz einer 1:0- und 2:1-Führung böse mit 2:4 unter die Räder. Der Einladung ins Fernsehen folgt man aber trotz der verpatzten Chance natürlich dennoch. Schließlich ist das große Medieninteresse für Borussia neu und schon etwas Besonderes: Schon über die 2:4-Niederlage in Kiel berichten sowohl die ARD als auch das Zweite Deutsche Fernsehen in Ausschnitten. Und die Einladung ins Sportstudio zum Talk mit dem smarten Moderator Wim Thoelke ist erst recht eine Wertschätzung, die Borussia bisher noch nicht erfahren durfte.

Also machen sich die geschlagenen Fußballer per Omnibus direkt vom Holstein-Stadion auf zum Hamburger Flughafen. Es wird keine Jubelfahrt mit Champagner und Bier – das hatte sich die Mannschaft am Nachmittag selbst versaut. Am Flughafen wartet eine extra für diesen TV-Auftritt gecharterte Maschine und bringt den Borussen-Tross zum Flughafen Düsseldorf-Lohausen. Von dort geht es, begleitet von einer Polizeieskorte, mit etwas Verspätung und in den schicken dunkelblauen Jacken und den grauen Hosen zu den Messehallen nach Köln-Deutz. Das Sportstudio überträgt vom Sportpresseball, schon zwei Stunden vor Beginn der Sendung unterhält das Orchester Max Greger das Publikum in den verrauchten und riesigen Hallen mit schmissigen Rhythmen.

Hier war zu sehen, was zum modernen Fußball gehört. So schafft man sich Erfolge, Freunde – und die Tabellenspitze, auch eine Meisterschaft!

Kurt Sahm, Trainer vom STV Horst, nach der 1:10-Heimniederlage gegen Borussia

Eines der Hauptthemen der Sendung: die Tour de France. Zu Beginn der Übertragung werden in einem ersten Filmbeitrag einige Fahrer interviewt. In einem zweiten Bericht geht es endlich um die Aufstiegsspiele zur Fußball-Bundesliga. Die Zuschauer in der Halle können auf den Monitoren verfolgen, wie Borussia die direkte Aufstiegschance verdaddelt hat. Während dieser Beitrag läuft, passiert auf der Bühne das große Stühlerücken: Das Orchester Max Greger räumt das Podium, und für alle Zuschauer überraschend besetzen Manfred Orzessek, Walter Wimmer und Co. die Plätze an den Musikinstrumenten. Als der Filmbeitrag zu Ende ist, schwenkt die Kamera über die Bühne und zeigt die VfL-Fußballer an Blasinstrumenten, Kontrabass und Schlagzeug. Überraschend gut gelaunt legen die Borussen unter dem Jubel der Halle los. Doch dass diese musikalische Darbietung nur Playback ist, bleibt dem einen oder anderen Musikkenner nicht verborgen.

Moderator Wim Thoelke und Trainer Hennes Weisweiler spielen das Spielchen jedoch weiter. Borussias Coach soll seine Mannschaft vorstellen und beginnt mit dem „Star-Trompeter Günter Netzer“. Die Niederlage vom Nachmittag scheint längst vergessen – oder den Borussen ist in diesem Moment noch nicht bewusst, welch historische Aufstiegschance da liegen gelassen wurde. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, und so spricht im anschließenden Interview gesunder Optimismus aus Weisweiler, als er verspricht, dass seine Mannschaft das fehlende Pünktchen im abschließenden Aufstiegsspiel gegen Wormatia Worms auf dem Bökelberg holt.

image

Borussia stürmt in der Saison 1964/65 die Bundesliga und später auch das Sportstudio.

Beim Ausmarsch der Mannschaft hat das „richtige“ Orchester längst wieder Platz genommen und spielt das Leib- und Magenlied aller Fußballer in diesen Tagen: „Aber eins, aber eins, das bleibt besteh’n – Mönchengladbach wird nie untergeh’n!“ Ein Lied, das, in Moll gespielt, nur irgendwie einem Trauermarsch ähnelt. Aber der Schlussakkord gelingt Borussia dann tatsächlich eine Woche später, am 26. Juni: Es ist ein kräftiger Tusch. Günter Netzer, diesmal nicht als Star-Trompeter, sondern als Spielmacher im Einsatz, gleicht das Wormser Führungstor von Bedürftig aus und schießt Borussia in die Bundesliga.

SAISONVERLAUF

JUNG, FORSCH, AUFSTEIGER Nach einem zähen Zweikampf mit Alemannia Aachen qualifiziert sich Borussia als Meister der Regionalliga West für die Aufstiegsrunde zur Bundesliga. Und dieser erste Platz ist einfach nur verdient: Keine Mannschaft ist so jung, keine spielt so einen herzerfrischenden Offensiv-Fußball wie Borussia. Kein anderes Team schießt auch nur annähernd 92 Tore und hat in Heynckes (23 Treffer), Rupp (23) und Netzer (17) ein derart torgefährliches Angriffstrio. Die Rheinische Post warnt: „Gefeiert wird später“. Dennoch geht das Team nach Meinung der Zeitung als Favorit in die Viererrunde, deren bestes Team am Ende in der Eliteklasse mitmischen darf. In der Aufstiegsrunde wird alles auf null zurückgedreht. Die Gegner heißen Holstein Kiel, SSV Reutlingen und Wormatia Worms, und Borussia stellt die Weichen in den ersten vier von sechs Spielen ganz klar in Richtung Bundesliga: 5:1 gewinnt man in Worms, 1:0 in letzter Minute gegen Kiel, und gegen Reutlingen spielt man 1:1. Das Rückspiel gegen den SSV geht auf dem wie in allen Aufstiegsspielen ausverkauften Bökelberg 7:0 an den VfL, doch am fünften Spieltag droht die Sache dann noch zu kippen: Kiel gewinnt überraschend 4:2 gegen Borussia, es fehlt ein Punkt zum Aufstieg. Doch den holt der VfL im letzten Spiel gegen Worms. Günter Netzer schießt das Tor ins Oberhaus. Das „große Warten“ (RP) hat ein Ende, gemeinsam mit dem FC Bayern München steigt Borussia in den erlauchten Kreis der Erstligisten auf.

PERSONALIE

MANFRED ORZESSEK: ALTER HASE MIT FREUDENTRÄNEN Dass die Borussen in der Saison 1964/65 die jüngste Mannschaft der Regionalliga stellen, liegt ganz bestimmt nicht an ihrem Torwart: Manfred Orzessek ist mit seinen 31 Lenzen zehn Jahre älter als ein Großteil seiner Teamkollegen, einzig Verteidiger Gerd Schommen ist älter als der Schlussmann, der liebevoll „der Dicke“ genannt wird. Orzessek ist seinen Kollegen nicht nur einiges in Sachen Lebenserfahrung voraus, sondern auch, was den sportlichen Erfolg angeht: Denn er wurde 1958, drei Jahre vor seinem Wechsel an den Bökelberg, als Stammtorwart Deutscher Meister mit dem FC Schalke 04. Ein abgebrühter Hund eben und ein echtes Kind des Ruhrgebiets, das sein Herz auf der Zunge trägt. Ein selbstbewusster Torwart, der ungewöhnliche und gewagte Flugparaden zeigt und seine Vorderleute lautstark dirigiert. Ein alter Hase und Bär von einem Mann, der nach dem vollendeten Aufstieg aber große Mühe hat, seine Freudentränen hinter der Torwartmütze zu verstecken.

images

1965|66

Der Pass kommt im Safe

Es ist Donnerstagabend, als in Borussias Mannschaftsquartier Schloss Glienicke in Berlin die Telefondrähte ordentlich glühen. In zwei Tagen spielt die Fohlenelf im Olympiastadion gegen Tasmania Berlin. Die Aufregung im Teamhotel ist weniger auf die Aufgabe beim abgeschlagenen Tabellenschlusslicht als vielmehr auf den Umstand zurückzuführen, dass gleich vier Spielern der Fohlenelf eine unfreiwillige Verlängerung der Dienstreise in die geteilte Stadt droht. Sie haben ihre Pässe zu Hause gelassen. Einige Stunden zuvor, am frühen Mittag, sind Mannschaft, Trainer und Betreuer im Bus auf dem Weg von der Geschäftsstelle zum Düsseldorfer Flughafen, als bemerkt wird, dass die vier Akteure ihre Ausweise nicht im Reisegepäck haben. „Wir dachten, Berlin gehöre zu Deutschland“, versuchen sie sich zu rechtfertigen. Die Situation ist aber eindeutig: Bei der Ausreise aus Berlin – auch über den Flughafen Tempelhof – erfolgt die gleiche Registrierung und Kontrolle, als wenn man aus dem Ausland zurückkehrt. Für die vier Fußballer heißt das: ohne Ausweis keine Rückreise aus Berlin.

Nachdem die Fohlenelf ihr Quartier an der Grenze von Berlin zu Potsdam bezieht und in einer Halle am Wannsee erst einmal eine kleine Trainingseinheit absolviert, geht es an die Lösung des Problems. In dieser Situation erweist es sich als Vorteil, dass Borussia derart früh zum Auswärtsspiel gereist ist. Am Freitag nämlich macht sich eine weitere Gruppe – bestehend aus Borussias Vorstand und Freunden des Vereins – auf den Weg vom Niederrhein nach Düsseldorf. Drei Spieler haben wenig Mühe, von Berlin aus per Telefon dafür zu sorgen, dass ihre Pässe von Mönchengladbach und Viersen rechtzeitig zu jener Reisegruppe gelangen, die die Dokumente dann mitbringt nach Berlin. Einzig bei Bernd Rupp gestaltet sich die Sache ein wenig komplizierter. „Ich habe zur damaligen Zeit bei Tante Titti gewohnt“, erinnert sich Borussias kleingewachsener Stürmer. Mathilde Bückmann, von allen nur „Tante Titti“ genannt, beherbergt in ihrem Haus in Mönchengladbach-Holt auswärtige Borussen, unter anderem den gebürtigen Hessen Rupp. Und der ist, was die Ablage seines Ausweises angeht, durchaus ordnungsbewusst. Rupp hat seinen Pass in einer Art Mini-Safe verschlossen. Dieser wiederum ist in einem ebenfalls abgeschlossenen Schrank in seinem Zimmer. Eine doppelte Sicherung, die sich in diesem Moment als äußerst ungünstig erweist. Mit Hilfe eines Schlossers muss „Tante Titti“ gewissermaßen bei sich selbst einbrechen lassen. Der Schrank ist schnell offen, es bleibt der ungeöffnete Mini-Safe. Den Schlüssel dafür hat Rupp unglücklicherweise mitgenommen zum Auswärtsspiel bei Tasmania. Also nimmt „Tante Titti“, die ebenfalls am Freitag in die frühere Hauptstadt nachreist, kurzerhand den kompletten Safe mit.

Der Schulz tritt seine eigene Großmutter tot, wenn er damit ein Tor verhindern kann.“

Trainer Hennes Weisweiler nach dem 0:0 gegen den Hamburger SV, bei dem der Hamburger Verteidiger Willi Schulz Günter Netzer brutal foult.

image

Bernd Rupp in Aktion: Nach dem Auswärtsspiel bei Tasmania Berlin hätte der Angreifer beinahe unfreiwillig länger in der geteilten Stadt bleiben müssen.

SAISONVERLAUF

DIE ERSTEN SCHRITTE IN DER BUNDESLIGA Mit einem Sieg am heimischen Bökelberg und drei Unentschieden auf fremden Plätzen startet Borussia beachtlich in ihre erste Bundesligasaison. Mit dem spektakulären 4:5 gegen Borussia Dortmund, bei dem fünf Elfmeter verhängt werden, beginnt eine Serie von drei Niederlagen in Folge. Ein 2:0 gegen Hannover ist dann der erste von drei Siegen in Serie. Derart unbeständig geht es weiter. Vor der Winterpause kassieren die Borussen noch einmal vier Pleiten nacheinander. Die Hinrunde endet dann wiederum mit einem bravourösen 1:1 gegen Meisterschaftsanwärter 1860 München. Auch in der Rückserie zeigt die Weisweiler-Elf gerne ihre zwei Gesichter. Mitunter gibt es furiosen Offensivfußball, dann wieder offenbart der Aufsteiger seine Naivität. Nürnberg wird 8:3 vom Bökelberg geschossen, wenige Wochen später geht der VfL an gleicher Stelle 0:7 gegen Werder Bremen unter. Eine Woche später sichert sich Borussia mit einem 3:3 bei den Münchner Löwen, dem späteren Meister, Tabellenplatz 13. Herbert Laumen erzielt allein in diesem Spiel drei seiner insgesamt sechs Saisontore. Erfolgreichster Angreifer der Borussen ist aber Bernd Rupp, der auf 16 Treffer kommt und im DFBPokal in der ersten Runde Opel Rüsselsheim beim 5:1 mit drei Toren fast im Alleingang schlägt. Während vorne einige Male die Tormaschine angeworfen wird, zeigt sich die Abwehr nicht immer sattelfest. Mit 68 Gegentoren stellt Borussia die viertschlechteste Defensive der Liga. Daran ändert auch Berti Vogts nichts, der vor der Saison aus Büttgen kommt und sich schnell in die Herzen der VfL-Fans rackert.

Es sind einige bissige und ironische Bemerkungen, die sich Rupp anhören darf, als ihm der Safe im Mannschaftsquartier übergeben wird. Dem Angreifer wird es egal sein. Durch die Hilfsaktion ist seine Abreise nach dem Spiel gesichert. Dass das Spiel bei Tasmania, das mit zehn Niederlagen in Folge als krasser Außenseiter gilt und später alle Negativ-Rekorde der Bundesliga hält, bei unlauteren Bedingungen – der Schnee auf dem Rasen des Olympiastadions liegt bei minus sechs Grad knöchelhoch – zur Enttäuschung der Borussen nur 0:0 endet, passt zur komplett verpatzten Reise nach Berlin. Um 20.10 Uhr geht es mit einer Maschine der British European Airways (BEA) von Tempelhof aus Richtung Düsseldorf. An Bord sind alle Borussen – auch Bernd Rupp. Ohne seinen Ausweis hätte der Stürmer in Berlin auf eine amtliche Bestätigung der Stadtverwaltung Mönchengladbach warten müssen. Die wäre frühestens am Montag möglich gewesen. So aber kommt Rupp pünktlich zurück in seine Wahlheimat und kann wie seine Mannschaftskameraden am nächsten Abend am rauschenden Winterfest der Borussen teilnehmen. Spätestens dann sind alle „Unpässlichkeiten“ und schlechten Witterungsverhältnisse, die die Berlin-Reise begleiteten, vergessen.

PERSONALIE

ZWEITE KARRIERE IM SULKY Die Saison fängt denkbar schlecht an für Albert Jansen. Beim ersten Bundesligaspiel in Neunkirchen wird der Kapitän wegen zweimaligen Handspiels vom Platz gestellt. Im März 1966 verändert sich Jansens Leben nachhaltig. Zuerst heiratet er seine Freundin Margot, dann gewinnt er mit Borussia das Bundesligaspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern, und am Abend gehört er beim „Preis der Bundesliga“ auf der Gladbacher Trabrennbahn zu einigen Fußballern, die für ein Rennen in den Sulky wechseln. Jansen, Spitzname „eiserner Albert“, muss den eigenwilligen Wallach „Indosso“ lenken. Das gelingt dem 29-Jährigen mit einem souveränen Sieg bravourös. Der Auftritt hinterlässt Eindruck. Jansen bekommt ein lukratives Angebot aus der Szene und beendet vorzeitig seine Karriere. „Um meiner zukünftigen Familie willen kann ich das großzügige Trabangebot unmöglich ausschlagen. In der Bundesliga könnte ich so viel Geld gar nicht verdienen“, erklärt der beinharte Verteidiger, der den VfL drei Spielzeiten als Kapitän angeführt hat und seine Fußballschuhe nach 120 Oberliga- und 30 Bundesligaspielen für Borussia an den Nagel hängt.

images

1966|67

Schüsse beim Südamerika-Trip

Nach dem Ende der Bundesligasaison unternimmt Borussia eine abenteuerliche Südamerika-Reise. Der Trip ist bereits einige Tage alt, als die Mannschaft auf dem Weg nach Sao Paulo einen ungeplanten Zwischenstopp einlegen muss. Unter der glühenden Sonne steigen die Borussen auf freiem Feld aus ihrem Mannschaftsbus, als Torwart Volker Danner plötzliche eine Pistole zückt und einige Schüsse gen Himmel abfeuert. „Hast du sie noch alle?! Du kannst doch hier nicht einfach rumballern“, rufen seine entgeisterten Teamkollegen und sorgen dafür, dass der Schlussmann seine Waffe schnell wieder in seiner Tasche verschwinden lässt. „Der Volker war ein Pistolenfreak, die Knarre hatte er sich kurz zuvor gekauft und wollte sie dann unbedingt ausprobieren“, erinnert sich Herbert Laumen noch genau an das Szenario.

Beinahe werden Danners Schüsse den Borussen zum Verhängnis, denn nur wenige Minuten später treffen brasilianische Polizisten am „Tatort“ ein. „Ich vermute, dass irgendwelche Einheimische sie alarmiert haben. Aber wir haben alles abgewiegelt, und zum Glück haben sie uns weiterfahren lassen“, berichtet Laumen. Er selbst kommt während des Südamerika-Trips noch in eine weitere unangenehme Situation, als er gemeinsam mit Berti Vogts im Taxi sitzend kurz vor der Stadtgrenze von Santiago de Chile von einigen Wachmännern angehalten wird. „Plötzlich haben wir in drei Gewehrläufe geguckt“, erzählt Laumen. „Da wird einem schon ganz anders.“ Als das Wachpersonal aber erfährt, dass in dem Auto Fußballspieler aus Deutschland sitzen, dürfen sie den Kontrollposten umgehend passieren. Von beiden Aktionen hat Günter Netzer nichts mehr mitbekommen, denn der befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in der Heimat – die Hitze und die dünne Luft in den Anden hatten ihm zu sehr zugesetzt.

Meine Damen und Herren, und jetzt begrüßen Sie bitte unsere Mannschaft mit dem gleichen Applaus wie die der Gäste aus Dortmund.“

Borussias Stadionsprecher vor dem Heimspiel gegen Borussia Dortmund – zuvor hatte es aus den ersten drei Partien keinen Sieg gegeben.

Die knapp dreiwöchige Reise beginnt für die Borussen gleich mit einem Hindernis, denn am ersten Tag kommt es zu einem unfreiwilligen, verlängerten Aufenthalt in New York. Während das Gepäck sich schon auf dem Luftweg nach Caracas befindet, verbringt der VfL-Tross die Nacht am Broadway. Die Weisweiler-Schützlinge haben keine Einreisegenehmigung für Venezuela erhalten, da ihnen für diesen kurzfristigen Abstecher die Visa fehlen. Im letzten Moment werden die Formalitäten aber noch geregelt, so dass das erste Spiel in Caracas stattfinden kann. Bei 27 Grad gewinnt Borussia 1:0. Nach einem weiteren 4:2-Erfolg bei einem weiteren Team aus der venezolanischen Hauptstadt geht es weiter in das 2.600 Meter hoch gelegene Bogota, wo Borussia den kolumbianischen Meister Los Millonarios 2:0 bezwingt. Die Zeitumstellung, das tropische Klima und die veränderten Verhältnisse in der Höhenluft sind zu viel für Netzer. Der Spielmacher muss, wie einige Teamkollegen auch, in der Halbzeit mit einer Sauerstoffmaske versorgt werden. Nach dem Spiel ist Netzers Zustand so miserabel, dass die VfL-Führung beschließt, ihn mit der nächsten Maschine nach Hause zu schicken. „Wenn ich die Hindenburgstraße hinaufgehen müsste, ich glaube, ich würde zusammenbrechen“, stöhnt Netzer, der in den Tagen zuvor knapp fünf Kilogramm verloren hatte, nach seiner Rückkehr.

image

Auf dem Weg nach Sao Paulo legten die Borussen einen ungeplanten Zwischenstopp ein.

SAISONVERLAUF

BORUSSIA WIRD ZUR TORFABRIK Das zweite Jahr nach dem Aufstieg ist für einen Neuling meist das schwierigste – diese Erfahrung muss auch Borussia zu Beginn der Saison 1966/67 machen. Nach drei Spieltagen steht sie mit nur zwei Zählern und einem erzielten Tor erstmals auf einem Abstiegsplatz. Mit dem 4:0 über Borussia Dortmund gelingt dann der Befreiungsschlag. „Ich wusste, dass meine Mannschaft sich steigern würde – und sie wird sich noch weiter steigern“, sagt Trainer Hennes Weisweiler – und behält Recht. In den darauf folgenden Wochen stabilisiert sich sein Team, fährt bis zum Ende der Rückserie fünf Siege – darunter ein 2:1 in Köln – ein und überwintert auf Platz fünf. In die Rückrunde startet Borussia mit einem furiosen 11:0 gegen den FC Schalke 04 – bis heute der zweithöchste Sieg ihrer Bundesligahistorie. Im Anschluss wechseln Licht und Schatten bei der Weisweiler-Elf. Offensiv brilliert sie und erzielt am Ende gemeinsam mit Borussia Dortmund die meisten Treffer (70), so dass der VfL den Beinamen „Torfabrik“ erhält. Demgegenüber stehen die Defensivprobleme der Mannschaft. Zwar erweist sich der neue Torwart Volker Danner als Verstärkung, doch auf Grund der offensiven Ausrichtung muss Borussia zu viele Gegentreffer hinnehmen. Die Fußballfans erfreuen sich an den Torfestivals wie dem 4:2 gegen den Hamburger SV, dem 2:3 bei Borussia Dortmund, dem 3:3 beim Karlsruher SC, dem 4:3 gegen RW Essen oder dem 3:4 bei 1860 München. Unter dem Strich verhindern die 49 Gegentreffer allerdings eine bessere Platzierung als Rang acht.

„Hoffentlich überstehen die anderen Spieler die Reise gut“, sagt Netzer. Das tun seine Mannschaftskollegen und sind trotz der enormen Strapazen erfolgreich. Von der Höhe in Bogota geht es hinab ans Meer nach Guayaquil. Nur wenige hundert Kilometer vom Äquator entfernt trennt sich der VfL 1:1 vom ecuadorianischen Meister Barcelone Guayaquil und bleibt damit im vierten Spiel hintereinander ungeschlagen. Tags darauf setzt es gegen Emellec Guayaquil die erste Niederlage (0:1). In Chile bezwingt die Weisweiler-Elf Green Cross Temuco 1:0. Zum Abschluss verliert sie in Ribeiro Preto 1:3 gegen den FC Botafogo. Die Begeisterung der Brasilianer für Borussia ist riesig. „Wir wurden von den meisten als deutsche Nationalmannschaft oder zumindest als Europapokalsieger angesehen und entsprechend hofiert“, so Laumen. Nach der Partie in Botafogo wollten die Einheimischen „Revolverheld“ Volker Danner vom Verbleib in Südamerika überzeugen. Trotz seiner Waffenvorliebe besteigt der Keeper tags darauf aber doch den Flieger Richtung Heimat.

PERSONALIE

RUPP VERABSCHIEDET SICH MIT 16 TOREN Auf schneebedecktem Boden feiert Borussia am 7. Januar 1967 einen historischen Erfolg. Mit 11:0 deklassiert sie den FC Schalke 04 – als bester Torschütze ragt Bernd Rupp heraus, der an diesem Tag dreimal ins Schwarze trifft. „Uns ist einfach alles gelungen“, freut sich der Angreifer, der in der gesamten Saison 16 Treffer erzielt und neben Herbert Laumen (18 Tore) und Jupp Heynckes (14 Tore) bester Torschütze der Borussen ist. Dennoch zieht es Rupp am Ende der Spielzeit zu Werder Bremen. In der Rückrunde gibt es ein wochenlanges Hickhack zwischen Borussia und seinem zukünftigen Verein. Zwischenzeitlich schaltet sich sogar der DFB-Kontrollausschuss ein und erklärt in erster Instanz, dass Rupp seinen bis Juli 1969 gültigen Vertrag erfüllen müsse. Rupp zeigt sich von den Diskussionen um ihn unbeeindruckt und erzielt auf der abschließenden Südamerika-Reise die meisten Tore. Anfang Juli verkündet Borussia aber doch seinen Wechsel zu Werder. „Die finanziellen Forderungen des Spielers gehen weit über die Ertragskraft des Vereins hinaus“, erklärt der Borussia-Vorstand und muss den erfolgreichsten Stürmer der vergangenen Jahre ziehen lassen.

images

1967|68

„Wat glaubt ihr denn, womöt ech in Jlabach die Tore maach?“

Die Uhr im langen Gang der Station G12 im Unfallkrankenhaus Duisburg-Buchholz zeigt 19.27 Uhr, als Borussias Spielmacher Günter Netzer und der Reporter Günter Esser von der Westdeutschen Zeitung der Zimmertür von Peter Meyer zustreben. „Wollen Sie noch zu Herrn Meyer?“, fragt die Krankenschwester, „ich glaube, der schläft schon.“ Aber die junge Dame ist gnädig und lässt die beiden eintreten. Tatsächlich, der „Pitter“, wie alle Borussias verletzten Torjäger nennen, schläft schon. Aber er lässt sich gerne noch einmal aus dem Schlummer holen und berichtet seinen Besuchern von einem weiteren Tag voller Schmerzen und Kümmernisse. „Die sind hier zwar alle nett und freundlich, aber ich falle denen auf die Nerven, weil ich immer frage, wann ich hier endlich herauskomme“, berichtet Meyer.

Zehn Tage ist es nun her, dass sich Meyer das rechte Schien- und Wadenbein gebrochen hat. Passiert ist es in der Sportschule Wedau bei einem Lehrgang für angehende Verbandstrainer, durchgeführt von Gladbachs Trainer Hennes Weisweiler, der zur Anschauung seine komplette Mannschaft mitgebracht hat. Bei einem Zusammenprall mit Meyer („So etwas passiert in jedem Spiel zehnmal“, so Weisweiler) fällt Torwart Volker Danner dem Stürmer unglücklich aufs Bein, und der schreit vor Schmerzen auf. Meyer wird sofort ins Krankenhaus gebracht, wo die schwere Verletzung festgestellt wird, schon am nächsten Tag wird der Stürmer operiert, mit einem 31 Zentimeter langen Stahlstift von elf Millimetern Stärke wird der Bruch gerichtet.